TITEL...2018/11/24  · beziehungsfhig, nicht ausbildungsf-hig. Unangemessenes Auftreten, hohe...

1
TITEL 24./25. November 2018 w 3 Verpennt und verpeilt, blass und schlaff Der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff ist pessimistisch, wenn es um die junge Generation geht. Der Psychotherapeut sorgt sich, dass Kinder zu wenig auf das erwachsene Leben vorbereitet werden. Herr Winterhoff, ist die Kindheit ver- loren gegangen? Seit etwa Mitte der 90er Jahre behandeln wir Kinder wie kleine Erwachsene. Dazu gehört auch die Vorstellung, dass Kinder sich von alleine entwickeln. Das tun sie aber nicht. Wenn wir in der Grundschule Themenunterricht betreiben und uns vorstellen, dass sie sich an der Lerntheke nach Lust und Laune selbst bedienen und selbst entscheiden, was und wann sie lernen wollen, geht das komplett in die falsche Richtung. Warum passiert das? Damit entlasten die Erwachsenen nur sich selbst, weil es viel Zeit, Geduld und Anstrengung bedeutet, Kinder anzuleiten und fürsorglich zu begleiten. Für die Kin- der ist das gnadenlos und skandalös, weil sie den Schonraum nicht mehr haben, in dem sie sich entwickeln können. Kinder entscheiden heute, wohin es in den Urlaub geht, was sie lernen, was gekauft wird. Das können sie aber noch nicht. Was Kinder früher konnten und heute nicht mehr können – was beobachten Sie in 30 Jahren Praxis bei Kindern? Früher realisierten die Kinder, wo sie hingehen, wenn sie zu mir in die Praxis kamen. Sie wussten, warum sie hier sind. Wir machen eingangs einen Intelligenz- test, da strengten sich Sechs- und Acht- jährige an, Elfjährigen war peinlich, et- was nicht zu können. Heute arbeiten Kinder und Jugendliche nach Lust und Laune. Wenn sie einen Fehler machen, tun sie so, als ob sie nachdenken, und schreiben dann die gleiche falsche Ant- wort wieder hin. Gravierende motorische Schwächen kommen hinzu, sie können nicht über einen Balken balancieren oder mit Bällen hüpfen, und das ist ihnen noch nicht einmal peinlich. Heute wis- sen sie nicht, was sie hier sollen. Auf Fra- gen antworten sie, dass sie keine Proble- me haben oder dass ich ihre Mutter fra- gen soll, warum sie hier sind. Früher hat- ten die Kinder Körperspannung, Bewe- gung im Gesicht. Heute sind sie schlaff, blass und die häufigste Antwort ist: weiß ich nicht, keine Ahnung. Und wie ist der Stand bei Jugendlichen im Übergang zum Beruf? Ob die Rechnung aufgeht, sieht man beim Übergang von der Schule in den Beruf. Heute sind über die Hälfte der Schulabgänger nicht arbeitsfähig, nicht beziehungsfähig, nicht ausbildungsfä- hig. Unangemessenes Auftreten, hohe Erwartung, gelobt zu werden für unter- durchschnittliche Leistung, keine realis- tische Einschätzung der eigenen Leis- tung, so beschreiben Arbeitgeber und Ausbilder diese Jugendlichen. Es gäbe 70 bis 80 Prozent verhaltens- auffällige Kinder in der Grundschule, sagen Sie. Was ist da los? Es ist ein Massenphänomen. Kinder las- sen sich nicht mehr fremdbestimmen. Normalerweise bekommt ein Sechsjähri- ger einen Auftrag und den will er erfül- len. Er wird gelobt und strahlt. Ein grund- schulreifes Kind holt das Deutschbuch heraus, wenn der Lehrer das sagt. Heute passiert das vielleicht nach dem fünften Mal, bis dahin sitzen die Kinder verpennt und verpeilt da oder fangen an zu disku- tieren, ob man nicht doch lieber Mathe machen will. Diese Kinder sind nicht krank und auch nicht schlecht erzogen, sondern schlecht entwickelt. Zwei von drei Grundschulkindern fehlt die grund- legende Reife, um zuverlässig Kultur- techniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen, sagen Lehrer. Und wir schaffen Rechtschreibung und Schreibschrift ab! Was ist mit der sozialen Kompetenz? Ein Fünfjähriger würde sich aus eigenem Antrieb in einem Restaurant benehmen, um nicht aufzufallen. Diese reifen psy- chischen Anteile fehlen einem Fünfjähri- gen, der im Restaurant herumtobt, und dieser Rückstand bleibt bestehen, wenn die Eltern ihn gewähren lassen. Generell fehlt den Kindern ein klar abgegrenztes Gegenüber, an dem sie sich orientieren und entwickeln dürfen. Was können Kinder und Jugendliche heute richtig gut? Die können sehr schnell feststellen, was ihnen guttut. Ich weiß aber nicht, ob das so gut ist, denn sie sind rein lustorien- tiert. Am Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen gesteht man eigene Meinung, eigenen Geschmack zu. Aber die Jugendlichen sind heute auf der psy- chischen Entwicklungsstufe von Klein- kindern. Ich wüsste nicht, was daran gut ist. Als die Kindheit vor 200 Jahren als Lebensphase etabliert wurde, gestand man Kindern Entwicklung zu. Das geht heute völlig fehl. VON GABRIELE UNVERZAGT Michael Winterhoff (63) ist Kinder- und Jugend- psychiater sowie Psycho- therapeut. Er befasst sich mit Entwicklungsstörun- gen im Kindes- und Ju- gendalter. 2008 schrieb er den Bestseller „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“. Zuletzt erschien „Die Wiederentdeckung der Kindheit. Wie wir unsere Kinder glücklich und lebenstüchtig machen“. Foto: privat sensgesellschaft und damit den Run auf die Fleischtöpfe der Zukunft erleichtern sollen. Verträgt sich das mit der gesunden Entwicklung von Kindern? Eher nicht so gut, meinen die einen. Dass die Zeiten golden waren, in denen Kinder einfach draußen oder drin- nen spielten, geliebt und trotzdem aus- geschimpft wurden, sich zum gemeinsa- men Abendessen am Küchentisch ein- fanden und samstags in die Badewanne gesteckt wurden, sagen die anderen. Dann halten die einen wieder dagegen, dass die Welt heute ganz andere Anforde- rungen bereithält, auf die Kinder unbe- dingt vorbereitet werden müssten. Ist das wirklich so? Und wenn ja, wie bereitet man sie vor? Die Autoren Her- bert Renz-Polster und Gerald Hüther schauen in ihrem Buch „Wie Kinder heu- te wachsen“ zunächst auf den Anfang von allem. Unreif und schwach werden Menschenkinder geboren, sie können nicht einmal ihren eigenen Kopf halten, müssen mindestens ein Jahr lang gebet- tet, gefüttert, getragen, geschoben und unterhalten werden. Tierbabys stehen besser da. Doch wunderbarerweise wer- den aus diesen kleinen Pflegefällen er- wachsene Menschen, die neue Lieder er- finden, Rosen züchten, Gedichte schrei- ben, Aktienderivate ersinnen und selbst Eltern werden. Der Hirnforscher Hüther und der Kin- derarzt Renz-Polster meinen, das funk- tioniere am besten, wenn Kinder die Na- tur als Entwicklungsraum haben. Wirkli- che Natur – also Wiesen, Bäume, Erde und Bäche, aber auch Umgebung: den Kindergarten, die Schule, den Schulweg, den Park, die Freifläche neben dem Haus. Unbeaufsichtigt und frei laufende Kinder gibt’s kaum noch, schon gar nicht im Plu- ral: Von Kindern selbst gestaltete Grup- pen gehören der Vergangenheit an. Scha- de! Allenfalls in Büchern haben el- ternfrei agierende Kinder wie Pippi Langstrumpf mit Tommy und Annika oder Tom Sa- wyer und Huck Finn überdauert. Denn die Kindheit ist inzwi- schen durchorga- nisiert wie ein Managertag. Außerdem ist draußen alles gefährlich, die Bäume zu hoch, die Autos zu schnell, die Mitmenschen zu böse. Da ist es bes- ser, die Kleinen bleiben sicher im Haus. Da allerdings muss man sie vor den Ge- fahren der Medien bewahren. Doch das, was viele Kinder inzwischen als Kindheit erleben, reicht nicht, um ih- nen Zugang zu all ihren Möglichkeiten zu eröffnen, sagen Hüther und Renz-Polter. Wer auf Frühchinesisch setzt, übersieht, dass es andere Dinge sind, die uns menschlich, kreativ, einfühlsam und da- mit leistungsfähig machen. Egal ob später als Pirat oder Pastorin, in Hamburg oder Honolulu – am Anfang steht jedes Menschenkind vor derselben Herausforderung: fundamentale Lebens- kompetenzen erwerben, Gefühle und Ab- sichten verstehen und sich in Gruppen einbringen können. Kinder müssen mit Widrigkeiten umgehen lernen, ohne gleich aus dem Gleis zu geraten. Es geht um die Grundlagen des Menschseins: Kreativität, Selbstkontrolle, soziale Kom- petenz, Widerstandsfähigkeit. Genau diese fundamentalen Lebens- kompetenzen können nicht gelehrt oder vermittelt werden, man muss sie ab- schauen und erwirbt sie nur, wenn man Erfah- rungen aller Art macht. Zum Bei- spiel so: Wenn Kinder eine Bande gründen und aushandeln, wer der Chef ist, und sei es nur für diesen Nachmittag; wenn Kin- der von der Mauer springen; den Weg zum Kiosk allein ge- hen, sind sie dem Erwerb die- ser Lebenskompetenzen auf der Spur – es treibt sie förmlich dazu. Sich zu entwickeln, gelingt ih- nen, wenn sie sich in verlässli- chen Beziehungen in der Fa- milie geborgen fühlen. Heute könnte es kaum ein El- ternteil ertragen mit anzusehen, wenn die Kinder das täten, was die Mütter und Väter selbst als Kinder angestellt haben. So ist das eben auch nicht gedacht: Es macht kei- nen Spaß, unter Aufsicht den Waldbach zu stauen, mit guten Ratschlägen zur Stabilität des Staudamms versehen zu wer- den und frühzeitig gewarnt zu werden, bevor man ins Wasser fällt. Aber es macht einen Riesenspaß, wenn Kinder das zusammen aushecken und am Ende mit drei toten Fischen und nassen Hosen an einem Mini-Wasserfall sitzen. Für die Zukunft mag das wichtig sein: Wer als Kind Staudämme gebaut hat, ver- steht in der Schule besser, wie elektri- scher Strom funktioniert, so geht das Gerücht. Für den Moment jeden- falls haben die Kinder Spaß gehabt, sich draußen be- wegt und viel Vitamin D produziert, dabei jede Menge Wissen erworben, ihre Kreativität weiterent- wickelt, Beharrlichkeit ge- übt und Vertrauen ge- wonnen, Bindungen geknüpft, Mitgefühl verspürt und im Team gearbeitet. Faxgerät und Disketten sind dem Fortschritt gewichen, Zeitansage und Telefonzelle auch. Die Kindheit hat sich in den letz- ten 30 Jahren stark verändert. Das Inter- net gehört zum Alltag der Kinder. Sie tauschen sich über Instagram, Snapchat und Whatsapp aus. Statt mit Puppen oder Eisenbahn spielen sie oft elektro- nische Spiele auf ihren Tablets oder Smartphones. Fest steht, dass so vieles in Vergessenheit gerät, mit dem sich die Kinder von einst vergnügt oder herum- geärgert haben: I Draußen bleiben, bis es dunkel wird. Kein Handy, mit dem die Eltern dauernd nachfra- gen können, und auch keine ständige Angst, dass etwas passieren wird. I Vom Spielplatz nach Hause rennen, um den Lieblingsfilm nicht zu verpassen. Heute werden Serien auf Netflix gesucht. I Sommerlager und die dort geschlossenen Freundschaften. Ohne Facebook und Whatsapp sah man seine Freunde erst nächstes Jahr im Feriencamp wieder. I Schulhofgerüchte haben viel Geheimnis eingebüßt jetzt, wo man mit dem Smart- phone alles nachlesen kann. I Auf die Abendnachrichten warten, um zu erfahren, wie die Lieblingsfußballmann- schaft gespielt hat. Danke, Facebook, Twit- ter, Instagram und Snapchat! I Nummern im Telefonbuch nachschlagen, die wichtigsten auswendig können. I Nachbarschaftsgefechte mit Stecken, Sei- len, Kastanien und Steinen (aber nicht auf den Kopf zielen!). Im Sommer: Wasserpis- tolenschlachten I Telefonstreiche haben ihren Reiz verloren. Es gibt kaum noch Festnetztelefone und je- der sieht, wer gerade anruft. I Gespannt auf die Entwicklung der Urlaubsfotos warten. I Ganzes Album kaufen, obwohl man nur ein Lied will. I Irgendetwas nicht wissen war gestern. Wie hieß der noch? Warte, ich hab’s gleich. Heute zückt man das Smartphone und kann per Suchanfrage beweisen, dass Britney Spears und Justin Timberlake tatsächlich mal ein Paar waren. I Sich verlaufen ist praktisch ausgeschlos- sen, GPS, Navi und Google Maps sei Dank. Man muss sich auch nicht mehr überwin- den, einen Fremden nach dem Weg zu fra- gen. Und kommt selbst kaum in die Verle- genheit, einem Fremden den Weg zum Bahnhof erklären zu müssen. I Kabelsalat: Was war das noch mal? In Zeiten von Funk-Kopfhörern, Wireless Mouse und immer stärkeren Akkus ist der Kabelsalat reif fürs Museum. I Kleingeld für die Telefonzelle mitnehmen. I Wer das Fernsehprogramm umschalten wollte, musste aufstehen. I Welches Kind weiß heute noch um den Zusammenhang zwischen einer Kassette, Bandsalat und dem Nutzen eines Bleistifts? I Einen Brief schreiben und eine Woche auf Antwort warten oder erst am nächsten Tag zurückgerufen werden und darüber kein Stück irritiert zu sein. I Unvorstellbar: Es gab eine Zeit, in der ein einziges Telefon für eine ganze Familie ge- reicht hat. Und das stand im Flur. Wenn die Tochter stundenlang mit der besten Freun- din quatschte, hörten andere Anrufer nur das Besetztzeichen. Und mussten warten. Noch mal neu wählen. Auf einem Wähl- scheibentelefon. UNV Was Kinder heute nicht mehr wissen Erfahrungen sammeln? So gut wie verboten Illustrationen: srnicholl/lil_22/Adobe Stock

Transcript of TITEL...2018/11/24  · beziehungsfhig, nicht ausbildungsf-hig. Unangemessenes Auftreten, hohe...

  • T I T E L

    2 4 . / 2 5 . N o v e m b e r 2 0 1 8 w 3

    Verpennt und verpeilt, blass und schlaffDer Kinder und Jugendpsychiater Michael Winterhoff ist pessimistisch, wenn es um die junge Generation geht. Der Psychotherapeut sorgt sich, dass Kinder zu wenig auf das erwachsene Leben vorbereitet werden.

    Herr Winterhoff, ist die Kindheit verloren gegangen?Seit etwa Mitte der 90er Jahre behandelnwir Kinder wie kleine Erwachsene. Dazugehört auch die Vorstellung, dass Kindersich von alleine entwickeln. Das tun sieaber nicht. Wenn wir in der GrundschuleThemenunterricht betreiben und unsvorstellen, dass sie sich an der Lernthekenach Lust und Laune selbst bedienenund selbst entscheiden, was und wannsie lernen wollen, geht das komplett in die falsche Richtung.

    Warum passiert das?Damit entlasten die Erwachsenen nursich selbst, weil es viel Zeit, Geduld undAnstrengung bedeutet, Kinder anzuleitenund fürsorglich zu begleiten. Für die Kinder ist das gnadenlos und skandalös, weilsie den Schonraum nicht mehr haben, indem sie sich entwickeln können. Kinder entscheiden heute, wohin es in denUrlaub geht, was sie lernen, was gekauftwird. Das können sie aber noch nicht.

    Was Kinder früher konnten und heutenicht mehr können – was beobachtenSie in 30 Jahren Praxis bei Kindern?Früher realisierten die Kinder, wo sie hingehen, wenn sie zu mir in die Praxis

    kamen. Sie wussten, warum sie hier sind.Wir machen eingangs einen Intelligenztest, da strengten sich Sechs und Achtjährige an, Elfjährigen war peinlich, etwas nicht zu können. Heute arbeitenKinder und Jugendliche nach Lust undLaune. Wenn sie einen Fehler machen,tun sie so, als ob sie nachdenken, undschreiben dann die gleiche falsche Antwort wieder hin. Gravierende motorischeSchwächen kommen hinzu, sie könnennicht über einen Balken balancieren odermit Bällen hüpfen, und das ist ihnennoch nicht einmal peinlich. Heute wissen sie nicht, was sie hier sollen. Auf Fragen antworten sie, dass sie keine Probleme haben oder dass ich ihre Mutter fragen soll, warum sie hier sind. Früher hatten die Kinder Körperspannung, Bewegung im Gesicht. Heute sind sie schlaff,blass und die häufigste Antwort ist: weißich nicht, keine Ahnung.

    Und wie ist der Stand bei Jugendlichenim Übergang zum Beruf?Ob die Rechnung aufgeht, sieht manbeim Übergang von der Schule in denBeruf. Heute sind über die Hälfte derSchulabgänger nicht arbeitsfähig, nichtbeziehungsfähig, nicht ausbildungsfähig. Unangemessenes Auftreten, hoheErwartung, gelobt zu werden für unterdurchschnittliche Leistung, keine realistische Einschätzung der eigenen Leis

    tung, so beschreiben Arbeitgeber undAusbilder diese Jugendlichen.

    Es gäbe 70 bis 80 Prozent verhaltensauffällige Kinder in der Grundschule,sagen Sie. Was ist da los?Es ist ein Massenphänomen. Kinder lassen sich nicht mehr fremdbestimmen.Normalerweise bekommt ein Sechsjähriger einen Auftrag und den will er erfüllen. Er wird gelobt und strahlt. Ein grundschulreifes Kind holt das Deutschbuch heraus, wenn der Lehrer das sagt. Heutepassiert das vielleicht nach dem fünftenMal, bis dahin sitzen die Kinder verpenntund verpeilt da oder fangen an zu diskutieren, ob man nicht doch lieber Mathemachen will. Diese Kinder sind nichtkrank und auch nicht schlecht erzogen, sondern schlecht entwickelt. Zwei vondrei Grundschulkindern fehlt die grundlegende Reife, um zuverlässig Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben undRechnen zu lernen, sagen Lehrer. Undwir schaffen Rechtschreibung undSchreibschrift ab!

    Was ist mit der sozialen Kompetenz?Ein Fünfjähriger würde sich aus eigenemAntrieb in einem Restaurant benehmen,um nicht aufzufallen. Diese reifen psychischen Anteile fehlen einem Fünfjährigen, der im Restaurant herumtobt, unddieser Rückstand bleibt bestehen, wenn

    die Eltern ihn gewähren lassen. Generellfehlt den Kindern ein klar abgegrenztesGegenüber, an dem sie sich orientierenund entwickeln dürfen.

    Was können Kinder und Jugendlicheheute richtig gut? Die können sehr schnell feststellen, wasihnen guttut. Ich weiß aber nicht, ob dasso gut ist, denn sie sind rein lustorientiert. Am Übergang vom Jugendlichenzum Erwachsenen gesteht man eigeneMeinung, eigenen Geschmack zu. Aber die Jugendlichen sind heute auf der psychischen Entwicklungsstufe von Kleinkindern. Ich wüsste nicht, was daran gutist. Als die Kindheit vor 200 Jahren alsLebensphase etabliert wurde, gestandman Kindern Entwicklung zu. Das gehtheute völlig fehl.

    V O N

    G A B R I E L E U N V E R Z A G T

    Michael Winterhoff (63) ist Kinder und Jugendpsychiater sowie Psychotherapeut. Er befasst sich mit Entwicklungsstörungen im Kindes und Jugendalter. 2008 schrieb er den Bestseller „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“. Zuletzt erschien „Die Wiederentdeckung der Kindheit. Wie wir unsere Kinder glücklich und lebenstüchtig machen“. Foto: privat

    sensgesellschaft und damit denRun auf die Fleischtöpfe derZukunft erleichtern sollen.Verträgt sich das mit dergesunden Entwicklung vonKindern? Eher nicht so gut, meinen dieeinen. Dass die Zeiten golden waren, indenen Kinder einfach draußen oder drinnen spielten, geliebt und trotzdem ausgeschimpft wurden, sich zum gemeinsamen Abendessen am Küchentisch einfanden und samstags in die Badewannegesteckt wurden, sagen die anderen.Dann halten die einen wieder dagegen, dass die Welt heute ganz andere Anforderungen bereithält, auf die Kinder unbedingt vorbereitet werden müssten.

    Ist das wirklich so? Und wenn ja, wiebereitet man sie vor? Die Autoren Herbert RenzPolster und Gerald Hütherschauen in ihrem Buch „Wie Kinder heute wachsen“ zunächst auf den Anfangvon allem. Unreif und schwach werdenMenschenkinder geboren, sie können nicht einmal ihren eigenen Kopf halten,müssen mindestens ein Jahr lang gebettet, gefüttert, getragen, geschoben und unterhalten werden. Tierbabys stehenbesser da. Doch wunderbarerweise werden aus diesen kleinen Pflegefällen erwachsene Menschen, die neue Lieder erfinden, Rosen züchten, Gedichte schreiben, Aktienderivate ersinnen und selbstEltern werden.

    Der Hirnforscher Hüther und der Kinderarzt RenzPolster meinen, das funktioniere am besten, wenn Kinder die Natur als Entwicklungsraum haben. Wirkliche Natur – also Wiesen, Bäume, Erdeund Bäche, aber auch Umgebung: denKindergarten, die Schule, den Schulweg,den Park, die Freifläche neben dem Haus.Unbeaufsichtigt und frei laufende Kindergibt’s kaum noch, schon gar nicht im Plural: Von Kindern selbst gestaltete Gruppen gehören der Vergangenheit an. Schade! Allenfalls in Büchern haben elternfrei agierende Kinder wie PippiLangstrumpf mit Tommy undAnnika oder Tom Sawyer und Huck Finnüberdauert. Denn dieKindheit ist inzwischen durchorganisiert wie ein

    Managertag. Außerdem istdraußen alles gefährlich,

    die Bäume zu hoch, die Autos zu schnell,die Mitmenschen zu böse. Da ist es besser, die Kleinen bleiben sicher im Haus.Da allerdings muss man sie vor den Gefahren der Medien bewahren.

    Doch das, was viele Kinder inzwischenals Kindheit erleben, reicht nicht, um ihnen Zugang zu all ihren Möglichkeiten zueröffnen, sagen Hüther und RenzPolter.Wer auf Frühchinesisch setzt, übersieht, dass es andere Dinge sind, die unsmenschlich, kreativ, einfühlsam und damit leistungsfähig machen.

    Egal ob später als Pirat oder Pastorin,in Hamburg oder Honolulu – am Anfangsteht jedes Menschenkind vor derselbenHerausforderung: fundamentale Lebenskompetenzen erwerben, Gefühle und Absichten verstehen und sich in Gruppeneinbringen können. Kinder müssen mitWidrigkeiten umgehen lernen, ohnegleich aus dem Gleis zu geraten. Es gehtum die Grundlagen des Menschseins:Kreativität, Selbstkontrolle, soziale Kompetenz, Widerstandsfähigkeit.

    Genau diese fundamentalen Lebenskompetenzen können nicht gelehrt oder

    vermittelt werden,man muss sie ab

    schauen und erwirbtsie nur, wenn man Erfah

    rungen aller Art macht. Zum Beispiel so: Wenn Kinder eine Bandegründen und aushandeln, werder Chef ist, und sei es nur für

    diesen Nachmittag; wenn Kinder von der Mauer springen;

    den Weg zum Kiosk allein gehen, sind sie dem Erwerb die

    ser Lebenskompetenzen auf derSpur – es treibt sie förmlich dazu.

    Sich zu entwickeln, gelingt ihnen, wenn sie sich in verlässli

    chen Beziehungen in der Familie geborgen fühlen.

    Heute könnte es kaum ein Elternteil ertragen mit anzusehen, wenn die Kinder das täten, was dieMütter und Väter selbst als Kinderangestellt haben. So ist das ebenauch nicht gedacht: Es macht keinen Spaß, unter Aufsicht denWaldbach zu stauen, mit gutenRatschlägen zur Stabilität desStaudamms versehen zu werden und frühzeitig gewarnt zu werden,bevor man ins Wasser fällt. Aber esmacht einen Riesenspaß, wenn Kinderdas zusammen aushecken und am Endemit drei toten Fischen und nassen Hosenan einem MiniWasserfall sitzen.

    Für die Zukunft mag das wichtig sein:Wer als Kind Staudämme gebaut hat, versteht in der Schule besser, wie elektrischer Strom funktioniert, so geht dasGerücht. Für den Moment jedenfalls haben die Kinder Spaßgehabt, sich draußen bewegt und viel Vitamin Dproduziert, dabei jedeMenge Wissen erworben,ihre Kreativität weiterentwickelt, Beharrlichkeit geübt und Vertrauen gewonnen, Bindungengeknüpft, Mitgefühlverspürt und imTeam gearbeitet.

    Faxgerät und Disketten sinddem Fortschritt gewichen,

    Zeitansage und Telefonzelleauch. Die Kindheit hat sich in den letzten 30 Jahren stark verändert. Das Internet gehört zum Alltag der Kinder. Sietauschen sich über Instagram, Snapchatund Whatsapp aus. Statt mit Puppenoder Eisenbahn spielen sie oft elektronische Spiele auf ihren Tablets oderSmartphones. Fest steht, dass so vielesin Vergessenheit gerät, mit dem sich dieKinder von einst vergnügt oder herumgeärgert haben:

    I Draußen bleiben, bis es dunkel wird. KeinHandy, mit dem die Eltern dauernd nachfragen können, und auch keine ständige Angst,dass etwas passieren wird.

    I Vom Spielplatz nach Hause rennen, um den Lieblingsfilm nicht zu verpassen. Heutewerden Serien auf Netflix gesucht.

    I Sommerlager und die dort geschlossenenFreundschaften. Ohne Facebook undWhatsapp sah man seine Freunde erstnächstes Jahr im Feriencamp wieder.

    I Schulhofgerüchte haben viel Geheimniseingebüßt jetzt, wo man mit dem Smartphone alles nachlesen kann.

    I Auf die Abendnachrichten warten, um zuerfahren, wie die Lieblingsfußballmannschaft gespielt hat. Danke, Facebook, Twitter, Instagram und Snapchat!

    I Nummern im Telefonbuch nachschlagen, die wichtigsten auswendig können.

    I Nachbarschaftsgefechte mit Stecken, Seilen, Kastanien und Steinen (aber nicht aufden Kopf zielen!). Im Sommer: Wasserpistolenschlachten

    I Telefonstreiche haben ihren Reiz verloren.Es gibt kaum noch Festnetztelefone und jeder sieht, wer gerade anruft.

    I Gespannt auf die Entwicklung derUrlaubsfotos warten.

    I Ganzes Album kaufen, obwohl man nurein Lied will.

    I Irgendetwas nicht wissen war gestern.Wie hieß der noch? Warte, ich hab’s gleich.Heute zückt man das Smartphone und kannper Suchanfrage beweisen, dass BritneySpears und Justin Timberlake tatsächlichmal ein Paar waren.

    I Sich verlaufen ist praktisch ausgeschlossen, GPS, Navi und Google Maps sei Dank.Man muss sich auch nicht mehr überwinden, einen Fremden nach dem Weg zu fragen. Und kommt selbst kaum in die Verlegenheit, einem Fremden den Weg zumBahnhof erklären zu müssen.

    I Kabelsalat: Was war das noch mal? InZeiten von FunkKopfhörern, WirelessMouse und immer stärkeren Akkus ist derKabelsalat reif fürs Museum.

    I Kleingeld für die Telefonzelle mitnehmen.

    I Wer das Fernsehprogramm umschaltenwollte, musste aufstehen.

    I Welches Kind weiß heute noch um denZusammenhang zwischen einer Kassette, Bandsalat und dem Nutzen eines Bleistifts?

    I Einen Brief schreiben und eine Woche aufAntwort warten oder erst am nächsten Tagzurückgerufen werden und darüber keinStück irritiert zu sein.

    I Unvorstellbar: Es gab eine Zeit, in der eineinziges Telefon für eine ganze Familie gereicht hat. Und das stand im Flur. Wenn dieTochter stundenlang mit der besten Freundin quatschte, hörten andere Anrufer nurdas Besetztzeichen. Und mussten warten. Noch mal neu wählen. Auf einem Wählscheibentelefon. UNV

    Was Kinder heute nicht

    mehr wissen

    Erfahrungen sammeln?So gut wie verboten

    Illus

    trat

    ione

    n: s

    rnic

    holl/

    lil_2

    2/A

    dobe

    Sto

    ck