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Theory of Mind -Meilensteine und Autismus
Seminar: Entwicklungspsychologie WS 2010/11
Dozentin: Dipl.-Psych. Maria Vuori
Referentinnen: Stefanie Dupp, Betina Fischer
Datum: 10.01.2011
1
Theory of Mind
Gliederung
1. Was ist eine Theory of Mind?
2. Einige Entwicklungsschritte, die der Theory of Mind
vorangehen
3. Theory of Mind Skala
4. Ein genuines Entwicklungsphänomen?
5. Die Theory of Mind zweiter Ordnung
6. Defizite in der Theory of Mind
3.1 Taubheit
3.2 Autismus
Was ist eine Theory of Mind?
Die alltagspsychologischen Konzepte, die wir nutzen um
uns selbst und anderen mentale Zustände zuzuschreiben
Einige Entwicklungsschritte, die der Theory of Mind vorangehen
o Fähigkeit eine Handlung, wie die Greifhandlung (aber
auch mehrschrittige Handlungen) als zielgerichtet zu
verstehen
o Beginnendes empathisches Verhalten
o Repräsentieren von Handlungsabsichten, die der
Handlung klar vorauslaufen und beginnendes
Verständnis für die Subjektivität von Wünschen
Was ist eine Theory of Mind?
Die alltagspsychologischen Konzepte, die wir nutzen um
uns selbst und anderen mentale Zustände zuzuschreiben
Wie jedoch wissen wir ab wann Kinder in der Lage sind,
anderen mentale Zustände zuzuschreiben?
Theory of Mind Skala
Theory of Mind - Skala
1. Abgrenzung des eigenen Wunsches
Wunsch
3jährige 100%
4jährige 100%
5jährige 100%
Theory of Mind - Skala
2. Abgrenzung der eigenen Überzeugung
Eigene Überzeugung
3jährige 77%
4jährige 94%
5jährige 100%
Theory of Mind - Skala
3. Zugang zu Wissen
Wissenszugang
3jährige 59%
4jährige 94%
5jährige 94%
Theory of Mind - Skala
4. Falsche Überzeugung bzgl. des Ortes
Ort
3jährige 29%
4jährige 71%
5jährige 83%
Theory of Mind - Skala
5. Falsche Überzeugung bzgl. des Inhaltes
Inhalt
3jährige 29%
4jährige 71%
5jährige 89%
Theory of Mind - Skala
5. Emotion
Inhalt
3jährige 18%
4jährige 41%
5jährige 78%
Wisst ihr, weshalb man genau die falsche
Überzeugung als Maß wählt?
Kinder müssen dafür:
−sich in die Gefühlswelt des anderen
hineinversetzen,
−zwischen Überzeugung und Realität
unterscheiden und
−aus Überzeugungen
Handlungsvorhersagen ableiten können.
Ein Beispiel
Wenn sich die Handschuhe tatsächlich dort befinden, wo
Max glaubt, sagen Kinder viel eher voraus, dass er dort
suchen wird
ABER: Noch kein Repräsentieren geistigen
Geschehens mit kausaler Wirksamkeit in
diesem Altersbereich, sondern reiner
Abgleich mit der Realität
Die Theory of Mind: ein genuines Entwicklungsphänomen
Hohe Korrelationen zwischen falschen Inhalts- und falschen
Orts-Aufgaben
kognitives Defizit bei Jüngeren
Zahlreiche Studien, die versuchen gegen ein genuines
Entwicklungsphänomen zu argumentieren, liefern keine
Belege
Dafür unterstützt eine Metaanalyse mit mehr als 500
Studien von Wellman, Cross und Watson und die Tatsache
der absteigenden Lösungswahrscheinlichkeit die These
Die Theory of Mind zweiter Ordnung
Was glaubt Maxi, dass Susi glaubt, was…
−Kompetenz zweiter Ordnung erstmals zwischen 7 und 8
Jahren
−Voraussetzung für das Verständnis von z.B. komplexen
Sprachakten wie Ironie oder Witz,
−die Unterscheidung zwischen Wünschen und bindenden
Festlegungen
−oder indirektem Wissenserwerb
Einige Beispiele der zahlreichen Forschungsfelder der Theory of Mind-Forschung
Universalität der ToM-Entwicklung
Spezies-Spezifität
Symbolspiel
Defizite in der Theory of Mind-Entwicklung
Language Access and Theory of Mind Reasoning:
Evidence From Deaf Children in Bilingual and Oralist
EnvironmentsInwieweit nehmen
•der Unterschied zwischen Gebärdensprache von Geburt
an oder erst später erlernt,
•der familiäre Sprachgebrauch und
•die im sonstigen Umfeld „gesprochene“ Sprache
Einfluss auf die kindlichen Fähigkeiten eine Theory of
Mind zu bilden?
Theory of Mind-Fähigkeiten von tauben Kinder
Theory of Mind-Fähigkeiten von tauben Kindern
Theory of Mind-Fähigkeiten von tauben Kindern
Experiment 1:
• Italienische Kinder
• Grammatikalischer Test vorher
• Nur in einem Bereich der ToM-Kompetenzen
Experiment 2:
• Estländische und schwedische Kinder
• Ohne den Grammatiktest
• Testete mehrere Dimensionen der ToM-Fähigkeiten
Theory of Mind-Fähigkeiten von tauben Kindern
Ergebnisse aus beiden Experimenten:
• Taube Kinder aus bilingualen Schulen schnitten besser ab, als solche in sprechender Umgebung
• Hörende Kinder waren im Durschnitt besser als alle tauben Gruppen außer
• Den „natives“ aus bilingualer Umgebung
• Diese sind besser als:• „late signers“ einer bilingualen Schule und
• „natives“ einer sprechenden Umgebung
• Und genauso gut wie hörend Kinder
Take home message
oDie Meinung, dass alle tauben Kinder schlechter in
ToM-Fähigkeiten sind, ist falsch!
oDie ToM-Entwicklung wird stark durch sprachlichen
Input bestimmt
oTauben Kindern kann geholfen werden am
gesellschaftlichen Leben voll teilzunehmen! Wodurch?
oMehr bilinguale Schulen
oBessere Ausbildung der der Eltern und
Geschwister
oEine bessere Gebärdensprache in Schulen usw.
Quellen• Aschersleben G. & Hofer T. (2005): „Theory of Mind“-Skala für 3- bis 5jährige Kinder
• Kristen S., Aschersleben G., Hofer T, Sodian B. und Thoermer C. (2006): Skalierung von „Theory of Mind“-Aufgaben
• Meristo M., Falkmann K., Siegal M., Surian L. & Tedoldi M. (2007): Develomental Psychologie: Language Access and Theory of Mind Reasoning: Evidence From Deaf Children in Bilingual and Oralist Environments
• Schneider W. & Sodian, B. (2006): Theory of Mind, Kognitive Entwicklung (pp.495-520)
• http://kejda.net/wp-content/uploads/2007/10/problem-of-other-minds.jpg am 06.01.2011
• http://www.bkh-taufkirchen.de/bilder/fragezeichen.jpg am 06.01.2011
• http://www.hart-brasilientexte.de/wp-content/uploads/2009/11/hakani1.JPG am 06.01.2011
• http://www.sk-kultur.de/pattevugel2004/grafik04/rumpelstilzchen.jpg am 06.01.2011
• http://www.praktikum-natur-umwelt.de/Bilder/Schimpanse.jpg am 06.01.2011
• http://www.gehoerlosenseelsorge-ekkw.de/bilder/b_fingeralphabet1.gif am 06.01.2011
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Theory of Mind bei Autisten
im Kindesalter
Gliederung
Teil 1
AUTISMUS-SPEKTRUM-STÖRUNGEN (ASS)
1.1 Definition
1.2 Formen von Autismus
1.2.1 ICD-10 Klassifikation: Frühkindlicher Autismus
1.2.2 Psychiatrische Begleitsymptome
1.3 Ursachen
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Gliederung
Teil 2
THEORY OF MIND-DEFIZIT BEI AUTISTEN
2.1 Erklärungsmodell autistischer Symptomatik
2.2 Arten des ToM-Defizits
2.3 Diagnostische Verfahren (Baron-Cohen et al)
2.3.1 bei Kindern: First Order False Belief-Aufgaben (Sally-Anne Aufgabe)
2.3.2 Replikationsstudie zur Spezifitätshypothese
2.2.3 bei Jugendlichen und Erwachsenen
2.4 Zusammenfassung
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Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)
1.1 Definition
• griech. αὐτός = „selbst“• Ichbezogenheit, Apathie, Verlust des Umweltkontakts, Flucht in eigene
Fantasiewelt
• Spektrum: verschiedene Schweregrade möglich; high vs. low functioning
• tiefgreifende Entwicklungsstörungen (Störungen des ZNS, v.a. Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitung)
• Geprägt durch: E. Bleuler (1911), L. Kanner (1942), H. Asperger (1943)
• Prävalenz: Autismus (0,3%), ASS (0,9%)
• Geschlechterverhältnis 4 (Jungen) : 1 (Mädchen)
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Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)
1.2 Formen von Autismus
• Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (TE)• Frühkindlicher Autismus (sog. Kanner-Syndrom)• Asperger-Syndrom• Atypischer Autismus• Nicht näher bezeichnete/sonstige TE
• Andere TE• Rett-Syndrom• Andere desintegrative Störungen des Kindesalters
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Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)
1.2.1 ICD-10 Klassifikation Frühkindlicher Autismus
• mind. sechs qualitative Auffälligkeiten aus drei Bereichen• gegenseitige soziale Interaktion (mind. 2 Symptome)
• Kommunikation und Sprache (mind. 1 Symptom)
• Begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten (mind. 1 Symptom)
• Außerdem: • Auffällige und beeinträchtigte Entwicklung vor dem 3.
Lebensjahr• Keiner anderen TE oder psychischen Störung zuordbar
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Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)
1.2.2 Psychiatrische Begleiterscheinungen
• ADHS
• (Auto-) aggressives Verhalten
• Angst
• Zwänge
• Depression
• Schlaf- und Essstörungen
• Schizophrene Psychosen
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Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)
1.3 Ursachen
• Genetische Faktoren (s. Zwillingstudien)
• Neurologische & biochemische Auffälligkeiten• Unregelmäßigkeiten der elektrischen Hirnströme• unterschiedliche Entwicklung bestimmter Teile des
Gehirns• Krankheiten: X- Chromosomen-Anomalie• Erhöhte Konzentration des Neurotransmitters
Serotonin
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Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)
• Umweltfaktoren• Während Schwangerschaft: Virusinfektionen,
Medikamente, Rauchen• Geburtskomplikationen: Infantile Zerebralparese• Frühkindliche Deprivation/ „Kühlschrankmutter“
(fehlende Zuwendung)
• Klinische Neuropsychologie/ Psychologische Fehlfunktionen• Theory of Mind Defizit• Beeinträchtigte Exekutivfunktionen• Schwache zentrale Kohärenz: lokal orientierte
Informationsverarbeitung, Detailaufmerksamkeit
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33
Teil 2:Theory of Mind-Defizit
bei Autisten
Theory of Mind-Defizit bei Autisten
2.1 Erklärungsmodell autistischer Symptomatik
• ToM (naive Theorie, Mentalisierung) • = Fähigkeit, sich selbst und anderen mentale Zustände
(Emotionen, Gedanken, Absichten, Bedürfnisse) zuzuschreiben
• Sich in Gedanken und Emotionen andere hineinversetzen• Nötig für Interpretation von (fremdem) Verhalten
• Mangel an ToM soziale und kommunikative Probleme
• Aber ToM-Beeinträchtigungen auch bei anderen Störungsbildern (Aufmerksamkeitsstörung, Schizophrenie, Hirnläsionen)
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Theory of Mind-Defizit bei Autisten
2.2 Arten des ToM-Defizits bei Autisten
Autisten verfügen nicht über: • Ontologische Unterscheidungen
(mentale vs. physikalische Phänomene)
• Verständnis des Zusammenhangs Sehen vs. Wissen
• Schein-Sein Differenzierung
• Symbolspiel
• Verständnis, dass Emotionen abhängig sind von Überzeugungen
Implikationen für Alltag: Probleme, Geheimnisse zu wahren oder zu lügen
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Theory of Mind-Defizit bei Autisten
2.3.1 Diagnostische Verfahren bei Kindern:
Experiment von Baron-Cohen, Leslie & Frith (1985)
• urspr. Premack & Woodruff (1978): Forschung an Schimpansen
• „First Order False Belief“-Aufgaben (Wimmer/ Perner, 1983)
Sally-Anne-Aufgabe
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Sally-Anne-Aufgabe
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Theory of Mind-Defizit bei Autisten
Baron-Cohen et al (1985)• EG: autistische Kinder (verbaler IQ wie normal
entwickelte Kinder) • KG 1: normal entwickelte Vierjährige• KG 2: Down-Syndrom-Kinder (gleiches verbales Alter in false
belief Tests wie normal entwickelte Kinder)
Ergebnisse aus Sally-Anne-Aufgabe (korrektes Lösen)
• EG: 20%• KG 1: 85%• KG 2: 86%
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Theory of Mind-Defizit bei Autisten
Schlussfolgerungen• Autisten weichen in der Entwicklung einer ToM sowohl von
klinisch unauffälligen als auch geistig behinderten Kindern ab
• ToM-Defizit autismusspezifisch und nicht aufgrund allgemeiner Entwicklungsverzögerung
• Autismus ist keine geistige Retardation
• ToM-Defizit intelligenzunabhängig
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Theory of Mind-Defizit bei Autisten
2.3.2 Replikationsstudie von R. Kißgen und R. Schleiffer (2002): „Zur Spezifitätshypothese eines Theory-of-Mind Defizits beim Frühkindlichen Autismus“• Überprüfung im deutschsprachigen Raum an Kindern
und Jugendlichen
• Methodologische Vorgehensweise wie Baron-Cohen• EG: 16 autistische Kinder (6-16 Jahre)
• KG 1: 20 normal entwickelte Kinder (Kindergartenalter)
• KG 2: 24 Kinder mit Down-Syndrom
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Theory of Mind-Defizit bei Autisten
• Diagnostische Verfahren: • Sally-Anne-Test• CPM/SPM: Messung der sprachfreien Intelligenz und des
logischen Schlussfolgerns• Zusätzlich bei EG und KG 2: ADI-R (Autism Diagnostic
Interview-Revised) ergänzend zur klinischen Diagnostik des Frühkindlichen Autismus
• Ergebnisse im Vergleich zur Originalarbeit• EG: 37,5% (vs. 20%) nicht• KG 1: 30% (vs. 85%) autismus-• KG 2: 12,5% (vs. 86%) spezifisch
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Theory of Mind-Defizit bei Autisten
• Ergebnisse der Replikationsstudie: Zusammenhang zwischen Alter, IQ und Verfügen über ToM (Mittelwerte)• Altersunterschiede innerhalb der einzelnen Gruppen/
Untergruppen nicht signifikant• Frühkindlicher Autismus
• Mit ToM: IQ = 98• Ohne ToM: IQ = 66
• Down-Syndrom• Mit ToM: IQ = 65• Ohne ToM: IQ = 70
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IQ-abhängig
Theory of Mind-Defizit bei Autisten
• Ergebnisse der Replikationsstudie unter Berücksichtigung des ADI-R
• Nur bei 50% (8/16) korrekte Diagnose des Frühkindlichen Autismus• 7/8 Autisten laut ADI: ToM-negativ• 3/8 Nicht-Autisten: ToM-negativ
• genauere Unterscheidung zwischen Frühkindlichem Autismus und geistiger Behinderung ohne Autismus nötig!
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Theory of Mind-Defizit bei Autisten
• Schlussfolgerungen: Originalbefunde nicht bestätigt!1. ToM-Defizit nicht zwingend autismus-spezifisch
(37,5% der EG schnitten besser ab als beide KG)
2. IQ-Einfluss: Kompensation des ToM-Defizits mit anderen kognitiven Mitteln möglich
3. ADI-R zur diagnostischen Abklärung empfohlen
Ausmaß und Spezifität des ToM-Defizits bei Autisten weiterhin umstritten !
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Theory of Mind-Defizit bei Autisten
Weitere diagnostische Verfahren bei Kindern:
• Erkennen von Faux Pas (Baron-Cohen et al, 1999)
• Verstehen von Täuschung (Baron-Cohen, 1992)
• Verstehen von Intentionen in Kommunikations-prozessen (Jolliffe/ Baron-Cohen, 1999)
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Theory of Mind-Defizit bei Autisten
2.3.3 Diagnostische Verfahren bei Jugendlichen und Erwachsenen
• ASS auf hohem Funktionsniveau bzw. im Erwachsenenalter bereitet Sally-Anne Aufgabe meist keine Schwierigkeiten
• Dennoch: im Alltag deutliche Auffälligkeiten im Bereich sozialer Kognition
• Testverfahren zur Objektivierung solcher Probleme: • Stranger Stories Task• Reading the Mind in the Eyes Test (Baron-Cohen et al, 2001)• Awkward Moments Test
• lebensnahes Stimulusmaterial wie Fotographien und Videos
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Theory of Mind-Defizit bei Autisten
2.3 Zusammenfassung
• Baron-Cohen et al. (1985): Autisten verfügen nicht über eine Theory of Mind, welche für v.a. soziale Interaktion sowie Kommunikation und Sprache von Bedeutung ist
• Replikationsstudie (2002) konnte Baron-Cohens Ergebnisse nicht bestätigen
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Quellen
• Bölte, S. (2009). Autismus. Spektrum, Ursachen, Diagnostik, Intervention, Perspektiven. (1. Aufl.). Bern: Verlag Hans Huber.
• Kißgen, R., & Schleiffer, R. (2002). Originalarbeiten. Zur Spezifitätshypotheses eines Theory-of-Mind Defizits beim Frühkindlichen Autismus. Zeitschrift für Kinder-und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 30 (1), 29–40.
• Sodian, B., & Thoermer, C. (2006). Kognitive Entwicklung. Theory of Mind. (Auflage). Göttingen: Hofgrefe, Verlag für Psychologie.
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Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit !