TITEL...2018/11/24  · beziehungsfhig, nicht ausbildungsf-hig. Unangemessenes Auftreten, hohe...

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  • T I T E L

    2 4 . / 2 5 . N o v e m b e r 2 0 1 8 w 3

    Verpennt und verpeilt, blass und schlaffDer Kinder und Jugendpsychiater Michael Winterhoff ist pessimistisch, wenn es um die junge Generation geht. Der Psychotherapeut sorgt sich, dass Kinder zu wenig auf das erwachsene Leben vorbereitet werden.

    Herr Winterhoff, ist die Kindheit verloren gegangen?Seit etwa Mitte der 90er Jahre behandelnwir Kinder wie kleine Erwachsene. Dazugehört auch die Vorstellung, dass Kindersich von alleine entwickeln. Das tun sieaber nicht. Wenn wir in der GrundschuleThemenunterricht betreiben und unsvorstellen, dass sie sich an der Lernthekenach Lust und Laune selbst bedienenund selbst entscheiden, was und wannsie lernen wollen, geht das komplett in die falsche Richtung.

    Warum passiert das?Damit entlasten die Erwachsenen nursich selbst, weil es viel Zeit, Geduld undAnstrengung bedeutet, Kinder anzuleitenund fürsorglich zu begleiten. Für die Kinder ist das gnadenlos und skandalös, weilsie den Schonraum nicht mehr haben, indem sie sich entwickeln können. Kinder entscheiden heute, wohin es in denUrlaub geht, was sie lernen, was gekauftwird. Das können sie aber noch nicht.

    Was Kinder früher konnten und heutenicht mehr können – was beobachtenSie in 30 Jahren Praxis bei Kindern?Früher realisierten die Kinder, wo sie hingehen, wenn sie zu mir in die Praxis

    kamen. Sie wussten, warum sie hier sind.Wir machen eingangs einen Intelligenztest, da strengten sich Sechs und Achtjährige an, Elfjährigen war peinlich, etwas nicht zu können. Heute arbeitenKinder und Jugendliche nach Lust undLaune. Wenn sie einen Fehler machen,tun sie so, als ob sie nachdenken, undschreiben dann die gleiche falsche Antwort wieder hin. Gravierende motorischeSchwächen kommen hinzu, sie könnennicht über einen Balken balancieren odermit Bällen hüpfen, und das ist ihnennoch nicht einmal peinlich. Heute wissen sie nicht, was sie hier sollen. Auf Fragen antworten sie, dass sie keine Probleme haben oder dass ich ihre Mutter fragen soll, warum sie hier sind. Früher hatten die Kinder Körperspannung, Bewegung im Gesicht. Heute sind sie schlaff,blass und die häufigste Antwort ist: weißich nicht, keine Ahnung.

    Und wie ist der Stand bei Jugendlichenim Übergang zum Beruf?Ob die Rechnung aufgeht, sieht manbeim Übergang von der Schule in denBeruf. Heute sind über die Hälfte derSchulabgänger nicht arbeitsfähig, nichtbeziehungsfähig, nicht ausbildungsfähig. Unangemessenes Auftreten, hoheErwartung, gelobt zu werden für unterdurchschnittliche Leistung, keine realistische Einschätzung der eigenen Leis

    tung, so beschreiben Arbeitgeber undAusbilder diese Jugendlichen.

    Es gäbe 70 bis 80 Prozent verhaltensauffällige Kinder in der Grundschule,sagen Sie. Was ist da los?Es ist ein Massenphänomen. Kinder lassen sich nicht mehr fremdbestimmen.Normalerweise bekommt ein Sechsjähriger einen Auftrag und den will er erfüllen. Er wird gelobt und strahlt. Ein grundschulreifes Kind holt das Deutschbuch heraus, wenn der Lehrer das sagt. Heutepassiert das vielleicht nach dem fünftenMal, bis dahin sitzen die Kinder verpenntund verpeilt da oder fangen an zu diskutieren, ob man nicht doch lieber Mathemachen will. Diese Kinder sind nichtkrank und auch nicht schlecht erzogen, sondern schlecht entwickelt. Zwei vondrei Grundschulkindern fehlt die grundlegende Reife, um zuverlässig Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben undRechnen zu lernen, sagen Lehrer. Undwir schaffen Rechtschreibung undSchreibschrift ab!

    Was ist mit der sozialen Kompetenz?Ein Fünfjähriger würde sich aus eigenemAntrieb in einem Restaurant benehmen,um nicht aufzufallen. Diese reifen psychischen Anteile fehlen einem Fünfjährigen, der im Restaurant herumtobt, unddieser Rückstand bleibt bestehen, wenn

    die Eltern ihn gewähren lassen. Generellfehlt den Kindern ein klar abgegrenztesGegenüber, an dem sie sich orientierenund entwickeln dürfen.

    Was können Kinder und Jugendlicheheute richtig gut? Die können sehr schnell feststellen, wasihnen guttut. Ich weiß aber nicht, ob dasso gut ist, denn sie sind rein lustorientiert. Am Übergang vom Jugendlichenzum Erwachsenen gesteht man eigeneMeinung, eigenen Geschmack zu. Aber die Jugendlichen sind heute auf der psychischen Entwicklungsstufe von Kleinkindern. Ich wüsste nicht, was daran gutist. Als die Kindheit vor 200 Jahren alsLebensphase etabliert wurde, gestandman Kindern Entwicklung zu. Das gehtheute völlig fehl.

    V O N

    G A B R I E L E U N V E R Z A G T

    Michael Winterhoff (63) ist Kinder und Jugendpsychiater sowie Psychotherapeut. Er befasst sich mit Entwicklungsstörungen im Kindes und Jugendalter. 2008 schrieb er den Bestseller „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“. Zuletzt erschien „Die Wiederentdeckung der Kindheit. Wie wir unsere Kinder glücklich und lebenstüchtig machen“. Foto: privat

    sensgesellschaft und damit denRun auf die Fleischtöpfe derZukunft erleichtern sollen.Verträgt sich das mit dergesunden Entwicklung vonKindern? Eher nicht so gut, meinen dieeinen. Dass die Zeiten golden waren, indenen Kinder einfach draußen oder drinnen spielten, geliebt und trotzdem ausgeschimpft wurden, sich zum gemeinsamen Abendessen am Küchentisch einfanden und samstags in die Badewannegesteckt wurden, sagen die anderen.Dann halten die einen wieder dagegen, dass die Welt heute ganz andere Anforderungen bereithält, auf die Kinder unbedingt vorbereitet werden müssten.

    Ist das wirklich so? Und wenn ja, wiebereitet man sie vor? Die Autoren Herbert RenzPolster und Gerald Hütherschauen in ihrem Buch „Wie Kinder heute wachsen“ zunächst auf den Anfangvon allem. Unreif und schwach werdenMenschenkinder geboren, sie können nicht einmal ihren eigenen Kopf halten,müssen mindestens ein Jahr lang gebettet, gefüttert, getragen, geschoben und unterhalten werden. Tierbabys stehenbesser da. Doch wunderbarerweise werden aus diesen kleinen Pflegefällen erwachsene Menschen, die neue Lieder erfinden, Rosen züchten, Gedichte schreiben, Aktienderivate ersinnen und selbstEltern werden.

    Der Hirnforscher Hüther und der Kinderarzt RenzPolster meinen, das funktioniere am besten, wenn Kinder die Natur als Entwicklungsraum haben. Wirkliche Natur – also Wiesen, Bäume, Erdeund Bäche, aber auch Umgebung: denKindergarten, die Schule, den Schulweg,den Park, die Freifläche neben dem Haus.Unbeaufsichtigt und frei laufende Kindergibt’s kaum noch, schon gar nicht im Plural: Von Kindern selbst gestaltete Gruppen gehören der Vergangenheit an. Schade! Allenfalls in Büchern haben elternfrei agierende Kinder wie PippiLangstrumpf mit Tommy undAnnika oder Tom Sawyer und Huck Finnüberdauert. Denn dieKindheit ist inzwischen durchorganisiert wie ein

    Managertag. Außerdem istdraußen alles gefährlich,

    die Bäume zu hoch, die Autos zu schnell,die Mitmenschen zu böse. Da ist es besser, die Kleinen bleiben sicher im Haus.Da allerdings muss man sie vor den Gefahren der Medien bewahren.

    Doch das, was viele Kinder inzwischenals Kindheit erleben, reicht nicht, um ihnen Zugang zu all ihren Möglichkeiten zueröffnen, sagen Hüther und RenzPolter.Wer auf Frühchinesisch setzt, übersieht, dass es andere Dinge sind, die unsmenschlich, kreativ, einfühlsam und damit leistungsfähig machen.

    Egal ob später als Pirat oder Pastorin,in Hamburg oder Honolulu – am Anfangsteht jedes Menschenkind vor derselbenHerausforderung: fundamentale Lebenskompetenzen erwerben, Gefühle und Absichten verstehen und sich in Gruppeneinbringen können. Kinder müssen mitWidrigkeiten umgehen lernen, ohnegleich aus dem Gleis zu geraten. Es gehtum die Grundlagen des Menschseins:Kreativität, Selbstkontrolle, soziale Kompetenz, Widerstandsfähigkeit.

    Genau diese fundamentalen Lebenskompetenzen können nicht gelehrt oder

    vermittelt werden,man muss sie ab

    schauen und erwirbtsie nur, wenn man Erfah

    rungen aller Art macht. Zum Beispiel so: Wenn Kinder eine Bandegründen und aushandeln, werder Chef ist, und sei es nur für

    diesen Nachmittag; wenn Kinder von der Mauer springen;

    den Weg zum Kiosk allein gehen, sind sie dem Erwerb die

    ser Lebenskompetenzen auf derSpur – es treibt sie förmlich dazu.

    Sich zu entwickeln, gelingt ihnen, wenn sie sich in verlässli

    chen Beziehungen in der Familie geborgen fühlen.

    Heute könnte es kaum ein Elternteil ertragen mit anzusehen, wenn die Kinder das täten, was dieMütter und Väter selbst als Kinderangestellt haben. So ist das ebenauch nicht gedacht: Es macht keinen Spaß, unter Aufsicht denWaldbach zu stauen, mit gutenRatschlägen zur Stabilität desStaudamms versehen zu werden und frühzeitig gewarnt zu werden,bevor man ins Wasser fällt. Aber esmacht einen Riesenspaß, wenn Kinderdas zusammen aushecken und am Endemit drei toten Fischen und nassen Hosenan einem MiniWasserfall sitzen.

    Für die Zukunft mag das wichtig sein:Wer als Kind Staudämme gebaut hat, versteht in der Schule besser, wie elektrischer Strom funktioniert, so geht dasGerücht. Für den Moment jedenfalls haben die Kinder Spaßgehabt, sich draußen bewegt und viel Vitamin Dproduziert, dabei jedeMenge Wissen erworben,ihre Kreativität weiterentwickelt, Beharrlichkeit geübt und Vertrauen gewonnen, Bindungengeknüpft, Mitgefühlverspürt und imTeam gearbeitet.

    Faxgerät und Disketten sinddem Fortschritt gewichen,

    Zeitansage und Telefonzelleauch. Die Kindheit hat sich in den letzten 30 Jahren stark verändert. Das Internet gehört zum Alltag der Kinder. Sietauschen sich über Instagram, Snapchatund Whatsapp aus. Statt mit Puppenoder Eisenbahn spielen sie oft elektronische Spiele auf ihren Tablets oderSmartphones. Fest steht, dass so vielesin Vergessenheit gerät, mit dem sich dieKinder von einst vergnügt oder herumgeärgert haben:

    I Draußen bleiben, bis es dunkel wird. KeinHandy, mit dem die Eltern dauernd nachfragen können, und auch keine ständige Angst,dass etwas passieren wird.

    I Vom Spielplatz nach Hause rennen, um den Lieblingsfilm nicht zu verpassen. Heutewerden Serien auf Netflix gesucht.

    I Sommerlager und die dort geschlossenenFreundschaften. Ohne Facebook undWhatsapp sah man seine Freunde erstnächstes Jahr im Feriencamp wieder.

    I Schulhofgerüchte haben viel Geheimniseingebüßt jetzt, wo man mit dem Smartphone alles nachlesen kann.

    I Auf die Abendnachrichten warten, um zuerfahren, wie die Lieblingsfußballmannschaft gespielt hat. Danke, Facebook, Twitter, Instagram und Snapchat!

    I Nummern im Telefonbuch nachschlagen, die wichtigsten auswendig können.

    I Nachbarschaftsgefechte mit Stecken, Seilen, Kastanien und Steinen (aber nicht aufden Kopf zielen!). Im Sommer: Wasserpistolenschlachten

    I Telefonstreiche haben ihren Reiz verloren.Es gibt kaum noch Festnetztelefone und jeder sieht, wer gerade anruft.

    I Gespannt auf die Entwicklung derUrlaubsfotos warten.

    I Ganzes Album kaufen, obwohl man nurein Lied will.

    I Irgendetwas nicht wissen war gestern.Wie hieß der noch? Warte, ich hab’s gleich.Heute zückt man das Smartphone und kannper Suchanfrage beweisen, dass BritneySpears und Justin Timberlake tatsächlichmal ein Paar waren.

    I Sich verlaufen ist praktisch ausgeschlossen, GPS, Navi und Google Maps sei Dank.Man muss sich auch nicht mehr überwinden, einen Fremden nach dem Weg zu fragen. Und kommt selbst kaum in die Verlegenheit, einem Fremden den Weg zumBahnhof erklären zu müssen.

    I Kabelsalat: Was war das noch mal? InZeiten von FunkKopfhörern, WirelessMouse und immer stärkeren Akkus ist derKabelsalat reif fürs Museum.

    I Kleingeld für die Telefonzelle mitnehmen.

    I Wer das Fernsehprogramm umschaltenwollte, musste aufstehen.

    I Welches Kind weiß heute noch um denZusammenhang zwischen einer Kassette, Bandsalat und dem Nutzen eines Bleistifts?

    I Einen Brief schreiben und eine Woche aufAntwort warten oder erst am nächsten Tagzurückgerufen werden und darüber keinStück irritiert zu sein.

    I Unvorstellbar: Es gab eine Zeit, in der eineinziges Telefon für eine ganze Familie gereicht hat. Und das stand im Flur. Wenn dieTochter stundenlang mit der besten Freundin quatschte, hörten andere Anrufer nurdas Besetztzeichen. Und mussten warten. Noch mal neu wählen. Auf einem Wählscheibentelefon. UNV

    Was Kinder heute nicht

    mehr wissen

    Erfahrungen sammeln?So gut wie verboten

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