“Staatlichkeit in Lateinamerika revisited. Die Dimension des Widerspruchs

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“La estatalidad latinoamericana revisitada”

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WESTFÄLISCHES DAMPFBOOT

Alke Jenss, geb. 1981, M.A., Philipps-Universität Marburg, studierte Politikwis-senschaften, Friedens- und Konfliktforschung und Romanistik an der Universität Marburg, ist Soziologin und PhD-Candidate an der Universität Marburg und assozi-iert im Promotionskolleg Global Social Policies. Sie war Promotionsstipendiatin der Rosa-Luxemburg-Stiftung und des Frauenförderprogramms der Philipps-Universität (MARA) und als Dozentin an den Universitäten Kassel, Göttingen und Marburg. Sie arbeitet zu einer staatstheoretischen Perspektive auf Gewaltverhältnisse in Kolumbien und Mexiko. Journalistisch tätig u.a. als Redakteurin der Lateinamerika Nachrichten.

Alke Jenss / Stefan Pimmer (Hrsg.)

Der Staat in Lateinamerika

Kolonialität, Gewalt, Transformation

1. Auflage Münster 2014© 2014 Verlag Westfälisches Dampfboot Alle Rechte vorbehaltenUmschlag: Lütke Fahle Seifert AGD, MünsterDruck: ...Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem PapierISBN 978-3-89691-972-4

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Förderhinweis Inhalt

Ulrich BrandVorwort: Den Staat analysieren, um ihn zu verändern 7

Alke Jenss / Stefan PimmerEinleitung: Theoretische Perspektiven aus der „Peripherie“Der Staat und seine Transformation in Lateinamerika 11

Teil I: Der Staat in Lateinamerika. Theoretische Annäherungen

Lucio Oliver Costilla/Stefan Pimmer Konfigurationen von Staatlichkeit in LateinamerikaEine Kartographie der historischen Debatten 34

Mabel Thwaites Rey / Hernán OuviñaStaatlichkeit in Lateinamerika revisited. Die Dimension des Widerspruchs 59

Martín CortésDer kreolische Leviathan: Anregungen für eine Analyse 85

Jaime OrtegaDer lateinamerikanische Staat im Denken René Zavaletas 106

Petra PurkarthoferHerrschaft, Geschlecht und Staat in Lateinamerika 119

Teil II: Staat, Kolonialität, Perspektiven von Indigenität

José Guadalupe Gandarilla Salgado / David Gómez ArredondoKolonialität der Macht, Kolonialität des Staates und Eurozentrismus 140

Luis TapiaDen Staat aus dem Zentrum rücken. Staatstheorie im bolivianischen Kontext 154

Oscar Vega Camacho Was tun mit dem Staat? Über den verfassunggebenden Prozess in Bolivien 171

Teil III: Staat und Gewalt: Autoritäre Transformationen

Carlos Figueroa Ibarra / Octavio Moreno VeladorGewalt und staatliche Macht in Lateinamerika: von der Kolonialzeit zum Neoliberalismus 204

Pilar CalveiroDie Gewalt des Staates 229

Alke JenssDezentralisierung der Gewaltfunktion des Staates und counterinsurgency-Ordnung 238

Teil IV: Staatliche Transformationen: Brüche und Kontinuitäten, Spielräume und Grenzen

Dieter BorisAspekte der Staatsentwicklung und der Staatsanalyse in Lateinamerika 258

Mabel Thwaites Rey / Hernán OuviñaZwei Schritte vor und einen zurück? Transitionen, Transformationen und gläserne Wände 280

Rhina RouxMexiko: Die große Transformation als Bruch des Gesellschaftspaktes 301

Die Autor_innen 317

58 Lucio Oliver Costilla / Stefan Pimmer

Santos, Boaventura de Sousa (2010): Refundación del Estado en América Latina: per-spectivas desde una epistemología del Sur. México, D.F.: Siglo veintiuno.

Sauer, Birgit (2003): Staat, Demokratie und Geschlecht – aktuelle Debatten. http://www.fu-berlin.de/sites/gpo/pol_theorie/Zeitgenoessische_ansaetze/sauerstaatdemokratie/index.htm, 30.6.2014.

Senghaas, Dieter (1974): Vorwort. Elemente einer Theorie des peripheren Kapitalismus. In: Senghaas, Dieter (Hg.): Peripherer Kapitalismus. Analysen über Abhängigkeit und Unterentwicklung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 7-36.

Soler, Ricaurte (1961): El Pensamiento Sociológico de Mariano Otero. In: Revista Tareas, Nr. 2, 15-31. http://www.salacela.net/pdf/2/articulo2.pdf, 3.6.2014.

Stavenhagen, Rodolfo (1965): Classes, Colonialism, and Acculturation. In: Studies in Comparative International Development, Vol. 1, Issue 6, 53-77.

Tapia, Luis (2002): La producción del conocimiento local. Historia y política en la obra de René Zavaleta. La Paz: Muela del Diablo/CIDES-UMSA.

– (2009): Prólogo. In: ders. (Hg.): La autodeterminación de las masas. René Zavaleta. Bogotá: Siglo del Hombre Editores/Clacso, 9-29.

– (2010): El estado en condiciones de abigarramiento. In: García Linera, Álvaro/Prada, Raúl/Tapia, Luis/Vega Camacho, Oscar (Hg.): El Estado. Campo de lucha. La Paz: Clacso et al., 97-127.

Villoro, Luis (2006): Estado plural, pluralidad de culturas. México, D.F.: Paidós. Zavaleta, René (2009a): Problemas de la determinación dependiente y la forma primordi-

al. In: La autodeterminación de las masas. René Zavaleta. Bogotá: Siglo del Hombre Editores/Clacso, 291-320.

– (2009b): Cuatro conceptos de democracia. In: Tapia, Luis (Hg.): La autodeterminación de las masas. René Zavaleta. Bogotá: Siglo del Hombre Editores/Clacso, 121-143.

Mabel Thwaites Rey / Hernán Ouviña

Staatlichkeit in Lateinamerika revisitedDie Dimension des Widerspruchs

Einleitung

Die „Frage des Staates“ von Lateinamerika aus denken – im neuen Jahrtausend und mitten in einer der größten Krisen des Kapitalismus seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts: das heißt, dass wir unser konzeptionelles Handwerkszeug überprüfen müssen. Wir sollten uns fragen, welche Grenzen und Möglichkeiten das von uns bisher genutzte theoretische Rahmenwerk hat, um die Wirklichkeit zu interpretieren, in der wir uns befinden.

Wir gehen davon aus, dass der Staat als Realität und als Konzept weiterhin nicht nur für die theoretische Analyse zentral ist, sondern auch für die konkrete politische Praxis, denn hier geht es um ein vielschichtiges Problem: die Macht. Staat und Macht sind zwei untrennbare Kategorien. Und das nicht, weil die Macht nicht über den Staat im engeren Sinn – als Gefüge von Apparaten – hinausginge. Wir ignorieren auch nicht, dass Machtverhältnisse sich in der Mikrophysik von Beziehungsgeflechten ausdrücken, die Foucault so gut interpretiert hat, und die vor ihm Gramsci als „molekulare“ Dimension von Macht zu theoretisieren wusste. Was wir aber hier herausstellen möchten, ist, dass trotz aller Warnungen und Ermahnungen über die schwindende Relevanz des Staates der „real existierende“ Nationalstaat weiterhin ein zentrales Element der politischen Artikulation ist, das nicht einfach zu vernachlässigen ist.

Natürlich ist die Existenzform als kapitalistischer Staat nicht überall iden-tisch, sondern unterscheidet sich je nach historischen, sozialen, politischen und kulturellen Bestimmungsfaktoren und variiert auch über die Zeit. So ist die Frage unausweichlich, welche theoretische Ebene bei der Analyse dieser un-terschiedlichen staatlichen Wirklichkeiten welchen Stellenwert haben soll: Ist das Allgemeine, das alle kapitalistischen Gesellschaftsformationen formt, das zuvorderst Wichtige oder ist das Spezifische, seine besondere „Art“, im globalen Kontext „zu sein“ zentraler? Ist es überhaupt möglich, die Beschaffenheit der Staaten im peripheren Kapitalismus mit den gleichen Kategorien zu analysieren,

6160 Staatlichkeit in Lateinamerika revisitedMabel Thwaites Rey / Hernán Ouviña

die die Dimension staatlicher Macht in den metropolitanen Staaten erfassen? Was ist das Charakteristische des kapitalistischen Staates als allgemeiner Kategorie, und was ist die „Besonderheit“ des peripheren Staates in Lateinamerika? Und mehr noch: Ist es möglich, mit demselben Theoriemodell sowohl jene peripheren Staaten zu erfassen, die fest in der Logik eines abhängigen Kapitalismus verankert sind, als auch jene, die diese Logik in Transitionsprozessen zu überwinden su-chen? Mit anderen Worten: Kann oder soll unsere konzeptionelle Werkzeugkiste überhaupt die gleiche sein für konsolidierte kapitalistische Staatsformen wie für die Transformationsprozesse?

Solcherlei Fragen sind eine Art Kompass; sie orientieren die Überlegungen und sind Versuche, sich der unterschiedlichen regionalen Realität anzunähern, und obwohl ihre Antworten weit über den Rahmen eines solchen Textes hinaus-gehen, können wir mit dieser Anregung einige zentrale Leitlinien skizzieren, um lateinamerikanische Staatlichkeit zu denken. Diesen Fragen folgend, untersuchen wir im Folgenden kritisch die Konzepte über Staatlichkeit, die der Diskussion zugrunde liegen. Im ersten Teil des Textes widmen wir uns den ganz allgemeinen theoretischen Fragen zum kapitalistischen Staat. Im zweiten Teil konzentrieren wir uns auf lateinamerikanische Besonderheiten.

I Zurück zum Staat

Auch wenn klar ist, dass man feinere und präzisere Konzeptionswerkzeuge braucht, um unterschiedliche nationale Wirklichkeiten zu beschreiben, können wir allgemein sagen, dass es entscheidende Charakteristika gibt, die allen kapita-listischen Staaten gemein sind. Sie sind darüber definiert, langfristig gesellschaftli-che Verhältnisse zu stützen, die auf privatem Eigentum über die gesellschaftlichen Produktionsmittel basieren. In dem Maße, in dem der Staat mit seinen Gesetzen, Verwaltungsapparaten und Repressionsorganen eine gesellschaftliche Ordnung garantiert, die sich auf die private Aneignung der materiellen Produktionsmittel des gesellschaftlichen Lebens stützt, ist die Struktur des Staates selbst ganz klar seiner möglichen Überwindung hinderlich. Hier können wir uns auf die klassi-schen theoretischen Arbeiten beziehen, die sich über die spezifischen Ausformun-gen hinaus mit einer Charakterisierung des Staates beschäftigt haben. Von Marx zu Gramsci, von Poulantzas zu Jessop, Hirsch und Holloway – diese Beiträge haben ohne Zweifel Gültigkeit und sind von Bedeutung für ein Verständnis des kapitalistischen Staates.

Doch bei aller Gültigkeit gehen wir von einem Prozess aus, den José Aricó im Anschluss an Gramsci als „Übersetzung“ verstand: Dies bedeutet, eine kri-

tische Distanz zu Konzepten einzunehmen, die in anderen geografischen und historischen Kontexten entstanden sind, sie zu problematisieren und auf diese Art und Weise nützlich zu machen für die konkrete Analyse einer spezifischen Realität. So wirkt die „Übersetzung“ als Arbeit am Konzept, damit es von einer historischen Konstellation in eine andere transportiert werden kann, ohne seine analytische Schärfe zu verlieren. Wie Martín Cortés aufzeigt, positioniert sich

„die Übersetzung in einem Zwischenraum. Dieser umgeht jene beiden Versuchun-gen, die Michael Löwy als permanente Risiken für einen lateinamerikanischen Marxismus bezeichnete: Auf der einen Seite der Eurozentrismus, der in der unkri-tischen Übernahme eines theoretischen und philosophischen Modells besteht, das Lateinamerika als bloßes Hindernis und Abweichung der europäischen Realität versteht – und das folglich berichtigt werden muss, ohne die Partikularitäten der Region anzuerkennen –; auf der anderen Seite eine Exotik, getragen von der fast folkloristischen Vorstellung einer lateinamerikanischen Singularität, die jede allge-mein theoretische Aussage ablehnt, einfach weil sie im Ausland entwickelt wurde. Beiden Versuchungen geht eine problematische Lesart vom Verhältnis zwischen Universalität und Partikularität voraus: Im Fall des Eurozentrismus wird letztere unter eine abstrakte Konstruktion des Universalen subsumiert, während die Exotik alle Notwendigkeit, mit der Universalität in Dialog zu treten, ablehnt und damit am Ende auf eine Essentialisierung des Lateinamerikanischen zurückfällt.“ (Cortés 2010: 149)1

Das Paradox in Kauf zu nehmen heißt, Lateinamerika „in einem Spannungsver-hältnis zwischen Singularität und Universalität“ zu denken, „als Raum auf der Suche nach Identität“, und zugleich „eine problematische Zugehörigkeit zu dem Prozess“ zu erkennen, „in dem die europäische Moderne ‘Welt wird’“. Die mar-xistische Tradition schreibt sich Aricó zufolge vollständig ein in jene „Tendenzen, Strömungen und Ideologien“, die, obwohl sie Teil der europäischen Expansion waren, gleichzeitig deren Kritik möglich machten. Damit „ist es möglich, diese kritischen Ränder der Moderne in einem Raum wahrzunehmen, der Teil dieser Moderne ist: Ein einziger Raum, der nicht nur spezifische Formen des Denkens

1 Diese Feststellung, besonders zu sein, setzt insofern voraus, dass Lateinamerika kul-turell und in der Theoriebildung autonom war, während zugleich deutlich gemacht werden muss: „In historischer und sprachlicher Tradition sind wir ein Ergebnis der Zentralität der europäischen Kultur in einer Welt, die einem widersprüchlichen Prozess von Modernisierung unterworfen ist. Und das Paradox ist möglich, weil innerhalb Europas selbst in seinem Werdegang [movimiento de devenir mundo] sich all diese Tendenzen, Strömungen und Ideologien der Antieuropabewegung gebildet haben, die organischer Teil der Europa eigenen Konstitution sind“ (Aricó [1988] 2005: III-IV).

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über ihn erfordert, sondern der zeigt, wie unmöglich es ist, Universalität auf abstrakte Art und Weise zu denken, also ohne sie auf der Ebene ihrer konkreten und historischen Ausformungen zu verorten“ (Cortés 2013:46).

Umrisse des Staates

Befinden wir uns nun also an einem allgemeinen konzeptionellen Ausgangspunkt, so würden wir sagen, dass wir das Problem der Staatlichkeit auf zwei Ebenen bearbeiten können. Diese sollten wir, auch wenn sie untrennbar verbunden sind, nicht nur analytisch unterscheiden, denn ihre Verwechslung bringt immer wieder große strategische Fehler mit sich.

Eine der Ebenen verweist sowohl auf den Staat als territorial verorteten Refe-renzpunkt, den man von anderen Staaten (ob national oder plurinational) unter-scheiden kann und zugleich und grundlegend als spezifischen Knotenpunkt der Verhältnisse, die sich im Weltmarkt entfalten. Die andere Ebene verweist darauf, dass der Staat die Form der in einem Territorium begrenzten Machtverhältnissen ist, eine Form, die nicht fest oder statisch ist und die sich alltäglich neu konstituiert im Takt gesellschaftlicher Kämpfe. So ist der Staat die Verdichtung der gesell-schaftlichen Kräfteverhältnisse, die sich materialisieren und ihm spezifische und unterschiedliche Konturen geben (vgl. Poulantzas 2002). Als keineswegs neutrale Instanz beschneidet und reproduziert er Klassenspaltungen, passt sie an und interiorisiert auf widersprüchliche Weise und in gebrochener Form Konflikte und Kämpfe.

Was die erste Ebene angeht, so ist viel über den relativen Machtverlust der Nationalstaaten gegenüber dem Weltmarkt diskutiert worden, oder anders aus-gedrückt über die Gesetze und Tendenzen, die weltweit Akkumulation und Ka-pitalflüsse regeln. Multi- und Transnationale Unternehmen mit Ressourcen, die die vieler Staaten weit übersteigen, das Geflecht des Finanzsektors, multilaterale Kreditvergabeinstitutionen erscheinen als supranationale Disziplinierungsins-tanzen, die die mutmaßliche Autonomie von Nationalstaaten über ihre eigenen politischen Projekte einschränken. Insoweit, als kapitalistische Staaten in ihren Territorien Herrschaft organisieren, verhindert der Vormarsch dieser globali-sierten und „entterritorialisierten“ Sphäre offenbar vor allem, dass politische Entscheidungsstrukturen (Staaten) den ökonomischen Kräften Regeln auferlegen und sie einhegen können und bestimmen stattdessen eine Ausrichtung im Sinne der Interessenlagen großer Wirtschaftskonglomerate.

In (neo-)liberaler Lesart scheint die Globalisierung, die alle Staaten der Welt verbindet, als natürliche, positive und unaufhaltsame Kraft, die ein unbegrenztes

Wachstum des Freihandels erlaubt. Aufgabe der Nationalstaaten wäre demnach, nach Möglichkeit ihre Expansion zu erleichtern. Doch auch aus kritischer Pers-pektive sind die Globalisierung als unaufhaltsam und Nationalstaaten als Räume der politischen Aushandlung als irrelevant betrachtet worden. In der Konsequenz wurden gesellschaftliche Politikstrategien entworfen, die im Lokalen wurzeln und von einer Auseinandersetzung um staatliche Macht weit entfernt sind. Somit wäre die neoliberale Politik der 1990er Jahre kaum mehr als der Versuch, die nationalen Strukturen den herrschenden Logiken von Kapitalkreisläufen anzu-passen, mit unumkehrbaren Auswirkungen und unzugänglich für herkömmliche Prinzipien der politischen Auseinandersetzung.

Immer wieder haben Wissenschaftler_innen über das komplexe Verhältnis zwischen dem Bereich des Nationalstaats und den supranationalen und multilate-ralen Instanzen und die Auswirkungen für die Definition von Politik reflektiert und inzwischen die Dimension der scales als Erklärungsachse der aktuellen Phase herausgestellt.2 Aus der Perspektive des politikwissenschaftlichen Mainstreams, erläutern Brand/Wissen (2011), hat der Nationalstaat seine Rolle als autonomer internationaler Akteur verloren und wird stattdessen absorbiert von einem Netz von Regulierungen, die unterschiedliche räumliche Ebenen umspannen. Diese Ansätze überwinden zwar den methodologischen Nationalismus und bieten eine relationale Perspektive auf Politik (d.h., Politik wird nachvollziehbar, wenn die komplexe Relation zwischen verschiedenen räumlichen Ebenen einbezogen wird). Doch sie vernachlässigen den konfliktiven Prozess, in dem diese Ebenen

2 Die neuere Literatur über veränderte Definitionen von „Raum“ und „scales“, aus-gelöst von der Dynamik des globalen Kapitalismus, bringt eine neue Perspektive in die Analyse (Harvey, 1999; Brenner, 2002; Jessop, 2008). 2010 und 2011 widmete die Zeitschrift für radikale Geografie Antipode, der Problematik von Staatlichkeit mehrere Sonderausgaben. In Ausgabe 42 (November 2010) analysieren Autoren wie Martin Jones, Bob Jessop, Julie MacLeavy, John Harrison und andere die neuen Räumlichkeiten des Staates. In der Ausgabe 43 (Januar 2011) analysieren Autoren aus der deutschsprachigen Debatte über den Staat, Ulrich Brand, Markus Wissen, Christoph Görg, Joachim Hirsch, John Kannankulam, Alex Demirović, Heide Gersten berger und Sol Piccioto die Frage der Internationalisierung des Staates. Diese Literatur über Globalisierungsprozesse und ihre zeitlich-räumlichen Auswirkungen analysiert meist staatliche Räume des kapitalistischen Zentrums und dabei besonders Europa. Viele der Elemente, die für die europäischen Nationalstaaten als historisch neu gelesen werden (z.B. der relative Verlust von Autonomie, über die kapitalistische Akkumulation in ihrem Territorialraum Regeln zu erheben, verglichen mit größe-ren Spielräumen aus der Zeit des Interventions- und Wohlfahrtsstaates) sind in der Peripherie eben nicht genauso neu.

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produziert werden ebenso wie die von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen bestimmten spezifischen Konfliktthemen. Aus der so genannten „scale-Debatte“ haben dagegen Autoren wie Neil Brenner und Bob Jessop besonderes Gewicht auf gesellschaftliche Kämpfe und veränderliche Machtverhältnisse gelegt, die für die unterschiedlichen räumlichen Dimensionen staatlicher Macht Konsequenzen haben. Mit dem scale-Konzept wird ein und derselbe Prozess als Mittel zur Sta-bilisierung, Veränderung oder Herausforderung der Machtverhältnisse mittels gesellschaftlicher Konflikte verstanden.

Wir möchten dennoch betonen, dass auf die Staaten nicht verzichtet wurde, um die Hegemonie des Kapitals zu konsolidieren und dass diese außerdem weiterhin das zentrale Terrain sind, auf dem Kämpfe um die gesellschaftliche Ausrichtung entschieden werden. Brand/Wissen stimmen wir zu, wenn sie argumentieren, dass die Transformation des Nationalstaates, die wir in den letzten Jahrzehnten be-obachten, einen Wandel in der Verschränkung mit anderen staatlich-räumlichen Ebenen (scales) bedeutet. Es ist zweifellos angebracht zu betonen, dass regionale und internationale, formale und informelle Institutionen und politische Prozesse immer wichtiger werden. Sie verändern Organisationsweisen und die Art und Weise, in der herrschende Interessen und Entwicklungen garantiert werden, und sind zugleich ein Terrain für die Aushandlung politischer Konflikte. Diese Konflikte haben Auswirkungen auf Form und Inhalt der liberalen Demokratie und auf die Fähigkeit verschiedener Akteur_innen, ihre Interessen und Werte zu artikulieren und zu vertreten. Insofern sind staatliche Apparate, staatliche Politik und die entsprechenden Diskurse abhängiger von äußeren Entwicklungen geworden. Es ist klar, dass der Staat

„does not vanish, nor is it hollowed out or less able to implement industrial, social or other policies, but its main ‘logic’ is transformed, and those apparatuses that are important for competition (such as finance ministries or central banks) dominate the political processes.“ (Wissen/Brand 2011:6)

Deshalb behalten die Nationalstaaten großes Gewicht in der Organisation von und auch im Ringen um Herrschaft. Genauso wenig wie die wachsende „Globalisierung“ des Kapitals einen Bedeutungsverlust des Staates auf globaler Ebene bedeutet, hieße die regionale Integration notwendigerweise das Ende seiner Intervention: Stattdessen sind es die Nationalstaaten selbst, die die Mehr-heit der momentanen Integrationsprojekte anstoßen (wie etwa MERCOSUR, UNASUR), und zwar um die Spielräume der relativen Autonomie und ihre Einbettung in Kapitalkreisläufe auszuweiten und nicht, um diese aufzulösen.

Als politische Strategie wirkt dies als Gegentendenz gegenüber Bedrohungen von anderen Staaten, transnationalen Wirtschaftskonglomeraten und Gruppen,

die staatliche Entscheidungsfähigkeit in Abrede stellen. Natürlich ist die Asym-metrie zwischen Staaten ein konstitutives Wesensmerkmal dieser Dynamik, wenn sich regionale Blöcke bilden oder Regierungen sich von diesen distanzieren oder mit ihnen brechen. Die Krise, in der sich die Europäische Wirtschaftsge-meinschaft befindet – mit Staaten, die den Spielraum für innere Souveränität schwinden sehen (Griechenland, Spanien), und anderen Staaten wie Deutschland, die ihre Macht auf politischer Ebene wie in der Wirtschaft enorm vervielfacht haben – ist das beste Beispiel für die gewaltige Komplexität, die in solchen offenen Auseinandersetzungen steckt.

Wenn also jemand argumentiert, dass seit der Entstehung des Kapitalismus ein Spannungsverhältnis zwischen der territorialen Begrenzung von Staaten und dem weltweit flexiblen Kapital existiert, so kann er/sie dennoch nicht von einem Antagonismus oder Nullsummenspiel zwischen beiden sprechen. Im Gegenteil: Historisch gibt es eine gegenseitige Vermittlung und Komplementarität zwischen Markt (Binnen- und Weltmarkt) und Staat, wenn auch nicht ohne Widersprüche und periodische Krisen.

Beschäftigen wir uns nun mit der anderen Ebene, die wir oben genannt haben. Sie bezieht sich auf die Möglichkeit, mit der Staaten ihrem gesamten Territori-um und der gesamten Bevölkerung Regeln auferlegen können. In diesem Sinne vom Staat zu sprechen impliziert, das gesellschaftliche Herrschaftsverhältnis zu analysieren, das sich in staatlichen Strukturen ausdrückt, und das unter den aktuellen historischen Umständen nur kapitalistisch sein kann. Nun äußert sich dieses gesellschaftliche Kräfteverhältnis, ko-konstituiert durch den Staat, in diversen miteinander vermittelten Materialisierungen und in Ausformungen, die die Grenzen von Staatlichkeit überschreiten und die sich auf einem breiteren gesellschaftlichen und politischen Feld entfalten. Deshalb eignen wir uns hier Gramscis Neuformulierung der traditionellen Vorstellung von Macht an.

Für Gramsci ist Macht nicht mehr ein einfaches, zu eroberndes Eigentum oder „Ding“, sondern wird mit dem Begriff des Kräfteverhältnisses analysiert; dieses ist dynamisch und in andauernder Wandlung begriffen und verändert sich in komplexen „intellektuellen und moralischen“ Auseinandersetzungen auf allen Ebenen gesellschaftlichen Lebens, die alltäglich in allen Bereichen der Zivilgesellschaft ausgefochten werden. Gerade hier schreibt sich die Dynamik der Kräfteverhältnisse wieder ein, die die verschiedenen räumlichen Dimensionen von scale mit einschließt.

Die staatlichen Apparate, die Strukturen, über die Herrschaft funktioniert, verschränken sich wiederum mit der unterschiedlichen politischen Institutio-nalisierung, also mit den Zugangsmöglichkeiten und -regeln zur Staatsmacht

6766 Staatlichkeit in Lateinamerika revisitedMabel Thwaites Rey / Hernán Ouviña

und ihrer Ausübung (Regierung). Wie wir schon anderswo (Thwaites Rey 2010) gezeigt haben, kann man sagen, dass der Staat ebenso in seinen bürokratischen Reproduktionsagenturen „ist“ (existiert), wie er in Regeln, Verfahrensweisen und Amtsträgern „ist“ (existiert), die Ergebnis der eigentlichen politischen Aktion und Regierungsarbeit sind. Beide sind direkt miteinander verknüpft, denn einerseits bedingt die bürokratische Struktur – als Materialisierung dessen, was gegeben war und über die Zeit immer wieder wiederholt wurde – das Verhalten von Re-gierungen. Andererseits können auch Regierungsentscheidungen Auswirkungen auf die Gestalt von Staatlichkeit und ihre grundlegende Funktionsweise haben.

Denn die Bürokratie ist tatsächlich eine strukturelle Begrenzung für jedes Regierungshandeln und sichert die Reproduktion des Systems als solches. Den-noch ist diese Begrenzung weder in Stein gemeißelt noch völlig undurchdringbar, noch bleibt sie immer identisch. Eine Regierung kann mit Entscheidungen und Initiativen auch auf die staatlichen Strukturen selbst einwirken, und in Trans-formationsprozessen, in denen es Impulse „popularer“3 Mobilisierungen gibt und diese Protagonismus erlangen, kann sie die materielle Basis des Staates verändern und in Bewegung bringen. Hier, in dieser Dynamik zwischen Beharrungsvermö-gen und Transformation, Kontinuität und Brüchen, wird definiert, welchen Kurs mehr oder weniger radikale Veränderungs- und Emanzipationsprozesse einschla-gen. An diesem Punkt wird die Dynamik „Reform-Revolution“ wieder aktuell. Möglichkeiten und zu umgehende Gefahren, um tiefgreifende und anhaltende gesellschaftliche Veränderungen einzuleiten, gelangen wieder in die Diskussion.

Es ist für ein Verständnis von Veränderungen und Verschiebungen auf Regie-rungsebene ein unerlässlicher Schritt, sich über die gesellschaftlichen Kräftever-hältnisse klar zu werden, die Basis der staatlichen Materialität. Politische Kämpfe im Machtzentrum und an der Basis (wo sich unterschiedliche Weltanschauungen, Ideale und Interessen gegenüberstehen), das Modell politischer Organisation in Parteien und in politischen und sozialen Bewegungen, das Prozedere bei Wahlen, Mechanismen und Verfahrensweisen für oder gegen Partizipation und politische Exklusion etc. – all das wird nur mit einem umfassenden Blick auf die gesell-schaftlichen Prozesse verständlich („lesbar“), aus denen sie genährt werden. Das heißt keineswegs, dass es eine ‘materielle Basis’ gäbe, die in einem eindeutigen Sinne oder direkt politische und ideologische Ausformungen determinieren

3 Das Adjektiv „popular“ wird in Lateinamerika als Gegensatz zum Begriff der Eliten oder der herrschenden Klassen verwendet. Anders als im europäischen Kontext ist es nicht völkisch konnotiert, und wird oft synonym zum gramscianischen Begriff der subalternen Gruppen und Klassen verwendet (Anm. d. Ü.).

würde. Aber es bedeutet auch nicht das Gegenteil: Dass es eine vollkommene Autonomie zwischen einer materiellen Wirklichkeit und der Art und Weise gäbe, in der sich politische Konflikte ausdrücken.

An dieser Stelle möchten wir uns auf die Charakterisierung des italienischen Marxisten Lelio Basso beziehen, ähnlich den Formulierungen des griechischen Theoretikers Nicos Poulantzas: Eine dialektische Konzeption des Staates muss ausgehen von der Vorstellung, dass die bürgerliche Gesellschaft, eine widersprüch-liche Gesellschaft, diese Widersprüche auch im Staat widerspiegelt, der nun kein kompakter Machtblock im Dienste der herrschenden Klasse ist, sondern ein Ort von Kämpfen, in dem eine antagonistische Partizipation der Arbeiterklasse denkbar ist (vgl. Basso 1972, 1975).4

Wenn wir diesem Argument folgen, sind uns wieder die Analysen nützlich, die räumliche Strategien als Mittel verstehen, über die gesellschaftliche und staatliche Akteur_innen die politischen Institutionen zu transformieren suchen. Wie Brand und Wissen anmerken:

„altered spatio-institutional configurations, through the power relationships in-scribed therein, create new strategic and structural selectivities and thus shape so-cietal conflicts, establish new terrains for agendas and compromises, influence the way in which interests are formed and, to a degree, affect societal actors’ chances of successfully articulating and generalizing their interests through state policies.“ (Wissen/Brand 2011: 4)

Die Dimension der Widersprüchlichkeit

Mit Werner Bonefeld (1992: 93) bestätigen wir, dass die Strukturen des kapitalis-tischen Staates „als ein Existenzmodus des Antagonismus zwischen Klassen“ ge-sehen werden müssen und „als Ergebnis und Voraussetzung des Klassenkampfs“.5 Wir verstehen das so: Der Staat ist der – nicht neutrale – Garant eines wider-sprüchlichen und konfliktiven gesellschaftlichen Verhältnisses, weswegen die

4 Will man die Gesamtheit des Prozesses erfassen, so bedeutet das auch, die dortigen inneren Widersprüche wahrzunehmen und die Notwendigkeit, diese mit dem Sozi-alismus zu überwinden. Für die praktischen politischen Kämpfe heißt das, niemals die einzelnen Momente und die einzelnen Ziele der Kämpfe von der allgemeinen, umfassenden Vision zu trennen. Die alltäglichen Forderungen und Verbesserungen sind mit der revolutionären Perspektive verknüpft. Diese Verbundenheit zwischen allgemeinen Zielen und der alltäglichen Aktion ist das zentrale Element der luxem-burgischen Strategie (vgl. Basso 1972, 1975).

5 „I shall argue that structures should be seen as a mode of existence of class antagonism and hence as result and premise of class struggle“ (Bonefeld 1992: 93).

6968 Staatlichkeit in Lateinamerika revisitedMabel Thwaites Rey / Hernán Ouviña

Formen, in der sich dieses Machtverhältnis in den Staatsapparaten materialisiert, wesentlich von diesen grundlegenden gesellschaftlichen Kämpfen durchzogen ist. Daher muss diese charakteristisch widersprüchliche Dimension, die ihn durchzieht, notwendigerweise Teil der Analyse sein, will man die Dynamik von staatlichen Institutionen verstehen und populare Kämpfe – gegen, in und über den Staat hinaus [frente a, en y más allá del estado] – kontextualisieren.

Ringen die Subalternen darum, die kapitalistische Ordnung zu überwinden und ihre Selbstbestimmung (autodeterminación) (Revolution als Prozess in und gegen das Kapital) zu erreichen, integrieren sie sich gleichzeitig auch in die ge-sellschaftliche Reproduktion in Form des Kapitals, dem sie sich unterordnen (Reformismus) (Bonefeld 1992). Dieser substantielle Widerspruch der zugleich essentiellen, unersetzlichen Funktion der Arbeit für das Kapital drückt sich ebenfalls in der staatlichen Materialität aus.

Im Kapitalismus formen Staat und Gesellschaft eine Einheit, in der zugleich dieser das Gesellschaftliche mit formt, während die soziale Dynamik auf den Staat einwirkt und ihn durchzieht. So materialisiert sich in den staatlichen Apparaten nicht nur repressive Gewalt, sondern sie verkörpern auch die Antworten von Kapitalinteressen auf Forderungen der Arbeit. Solche Antworten sind nicht nur einfache kalkulierte Konzessionen des Kapitals, sondern in historisch-gesell-schaftlichen Kampfprozessen angesammelte Errungenschaften. Als solche sind es häufig Errungenschaften für die Lebensbedingungen der Subalternen – so partiell und begrenzt sie sein mögen, sind sie dennoch konkret und fassbar. Gleichzeitig haben institutionalisierte Errungenschaften einen „Fetischisierungs“-Effekt (sie erscheinen als etwas, das sie nicht sind): Sie machen kapitalistische Herrschaft scheinbar akzeptabel, sie bieten ein materielles und ideologisches Gerüst, das die kapitalistische Gesellschaft zu etwas Gemeinsamem verschmelzen lässt und sie legitimiert. D.h., die gleiche Institution, die besseren Lebensbedingungen zugute kommen kann, ist zugleich Stütze für die Legitimation von Kapitalin-teressen, um deren Dominanz langfristig zu affirmieren. In ein und demselben widersprüchlichen Prozess artikuliert sich also ein Ringen um die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung mit einem Kampf, der im Ergebnis letztlich die Einordnung ins System bestärkt.

Holloway (2002: 143-44) zeigt, dass „das Verhältnis zwischen dem Staat und der Reproduktion des Kapitalismus komplex ist: Man kann weder funktiona-listisch davon ausgehen, dass alles, was der Staat macht, notwendig dem Kapital zugute käme, noch dass der Staat das, was für die kapitalistische Reproduktion notwendig ist, immer erreicht. Das Verhältnis ist eines von trial and error“. Dieser Punkt ist zentral. Wenn der Staat die Form eines widersprüchlichen gesellschaft-

lichen Verhältnisses ist, machen seine Aktionen und seine Gestalt selbst diese Widersprüchlichkeit deutlich.

Deshalb drücken sich im Staat auch die Auswirkungen der intensiven Kämp-fe von Arbeitenden um bessere Existenzbedingungen aus. Der Staat ist eine Form und zugleich Ort und Moment [lugar-momento] des Klassenkampfs; was ihn als kapitalistischen Staat charakterisiert, ist seine Rolle, die kapitalistische Gesellschaft zu reproduzieren. Doch die Formen von Reproduktion sind nicht unveränderlich, und sie sind nicht einfach funktional für die Kapitallogik als einer autonomen und herrschenden Instanz, sondern ihr Kern ist die Arbeitskraft, und diese kann Grenzen setzen. Denn da der Staat mehr ist als nur Ausdruck der Kapitallogik, verdichten sich in seinen Apparaten komplexe Kräfteverhältnisse, die das kapitalistische Gesellschaftsverhältnis als Ganzes genauer auslegen.

Aus diesem Blickwinkel sind staatliche Institutionen oder staatliche Politiken eben nicht egal für die Subalternen. Was sich im Staat kristallisiert, was Ergebnis historischer Kämpfe um bessere Lebensbedingungen ist, gerät nicht unweiger-lich zu einfachen Konsensmechanismen für die Reproduktion der bestehenden Ordnung. Die Errungenschaften der Kämpfe können auch dazu dienen, Kräfte zu sammeln oder Konfrontationslinien zu vertiefen, die die Grundlage gesell-schaftlicher Ausbeutung zu verändern versuchen. Grundsätzlich steht dem nichts entgegen. Aber: Dies ist eine Frage politischer Kämpfe, und deren Ergebnis steht nicht von vornherein fest. Ihr Verlauf geht kontinuierlich weiter, in einem Vor und Zurück, in Aktion und Reaktion, die eine permanente Anpassung an veränderte Umstände verlangen: Wir plädieren daher für eine präzise ‘konkrete Analyse der spezifischen Wirklichkeit’.

An dieser Stelle müssen wir dem Argument eine weitere Wendung geben und die Widersprüchlichkeit des Staates noch verkomplizieren: Die sozialstaat-lichen Institutionen waren historisch eine staatliche Antwort auf die aktiveren popularen Klassen, eine Art „Naht“, Lösungsversuche, die die gesellschaftlichen Probleme, die jene Kämpfe aufwarfen, gewissermaßen in der Institutionalisierung festschreiben, und zwar auf die Weise, die der Staat zulässt. Damit ist es kein „Problem“ mehr und wird zur öffentlichen Instanz. Insofern bewegt sie sich von einer Frage auf der Ebene der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse auf die der staatlichen Logik und nimmt auch dessen eigentümliche Dynamik an. Die Landkarte der staatlichen Institutionen spiegelt in jedem historischen Fall die „Nahtpunkte“ wieder, die zugrundeliegende Widersprüche in ihrer Oberfläche hinterlassen haben.

Das alles heißt für uns: In die Gestalt des Staates ist die Notwendigkeit ein-gezeichnet, auf Krisen und Problematiken zu reagieren, die aus der Gesellschaft

7170 Staatlichkeit in Lateinamerika revisitedMabel Thwaites Rey / Hernán Ouviña

aufgebracht werden, mit ihren Widersprüchen, Zersplitterungen und Überla-gerungen. Wie Guillermo O’Donnell aufzeigt:

„Die institutionelle Architektur des Staates und seine Entscheidungen (und Nicht-Entscheidungen) sind zum einen Teil Ausdruck seiner strukturellen Komplizität, und zum anderen das widersprüchliche und substantiell irrationale Resultat der ebenfalls widersprüchlichen und substantiell irrationalen Existenzweise und Re-produktion der Gesellschaft.“ (O’Donnell 1984: 222)

Wir betonen es nochmals: Der Staat ist keine vermittelnde, neutrale Instanz. Aber über diese konstitutive Eingrenzung hinaus, die ja auch jede instrumentalistische Illusion zerstört (also dass der Staatsapparat, so wie er ist, „genutzt“ werden könnte als sei er eine Sache, die ihr Besitzer gebrauchen kann), gehen wir davon aus, dass seine Materialität, seine Form, das widersprüchliche Verhältnis ausdrückt, das ihn konstituiert. Deshalb kommen auch seine konkreten Charakteristika aus den gesellschaftlich verhandelten Kräfteverhältnissen. Wäre es dann nicht möglich und notwendig, von staatlichen Institutionen zu erzwingen, dass sie sich in ih-rem Handeln an diese vorgebliche Neutralität anpassen, die ihnen ihre formale (bürgerliche) Definition zuschreibt? Das ist natürlich nicht einfach und hat seine eigenen Gefahren. Denn die Fiktion des Allgemeinwohl wahrenden Staates und die nachweisliche Funktionsweise staatlicher Strukturen als Reproduzenten herrschender Interessen schließen sich aus. Die Fiktion passt auch nicht dazu, dass Institutionen durch Partikularinteressen kooptiert werden, die sich in den Institutionen selbst umsetzen und das Fortbestehen des Systems sichern.6

6 Nicos Poulantzas (1980 [deutschsprachige Version 2002: 283f.]) verdeutlichte das Dilemma folgendermaßen: „Das Grundproblem eines demokratischen Wegs zum Sozialismus und eines demokratischen Sozialismus ist die Frage, wie man eine radikale Transformation des Staates in Gang setzen kann, wenn man die Ausweitung und Vertiefung der Freiheiten und der Institutionenen der repräsentativen Demokratie (die auch eine Errungenschaft der Volksmassen waren) mit der Entfaltung von Formen der direkten Demokratie und von Selbstverwaltungszentren verbindet?“ Ähnlich drückte es Erik Olin Wright (1983 [englischsprachige Neuauflage 1985:246] aus: „Damit eine linksgerichtete Regierung eine nicht repressive Haltung einnimmt oder sogar wenn auch kleine Erosionen der bürokratischen Strukturen des kapitalistischen Staates auslöst, müssen zwei Vorbedingungen erfüllt sein: Erstens ist es fundamental, dass die Linke die Regierung auf Basis einer mobilisierten Arbeiterklasse übernimmt, die gute eigene organisatorische Fähigkeiten hat; zweitens ist es wichtig, dass die symbolische Ideologie der Bourgeoisie bereits vor einem linken Wahlsieg ernsthaft geschwächt ist. Diese beiden Bedingungen sind dialektisch verschränkt.“

II Besonderheit(en) des lateinamerikanischen Staates

Territorialität und globale Bedingungen in der Ausformung peripherer Staaten

Die Verflechtungsweisen der Nationalstaaten mit dem internationalen Staa-tensystem und dem Weltmarkt sind doppelt konditioniert. Zum einen durch historische Akkumulationszyklen auf globaler Ebene, die wiederum die Pro-duktion von Gütern und Dienstleistungen für den Weltmarkt bestimmen und zudem die Räume rekonfigurieren, über die sich Macht artikuliert (Wissen/Brand 2011). Zum anderen durch das ebenfalls je nach historischem Zyklus variable Kräfteverhältnis zwischen den grundlegenden Klassen, die im nationalen Raum agieren und die wirtschaftlichen und sozialen Produktions- und Repro-duktionsstrukturen bestimmen.

So hängt die Entfaltung jedes Staates sowohl von der jeweiligen Ausformung der Produktion ab (seiner hauptsächlichen Aktivitäten, seiner Fähigkeit zum Export, dem Schuldenniveau), als auch von den spezifischen Interessen und den Wahrnehmungen, die die herrschenden und subalternen Klassen in einem kon-kreten Kontext haben, und wie sie sich entsprechend positionieren. Das heißt, sie hängt ab von der relativen Macht des Kapitals vis a vis den Subalternen – im weitesten Sinne – auf globaler, regionaler, nationaler und lokaler Ebene. Zudem ist sie bedingt durch politisch-ideelle Interessenlagen der herrschenden Klassen und den Formen, die der Widerstand subalterner gesellschaftlicher Gruppen und Klassen annimmt. Denn die auf lokaler Ebene aktiven Segmente der „externen Bourgeoisien“ bilden, verschränkt mit den „inneren Bourgeoisien“ eine komplexe Verflechtungsstruktur. Diese Struktur entsteht aus der Art und Weise, wie diese Kräfte (je nach ihren spezifischen Interessenlagen) sich in den Weltmarkt inte-grieren. Sie wird aber ebenfalls beeinflusst von vielfältigen Widerstandsformen und Entgegnungsstrategien, die das Spektrum der subalternen Klassen in der Lage ist zu entfalten.

Mit diesen Faktoren als Ausgangspunkt etablieren wir die diversen Ausprä-gungen („maneras de ser“) der kapitalistischen Staaten, mit ihrer differenzierten inneren Strukturierung von Herrschaft. Es ist an eben diesem Punkt, an dem historisch konstitutive Unterschiede zwischen den Staaten des zentralen Kapita-lismus und der untergeordneten Peripherie aufgeworfen wurden, und wo sowohl früher wie auch jetzt spezifische Analysen der nationalen und regionalen Räume ihren Sinn haben. Denn die zentralen Charakteristika zu identifizieren, generi-sche wie spezifische, die territorial beschränkte Realitäten prägen, ermöglicht es, sich einem umfassenden Verständnis dieser Charakteristika und schließlich auch

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einer Transformation anzunähern. Die klassische Frage nach den Besonderheiten der Staaten in Lateinamerika schreibt sich in diese Perspektive ein.

Mit dieser Frage als Bezugspunkt erarbeitete René Zavaleta zwei Konzepte, um sowohl das Besondere wie das Gemeinsame jeder Gesellschaft zu verstehen, vor allem in Lateinamerika: das Konzept der „forma primordial“ (der „primordialen Form“) und das der „determinación dependiente“ (der „abhängigen Bestimmung“), sowohl als Gegensatzpaar als auch in Kombination zu verstehen. Die Konzepte beziehen sich auf die Dialektik zwischen der Logik des Ortes (die Besonderhei-ten jeder Gesellschaft) und der Einheit der Welt (Vergleichbares auf globaler Ebene). Die Figur der „primordialen Form“ erlaubt es, von der ecuación (in etwa: Gleichung, Anm. d. Übers.) zwischen Staat und Gesellschaft innerhalb eines Territoriums und im Rahmen einer lokalen Geschichte zu sprechen und definiert „das Ausmaß“, „in dem die Gesellschaft in Richtung Staat existiert und anders-herum, aber auch die Formen ihrer Teilung oder Distanzierung“ (Zavaleta 2009: 333). Die determinación dependiente bezieht sich dagegen auf die Gesamtheit der Konditionierungen von außen, die den endogenen Gestaltungsprozessen eine Grenze (oder einen begrenzten Spielraum) setzen. Denn mit Zavaleta hat „jede Gesellschaft, sogar die schwächste und isolierteste, immer einen Spielraum für Selbstbestimmung; Spielraum hat sie aber nicht, wenn sie nicht die Bedingungen oder Besonderheiten ihrer Abhängigkeit kennt. Anders ausgedrückt bildet jede nationale Geschichte ein spezifisches Muster von Autonomie, bringt aber auch eine konkrete Modalität von Abhängigkeit hervor“ (Zavaleta 1990: 123).

Arturo Roig (2009: 21) argumentierte, anschließend an diese Sichtweise der Komplementarität, dass Lateinamerika sich uns als eins präsentiert, zugleich aber divers ist. Und diese Diversität entstehe nicht nur im Verhältnis zu allem Nicht-Lateinamerikanischen, sondern dem Kontinent selbst wohne eine Diversität inne. Ganz ähnlich wusste José Aricó (1999) unseren Kontinent zu definieren als eine „problematische Einheit“: Einheit in dem Maße, in dem es einen gemeinsamen Hintergrund oder eine geteilte Grundlage gibt, über die Besonderheiten jedes Nationalstaates, jeder Region hinaus. Problematisch, weil diese Besonderheiten endgültig die Möglichkeit verschlossen haben, einen „pueblo-continente“7 zu kon-stituieren: Dieser würde sich zwar aus dieser Diversität von Geschichten, Kulturen

7 „Volks-Kontinent“, in etwa ein Kontinent der Bevölkerung; „pueblo“ ist in Latein-amerika anders konnotiert als im deutschsprachigen Raum, wo der Begriff eine „völ-kische“ Dimension aufweist. In Lateinamerika wird unter „pueblo“ in der Regel ein Zusammenschluss ausgebeuteter und beherrschter Gruppen und Klassen verstanden (Anm. d. Übers.).

und vielfältigen Wissensformen nähren und an ihnen stärken, aber nicht die Not-wendigkeit leugnen, eine gemeinsame verständliche Sprache zu entwickeln, um ein für alle Mal das Stigma eines Babel ohne gemeinsames Ziel hinter sich zu lassen.

Doch trotz der Notwendigkeit, das Spezifische zu verstehen, versuchen wir nicht, die Unterschiedlichkeit, die Einmaligkeit, die unwiederholbare Singularität zu hierarchisieren. Diese Analyse bezieht ein Verständnis all dessen mit ein, was mit richtungsweisenden Allgemeingültigkeiten bricht. Der Begriff von „Spezifi-kation“ selbst bezieht sich ja auf den allgemeinen Kapitalismus, der als Systemein-heit fungiert. Die Frage ist, inwieweit man den Abstraktionsgrad identifizieren kann, von dem aus das Allgemeine und das Besondere sichtbar werden und die Analyse mit einem solchen Zuschnitt dennoch sinnstiftend bleibt. Würden wir ausschließlich eine Perspektive der allgemeinen Logik einnehmen, könnten wir kaum mehr verstehen als die zentralen Variablen, die die global vorherrschenden kapitalistischen Produktions- und Herrschaftsformen ausmachen. Wenn wir uns aber nur nach der Besonderheit jedes staatlichen Raums richteten, würden wir so viele nicht wiederholbare Charakteristika finden, dass eine breitere und positionierte Interpretation unmöglich würde. Stattdessen geht es darum, das Allgemeine zu verstehen, in das sich die Besonderheit einschreibt. Damit sollte es möglich werden, jene Merkmale in den Blick zu nehmen, die staatliches Handeln einrahmen und die ihm bestimmte Beschränkungen auferlegen, als auch die Bruchstellen kenntlich zu machen, die zum Kapitalismus alternative Strategien denkbar werden lassen und deren Potentiale und Umsetzbarkeit auszuloten.

Im „Allgemeinen“ sind alle Staaten in Lateinamerika mit eingeschlossen; dies wurzelt in ihrem gemeinsamen Ursprung als abhängige Räume von Ak-kumulation im Weltmarkt.8. Die Existenz Lateinamerikas selbst als reale und konzeptionelle Einheit ist ja Gegenstand von Reflektion und Kontroversen geworden. Der Soziologe Sergio Bagú beispielsweise nahm in gewisser Weise die Debatte der 1960er und 1970er Jahre9 darüber, ob die koloniale Eroberung

8 Diese geopolitische Zentralität unseres Kontinents machte bereits Marx selbst im Kapital deutlich: „Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in (Süd- und Mittel-)Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation.“ (Marx 1986; deutschsprach. Version zit. aus Kapital I, MEW 23, 779).

9 Während Andre Gunder Frank argumentierte, Lateinamerika sei seit dem 16. Jahr-hundert kapitalistisch gewesen, hielt Agustín Cueva daran fest, dass der Kapitalismus

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feudaler oder kapitalistischer Natur gewesen sei, vorweg. Er argumentierte, La-teinamerika könne man als eine historische Einheit verstehen, über die zufällige Aneinanderreihung nationaler Besonderheiten hinaus: Das Gemeinsame liege im kapitalistischen Ursprungscharakter. In zwei Klassikern der lateinamerikani-schen Geschichtsschreibung und Sozialwissenschaften (Economía de la sociedad colonial. Ensayo de historia comparada de América Latina (1949) und Estructura social de la colonia. Ensayo de historia comparada de América Latina (1952)) stellt Bagú die These auf, dass sich der Kontinent seit der spanischen und portugiesi-schen Eroberung in das expandierende kapitalistische Weltsystem integriert und kapitalistische gesellschaftliche Organisationsmuster annimmt, aber in einer kolonialen, abhängigen ‘Bauweise’, die sich auf die Bereitstellung der in Europa benötigten Rohstoffe und Edelmetalle beschränkt. „Die spanisch-portugiesischen Kolonien Amerikas“, sagt er, „entstanden nicht, um die Phase des Feudalismus zu wiederholen, sondern um sich in die neue Ära des Kapitalismus zu integrieren, die in der Welt begann […], sie reihten sich nicht nur rasch in die in Europa ein-geleitete Handelsrevolution ein, sondern wurden in ihrer Gesamtheit zu einem seiner wesentlichsten Elemente.“ Insofern schlussfolgert er, dass „Iberoamerika entsteht, um sich in den beginnenden Kapitalismus einzufügen, nicht um den niedergehenden Feudalismus zu verlängern“ (Bagú 2007[1949]: 253).

Kapitalistische Akkumulation, (Unter-)Entwicklung und staatliche Dynamik

Ähnlich wie Bagú formulierte Agustín Cueva, dass die Einbindung Lateiname-rikas in den Weltmarkt ein Prozess der „ursprünglichen Desakkumulation“ war, der die Enteignung und gewaltvolle Privatisierung von Territorien umfasste. Den

im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts konsolidiert worden war (Frank 1969; Cueva 1974). Abgesehen von diesen Differenzen implizierten beide Positionen, die Konzepte von „Kapitalismus“ und „Entwicklung“ zu überdenken, und zwar in einem den eu-rozentristischen Versionen entgegengesetzten Sinne. Demgegenüber schrieben jene Positionen, die die Region als „semi-feudal“ sahen, diesem die Gründe für ein „Hin-terherhinken“ zu. Sie argumentierten, es sei notwendig eine bürgerliche Revolution in Gang zu setzen, um diese Hindernisse zu überwinden und es den entwickelten Ökonomien nachzutun. Letztere Konzeptionen waren den orthodoxeren Strömungen des Kommunismus näher, die den Sozialismus als Produktionsweise verstanden, die in der Lage sei, die kapitalistische Ausbeutung zu überwinden. Doch das könne erst geschehen, wenn sich die Produktivkräfte bereits innerhalb kapitalistischer gesell-schaftlicher Verhältnisse weiter entwickelt hätten. Für eine Zusammenfassung der Debatte Feudalismus-Kapitalismus und die Positionen der Dependenztheoretiker vgl. u.a. Laclau (1986), Frank (1987) und Dos Santos (2002).

enormen Mehrwert, der aus den unterschiedlichen Ausbeutungsmodalitäten in Amerika generiert wurde, transferierten der Vizekönig und die in den Kolonial-gebieten angesiedelten europäischen Eliten fast vollständig an die Mutterländer in Übersee – nur ein winziger Teil blieb für lokale oder regionale Investitionen. So war endogene Entwicklung praktisch völlig blockiert (deshalb sprach André Gunder Frank später ironisch von der Entwicklung der Unterentwicklung). Cueva (1981: 14) konstatierte sogar, dass „die gedankenlose Kapitalflucht im Moment der Emanzipation [also während der Unabhängigkeitsbewegungen um 1810] nicht mehr“ ist „als der Kulminationspunkt eines langen Prozesses der Desak-kumulation: es ist der letzte Akt, mit dem der Kolonialherr seine ‘zivilisatorische Mission’ beendet“. Jener Prozess „war auf diese Weise beendet und das ‘koloniale Erbe’ wurde auf den zentnerschweren Ballast des über drei Jahrhunderte gepräg-ten sozio-ökonomischen Modells reduziert. Aus dieser heraus wird sich das Leben all der neuen Länder neu organisieren müssen. Wenn irgendwo das ‘dunkelste Geheimnis’ für unsere anfängliche Schwäche gesucht werden muss, dann ist es auf dieser strukturellen Ebene“ (Cueva 1981: 15).

Wenn wir also internationale Abhängigkeitsbeziehungen und die Komple-xität der ökonomischen und sozialen Artikulationen in ihren Territorien mit einbeziehen, ist es möglich, die strukturellen Faktoren zu erfassen, die Latein-amerika seit den Zeiten des Kolonialismus prägen, und ebenso die Ausformungen der Machtverhältnisse und der territorial bestimmten politischen Form. Diese Konstituierung von formal von den Kolonialzentren unabhängigen National-staaten führte während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht zu einer entsprechenden Autonomie, innere Produktionsprozesse bestimmen zu können. Im Gegenteil waren die folgenden gesellschaftlichen Artikulationen von Konti-nuität gekennzeichnet: die untergeordnete Integration in die Machtzentren der zentralen Länder bestand fort.

Deshalb muss man, wenn man die sich herausbildenden lateinamerikanischen Staaten charakterisieren will, ihre abhängige gesellschaftlich-ökonomische Kon-figuration mitbedenken. In der internationalen Arbeitsteilung waren sie in die Rolle der Produzenten von unverarbeiteten Rohstoffen gezwungen. Diese struk-turelle Schwäche – verankert in der starken Konditionierung durch den bereits konstituierten Weltmarkt – bedeutete, dass es in großem Maße der Staat war, der die kapitalistische Entwicklung und die Produktion einer kollektiven Identität übernahm. In diesem Sinn war die Ausformung gesellschaftlicher Klassen in nationalen Begrifflichkeiten kein „vollendeter“ Prozess wie in Europa. Somit kann im Fall dieses Kontinents auch nicht die Rede sein vom Staat als einer einfachen „Überbau“-Institution, wie ihn orthodox-marxistische Strömungen definierten,

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sondern vielmehr als eine wirkliche Produktivkraft, also „als atmosphärisches Element von Versicherung und Triebkraft auf Ebene der Ökonomie“ (Zavaleta 2010: 211).10 Tatsächlich weist Zavaleta dem Staat gerade keine sekundäre Rolle als einfache „Spiegelung“ des Ökonomischen zu, sondern der Staat nimmt bei ihm eine zentrale Rolle in der Strukturierung unserer Gesellschaften ein. Das liegt auch daran, dass „die lateinamerikanischen Bourgeoisien diese Bedingungen nicht ex ante gelöst vorfanden, vor allem aber selbst noch gar nicht oder nur im Keim existierten. In großem Maße kann man sagen, dass sie vom bestehenden Staat aus konstruiert werden mussten“ (Zavaleta 1988: 211).

Zumindest durch das 19. Jhdt. hindurch festigten sich nicht so sehr große Zentren mit produzierendem Gewerbe und Industrie, sondern Gesellschaften mit einer klaren Vormachtstellung der Landwirtschaft, mit einigen wenigen und partiellen Ausnahmen. Auch deshalb ist die Abhängigkeit von ausländischem Kapital, aus der sich die „Schwächung“ der Wirtschaftsstrukturen herleitet, ganz grundlegend als Problemachse, um die Unterschiede zwischen den „zentralen“ und „peripheren“ Staaten verstehen zu können. In diesem Sinne schrieben auch Pierre Salama und Gilberto Mathías (1986: 29), in den unterentwickelten Län-dern „war das Auftreten und die Expansion der kapitalistischen Produktionsweise allgemein nicht Ergebnis innerer Widersprüche. Diese Produktionsweise ent-sprang nicht dem Inneren der Gesellschaft, sondern wurde in gewisser Weise von außen mit dem Fallschirm abgeworfen“. In der Konsequenz ersetzt die staatliche Intervention wenigstens anfangs die fragile Eigeninitiative des Privatsektors.11

Diese eben erst konstituierten Staaten, die funktional waren für die expansive Dynamik des Kapitalismus, hatten unterschiedliche Aufgaben vor und zugleich Beschränkungen gegen sich. Zum ersten sollten sie das Gewaltmonopol über das gesamte Territorium erlangen; dafür unterwarfen sie gewalttätig die ursprüngli-

10 „Die schlimmste Vereinfachung“ – schrieb Zavaleta in einem Artikel mit dem sug-gestiven Titel „Die unvollständige Bourgeoisie“ – „ist diejenige, die voraussetzt, dass der Staat nur im Überbau existieren kann, als würde er rückwärts baumeln. Ohne extraökonomische Aktivität, also in irgendeinem Sinne staatlich, ist es kaum vor-stellbar, Barrieren zwischen Menschen und zwischen Fragmenten eines Territoriums abzubauen, das dennoch ein Gesamtes ergibt (also potentiell ‘national‘), usw. Das ist eine Umkehrung: Nicht eine Nation als materielle Basis des Nationalstaates, sondern ein Staat als Konstrukteur einer Nation“ (Zavaleta 2010: 211).

11 Wenn auch diese Eigentümlichkeit ganz entscheidend ist, ist es dennoch auch relevantzu analysieren, wie die Staaten in der Region entstanden, ohne sie völlig von der Gesamtheit der Staaten im weltweiten internationalen, sozialen und wirtschaftlichen System abzukoppeln.

chen Bevölkerungen (poblaciones originarias) und schlugen die Fraktionen nieder, die gegenhegemoniale Produktionsalternativen anboten. Zugleich mussten sie den sogenannten Fortschritt vorantreiben, die öffentliche Bildung ausweiten und Infrastruktur (Straßen, Eisenbahnen, Häfen) schaffen, die materielle Voraus-setzung für die kapitalistische Expansion waren. Diese Aufgaben variierten, je nachdem, welche Charakteristika die vornehmlichen in den Weltmarkt integ-rierten Aktivitäten in jedem staatlichen Raum annahmen, je nach der originären und angesiedelten Bevölkerungszusammensetzung und der Migrationsströme, die die Staaten jeweils aufnahmen. So entwickelten sich Unterschiede zwischen Staaten, die hauptsächlich extraktiv oder landwirtschaftlich wirtschafteten; die mehrheitlich von Indigenen bewohnten, diejenigen, die wichtige Bevölkerungs-teile afrikanischer Herkunft hatten und diejenigen, die kaum besiedelt waren und die den Großteil der europäischen Einwanderung aufnahmen.

Das demographische Regulationsventil, das die Emigration von Bäuerinnen und Bauern, Vertriebenen, Handwerkern und Arbeitern für Europa bedeutete – viele mit einem gewissen Klassenbewusstsein und politischer, gewerkschaftli-cher Erfahrung, führte in der Region zu einem komplexen Gemisch subalterner Klassen. Um die lateinamerikanische Diversität zu verstehen, hat das besondere Bedeutung. Denn Nationalstaaten sind nicht bloß funktional für die Interessen und aus Entschlusskraft der herrschenden Klassen entstanden, sondern ihre Eigentümlichkeit ergab sich aus Konfrontationen, Auseinandersetzungen und Konflikten mit den subalternen Klassen. Es waren subalterne Kämpfe, die Gren-zen setzten und die die Umrisse zogen, die die Staaten der Region von ihrer Entstehung bis heute annahmen.

Auf von der Kolonialzeit ererbten organisatorischen Grundsteinen formten sich staatliche Modelle, die aus den bürgerlichen Revolutionen Frankreichs und besonders der USA entstandene Traditionen importierten; deren Verfassungs-modelle wurden in mehreren Ländern der Region adaptiert. Währenddessen vertieften sich die wirtschaftlichen Bindungen zu Großbritannien, der Hegemo-nialmacht, und es zeichnete sich die Art der Weltmarktintegration ab, die Zusam-mensetzung der Wirtschaftsstrukturen und Sozialstrukturen, auch die Grenzen staatlicher Handlungsspielräume (límites del hacer estatal) wurden geprägt. Im Sinne einer konzeptionellen und politischen Grundstütze dieser untergeordneten Art der Einbindung in die Weltwirtschaft hielten diejenigen, die sie vorantrieben und davon profitierten, die Theorie der komparativen Kostenvorteile im internati-onalen Handel hoch. Demnach solle jedes Land sich auf einen reduzierten Kern an Produkten (Landwirtschaft und Viehzucht oder Mineralien) spezialisieren, diese produzieren und exportieren und mit den gewonnen Devisen die großen Mengen

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an Kapital- und Konsumgütern importieren, die aus den Industrieländern kamen. Die Werbung für Fortschritt und Modernisierung basierte auf dem Import von Gütern – vor allem in die Hauptstädte der entstehenden Staaten – die in Europa aufzutauchen begannen: Automobile, elektrisches Licht, Mode. So breiteten sich die materiellen Grundlagen für die Hegemonie der Konsumgesellschaft aus, die auch auf Proteststrategien und Vorstellungswelten der subalternen Klassen über das 20. Jahrhundert hinweg einwirken würden. Die koloniale Logik, im Sinne einer materiellen und kulturellen Unterordnung, fächerte sich in der Region weiter auf, auch wenn sie in jedem nationalstaatlichen Territorium und je nach den historischen Phasen spezifische Züge annahm.

Lateinamerikanische Besonderheit: „Scheinbare“ Staaten und das Primat des Zwangs

Zu Beginn dieser Arbeit haben wir uns gefragt, ob es möglich ist, Charakteristika der Staaten im peripheren Kapitalismus mit den gleichen Kategorien zu analy-sieren, die staatliche Macht in den metropolitanen Staaten beschreiben. Wir denken, die Analyse unserer peripheren Staaten kann nicht völlig vom Bezug auf die großen theoretischen Linien absehen, die den Kapitalismus beschreiben. Wie deutlich wurde, geben die materiellen und symbolischen Existenzformen des Kapitalismus, nimmt man sie auf globaler Ebene wahr, allgemeine Richtungen vor, die man beim entschlüsseln der Funktionslogik, in die sich die einzelnen Fälle einfügen, nicht außer Acht lassen oder verkennen sollte.

Allerdings haben diverse Autoren darauf hingewiesen, dass die koloniale Dynamik eine Art politisch-kulturelle de facto-Apartheid impliziert, weshalb die in einem Großteil Lateinamerikas entstehenden Staaten im Sinne Zavale-tas als „scheinbare“ Staaten verstanden werden müssten. Denn das Ensemble an Exklusionsmechanismen entlang ethnischer Spaltungslinien, die sie seit ihrer Entstehung im Alltäglichen entfalten, reicht von der Durchsetzung des Spanischen (oder Portugiesischen) als einziger Amtssprache bis zur völligen Nicht-Anerkennung kommunitärer Organisationsformen, lokaler Formen von Autorität und kollektiver Entscheidungsfindung, die indigene Völker12 und afro-amerikanischen Gemeinschaften in ihren territorios praktizieren. Was daraus als staatliche Struktur entsteht ist, mit den Worten Luis Tapias (2002: 306f.) „eine in rechtlicher Hinsicht über ein bestimmtes Territorium souveräne politische

12 Im gesamten Band wurde der Begriff pueblos indígenas mit dem umstrittenen Begriff der „Völker“ übersetzt, um diesen nicht immer wieder umschreiben zu müssen (Anm. d. Ü.).

Macht, die aber keine organische Beziehung mit jenen Bevölkerungen hat, die sie zu regieren behauptet“; das heißt, die Mehrheit der Einwohner_innen fühlen sich nur gezwungenermaßen, aufgrund der Umstände, als Teil dieser Gesell-schaft. Daneben stehen „staatliche Skelette“ ohne „Nation“ (diese würden wir im Sinne O’Donnells (1984) als arco de solidaridades (als solidarischen Bogen) verstehen, der die gesamte Bevölkerung beinhaltet).13 Wie es Guillermo Bonfil Batalla ausdrückte (1981: 14), „behauptet der Staat von sich selbst, Nationalstaat zu sein, aber der zweite Teil der Gleichung beinhaltet nur eine Fraktion der Be-völkerung (und in vielen Ländern eine Minderheit), die sich in den herrschenden gesellschaftlichen Sektoren konstituiert. Diese bilden sich nach den Normen der Führungsschicht, die sich zur Nation erklärt, nach deren Vorbild sich allmählich die anderen gesellschaftlichen Segmente ausformen sollen.“

Zavaleta definierte die lateinamerikanischen Gesellschaften, Ergebnisse eines solchen instabilen und nur temporären mestizaje, als „abigarradas“ (überlagert/zergliedert), in dem Maße, wie sie nicht nur unterschiedliche „Produktionsweisen“ (so definiert es ein klassischer Marxismus über sozioökonomische Formationen) nebeneinanderstellen, sondern wie sie zudem eine Diversität unterschiedlicher, miteinander eigentlich inkompatibler historischer Zeiten verflechten: eine saiso-nal orientierte agrarische zum Beispiel, die in andinen ayllus (Dorfgemeinschaf-ten) verkörpert ist, und die homogene, die das Wertgesetz durchzusetzen und universell gültig zu machen sucht. Ein zentrales Merkmal dieser „scheinbaren Staaten“ ist also die teilweise illusorische Gültigkeit im eigenen Territorium und in der Bevölkerung sowie die ebenfalls illusorische Ausübung politischer Macht. Begründet liegt das im Fortbestehen von Zivilisationen, die kollektive Dynamiken von Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens beibehalten, die eigentlich der kolonialen-kapitalistischen Moderne antagonis-tisch gegenüber stehen, wenn auch im ständigen Spannungsverhältnis mit der übergreifenden Marktlogik.

13 Eine Anekdote illustriert diese tragische Situation: Während seiner Kandidatur um das bolivianische Präsidentenamt besuchte Gonzalo Sánchez de Losada die Stadt El Alto und erklärte mit hörbar englischem Akzent sein Regierungsprogramm (er hatte Jahrzehnte in den USA gelebt). Nachdem sie ihn angehört hatten, erklärte eine Gruppe indigener Frauen: „Sie werden wir wählen, denn Sie sprechen genauso schlecht Spanisch wie wir“. Diese paradoxe Ähnlichkeit sowohl in den herrschenden Klassen wie in den indigenen Gesellschaften und subalternen Gruppen zeigt sich als ein einschneidendes Verhältnis von Entfremdung und Äußerlichkeit, was das Nationale angeht.

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Diese monokulturellen, homogenisierenden Staaten tendierten zu Gesell-schaften mit einem Begriff von Staatsbürgerschaft, der kategorisch jedes Kol-lektivrecht indigener und afro-amerikanischer Bevölkerung ablehnte und deren Mitglieder zu isolierten Individuen machte, um nicht zu sagen, zu Individuen, die vom kommunitären, historisch sinngebenden Kontext abgeschnitten waren. Mit García Linera (2010) würden wir sagen, dieser Prozess bedeutete die Bildung einer „zweiten Staatsbürgerschaft“ je nach Hautfarbe, Sprache oder ländlicher Herkunft der Personen.

Ebenso kann man mit Antonio Gramsci sagen, dass in der Artikulation zwi-schen Zwang und Konsens auf dem lateinamerikanischen Kontinent die erste Dimension meist vorherrschte. Auch das war Konsequenz der strukturellen He-terogenität (also der Aneinanderreihung verschiedener Produktionsverhältnisse) und daher der Abwesenheit einer politischen, sozialen und kulturellen Einbin-dung. Mit den Worten Norbert Lechners (1977) stellte sich der Staat vorrangig als Zwangsherrschaft heraus, so dass das „Extra“ fehlte, das die Hegemonie sein kann, denn der Staat war weder im eigentlichen Sinne souverän (aufgrund der externen Unterordnung) noch in vielen Fällen Nationalstaat im engeren Sinn (aufgrund einer eingeschränkten Staatsbürgerschaft). Der hegemonialen Regierung, die auf internationaler Ebene eine Daseinsberechtigung fand, stand die interne Herr-schaft gegenüber. Bei letzterer war es den lokalen Bourgeoisien unmöglich, eine „politisch-kulturelle“ Regierung zu erreichen, die unterschiedliche gesellschaft-liche Gruppen in der Form einer „Nation“ geeint hätte.14 Mit der vorsichtigen Ausnahme einiger Länder des Cono Sur (unter anderem Argentinien), gab es in Lateinamerika keine homogene und konsolidierte Zivilgesellschaft – im Sinne Gramscis –, die das ganze Territorium umfasst und die gesamte Bevölkerung verbunden hätte. Das Fehlen dieses verbindenden Elements hatte als direktes Kor-relat, dass als einender Mechanismus eher der staatliche bürokratisch-repressive Apparat vorherrschte. Die erkennbare institutionelle Prekarität bedeutete in einigen Regionen unvollständige und instabile Herrschaft über mehrere Jahrzehn-te. Wenn auch die große Mehrheit der lateinamerikanischen Länder laut Oscar Oszlak (1997) nach Ende der nationalen Unabhängigkeitskämpfe zum Zeichen ihrer Kondition als Staaten die formelle internationale Anerkennung ihrer Souve-ränität erreichten, so kam diese Anerkennung doch vor der Institutionalisierung einer im eigenen Territorium anerkannten Staatsmacht. Tatsächlich förderte

14 In anderen Worten: Aus einer strukturellen Schwäche heraus – u.a. weil eine bürger-liche Revolution fehlte – schafft es diese Fraktion nicht, ihre partikularen Interessen als das Allgemeinwohl oder universelles Interesse erscheinen zu lassen.

diese einschneidende Ungleichzeitigkeit die diffuse Vorstellung von einem Staat, der Institutionen einzurichten versuchte, gegenüber einer Gesellschaft, die die Anerkennung jener Institutionalität immer wieder schmälerte.

Wir kommen zu dem Schluss, dass die „historische Besonderheit des Staates“ in Lateinamerika abgesehen von all den beschriebenen Charakteristika in ihrem untergeordneten und vom Weltmarkt abhängigen Wesen liegt.15 Die vielfäl-tigen nationalen Besonderheiten richten sich nach den Formationsprozessen der jeweiligen Klassen, deren gegensätzliche Interessen, Konflikte, Kämpfe und Beziehungen immer in einer Spannung stehen zur Art und Weise, in der sie in historische Akkumulationszyklen auf globaler Ebene eingebunden sind.16 Im Augenblick wird die Frage nach den Besonderheiten insofern wieder aktuell, als der historische Zyklus die Existenzformen der Nationalstaaten wieder in den Vordergrund hebt, ob sie nun historisch zu den peripheren oder metropolita-nen Regionen gehören. Die Debatten über transnationale, nationale und lokale Machträume, ihre Reichweite und Spannungen entwickeln sich schließlich im Rhythmus einer tiefen Krise, die das Gerüst der Europäischen Union knirschen

15 Im Rahmen dieser Debatten zur Dependenztheorie machte Tilman Evers 1977 einen der systematischsten Versuche, die Besonderheiten des Staates in der kapita-listischen Peripherie zu analysieren. In seinem Buch „Bürgerliche Herrschaft in der Dritten Welt“ [lateinamerikanische Ausgabe: El Estado en la periferia capitalista] argumentiert er, der substantielle Unterschied zwischen peripheren und zentralen Staaten beginne bei der unterschiedlichen materiellen Basis, auf der sie sich jeweils entfalten. Für den deutschen Theoretiker aus dem Umfeld der Ableitungsdebatte lag das Formprinzip des souveränen Staates in der innerhalb des staatlichen Territoriums verorteten Reproduktion, mit einer Grundlage in eigenen Kapitalgruppen und der Fähigkeit, die materiellen Grundlagen einer Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Das war in der kapitalistischen Peripherie anders, wo der nationale Wirtschaftsraum den externen Faktoren untergeordnet war, so dass der Staat eigentlich keinen Einfluss über ihn hatte. Daher bekommt das Souveränitätsprinzip von zwei Seiten her Risse: „nach außen kann von einer effektiven politischen Kontrolle keine Rede sein, hier ist die Souveränität fraglich; nach innen besteht zwar kein Zweifel an der Effektivität von Staatlichkeit, fraglich bleibt jedoch deren nationaler Charakter“ (Evers 1979: 90 [deutschsprachige Version 1977: 93]).

16 In seinem bekannten Artikel von 1990 zur „Besonderheit des Staates in Latein-amerika“ unterstreicht Enzo Faletto, der Zustand als Peripherie und die abhängige Integration in den Weltmarkt bestimmten die gesellschaftlichen Verhältnisse und die resultierende Rolle der Staaten und ihre Beschränkungen mit. Für ihn ist dieMacht lateinamerikanischer Staaten „relativ dürftig, was bestimmte grundlegende Entscheidungen über die Wirtschaft angeht, vor allem im Hinblick darauf, über Produktion und Vermarktung von Gütern zu entscheiden“ (Faletto 2009: 165).

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lässt. Die Situation in Lateinamerika zeigt in diesem Kontext neue Denklinien über die Möglichkeiten und Grenzen auf, die ihr historische Besonderheiten auferlegen und zugleich als Herausforderung präsentieren.

Uns bleibt als kollektive Aufgabe, die konzeptionelle Werkzeugkiste wei-terzuentwickeln, die uns in dieser historischen Konstellation einen schärferen Blick erlaubt, sowohl auf die konsolidierten kapitalistischen Staatsformen und ihre charakteristischen Züge als auch auf jene, die in den aktuellen Transforma-tionsprozessen Lateinamerikas in Entwicklung begriffen sind.

Aus dem Spanischen von Alke Jenss

Literatur

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Martín Cortés

Der kreolische Leviathan: Anregungen für eine Analyse

Die gegenwärtigen politischen Prozesse in Lateinamerika haben die Sozial-wissenschaften der Region vor zahlreiche theoretische Herausforderungen gestellt. Seit dem Niedergang der neoliberalen Hegemonie zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben die lateinamerikanischen Staaten Transformatio-nen durchgemacht, die ihre Gestalt und ihre Rolle als politischer Raum der Ausübung und Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen betreffen. Wir erleben einen Moment tiefgreifender Veränderungen, die sogar die Idee einer Neugründung des Staates umfassen, sei es durch Prozesse einer Verfassungsreform oder durch einen Wechsel in der politischen Ausrichtung mit grundlegenden Konsequenzen.

Diese Veränderungen setzen auch die Frage der Nation auf die politische Tagesordnung. Deutlich wird dies in jenen Fällen, in denen die Problematik der Plurinationalität im Vordergrund steht. Dies betrifft vor allem die Anden-länder, in denen die aktuellen politischen Prozesse mit einer starken Präsenz indigener Gruppen einhergehen, die in der politischen Sphäre organisiert sind. Konkret manifestiert sich dies in den neuen Verfassungen, die in Bolivien und Ecuador verabschiedet wurden. Aber auch in jenen Ländern der Region, in der die Problematik der Plurinationalität nicht das entscheidende Merkmal der „postneoliberalen“ Prozesse darstellt (wie zum Beispiel in Argentinien, Brasili-en, Uruguay, oder auch Venezuela), wird die Idee einer Nation hinterfragt: man untersucht die Geschichte ihrer Entstehung, ihrer herrschenden Gruppen und der von ihr Ausgeschlossenen, sowie mögliche politische Formen, die auf neuen, umfassenderen Beziehungen basieren und die auch die Idee einer Neugründung der lateinamerikanischen Nationen beinhalten.

Obwohl sie sich in ihren Details unterscheiden, sind diese Veränderungen offensichtlich das Ergebnis einer breiten Mobilisierung subalterner Gruppen und einer hegemonialen Krise der herrschenden Machtblöcke. Die institutionellen Veränderungen sind in diesem Sinn die Folge von Transformationsprozessen auf der gesellschaftlichen Ebene der Kräfteverhältnisse. Es handelt sich also um Modi, mit denen der Staat diese Veränderungen in seinen eigenen Apparaten verarbei-