Post on 25-Oct-2019
WA(H)RE INFORMATION
Schriften der Vereinigung Österreichischer
Bibliothekarinnen und Bibliothekare (VÖB)
Herausgegeben von Harald Weigel
Band 2
29. Österreichischer BibliothekartagBregenz, 19.–23.9.2006
Herausgegeben von Harald WeigelBearbeitet von Jürgen Thaler und Gerhard Zechner
WA(H)RE INFORMATION
Wolfgang Neugebauer Verlag GesmbH Graz–Feldkirch
Umschlag/Layout: Tobias Neugebauer
Druck: dd-ag, Birkach
Printed in Germany
ISBN 978-3-85376-282-0
© 2007 W. Neugebauer Verlag GesmbH Graz-Feldkirch
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Tonkopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
INHALT
VORWORT ................................................................................................................................................................................................................. 10
AUSBILDUNG
Sebastian Eschenbach, Monika Bargmann
Wie breit ist eng genug? Über die Ausbildung von Bibliotheksfachleuten
am Studiengang Informationsberufe in Eisenstadt ........................................................................... 13
Günter Olensky
Archiv-, Bibliotheks- und Informationsassistent/in (ABI-Ass.) –
Ein neuer Lehrberuf in Österreich ............................................................................................................................ 20
BIBLIOTHEKSBAU
Christian Enichlmayr
Bibliothekserweiterung in den engen Grenzen von Raum, Geld und Denk-
malschutz. Am Beispiel der Oberösterreichischen Landesbibliothek ........................ 25
Christian Jahl
Drei Jahre Hauptbücherei Wien am Gürtel: Architektur, Technik,
Angebote, Erfolg. Versuch einer Bilanz .............................................................................................................. 37
Helmut Windinger
Die neue Stadtbibliothek Salzburg ........................................................................................................................... 42
RECHT
Stephan Büttner
Digital Rights Management und Trusted Computing: Nutzer und Bibliothe-
ken zwischen DRM, Trusted Computing und gesetzlichem Rahmen .................. 48
Roland Alton-Scheidl
RegisteredCommons.org – Mehr Rechtssicherheit für Kreativschaffende .......... 55
MUSIKALIENBEARBEITUNG
Thomas Aigner
Digitalisierung der Schubert-Autographe der
Wienbibliothek im Rathaus ................................................................................................................................................ 61
Michaela Brodl
Zur Digitalisierung der analogen AV-Medien. Konzept
und erste Erfahrungen zur Langzeitarchivierung in der
Österreichischen Nationalbibliothek ...................................................................................................................... 66
Susanne Eschwé
Der Bruno-Walter-Nachlass an der Universitätsbibliothek der Universität
für Musik und darstellende Kunst Wien .......................................................................................................... 72
Gabriele Fröschl
Digitalisierung – Eine Revolution in der Zugänglichkeit von AV-Medien? ..... 78
Manfred Kammerer
Musikbibliotheken in Österreich – ihre Aufgaben und Tätigkeiten ......................... 83
Thomas Leibnitz
Retrokatalogisierung an der Musiksammlung der Österreichischen
Nationalbibliothek: Ausgangssituation – Lösungsvarianten ................................................ 89
Robert Schiller
Zur Problematik bei der Recherche von Musikalien in Online-Katalogen ......... 93
SCHULBIBLIOTHEKEN
Andreas Klingenberg
Unterrichtsmodell zur Entwicklung von Informationskompetenz
bei Schülern der gymnasialen Oberstufe ...................................................................................................... 100
Andreas Klingenberg
Informationskompetenz für Schüler – der Verein INFOKOS
und das Projekt an der Fachhochschule Hannover ........................................................................ 106
Werner Schöggl
Zum Einsatz von Sachbüchern in
der Sekundarstufe II (Oberstufe AHS) .......................................................................................................... 113
Anke Märk-Bürmann
Die Akademie für Leseförderung der Stiftung Lesen:
Aufbau von regionalen Lesenetzwerken in Niedersachsen ................................................ 117
BIBLIOTHEKEN UND GESELLSCHAFT
Stefan Alker, Christina Köstner, Markus Stumpf
Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek Wien –
ein Zwischenbericht .................................................................................................................................................................... 125
Margot Werner
Raub und Restitution. Die Österreichische Nationalbibliothek
stellt sich ihrer NS-Vergangenheit ......................................................................................................................... 132
Manfred Hauer
Parlaments- und Rechtsinformationen für europäische Bürger.
Crosslinguales, semantisches Landtagsinformationssystem in Vorarlberg,
ein Dienst der Landesbibliothek .............................................................................................................................. 145
Wilhelm Hilpert
Die Bayerische Staatsbibliothek: Forschungsbibliothek und mehr ........................ 150
Olaf Eigenbrodt
Agenten der Wissensgesellschaft? Fragen an eine neue Soziologie
der Bibliothek ....................................................................................................................................................................................... 157
Oliver Kohl-Frey
Informationskompetenz hinter dem Bachelor-Horizont:
Ergebnisse einer Studie an der Universität Konstanz ................................................................ 166
Joachim Griesbaum
Zur Rolle von Websuchdiensten und Fachinformation im Suchverhalten
von Studierenden. Befunde einer explorativen Studie ............................................................... 174
Wilfried Sühl-Strohmenger
Erwartungen an die Wissenschaftliche Bibliothek der Zukunft –
unter Berücksichtigung von Befunden der neueren Nutzerforschung ............... 183
Heimo Gruber
Können Bibliotheken einen Beitrag zur Überwindung
der digitalen Spaltung der Gesellschaft leisten? ............................................................................... 192
Ulrich Hohoff
Öffentlich zugängliche Bibliotheken an Universität und Hochschule?
Das Konzept der primären Nutzergruppe und seine Folgen für
andere Benutzergruppen ....................................................................................................................................................... 196
Roman Hummel
Was geht Bibliotheken die „digitale Spaltung“ an? ........................................................................ 205
TECHNIK
Dirk Lewandowski
Wie können sich Bibliotheken gegenüber Wissenschaftssuch-
maschinen positionieren? ..................................................................................................................................................... 211
Arnd Frederichs
Natürlichsprachige Abfrage und 3-D-Visualisierung von
Wissenszusammenhängen ................................................................................................................................................. 218
Harald Reiterer, Hans-Christian Jetter
Das Projekt MedioVis - Visuelle Exploration Digitaler Bibliotheken ........... 224
Winfried Gödert
Multilingualität und Lokalisierung zur Wissenserkundung oder
Vom Nutzen semantischer Netze für das Information Retrieval .............................. 233
Peter Mayr
Die virtuelle Steinsuppe – kooperatives Verwalten von
elektronischen Ressourcen mit DigiLink ..................................................................................................... 243
Rainer Hubert
Digitalisierung – ein Königsweg? Wie die Österreichische Mediathek
ihre Tonaufnahmen digitalisiert ................................................................................................................................. 248
Jürg Hagmann
Zum Stand des Records Management in der schweizerischen
Privatwirtschaft. Ein Survey in ausgewählten Sektoren ......................................................... 254
Markus Heindl
Das eLearning-Projekt „Einführung in die Benutzung
der Universitätsbibliothek Bodenkultur“ ...................................................................................................... 260
Stefan Winkler, Jan Steinberg
Virtuelle Auskunftsdienste sind im Kommen! ..................................................................................... 266
WIRTSCHAFT
Manfred Antoni
Der Wertschöpfungsanteil von Verlagen am
wissenschaftlichen Publikationsprozess .......................................................................................................... 276
Adalbert Kirchgäßner
Lizenzen. Parasiten des Bibliotheksetats ...................................................................................................... 282
Bruno Bauer
Open Access Publishing: Ausweg oder Irrweg aus der Krise des
wissenschaftlichen Publikationswesens? Neueste Entwicklungen ........................... 293
Ulrich Pöschl
Interactive Open Access Publishing zur Verbesserung
wissenschaftlicher Kommunikation und Qualitätssicherung ........................................ 307
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN ................................................................................................................................... 313
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VORWORT
Die „Vereinigung Österreichischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare“ (VÖB)
richtet alle zwei Jahre mit dem Österreichischen Bibliothekartag die zentrale
Fortbildungsveranstaltung für Beschäftigte in bibliothekarischen und verwandten
Einrichtungen aus. Unter dem Motto „Wa(h)re Information“ fand der 29. Öster-
reichische Bibliothekartag, diesmal maßgeblich organisiert von der Vorarlberger
Landesbibliothek, vom 19. bis 22. September 2006 im Festspiel- und Kongresshaus
Bregenz statt.
Nach 1976 und 1990 war Bregenz nun zum dritten Mal der Treffpunkt nicht nur der
österreichischen Bibliothekarinnen und Bibliothekare. Mit 150 Vorträgen und Prä-
sentationen sowie mit 70 ausstellenden Firmen war der Bregenzer Bibliothekartag im
Festspiel- und Kongresshaus ein voller Erfolg, und mit rund 750 Teilnehmerinnen
und Teilnehmern aus 19 Ländern kamen fast so viele an den Bodensee wie zum
bisher bestbesuchten Kongress im Jahr 2000 in Wien.
Auf dem Kongress sollte in den Themenblöcken Recht, Wirtschaft, Gesellschaft
und Technik das Spannungsfeld zwischen der Sicherung der Informationsfreiheit
als Recht auf freien Zugang zu seriöser Information auf der einen Seite sowie der
sich verstärkenden Ökonomisierung und Monopolisierung des Informationswesens
andererseits kritisch beleuchtet werden. Dem Anspruch einer offenen Wissens-
gesellschaft und der Förderung breiter Informations- und Lesekompetenz durch
Bibliotheken stehen zunehmend auch einschränkende wirtschaftliche und rechtliche
Rahmenbedingungen sowie gravierende soziale Folgen gegenüber. Außerdem wid-
meten sich die Vorträge wie gewohnt den neuen Dienstleistungen von Bibliotheken
und den aktuellen Trends in der Bibliothekslandschaft.
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Wir haben den Bibliothekartag ausgerichtet in der Hoffnung, wiederum nachhaltig
zur Vertiefung der Fachkenntnisse und zur Erweiterung des Horizonts beizutragen,
auf dass er in guter Erinnerung bleiben und zu neuen Unternehmungen in den
Bibliotheken anregen möge. Die positiven Rückmeldungen lassen uns glauben, dies
sei in einem guten Ausmaß gelungen.
Den Dank an alle, die zum Gelingen der Tagung beigetragen haben, darf ich nun
erweitern um einen herzlichen Dank an die Bearbeiter des Tagungsbandes, die
Autorinnen und Autoren und unseren Verlag. Ich bin überzeugt, die für den Druck
aufbereiteteten Vorträge nachzulesen, wird sich lohnen. Die Tagungsbände der
Bibliothekartage wie der ODOK erscheinen künftig in der VÖB-eigenen Schrif-
tenreihe.
Harald Weigel
Vorarlberger Landesbibliothek und
Vereinigung Österreichischer
Bibliothekarinnen und Bibliothekare
AUSBILDUNG
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WIE BREIT IST ENG GENUG?
ÜBER DIE AUSBILDUNG VON BIBLIOTHEKS-FACHLEUTEN AM STUDIENGANG INFORMATIONSBERUFE IN EISENSTADT
SEBASTIAN ESCHENBACH, MONIKA BARGMANN
Der Fachhochschul-Studiengang Informationsberufe ist seit 1997 Österreichs
Regelstudium für die Ausbildung von Information Professionals. 2005 wurde das
Curriculum wesentlich überarbeitet. Auslöser dafür war der so genannte „Bologna-
Prozess“, der Versuch, die akademische Ausbildung in Europa einheitlich zu
strukturieren und damit die Mobilität von Absolventinnen, Absolventen und
Studierenden zu erleichtern. Die notwendige Umstellung war auch Anlass, die
inhaltliche Ausrichtung des Studiums zu überdenken. An dieser Stelle sollen leitende
Gedanken bei der Umstellung und erste Erfahrungen nach eineinhalb Jahren Betrieb
des neuen Studiums präsentiert werden.
1. ORGANISATORISCHES UMFELD
Der Studiengang Informationsberufe ist als einer von zurzeit 194 Fachhochschul-
Studiengängen in Österreich Teil der Fachhochschul-Studiengänge Burgenland,
einem von 18 Erhaltern im Fachhochschulbereich. Diese Organisation betreibt an
den Standorten Eisenstadt und Pinkafeld akademische Ausbildung und Forschung
in vier Kompetenzbereichen: (1) Wirtschaft, (2) Informationstechnologie und
Informationsmanagement – hier sind auch „die Informationsberufe“ angesiedelt,
(3) Gesundheit und (4) Energie- und Umweltmanagement. Im Studienjahr 2006/07
waren elf Studiengänge mit etwa 1.500 Studienplätzen aktiv.
Die entscheidende Organisationseinheit für Lehre und Forschung ist aber der
Studiengang. Darin liegt einer der wichtigsten Unterschiede zur an Universitäten
üblichen Organisationsstruktur.
Am Studiengang Informationsberufe, einschließlich des dazugehörigen Master-
Studiengangs, bilden sich derzeit etwa 200 Studierende aus. Das Bachelor-Studium
beginnen pro Jahr zwischen 35 und 50 Studierende, im Master-Studium sind es
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35 bis 40. Sie werden betreut von einem Team aus sieben Hochschullehrerinnen und
Hochschullehrern aus unterschiedlichen Disziplinen, etwa 80 Lektorinnen und Lektoren
(die meisten aus der Praxis, einige von anderen Hochschulen), zwei wissenschaftlichen
Assistentinnen, einer eLearning-Expertin und vier Mitarbeiterinnen in der Administration
des Studiengangs. Bibliothek, IT, Marketing, Personal- und Rechnungswesen sowie
Facility Management sind studiengangsübergreifend organisiert.
2. ZIEL DER UMSTRUKTURIERUNG
Für Österreichs Hochschulen bedeutet der Bologna-Prozess vor allem, dass die bisher
üblichen acht- bzw. im technischen Bereich auch zehnsemestrigen Diplomstudien
ersetzt werden durch Bachelor-Studien mit sechs Semestern und Master-Studien
mit zwei oder vier Semestern.
Im Fall des bisher achtsemestrigen Diplom-Studiengangs Informationsberufe
bedeutet das die Umstellung auf einen sechssemestrigen Bachelor-Studiengang, der
weiterhin „Informationsberufe“ heißt, und einen viersemestrigen Master-Studiergang
„Angewandtes Wissensmanagement“. Beide Studiengänge wurden im Studienjahr
2005/06 das erste Mal angeboten.
Selbstverständlich ändern sich auch die Abschlüsse: Statt dem bisherigen „Mag. (FH)
für sozialwissenschaftliche Berufe“ werden in Zukunft ein „Bachelor of Arts in Social
Science“ (BA) beziehungsweise ein „Master of Arts in Business“ (MA) verliehen.
3. BERUFSFELD INFORMATIONSBERUFE
Für die Studiengänge im österreichischen Fachhochschulbereich ist generell die
enge Kopplung an die Berufspraxis charakteristisch. Die Definition des relevanten
Berufsfelds ist daher eine wichtige, herausfordernde Aufgabe. Das gilt in besonderem
Maß für den Studiengang Informationsberufe. Wie eng muss das Berufsfeld definiert
werden, um wirklich praxisgerecht ausbilden zu können? Wie weit muss es sein,
um in ausreichender Zahl Studierende anzusprechen und den Absolventinnen
und Absolventen einen guten Einstieg ins Berufsleben zu ermöglichen? Was sind
Informationsberufe eigentlich, was tun Information Professionals, wo liegen die
Grenzen zu anderen Berufen?
Für diese Fragen lassen sich keine ein für alle Mal gültigen Antworten finden. Denn
die relevanten Institutionen im Berufsfeld, Möglichkeiten für den beruflichen Ein-
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und Aufstieg, der Wettbewerb in der Form anderer Aus- und Weiterbildungsanbieter,
die Interessen potenzieller Studierender, rechtliche Rahmenbedingungen und
maßgebliche Technologie verändern sich ständig. Im Rückblick hat sich das
Berufsfeld – oder vielleicht präziser – haben sich die Berufsfelder für Information
Professionals in den letzten zehn Jahren, seit Gründung des Studiengangs, dramatisch
verändert, und niemand kann heute seriös sagen, wie das berufliche Umfeld in
weiteren zehn Jahren, also 2017, aussehen wird.
Befragungen unserer Absolventinnen und Absolventen belegen diese Dynamik
anschaulich: Nur 40% haben ihren Job von einer Vorgängerin bzw. einem Vorgänger
übernommen. 60% arbeiten auf neu geschaffenen Stellen. Die viel zitierte
„Informations- und Wissensgesellschaft“ macht sich also tatsächlich bemerkbar.
Unserer Erfahrung nach kann eine Definition des Berufsfelds daher immer nur eine
pragmatische Festlegung sein, die spätestens alle vier oder fünf Jahre grundsätzlich
überdacht werden muss. In seiner derzeitigen Form – die Akkreditierung läuft bis Ende
des Studienjahres 2009/10 – bildet der Bachelor-Studiengang Informationsberufe
international orientierte Information Professionals aus, die unter anderem in einem
der folgenden fünf Feldern Arbeit finden können:
– Bibliothekswesen
– Dokumentation (mit einem Schwerpunkt auf Nicht-Textdokumente)
– Informationsrecherche
– Online-Redaktion
– Business Information Management
Die ersten drei Tätigkeitsfelder lassen sich unter dem etablierten Begriff „Bibliotheks-,
Informations- und Dokumentationswesen“ (BID) zusammenfassen, während sich
die letzten zwei Bereiche auf die Schnittstellen zu Journalismus und Management
beziehen.
4. AUFBAU DES STUDIUMS
Der Studiengang definiert sich als Ausbildung für international orientierte
Information Professionals. Das sind Fachleute, die andere Menschen im Umgang
mit Information und Wissen professionell unterstützen können. Die Fähigkeiten,
die sie dabei einsetzen, liegen vor allem in den Bereichen Informationsorganisation,
Retrieval, Kommunikation, Sprachen und Einsatz von entsprechender Informations-
und Kommunikationstechnik.
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Erst in zweiter Linie kommen die traditionellen Einsatzorte wie Bibliotheken,
Büchereien, Dokumentationsstellen, Archive und die neueren Einsatzfelder wie
Online-Redaktionen, Kommunikationsabteilungen, Informationsservices oder
Wissensmanagementabteilungen ins Spiel.
Entsprechend ist das Studium aufgebaut (siehe Abb. 1):
– Das erste Studienjahr wird von einer intensiven Grundausbildung dominiert,
welche die Themen Informationsorganisation, Retrieval, Informations- und
Kommunikationstechnologie und Management (mit den Schwerpunkten Selbst-
und Projektmanagement) abdeckt.
– Im zweiten Studienjahr steht die Spezialisierung auf dem Plan. Die Studierenden
wählen aus einem Katalog von insgesamt 14 Modulen sechs aus. Entscheidend
ist, dass es bei der Spezialisierung nicht um eine einmalige Festlegung für einen
Einsatzbereich geht, wie zum Beispiel das wissenschaftliche Bibliothekswesen
oder das betriebliche Infomanagement. Für eine solche Entscheidung fehlt
den Studierenden – die zu diesem Zeitpunkt in der Mehrzahl nicht viel
älter als 20 Jahre sind – in der Regel auch noch die notwendige Erfahrung.
Stattdessen spezialisieren sie sich in mehreren überschaubaren Schritten auf
Tätigkeitsfelder wie z.B. „Katalogisieren und Beschlagworten für Bibliotheken“
oder „Digitalisierung“. Bei dieser Wahl lassen sie sich von ihren Interessen und
ihren individuellen Stärken und Schwächen leiten.
– Im dritten Studienjahr wird die Spezialisierung durch zwei weitere Wahlmodule
fortgesetzt. Im Mittelpunkt stehen jetzt allerdings der Einstieg ins wissen-
schaftliche Arbeiten durch zwei Bachelor-Arbeiten und das Praktikum
(mindestens 500 Stunden). Hervorzuheben ist dabei die Möglichkeit, das dritte
Studienjahr berufsbegleitend zu absolvieren. Zufriedene Praktikumsstellen
haben so die Option, die Studierenden übergangslos in ein weiterführendes
Arbeitsverhältnis zu übernehmen.
– Zusätzlich ziehen sich durch alle sechs Semester die Sprachausbildung
(verpflichtender Sprachunterricht in Englisch und zusätzlich Russisch, Kroatisch
oder Englischvertiefung als Wahlpflichtfach), eine intensive Projektmanagement-
Ausbildung und Lehrveranstaltungen zu den Themen Kommunikation, Gesellschaft,
Recht.
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Abb.1: Aufbau des Bachelor-Studiengangs Informationsberufe/Eisenstadt,
Stand 2007, die Hände zeigen auf die Position der bibliotheksspezifischen
Studienmodule
5. BIBLIOTHEKSNAHE STUDIENINHALTE
Aufbauend auf den Kerninhalten der Grundausbildung zum Thema Informations-
organisation und Retrieval im ersten Studienjahr können sich Studierende, die
besonders an einer Laufbahn im Bibliothekswesen interessiert sind, ab dem
dritten Semester mit Hilfe folgender Module spezialisieren (siehe die Hinweise in
Abb.1).
– Modul Indexing 1: Katalogisieren und Beschlagworten für Bibliotheken
– Modul Indexing 2: Thesauruserstellung, Erschließung von Text-, Bild- und
Tondokumenten, maschinelle Indexierung
– Modul Managing Libraries: Bestandsaufbau, Bibliotheksmanagement,
Organisationsstruktur
– Modul Digitization: Bestandserhaltung und Digitalisierung von Buch- und Non-
Book-Materialien
– Modul Managing Information Services: elektronische Dienste von
Informationseinrichtungen (z.B. Digitale Bibliothek, Fachportal)
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Darüber hinaus können sie drei Semester lang an einschlägigen Ausbildungsprojekten
arbeiten, ihr Praktikum in einer Bibliothek absolvieren und die zwei Bachelor-
Arbeiten zu bibliotheksrelevanten Themen schreiben.
Alles zusammen genommen können sich Interessierte auf diese Weise im Umfang
von bis zu 2.400 Stunden, das sind 53% ihres gesamten Studiums, mit Themen rund
um das Bibliothekswesen im engeren Sinn beschäftigen. Eine besonders individuelle
Gestaltungsmöglichkeit, die selbstverständlich auch für die anderen Einsatzbereiche,
wie Online-Redaktion oder Business Information Management, möglich ist.
6. VOR UND NACH DEM STUDIUM (DURCHGÄNGIGKEIT)
Der Umbau des Studiengangs hat auch bei den Zugangsvoraussetzungen
Neuerungen gebracht. Nach einem einschlägigen Lehrabschluss, unter anderem als
Archiv-, Bibliotheks- und Informationsassistentin bzw. -assistent, muss lediglich eine
Zusatzqualifikationsprüfung in Deutsch und Englisch abgelegt werden, um die
Zulassung zum Studium zu erhalten.
Nach dem Abschluss des Bachelor-Studiums stehen den Absolventinnen und
Absolventen Masterstudien an Fachhochschulen und Universitäten im In- und
Ausland und in der Folge auch Doktoratsstudien offen. In Eisenstadt kann man
das Studium am Master-Studiengang Angewandtes Wissensmanagement und zwei
weiteren Studiengängen im Bereich Wirtschaft fortsetzen.
7. BESONDERHEITEN UND STÄRKEN
Die inhaltliche Ausrichtung macht den Studiengang Informationsberufe in
der österreichischen Bildungslandschaft einzigartig. Darüber hinaus bietet
er den Studierenden große Freiräume, um das Studium an ihre individuellen
Talente, Kompetenzen und Neigungen anzupassen. Das betrifft knapp 60% der
Studieninhalte.
Für ein Fachhochschulstudium typisch, hat Lernen durch praktisches Tun einen
hohen Stellwert. Aber selbst für den Fachhochschulbereich sind 500 Praxisstunden
und zusätzliche 300 Stunden Projektarbeit neben einem großen Anteil an praktischen
Übungen überdurchschnittlich. Das hilft vielen Studierenden, erlerntes Wissen in
Fähigkeiten zu übertragen.
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Das Erlernen zweier Fremdsprachen, ein Semester, in dem der Unterricht
überwiegend auf Englisch abgehalten wird, die Möglichkeiten für Auslandssemester
und Auslandspraktika und die Einbindung vieler internationaler Lektorinnen
und Lektoren sind die Basis für die internationale Orientierung der Information
Professionals.
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ARCHIV-, BIBLIOTHEKS- UND INFORMATIONSASSISTENT/IN (ABI-ASS.) – EIN NEUER LEHRBERUF IN ÖSTERREICH
GÜNTER OLENSKY
Während im benachbarten deutschsprachigen Ausland bereits seit einigen Jahren
Lehrberufe im Bereich des Informationswesens angeboten werden, stand dem in
Österreich nur eine Beamtenausbildung gegenüber. In der Schweiz besteht seit 1997
für den wissenschaftlichen und öffentlichen Bereich der Beruf des Informations-
und Dokumentationsassistenten und in Deutschland kann seit dem Jahr 1998 der
Beruf des Fachangestellten für Medien- und Informationsdienste – überwiegend für
den öffentlichen Bereich – ergriffen werden. In Österreich existierte seit 1985 die
Grundausbildung für die Verwendungsgruppen A3 u. A4 – Bibliotheks-, Informations-
und Dokumentationsdienst (früher „C-Ausbildung“, die Ausbildung für Mitarbeiter
und Mitarbeiterinnen des „mittleren Tätigkeitsbereiches“).
Mit Inkrafttreten des Universitätsgesetzes 2002 (UG 2002) wurde die gesetzliche
Grundlage für die österreichische Bibliotheksausbildung (BGBl. II Nr. 296/2000:
Verordnung: Grundausbildungen für die Verwendungsgruppen A3 und A4 –
Bibliotheks-, Informations- und Dokumentationsdienst – erschienen am 12.9.2000)
außer Kraft gesetzt.
Die im wissenschaftlichen österreichischen Bibliothekwesen tätige Arbeitsgruppe der
Ausbildungsverantwortlichen kam in ihrer Sitzung vom 29. Jänner 2003 einstimmig zur
Auffassung, dass nun auch in Österreich die Zeit für die Etablierung eines entsprechenden
Lehrberufes im Bereich der Archive, Bibliotheken und Informationseinrichtungen
gekommen sei. Diese Arbeitsgruppe besteht aus den folgenden Mitgliedern: Frau
Reg. Rätin Heidelinde Zotter-Straka (Universitätsbibliothek Graz) – Ausbildungs-
leiterin der Grundausbildung aller Verwendungsgruppen des österreichischen
Bibliotheks-, Informations- und Dokumentationswesens, Frau Min. Rätin Edith
Jurkovitsch (Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur), Frau
Dr. Gabriele Pum (Österreichische Nationalbibliothek), Frau Mag. Maria Seissl
(Bibliothek und Archivwesen der Universität Wien), Frau Irmgard Lahner
(Universitätsbibliothek Salzburg), Frau Mag. Monika Schneider, MSc. (Universitäts-
bibliothek Innsbruck), Herr Peter Max Stepnitzka (Bibliothek und Archivwesen
der Universität Wien), Herr Mag. (FH) Christoph Bart (Österreichische
Nationalbibliothek) und Herr Dr. Günter Olensky (Universitätsbibliothek der
Veterinärmedizinischen Universität Wien) – Stellvertreter der Ausbildungsleiterin.
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Danach gab es Gespräche mit Vertretern des Bundesministeriums für Bildung,
Wissenschaft und Kultur und der Österreichischen Wirtschaftskammer zu
Detailfragen wie ein neuer Lehrberuf etabliert werden könnte. Parallel dazu erfolgte
ein reger Gedankenaustausch mit Vertretern von österreichischen Dokumentaren
und des Österreichischen Staatsarchivs, sowie der öffentlichen Bibliotheken. Es war
nicht schwer die Kolleginnen und Kollegen davon zu überzeugen, dass dieser neue
Lehrberuf auch außerhalb des wissenschaftlichen Bibliothekswesens eine wertvolle
Ergänzung zu den bisher angebotenen Berufsausbildungen darstellt.
Die weitere Vorgangsweise war: Die Arbeitsgemeinschaft der Bibliotheks-
direktoren/innen der Österreichischen Universitätsbibliotheken und der Öster-
reichischen Nationalbibliothek beantragte im Juni 2003 bei der Österreichischen
Wirtschaftskammer die Einrichtung des Lehrberufes Archiv-, Bibliotheks- und
Informationsassistent/in. Die Befürwortung dieses Antrages erfolgte Ende 2003 in den
Gremien der Sozialpartner (das sind Vertreter der Wirtschaft und der Gewerkschaft).
Als nächster Schritt leitete die Wirtschaftskammer Österreichs die notwendigen
Unterlagen an das Bundesministerium für wirtschaftliche Angelegenheiten, damit
von Seiten des Ministeriums die dazu entsprechenden gesetzlichen Verordnungen
ausgearbeitet werden können.
Leider war hierzu von Seiten des Ministeriums fast ein ganzes Jahr erforderlich, sodass
erst am 1. Dezember 2004 die entsprechenden Verordnungen veröffentlicht wurden.
Es sind dies: Erlassung von Ausbildungsvorschriften für den Lehrberuf Archiv-,
Bibliotheks- und Informationsassistent/Archiv-, Bibliotheks- und Informations-
assistentin (BGBl. II Nr. 451/2004), Änderung der Lehrberufsliste (BGBl. II
Nr. 450/2004 – enthält Anrechnung auf verwandte Lehrberufe) und die Änderung der
Verordnung über die Lehrabschlussprüfungen in den kaufmännisch-administrativen
Lehrberufen (BGBl. II Nr. 457/2004).
Mit diesen gesetzlichen Grundlagen wurde in Österreich ein neuer Beruf geschaffen,
der das folgende Berufsprofil aufweist: Medien, Informationen und Daten beschaffen
und erwerben; Medien, Informationen und Daten formal erfassen; in Datenbanken
und -netzen recherchieren; Bestand ordnen, archivieren und Register erstellen;
technische Medienbearbeitung, Bestandspflege und Revisionen durchführen;
Entlehnvorgänge abwickeln; Erstinformationen für Benutzer geben; administrative
Arbeiten mit Hilfe der betrieblichen Informations- und Kommunikationssysteme
durchführen; an der betrieblichen Buchführung und Kostenrechnung mitwirken;
Statistiken, Dateien und Karteien anlegen, warten und auswerten. Anzumerken ist
noch, dass die erfolgreich abgelegte Lehrabschlussprüfung auch die Berufsausübung
des Buchhändlers ermöglicht.
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Die nächste Hürde, die es zu überwinden galt, war die Erstellung des Beruf-
schullehrplanes, der im ersten Halbjahr 2005 in Zusammenarbeit mit dem
Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Berufsschullehrern
und der Gruppe der Ausbildungsverantwortlichen in enger Anlehnung an den
Buchhändlerlehrberuf entstand – der Fachunterricht wurde aber eigenständig
konzipiert und enthält die folgenden Unterrichtsfächer: Archiv-, Bibliotheks-
und Informationswesen, Medienkunde und Informationskompetenz, Informatik,
Fachpraktikum.
Wie schon oben erwähnt, ist die Ausbildung sehr eng mit jener der Buchhändler
verbunden, sodass auch die in Österreich existierenden Berufsschulen (Wien, Graz,
Linz, St. Pölten), an denen die Buchhändler ausgebildet werden, als Ausbildungsstätte
in Frage kommen. Die Intentionen der Gruppe der Ausbildungsverantwortlichen,
dass der Unterricht in der Berufsschule in geblockter Form, also als Lehrgang,
stattfinden sollte, konnte anfänglich nur von der Berufsschule in St. Pölten angeboten
werden. Im Herbst 2005, zu Schulanfang, waren in Wien fünf Lehrlinge (zwei von
der Österreichischen Militärbibliothek – Bundesministerium für Landesverteidigung,
zwei von der Hauptbücherei – Magistratsabteilung 13 und einer von dem Wiener
Stadt- und Landesarchiv – Magistratsabteilung 8) und in Graz vier Lehrlinge (drei
von der Universitätsbibliothek Graz und einer von der Bibliothek der Pädagogischen
Akademie) angemeldet.
In zahlreichen Gesprächsrunden mit der Direktorin der Berufsschule in Wien und
dem für Berufsschulen verantwortlichen Landesschulinspektor in Wien gelang es
schließlich auch in Wien den Unterricht in geblockter Form (also als Lehrgang)
anzubieten und darüber hinaus auch interessierte Lehrlinge aus allen Bundesländern,
außer der Steiermark – hier beharrte man auf den Standort Graz – in Wien
einzuschulen.
Erwähnenswert ist auch noch der viertägige ,Train-the-Trainer-Kurs‘ für Berufs-
schullehrer im November und Dezember 2005, der an der Universitätsbibliothek
Wien, der Universitätsbibliothek der Veterinärmedizinischen Universität Wien, am
Österreichischen Staatsarchiv und an der ,Hauptbücherei am Gürtel‘ stattfand. Damit
wurde sichergestellt, dass der Lehrkörper ein Basiswissen des neuen Fachgebietes
erhielt. Für alle übrigen, insgesamt zwölf Lehrlinge, startete der erste Lehrgang
am 13. Februar 2006 und dauerte zwölf Wochen. Zu den oben bereits angeführten
fünf Lehrlingen kamen noch sieben von den folgenden Einrichtungen dazu:
Österreichische Forschungsstiftung für Entwicklungshilfe (1), Universitätsbibliothek
Innsbruck (1), Universitätsbibliothek Salzburg (1), Universitätsbibliothek der
Veterinärmedizinischen Universität Wien (1), Universitätsbibliothek Wien (2),
Vorarlberger Landesbibliothek (1)
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Es besteht auch die Möglichkeit entweder durch Anrechnung bereits absolvierter
Berufsschuleinheiten oder durch Ablegen der erforderlichen Prüfungen auch ohne
am Unterricht in der Berufsschule teilzunehmen, sich zur Lehrabschlussprüfung
anzumelden. Dies wurde von einer Mitarbeiterin aus der Universitätsbibliothek
der Medizinischen Universität Graz wahrgenommen – am 13. Dezember 2005
konnte der ersten Archiv-, Bibliotheks- und Informationsassistentin zur bestandenen
Lehrabschlussprüfung gratuliert werden.
Abschließend noch ein kurzer Exkurs für alle jene, die mit den österreichischen
Voraussetzungen einer Lehrlingsausbildung nicht so vertraut sind. Grundvoraus-
setzung ist klarerweise das Vorhandensein einer Lehrstelle sowie ein Feststellungs-
bescheid (gem. § 3a Abs.1 Berufsausbildungsgesetz), der nach einer ,Begehung‘
durch die Sozialpartner ausgestellt wird. Wichtig ist auch das Einhalten folgender
Fristen nach Arbeitsbeginn des Lehrlings: Die Anmeldung zum Lehrvertrag an die
Wirtschaftskammer Österreichs muss innerhalb von drei Wochen, die Anmeldung bei
der Berufsschule hat innerhalb von zwei Wochen und bei der Krankenkasse innerhalb
von sieben Tagen zu erfolgen.
Weiters muss die Person, die als Lehrlingsausbilder genannt wird, die Berechtigung
zur Lehrlingsausbildung besitzen. Für Bundesbedienstete existiert hier eine
Sonderregelung und zwar ersetzt nach der Verordnung des Bundesministeriums
für wirtschaftliche Angelegenheiten „Gleichhaltung von Prüfungen mit der
Ausbilderprüfung und über die Gleichhaltung von Ausbildungen mit dem
Ausbilderkurs“ (BGBl. II Nr. 262/1998) die Dienstprüfung diese Ausbilderprüfung. Es
werden aber auch am Wirtschaftsförderungsinstitut (WIFI) der Wirtschaftskammer
Österreichs entsprechende Kurse angeboten, die einen nach erfolgreicher
Absolvierung zum Ausbilder qualifizieren.
Die Lehrstellenbörse der Österreichischen Wirtschaftskammer und das Arbeitsmarkt-
service (AMS) ermöglichen die gezielte Auswahl eines geeigneten Lehrlings.
BIBLIOTHEKSBAU
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BIBLIOTHEKSERWEITERUNG IN DEN ENGEN GRENZEN VON RAUM, GELD UND DENKMALSCHUTZ. AM BEISPIEL DER OBERÖSTERREICHISCHEN LANDESBIBLIOTHEK
CHRISTIAN ENICHLMAYR
Kulturbauten boomen: Im Sog der großen Museumsbauten, die allenthalben in Europa
sprießen, ist auch noch Platz für Bibliotheksinvestitionen. Trotz Schuldenkrise und
Sparzwang der öffentlichen Haushalte tummeln sich große Architektennamen: Rem
Koolhaas, Norman Foster, Mario Botta, Herzog & de Meuron u.v.a.m. Diese haben
in den vergangenen Jahren „landmark buildings“ geschaffen und bei Kulturpolitikern
und wohl auch Bibliothekaren die Hoffnung geweckt, dass große Architektur auch
ein Garant für Besucherströme sei. Die Investitionsbereitschaft der öffentlichen
Hand wird dabei teilweise gebremst von der Befürchtung, dass sich die Bibliothek
als physische Manifestation des Wissens demnächst in den virtuellen Räumen des
Internets auflösen könnte. In jedem Falle sind Entscheidungen für Bibliotheken,
Museen und Kunsthäuser aber auch Ausdruck eines kultur- und bildungspolitischen
Gestaltungswillens.
Was für die große weite Welt gilt, gilt im Kleinen auch für Linz und Oberösterreich:
Eine Kommune mit einem „Museum der Zukunft“ und einem Kunstmuseum
„Lentos“ baut eben noch einen „Turm des Wissens“, welcher Volkshochschule und
Stadtbibliothek in Symbiose beherbergt. Dazu baut die Gebietskörperschaft „Land
Oberösterreich“ ein Opernhaus, einen weiteren Museumsbau und sie erweitert und
saniert die 1999 angekaufte Studienbibliothek. Gespeist wird dieser Boom zusätzlich
durch die Ernennung von Linz zur „europäischen Kulturhauptstadt 2009“, eine
Entscheidung, die sich auch für die heutige Landesbibliothek als Turboeffekt für
bereits in der Schublade schlummernde Erweiterungspläne auswirkt.1 Zusammen mit
dem „Turm des Wissens“, dem Opernhaus aber auch in unmittelbarer Nachbarschaft
zu diversen türkischen Geschäften und Kulturvereinen entsteht dabei ein neuer
Kulturbezirk am südlichen Ende der Linzer Landstraße.
1 Vgl. Klaus Kempf: Gutachterliche Stellungnahme zur Situation und den Entwick-
lungsmöglichkeiten der Oberösterreichischen Landesbibliothek im Hinblick auf die
Erweiterung und die Sanierung des Bibliotheksgebäudes. Enthält: Raum- und Funkti-
onsprogramm – Flächenbedarf. Linz 2000.
26
Die Oberösterreichische Landesbibliothek ist aus der Übernahme der ehemaligen
Studienbibliothek durch das Land Oberösterreich vom Bund im Jahr 1999 entstanden.
Als Studienbibliothek geht sie mit ihren Vorläufereinrichtungen auf die Zeit der
Klösteraufhebungen des Josephinismus zurück. Wenn auch wertvolle Buchbestände
nach Wien in die Hofbibliothek sowie nach Salzburg und München gelangten,
so besitzt die Bibliothek doch einige hundert mittelalterliche Handschriften,
Wiegendrucke und etwa 30.000 Druckwerke aus der Zeit von 1500 bis 1800. Der
wertvolle Rara-Bestand wird auch in Hinkunft eine wesentliche identitätsstiftende
Komponente des Bibliotheksprofiles sein, nur muss er besser „sichtbar“ gemacht
werden, als das bei der derzeitigen Unterbringung möglich ist.
Das heutige Gebäude im Stil der „Neuen Sachlichkeit“ stammt aus der Zeit von 1930
bis 1934 und ist bis auf den Einbau von Zentralheizung und Personallift bis in die
Gegenwart wenig verändert. Es ist als Magazinsbibliothek konzipiert und umfasst im
Wesentlichen einen Magazinsturm mit sechs für das Publikum nicht zugänglichen
Speichergeschossen und eine Reihe von Kellerabteilen mit Kompaktanlagen, einen
um einen kleinen Freihandbereich erweiterten Lesesaal und kleinräumig angeordnete
Büroflächen, in denen auch die Entlehnverbuchung untergebracht ist. In seiner
architektonischen Anmutung hat der damalige Direktor Konrad Schiffmann das
Gebäude als „bolschewikisch“ empfunden.2 Beim Gebäude der Studienbibliothek
Linz handelt es sich um den einzigen Bibliotheksneubau der Zwischenkriegszeit.
Der Bauzustand von Dächern und Fenstern einerseits aber auch von bibliothekarischen
Einrichtungen wie etwa Kompaktanlagen andererseits ist sanierungsbedürftig.
Magazinsräume werden von Wasser- und Fernwärmeleitungen durchzogen, die
wertvollen Büchersammlungen sind ohne Klimatisierung untergebracht.
Die Bibliothek versteht sich heute als Universalbibliothek für die außeruniversitäre
Forschung in der Region; entsprechend liegt ein Sammelschwerpunkt stets auf
Druckwerken aus und über die Region. Sie versteht sich aber auch als Komplemen-
tär zu den Universitätsbibliotheken: Da ist vor allem die Campusuniversität am
Stadtrand mit den Fakultäten für Technik/Naturwissenschaften, für Recht sowie für
Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Da ist weiters eine katholisch-theologische
Privatuniversität, eine Kunstuniversität, die Musikuniversität „Anton Bruckner“
sowie die Hochschulbibliotheken der Fachhochschulen für Sozialarbeit und Me-
dizintechnik sowie gleich zwei pädagogischen Hochschulen – allesamt mehr oder
weniger mit starken bibliothekarischen Einrichtungen ausgestattet. In Summe also
2 Vgl. Günther Androsch: Die Baugeschichte der Studienbibliothek Linz: Konrad
Schiff manns Kampf um einen Bibliotheksneubau. [maschin.] Linz 1985, 81; zur
Baugeschichte der Linzer Studienbibliothek siehe auch: Walter Jaksch, Edith Fischer,
Franz Kroller: Österreichischer Bibliotheksbau: Architektur und Funktion. Wien u.a.
Bd. 1: Von der Gotik bis zur Moderne. 1992, 267–270.
27
eine heterogene Landschaft für wissenschaftliche Bibliotheken, in der sich jede der
Einrichtungen ihr Profil erarbeiten muss. Im Falle der Landesbibliothek ist in den
vergangenen 25 Jahren jedenfalls neben der Funktion der Bewahrung des kulturellen
Erbes stark der Aspekt einer modernen Gebrauchsbibliothek dazu gekommen.
Die Teilnahme am österreichischen Bibliothekenverbund seit 2001 hat die Bibliothek
auch wieder für jene zahlreichen Studenten interessant gemacht, die in Wien,
Salzburg, Graz oder Innsbruck studieren, aber im Großraum Linz wohnen und
hier auch häufig ihre Diplom- und Prüfungsarbeiten anfertigen. Die Nachfrage
am Standort Schillerplatz entspricht so häufig einem Bibliotheksprofil, das eher
am Aufgabenbereich einer mittelstädtischen „public library“ ausgerichtet ist. Die
Landesbibliothek fungiert aber auch als Leiteinrichtung für ebenfalls zum Kulturressort
des Landes gehörigen Bibliotheken des Landesmuseums, des Literaturhauses
„Adalbert-Stifter-Haus“ und des Landesarchivs mit ihren kunstwissenschaftlichen,
literaturwissenschaftlichen und geschichtswissenschaftlichen Büchersammlungen.
Diese Sammlungen sind es auch, die wesentlich zur Ausrichtung der Bibliothek als
eine wissenschaftliche Mediensammlung beitragen.
Vermittels einer organisatorischen Neuausrichtung, einem geschärften Bibliotheken-
profil, Aufrüstung der technischen Infrastruktur und durch eine kleine aber
motivierte Mann- und vor allem Frauschaft ist es gelungen, Besucherfrequenz
und Ausleihfrequenz in den letzten Jahren mehr als zu verdoppeln, was unter den
gegebenen räumlichen Rahmenbedingungen durchaus als Überraschung gewertet
werden kann.
Jedenfalls ist das Haus bereits seit geraumer Zeit nicht mehr in der Lage, die
wachsenden Bestände aufzunehmen, geschweige denn, eine zeitgemäße und
benutzerorientierte Präsentation zu ermöglichen.
Bedingt durch die Entstehungszeit des Gebäudes in den 30er-Jahren des
vorigen Jahrhunderts unterliegt es einem beinahe als rigide zu interpretierenden
Denkmalschutz, der Eingriffe in Substanz und etwaige Aufbauten ganz verhindert
und allfällige Anbauten an den möglichen Stellen darauf zu achten haben, dass die
„Erlebbarkeit“ der Originalarchitektur erhalten bleibt. So heißt es im Gutachten
des Bundesdenkmalamtes etwa: „Ein denkmalpflegerisch vertretbarer Umgang
mit dem Bestand als ein in sich architektonisch zusammenhängendes Monument
setzt eine Erhaltung der gestaltprägenden Innenstrukturen mit den zugehörigen
entstehungszeitlichen Bauausstattungen voraus“.3
3 Aus dem Gutachten des Bundesdenkmalamtes vom 20.12.2005.
28
Es kümmert die Denkmalpfleger wenig,
– dass es in dieser Architektur nur einen sehr schmalen und kleinräumigen
Eingangstrakt gibt, der keinerlei Orientierung und keine Empfangssituation
ermöglicht,
– dass man im Eingangsbereich der Bibliothek weder Bücher noch Bibliothekare
sieht, stattdessen schmale Gänge, die eher an ein altes Finanzamt erinnern, als
an eine Bibliothek mit Publikumsbetrieb,
– dass die wenigen Publikumsflächen erst nach Überwindung eines aus der
Mittelachse verschobenen Stiegenhauses erreichbar sind.
Erst in den letzten Jahren wurden durch eine erweiterte „ServiceZone“ mit
Entlehnverbuchung, einem Recherchebereich mit Online-Katalogen, einem
Zeitungsbereich und einem kleinen Freihandbereich für Nachschlagewerke
Funktionalitäten eines einigermaßen modernen Bibliotheksbetriebes geschaffen,
wenngleich dies oft eher nur angedeutet als realisiert ist. In Summe stehen im
Altbestand heute Publikumsflächen von wenigen hundert Quadratmetern einer
doch nicht unbeträchtlichen Gesamtnutzfläche von 4.000 Quadratmetern an
vorwiegend geschlossener Magazinsfläche gegenüber. Ein Besucher hat mir in
meinen Anfangsjahren im Haus einmal gesagt: „Wissen Sie, die Bibliothek sieht
aus, als ob sie in den Fünfziger Jahren zugesperrt worden wäre“.
Nach der Analyse des Altbestandes und seiner Lage rund um drei Straßenzüge
in U-Form wird relativ schnell klar, dass ein sogenanntes „Offener-Plan-
Bibliotheksgebäude“ im Sinne der Empfehlungen von Harry Faulkner-Brown
mit der Forderung nach einer allumfassenden Flexibilität nicht möglich ist.4 Das
Gebäude würde also von vornherein spezifische Funktionalitäten den einzelnen
Teilbereichen der Bibliothek zuordnen müssen und somit auch die Dreiteilung
der Bibliothek in Verwaltungsflächen, Publikumsflächen und Speicherflächen nur
teilweise auflösen können. Das heißt aber nicht, dass die in Fachkreisen berühmten
„Faulkner-Brownschen-Gesetze“ bei der Planung keine Anwendung gefunden
hätten.
Die Grenzen der Erweiterbarkeit sind aber nicht nur durch die Denkmalschutzauflagen
– mit ihren begrenzten Eingriffsmöglichkeiten in den Bestand – eng gezogen, auch
4 Harry Faulkner-Brown: Der off ene Plan und die Flexibilität. In: H. F.-B.: Bibliotheken
wirtschaftlich planen und bauen. München 1981, S. 9–25; zitiert nach: Ulrich Naumann:
Bibliotheksbau. Unterlagen für das Fernstudium, URL: http://www.ub.fu-berlin.
de/~naumann/biblbau_2006.pdf (30.12.2006).
29
durch die Grundstücksflächen sind die Erweiterungsmöglichkeiten sehr begrenzt.
Sie beschränken sich im Wesentlichen auf ein ehemaliges Wohngebäude an der
Rückseite des Gebäudes, das über einen Innenhof an das Areal angebunden ist und
auf eine angrenzende Baulücke, für die keine denkmalschützerischen Gesichtspunkte
zu berücksichtigen sind. Allein um das ehemalige Wohngebäude in einen Zubau mit
einbeziehen zu können, muss es erst einmal von der provisorischen Ausstattung mit
Bibliotheksregalen befreit werden, mit anderen Worten: Bevor die Bibliothek neue
Regalflächen hinzugewinnt, verliert sie erst einmal welche durch Abbruch.
Einem Gutachten aus dem Jahr 2000 folgend und unter Einhaltung der Vorgaben
der Politik, war der Standort trotz der Kleinräumigkeit eigentlich trotzdem nicht
in Frage zu stellen. Zu verlockend sind auch die Vorteile des Standortes, liegt
dieser doch zentral und beinahe unmittelbar an der Einkaufsstraße „Landstraße“,
in verkehrsgünstiger Lage und bestens erreichbar von den zahlreichen allgemein-
und berufsbildenden Mittelschulen der Stadt aus. Bereichernd könnten sich auch
die neuen Kultur- und Bildungsbauten der Umgebung auswirken: Seit zwei Jahren
errichtet der Magistrat Linz ein gemeinsames Gebäude für Volkshochschule und
Stadtbibliothek, das unter dem Begriff „Turm des Wissens“ bereits überregionale
Bekanntheit erreicht hat. Zwei Straßen weiter ist ein neues Musiktheater mit einem
Investitionsvolumen von 150 Millionen Euro in Planung. Insgesamt entsteht damit
in einem Neustadtbereich mit relativ hohem Ausländeranteil auch so etwas wie ein
neues Kultur- und Bildungsdreieck am südlichen Ende der Linzer Innenstadt.
PLANUNGSZIELE
Der Leitgedanke für den Raumgewinn des Zubaues und die durchgreifende
Sanierung der bestehenden Räume entspringt dem Wunsch nach der radikalen
Verbesserung der Raumsituation, die dem Leser direkt zugute kommen und für ihn
unmittelbar erfahrbar werden soll. Wir sind bei der Definition der Planungsziele
davon ausgegangen, dass sich die Leserin bzw. der Leser heute
– in der Bibliothek primär selbst und unabhängig orientieren will, ohne dabei auf
das Fragenstellen und die Inanspruchnahme von Hilfe verzichten zu wollen.
– Dass die Leser weiters eine angenehme und stimulierende Umgebung suchen, in
der sie Literatur lesen und exzerpieren können, um sie zu eigenen Texten weiter
zu verarbeiten.
30
– Dass sie in digitalen Katalogen und in elektronischen Ressourcen der Bibliothek
recherchieren, Medien bestellen, diese mit nach Hause nehmen oder auch in der
Bibliothek nutzen wollen.
– Dass sie sich einerseits zurückziehen können und in aller Ruhe für sich,
andererseits aber auch mehr und mehr in Gruppen Texte und Materialien
erarbeiten können.
– Schliesslich, dass die Leser sich treffen, sich unterhalten, sich entspannen bzw.
bei Bedarf auch erfrischen können.
Michael Brawn5 hat bereits 1970 in einer Darstellung zum Bibliotheksbau die
planerischen Gedanken zur Einrichtung von Benutzerarbeitsplätzen formuliert: Er
sieht Kommunikation als die Hauptaufgabe der Bibliothek, bezieht das aber nicht auf
die zwischenmenschliche Kommunikation, sondern auf die Kommunikation zwischen
Informationsquelle und dem Leser. Räumliche Gliederung, Licht und Möblierung sind
die wichtigsten Voraussetzungen wenn eine Umgebung geschaffen werden soll, die eine
von Brawn beschriebene Kommunikationssituation herstellen soll. Ergänzen sollte man
dazu noch den Faktor Luft, im Sinne einer guten Luftqualität bzw. eines konstanten
Raumklimas. Freihandbereiche und Lesebereiche zur Kommunikation und zur
Kontemplation sollen einander durchdringen und die Arbeit mit dem eigenen Notebook
oder dem Computer der Bibliothek auf allen Publikumsflächen ermöglichen.
Die Frage, ob die architektonische Ausrichtung auf das Informationsmedium „Buch“
im Zeitalter des grenzenlosen Zugriffs auf elektronische Informationseinheiten
überhaupt noch gerechtfertigt ist, möchte ich mit Norbert Bolz beantworten: „Nicht
das Medium Buch ist am Ende“, sagt Bolz, sondern: „Das Buch als Leitmedium
der Gegenwart ist am Ende. Diese Stelle nimmt der Computer ein. Aber das Buch
gewinnt eine neue, sehr edle und achtenswerte Funktion – nämlich die der humanen
Kompensation. Das Buch ist das einzige Medium, das den Bedürfnissen der Menschen
entspricht. Es bietet den Trost der Überschaubarkeit. Ein Buch beginnt auf der ersten
Seite und endet auf der letzten. [...] Das spezifisch menschliche Verlangen nach einer
überschaubaren Welt, nach klaren Strukturen und Ordnungsmustern kann von den
klassischen Medien und vor allem vom Buch am besten befriedigt werden.“6
Im Auslobungstext zum offenen Architektenwettbewerb sind die Anforderungen
folgend zusammengefasst:
5 Michael Brawn: Bibliotheken, Architektur und Einrichtung. Stuttgart 1970, 147f.
Zitiert nach: Ulrich Naumann: Bibliotheksbauten für die Zukunft, a.a.O.
6 Vgl. Norbert Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsver-
hältnisse. München 1993.
31
Schaffung eines großzügig bemessenen Eingangs- und (Erst)informationsbereich-
es, wo sich der Besucher leicht und rasch orientieren kann und wo er den Zugang
zu den anderen Räumlichkeiten der Bibliothek findet. Dies sollte in Form einer
Informationsdrehscheibe mit unmittelbarem Zugang zu den bibliothekarischen
Nahbereichen geschehen wie Verbuchung, Rückgabe, Neuerscheinungen, Quick-
Recherche, Zeitungsecke. Dazu sollte auch ein Zugang zu einem Ausstellungs-
und Erfrischungsbereich in der Eingangszone möglich sein.
Im Zentrum der Neukonzeption steht jedoch ein erheblich erweiterter Freihand-
Lesebereich mit einem Zielbestand von etwa 100.000 Medieneinheiten. Diese gut
belüftete und mit einer lesefreundlichen Beleuchtung ausgestattete Bücher- und
Medienlandschaft soll Anreiz und Stimulanz zum oft zitierten selbst gesteuerten
Lernen bieten.
Die Bibliothekare sind eng benachbart auf multifunktionalen Arbeitsplätzen für
Auskunft und Beratung untergebracht.
Vor dem Hintergrund eines weiter wachsenden gedruckten Literaturangebotes
und entsprechend den Archivverpflichtungen der Landesbibliothek ist auch
eine Erweiterung und sachgerechte Ausstattung der geschlossenen Magazine
unerlässlich. Vor allem die reichen historisch wertvollen Bestände verlangen
eine an sicherheitstechnischen und konservatorischen Standards orientierte
Unterbringung.
Nach dem Denkmalschutz und der Begrenztheit des Grundstückes kommt
man zur dritten einschränkenden Bedingung für das Bauvorhaben: In den
Vorbereitungsarbeiten sind wir von einem einzuplanenden Zuwachs an Flächen
ausgegangen, der für die kommenden 25 Jahre ausreichen sollte. Eigentlich nicht viel,
wenn man bedenkt, dass das bestehende Gebäude 75 Jahre auf dem Buckel hat. Diese
Bebauung ergab einen überschlagsmäßigen Finanzbedarf von etwa 18 Millionen
Euro. Das klingt nach heutigen Maßstäben als überschaubar, umgerechnet in
Schilling waren das aber noch vor fünf Jahren mehr als 200 Millionen Schilling, was
beträchtlich mehr klingt und zu Beginn der Kostenschätzungen im Jahr 2000 jenseits
der Schmerzgrenze der Politik angesiedelt war. Es wurde deshalb von vornherein
eine Etappenlösung eingeplant, von der zwar ein Vollausbau vom Architekten
zu konzipieren war, aber nur die erste Etappe mit einem Bauvolumen von neun
Millionen Euro bis zum Jahr 2009 realisiert werden sollte. Daraus ergibt sich, dass
die Bibliothekare den Architekten die beinahe unlösbare Aufgabe mitgaben, die volle
Funktionalität auch bereits in der ersten Etappe zu realisieren.
Der offene anonyme Architekturwettbewerb brachte insgesamt 52 Einreichungen.
Davon stammten zwei Drittel aus Deutschland. Aus dem Juryverfahren ging das
Büro Bez + Kock (Stuttgart) als Sieger hervor. Für uns als Bibliothekare stellte
32
sich im Nachhinein als sehr positiv heraus, dass wir mit diesem Büro auf bereits
erfahrene Bibliotheksplaner gestoßen sind, die im Bereich der UB Göttingen,
zusammen mit dem bekannten Bibliotheksbauexperten Elmar Mittler schon eine
naturwissenschaftliche Bibliothek geplant haben, die nur den Nachteil hat, bis heute
nicht realisiert zu sein. Dem Umgang der Architekten mit dem Thema Bibliothek
kommen diese Erfahrungen jedenfalls sehr zu Gute.
Aus der Juryentscheidung: „Städtebaulich nimmt das Projekt die L-förmige Struktur
des Bestandsobjektes auf und bildet eine klar ausformulierte Gebäudeschicht aus.
Diese Schicht ist in einer durchgehend einheitlichen Form- und Materialsprache
gehalten. Die Wahl des Fassadenmaterials (Stein) weist das Bauwerk als Kultur- und
Bildungsobjekt aus [...] Die schwierige Aufgabe einer Sanierung des Altbaues und
zugleich die Schaffung der Erweiterungsflächen überzeugt bibliotheksfachlich einer-
seits durch sein effizientes Ausnutzen der zum Umbau bzw. zur Überbauung anstehenden
Flächen, andererseits schafft er die unerlässlichen Erschließungen in der Horizontalen
und Vertikalen ohne die eine gebrauchsfähige Bibliothek nicht auskommt.“7
DAS KONZEPT DER ARCHITEKTEN BEZ + KOCK (STUTTGART)
Diese inhaltliche Umorientierung von der Magazins- zur Freihandbibliothek verlangt
eine ihr entsprechende baulich-räumliche Umsetzung, die vor allem im Hinblick
auf den Wunsch nach großen, zusammenhängenden und damit übersichtlichen
Regalstellflächen im Altbau nicht ohne weiteres realisierbar erscheint. Es ist
deswegen das Ziel dieses Entwurfes, diese Flächen vorwiegend im Erweiterungsbau
unterzubringen, dem ehrwürdigen Altbau gleichsam ein „gebautes Regal“ zur
Seite zu stellen und so den Bestand nur mit den Nutzungen zu belegen, die seiner
Grundrissstruktur angemessen sind.
Formales Ziel für eine derartige Aufgabe muss nach Auffassung der Architekten
sein, einen Begleiter für den Altbau zu entwerfen, der zwar einerseits selbstbewusst
seine Aufgabe hinsichtlich Funktion und Städtebau wahrnimmt, aber andererseits
das Primat des Bestandes unangetastet lässt. Deswegen wird in der Formulierung
des neuen Baukörpers bewusst nicht das additive Prinzip des Altbaues wiederholt,
sondern die Erscheinung eines aus einem Stück gefertigten „Passstückes“ angestrebt.
Dadurch wird eine Konkurrenzsituation zwischen Neu und Alt vermieden, das Neue
bildet einen ruhigen Hintergrund für das markante Altgebäude, es passt wie der
Schlüssel zum bereits vorhandenen Schloss.
7 Protokoll des Preisgerichtes zum Ergebnis des Architekturwettbewerbes zur Sanierung
und Erweiterung der Oberösterreichischen Landesbibliothek 15./16. Mai 2006.
33
GEBÄUDEKONZEPT/FUNKTION
Die Form des Passstückes ergibt sich aus den Grundstücksgrenzen, den städtebaulich
erforderlichen Abstandsflächen sowie der hofseitigen Außenkontur des Altbaues.
Verbunden werden die beiden Bauteile über eine Fuge, die den jeweiligen Situationen
entsprechend als Arbeitsplatzzone, als Bediengang, als Verglasung oder in der Mitte
des Hauses als ein vom bisherigen Innenhof abgeleiteter Luftraum über der zentralen
Infotheke, der „Drehscheibe“, ausgebildet ist.
Dabei nimmt der Altbau mit seinen Einzelräumen jene Funktionen auf, die
abgeschlossener Räume bedürfen, während der Neubau praktisch ausschließlich als
Regalstellfläche dient. So kann die Grundrissstruktur des Altbaues erhalten bleiben
und trotzdem dem Gesamtziel einer neuen, offenen Bibliothek dienen.
Die historisch wertvolle Haupttreppe des Altbaues bleibt die zentrale Treppe der
neuen Bibliothek. Das Treppenhaus wird im Luftraum des Innenhofes freigestellt.
So bleibt die früher außenräumliche Situation spürbar und das Treppenhaus mit
seinen Zierverglasungen wird selbst zum Ausstellungsstück.
Der Bücherspeicher bleibt in Funktion und Ausbau erhalten und wird dem Publikum
zugänglich gemacht. Der Festsaal mit seiner barocken Ausstattung wird seiner
Bedeutung gemäß als beaufsichtigter Handschriftenlesesaal vorgesehen.
Im Inneren erreicht der Besucher, nachdem er den bestehenden Haupteingang
passiert hat, die neue zenital belichtete Halle, die Drehscheibe der Bibliothek. Hier,
an der zentralen Informationstheke wird er empfangen, hier kann er sich orientieren,
alle wichtigen Teile der Bibliothek sind auf kurzem Wege erreichbar. Angelagert an
die zentrale Halle sind im Erdgeschoss Ausstellungs- und Vortragsbereich, das Cafe,
sowie eine Mediathek und ein Schulungsbereich für das Publikum. Diese Bereiche
sind alle ohne Passieren der Buchsicherung erreichbar, was eine große Flexibilität
der Verwendung z.B. hinsichtlich Öffnungszeiten ermöglicht.
Die Haupttreppe des Altbaues befindet sich innerhalb der Buchsicherungsanlage,
die im EG durchschritten wird und erschließt auf den Geschossen die um den
Innenhof/Luftraum angelagerten Rundgänge. Direkt am Antritt bzw. Austritt in
den jeweiligen Geschossen befinden sich die Entlehnbereiche mit Selbstverbuchung.
Durch die Nutzung der beiden Haupträume des Bestandes als Lesesäle entsteht
selbstverständlich eine Zonierung des Gebäudes, die Mehrzahl der Leseplätze ist
von den Verkehrswegen im Haus deutlich getrennt und doch auf kurzem Weg zum
Buch gelegen. Anleseplätze in den Regalreihen, sowie einige Kurzzeitplätze neben
den größeren Regalblöcken sowie auf den Zwischengeschossen des Magazinspeichers
vervollständigen das Angebot.
Der Verwaltungsbereich wird in den Obergeschossen im Neubau Rainerstraße
angesiedelt. Er ist direkt von außen über den Personal- und Liefereingang Rainer-
straße erschlossen und somit von den Öffnungszeiten der Publikumsbereiche
34
unabhängig. Poststelle und Wareneingang befinden sich im EG auf Straßenniveau
und ermöglichen so unkompliziertes Arbeiten.
Die geschlossenen Magazinbereiche der ersten Bauetappe werden vollständig in
drei unterirdischen Geschossen untergebracht, die unter dem Innenhof und der
Neubebauung Rainerstraße zu liegen kommen. Dort werden auch die notwendigen
Technikräume situiert. Die Anbindung der Magazinsgeschosse an die Buchausgabe
bzw. Entlehnverbuchung soll über eine Buchförderanlage erfolgen.
Nunmehr geht es darum, die baulichen Möglichkeiten bestmöglich inner-
organisatorisch umzusetzen: nach der stufenweisen Einführung von Aleph 500
seit dem Jahr 2000 in den Bereichen Bearbeitung, Entlehnverbuchung, OPAC
und Fernleihe mit einer Anbindung an den österreichischen Bibliothekenverbund
will die Bibliothek künftig auch im Bereich der Selbstverbuchung entsprechende
Automatisierungsschritte setzten, schon allein um das Wachstum des Entlehn-
volumens zu verkraften. Ebenso müssen aber auch sicherheitstechnische Aspekte
in Zusammenhang mit den großzügigeren Freihandflächen berücksichtigt werden.
Wir erwarten uns entsprechende Antworten von der Einführung der RFID-
Technologie. Dazu muss aber erst der künftige Bestand des Freihandbereiches
mit Transpondern ausgestattet werden. Offen ist derzeit auch noch die Frage der
systematischen Aufstellung: Anders als viele Bibliotheken unseres Zuschnittes, die sich
für „Lernateliers“ und „reader interest Klassifikationen“ entschieden haben, tendieren
wir zu einer klassischen wissenschaftlichen Aufstellung nach Sachgebieten. Dafür
kommen dzt. die „Regensburger Verbundklassifikation“ (RVK) ebenso in Betracht
wie auch die seit 2007 in der deutschen Nationalbibliographie eingeführte DDC 22
gemäß der deutschsprachigen Version, wenngleich in einer Art abgespeckter Variante
unter Hintanhaltung synthetischer Notationen.
Neben der Orientierung an der physischen Wissensorganisation in einem neuen Haus
geht es aber auch darum, den schon bestehenden und sich laufend verändernden
elektronischen Ressourcen und Diensten eine Heimstätte zu geben, die die zentrale
Funktion der Bibliothek als Lernort unmittelbar erfahrbar macht. Mit der entstehenden
Architektur hat die Bibliothek die Chance, den geänderten Benutzererwartungen
gerecht zu werden und – im besten Fall – Potentiale zu mobilisieren, die die
bibliothekarischen Dienstleistungen auch künftig attraktiv erscheinen lassen.
35
Fassadenskizze aus der Entstehungszeit des 1934 eröffneten Bibliotheksgebäudes.
Die Montage in ein Luftbild von der östlichen Portalseite
der Bibliothek zeigt beide Etappen des L-förmigen Zubaus –
aber nur die erste Etappe soll bis 2009 umgesetzt werden.
36
Der Entwurf der Architekten
Bez + Kock (Stuttgart) sieht eine
Überbauung des ehemaligen
„Hinterhofes“ des Bibliotheksgebäudes
vor – er bildet die künftige „Drehscheibe“,
eine Informationstheke, die die Funktionen
„Empfang“, „Orientierung“ und „Quick-
Recherche“ ermöglichen soll.
Die Grafik zeigt die markantesten konzeptionellen Merkmale der Verbindung von „Alt“
und „Neu“: die Verbindung der beiden Baukörper durch den Innenhof und dessen
horizontale Erschließung mittels eines galerieartigen „Umganges“.
37
DREI JAHRE HAUPTBÜCHEREI WIEN AM GÜRTEL: ARCHITEKTUR, TECHNIK, ANGEBOTE, ERFOLG. VERSUCH EINER BILANZ
CHRISTIAN JAHL
DER WEG ZUR HAUPTBÜCHEREI WIEN AM GÜRTEL
Seit 1980 suchten die Büchereien Wien (damals noch „Wiener Städtische
Büchereien“) einen neuen Standort für ihre Hauptbücherei. Einst selbst als großer
Wurf gefeiert, war die versteckt gelegene, kleine Hauptbücherei in der Skodagasse
im achten Wiener Gemeindezirk zu einer reinen Entlehn- und Abholbibliothek
geworden, die den Anforderungen einer modernen öffentlichen Bibliothek nicht
mehr gewachsen war. Zuletzt war ein Drittel der Medienbestände in einem Magazin
untergebracht und wurde auf Anforderung der Leserinnen und Leser ausgehoben
– eine Katastrophe für eine öffentliche Bibliothek, deren Klientel nach wie vor
zu einem nicht unwesentlichen Teil am Bücherregal gustiert, ohne in Online-
Katalogen zu recherchieren.Verschiedene andere Standorte, teils von der Leitung
der Büchereien Wien favorisiert, teils von außen an die Büchereien herangetragen,
blieben unrealisiert ehe dem damaligen Leiter der Magistratsabteilung 13, Dr.
Wolfgang Lischka, und dem Leiter der Wiener Städtischen Büchereien, Dr. Franz
Pascher, ein Bauplatz mit Vergangenheit angeboten wurde.
Am Urban-Loritz-Platz, oberhalb der U-Bahn-Linie 6, hatte der Baumeister und
Shopping-Mall-Betreiber Richard Lugner eine vom bekannten Architekten Adolf
Krischanitz entworfene Erweiterung des nach ihm benannten Einkaufszentrums,
die sogenannte „Wolkenspange“, in die öffentliche Diskussion eingebracht, die dem
Baumeister die direkte Anbindung der Shopping-Mall an die U-Bahn ermöglicht
hätte. Nachdem es zwischen der Wiener Stadtverwaltung und dem Bauwerber
Lugner zu keiner Einigung über die inhaltliche Ausgestaltung der „Wolkenspange“
gekommen war und sich die Stadt Wien entschieden hatte, den Bauplatz selbst zu
nutzen, war der Weg frei für die Hauptbücherei am Gürtel.
Im Frühjahr 1998 erfolgte die Anmeldung und Vorbereitung eines zweistufigen, EU-
weiten baukünstlerischen Wettbewerbs „Hauptbücherei und Zentralverwaltung der
Wiener Städtischen Büchereien“, für den 121 Planerinnen und Planer ihre Projekte
einreichten. Aus der zweiten Wettbewerbsstufe, an der zehn Projekte teilnehmen
38
durften, ging Architekt Ernst Mayr als Sieger hervor, dessen Entwurf durch die
große Freitreppe, die komplexe Oberlichtführung, die beidseitige Abschottung der
Seitenflanken zu den Verkehrsströmen des Gürtels und die gläserne Öffnung hin
zur denkmalgeschützten Otto-Wagner-Station der U6 mit Blick auf den Kahlenberg
und durch die Verschränkung des Bibliotheks- und U-Bahn-Station-Zugangs
beeindruckte.
Nachdem bereits in der Pressekonferenz zur Präsentation des Siegerprojektes (15. Jänner
1999) der politische Wille zur raschen Realisierung des Bauprojektes bekundet worden
war und die „Wirtschaftlichkeitsprüfung“ bestanden wurde, erfolgte am 29. November
1999 der Spatenstich durch die Vizebürgermeisterin und für Bildung zuständige
Stadträtin Grete Laska und dem Planungsstadtrat Bernhard Görg. Gleichenfeier am
13. Dezember 2000, nach den umfangreichen Arbeiten im U-Bahn-Bereich und dem
zügigen Hochbau offizielle Eröffnung der Hauptbücherei am Gürtel am 7. April 2003
durch Bürgermeister Michael Häupl und Vizebürgermeisterin Grete Laska sowie
die Aufnahme des Publikumsbetriebes am 8. April 2003 waren die weiteren Stationen
im Entstehungsprozess der Hauptbücherei.
DIE ERFOLGSFAKTOREN
Prominenter Standort und leichte Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln
Mit der Wahl des ungewöhnlichen Standortes für eine Bibliothek zwischen den
Verkehrsströmen des Gürtels hat die Wiener Stadtpolitik ein bildungspolitisches
Zeichen gesetzt. Was mit dem EU – „URBAN Wien – Gürtel Plus-Programm“, in
dessen Rahmen unter anderem die Neugestaltung des Urban-Loritz-Platzes und die
Errichtung des von Silja Tillner geplanten markanten Membrandaches begonnen
hatte, wurde mit dem Bibliotheksbau eindrucksvoll fortgesetzt – die Aufwertung der
städtebaulichen Problemzone „Gürtel“. Der Kultur- und Bildungsbau Hauptbücherei
bildet eine Brücke zwischen den Bezirken inner- und außerhalb des Gürtels, eine
Brücke zwischen dem siebenten Wiener Gemeindebezirk mit urbaner, junger,
bildungsbewusster Bevölkerung und dem Museumsquartier als Kulturviertel und
dem fünfzehnten Bezirk, jenem Wiener Bezirk mit dem höchsten Bevölkerungsanteil
mit Migrationshintergrund (32,5%).
Die direkte Anbindung der Hauptbücherei an die U-Bahn-Linie 6, die Lage am
Verkehrsknotenpunkt Urban-Loritz-Platz, an dem nach Frequenzerhebungen der
Wiener Linien bis zu hunderttausend Menschen pro Tag vorbeikommen, ist ein
Glücksfall für die Bibliothek und mitentscheidend für den Bekanntheitsgrad in
der Stadt. Die Büchereien Wien sind mit dem spektakulären Bibliotheksbau ins
39
Bewusstsein der Wiener Bevölkerung gerückt, nicht nur die Hauptbücherei, auch die
38 Zweigstellen und der Bücherbus weisen beeindruckende Nutzungszahlen auf.
Hauptbücherei Wien Am Gürtel (Bild: MA13, Manfred Seidl)
ARCHITEKTUR, TECHNIK UND LOGISTIK
Die Qualitäten des Bibliotheksbaus Ernst Mayrs beschränken sich nicht auf die nach
außen gerichtete urbane, moderne, beeindruckende Wirkung des „Bücherschiffes am
Gürtel“, auch die innere Gliederung des Hauses, die mit dem Bibliotheksplanungsteam
abgestimmte Zonierung in Bereiche des Abholens, des Kommunizierens, des
Verweilens und Studierens, die Gliederung der Verkehrswege und der Arbeitszonen,
etwa der Lernerker, die Teilung des Hauses in lautere Nutzungsbereiche in Nähe des
Haupteingangs im ersten und zweiten Bibliotheksgeschoss und leise Studienbereiche
im gläsernen Heck des Gebäudes, trägt wesentlich zur Bewältigung der verschiedenen
Nutzungsansprüche der täglich bis zu 3.500 Besucherinnen und Besucher der
Hauptbücherei bei.
Die mit den bibliothekarischen Fachleuten geplante Inneneinrichtung, bei der
Holzpaneele und Möbel- und Regalfronten aus Ahorn natur und Teppichbelag eine
wohnliche Atmosphäre schaffen, bildet eine stimmige Einheit mit dem Gebäude.
So verschränkt sich gelungene Bibliotheksarchitektur mit dem bibliothekarischen
Konzept der „Bibliothek als Lernort“, die mit ihren Medien- und Kursangeboten
zum längeren Verweilen einlädt.
Moderne Bibliothekstechnik gibt dem Haus die notwendige funktionierende
Logistik, um Nutzer- und Medienströme effizient zu organisieren.
RFID (Radio Frequency Identification) beschleunigt durch die Möglichkeit
der Stapelverbuchung an den Personalverbuchungsplätzen und die einfache
Medienverbuchung an acht Selbstverbuchungsgeräten die Entlehnung der Medien,
40
die allesamt mit sogenannten Transponderetiketten versehen sind. Rund 40% der
Ausleihen werden von den Besucherinnen und Besuchern der Bibliothek selbst
vorgenommen. Auch die Diebstahlsicherung funktioniert mit RFID.
Eine Unterpult-Buchtransportanlage befördert die zurückgegebenen Medien (im
Schnitt 4.500 pro Tag, Spitzenwerte bis zu 10.000) in den Sortierraum, wo sie
von studentischen Aushilfskräften wieder auf Bücherwägen für die Fachbereiche
aufgeteilt werden.
MEDIENANGEBOT, ARBEITSPLÄTZE UND COLLEGEPRINZIP
Neben Architektur, leichter Erreichbarkeit und wohnlicher Atmosphäre interessieren
Bibliotkekskundinnen und -kunden vor allem die Angebote der Hauptbücherei.
360.000 Medien, davon 20% audiovisuelle Medien (CDs, CD-ROMs, DVDs, Videos,
Toncassetten, Schallplatten), 80 deutsch- und fremdsprachige Tageszeitungen und
rund 600 Zeitschriftenabonnements erwarten die Besucherinnen und Besucher der
Hauptbücherei, um entliehen oder vor Ort genutzt zu werden.
Gemütliche Sitzplätze zum Schmökern, Studienplätze, Abhörplätze für Compact
Discs und Schallplatten, Plätze zum Video- und DVD-Schauen in der Bibliothek
und viele Computerarbeitsplätze runden das Angebot der Hauptbücherei ab.
Die Internetnutzung wurde zweigeteilt. Während die Internetplätze in den
Fachbereichen dem Lernen, dem Studieren, dem Surfen mit Bildungshintergrund
vorbehalten sind, ist es in der räumlich getrennten Internetgalerie auch erlaubt, zu
chatten, SMS zu versenden, zum Vergnügen im Web zu surfen oder den E-Mail-
Account abzurufen.
Die Computerwerkstatt bietet spezielle Software, etwa zur Vorbereitung der
Tests für den Europäischen Computerführerschein oder den Europäischen
Wirtschaftsführerschein, Internetlinks zum Thema „Arbeiten und Bewerbung“ fürs
Selbststudium, aber auch kostenlose Einführungskurse in die Software der Werkstatt
an, die in Kooperation mit der Volkshochschule Meidling durchgeführt werden.
Ein wesentliches Prinzip für die Präsentation der Medienbestände, aber auch die
Arbeits- und Personalorganisation in der Hauptbücherei ist das Collegeprinzip.
Colleges, die in der Namensgebung bewusst Assoziationen zum Thema „Lernen“
wachrufen, sind themenzentrierte Bereiche der Hauptbücherei, die im Medienmix
alle Medien zu den Themen des Colleges präsentieren, Arbeitsplätze anbieten
sowie Information und Beratung an den College-Informationstheken offerieren.
Jedes College hat ein eigenes Team, das mit großer Autonomie ausgestattet
über Medienankäufe entscheidet, die gesamte Medienbestandsarbeit im College
leistet, die collegeeigene Infotheke betreut u.v.m. Die Collegestruktur bringt
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Mischarbeitsplätze, abwechslungsreiche
41
Tätigkeiten statt monotoner Konzentration auf einen Tätigkeitsbereich, der
Bibliothek Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit hoher Spezialisierung und großer
Identifikation mit ihrem Arbeitsbereich.
TEACHING LIBRARY ALS KONZEPT DER ZUKUNFT
Das bibliothekarische Konzept der „Teaching Library“, die ihren Kundinnen und
Kunden einerseits durch das Arrangement ihrer Medienangebote und Arbeitsplätze in
Lernsettings (etwa zu Themen wie „Sprachen lernen“,“ Erwerben von Informations-
und Medienkompetenz“) Möglichkeiten zum selbstgesteuerten Lernen anbietet,
andererseits in der Regel mit Kooperationspartnern traditionell geführte Kurse
und Workshops veranstaltet, ist in verschiedensten Facetten bereits in den Alltag
der Hauptbücherei integriert und wird in den nächsten Jahren weiter vertieft und
akzentuiert werden.
DIE HAUPTBÜCHEREI – EINE ERFOLGSGESCHICHTE
Seit der Eröffnung der Hauptbücherei im April 2003 haben in der Bibliothek 92.000
neue Kundinnen und Kunden eine Büchereikarte der Büchereien Wien gelöst.
Jährlich werden in der Hauptbücherei rund 1,9 Millionen Entlehnungen getätigt,
3.000 – 3.500 Menschen kommen täglich in die Hauptbücherei, das sind rund
800.000 Besucherinnen und Besucher im Jahr.
Die Hauptbücherei wird von einem jungen Publikum besucht, an die 90% der
Kundinnen und Kunden sind unter 40 Jahre alt.
2006 haben an die 25.000 Personen an 556 Veranstaltungen der Hauptbücherei
teilgenommen, an Workshops in der Computerwerkstatt, an Bibliotheksführungen,
an Abendveranstaltungen (Lesungen, Vorträgen, Podiumsdiskussionen, Filmvor-
führungen) und an Kinderanimationsveranstaltungen.
Die Hauptbücherei steht selbst im Fokus der Medien und wird gerne als Kulisse
für bildungsbezogene Fernsehbeiträge, aber auch für Spielfilme verwendet.
Der Bau und der Erfolg der Hauptbücherei in Wien war für das öffentliche
Bibliothekswesen in Österreich ein Meilenstein und Initialzündung für weitere
bedeutende Bibliotheksbauten in Österreich (Wissensturm Linz, Neue Haupt-
bücherei der Stadtbibliothek Salzburg).
42
DIE NEUE STADTBIBLIOTHEK SALZBURGHELMUT WINDINGER
Die neue Stadtbibliothek Salzburg ist das Herzstück eines städtebaulichen Gesamtkonzepts,
das auf dem Gelände des ehemaligen Stadions in Salzburg-Lehen realisiert wird. Der
Baubeginn wurde mit Anfang März 2007 fixiert. Die Fertigstellung ist für Ende 2008
geplant. In der Stadtbibliothek werden dann die bisher getrennten Bereiche Hauptbücherei,
Kinder- und Jugendbücherei sowie die Mediathek in einer Einrichtung zusammengeführt,
die Gesamtfläche wird sich mit 5.000 m² mehr als verdoppeln.
„It makes it clear that the library is genuinely at the heart of the city, rather then
marginalized like an embarrassing elderly relative.“ 1
Dieser Satz aus einem Zeitungsartikel des Architekturkritikers Dejan Sudjic
charakterisiert einen konkreten Bibliotheksneubau in England aus dem Jahr 2001
– die Norfolk & Norwich Millennium Library. Angesprochen war damit, dass
diese Bibliothek nicht als isolierter Solitär in der Stadtlandschaft steht, sondern
dass in diesem Gebäude gemeinsam mit anderen Einrichtungen und bei durchaus
heterogenen Nutzungen (unter anderem ein Radiostudio, eine Pizzeria) ein
lebendiges urbanes Zentrum entstanden ist.
Stadtbibliothek Ansicht von Süden (Bild: Halle 1)
Die Einbettung in ein Dienstleistungszentrum gemeinsam mit anderen
Einrichtungen ist auch für das Salzburger Projekt charakteristisch. So wird die
Stadtbibliothek hier in ein Gebäude integriert, das Geschäfte, Gastronomie und
andere Dienstleitungsbetriebe umfasst. Im Vordergrund stehen dabei Einrichtungen,
die unmittelbar zur Lebensqualität in diesem Teil der Stadt beitragen. Rund
1 Dejan Sudjic: Keep it quiet, this is a library. In: Th e Observer vom 18.11.2001,
URL: http://observer.guardian.co.uk/review/story/0,,596439,00.html (13.2.2007).
43
um das Bibliotheksgebäude entsteht ein neues Zentrum mit weiteren sozialen
Infrastruktureinrichtungen. Während die Stadtbibliothek im Bereich der Westtribüne
des ehemaligen Stadions errichtet wird, stehen die anderen Einrichtungen auf
der ehemaligen Osttribüne: Dazu zählen ein Seniorenzentrum, Wohnungen und
ein großer städtischer Veranstaltungssaal. Die frühere Spielfläche wird von den
Gebäuden eingerahmt und bleibt als großzügiger Park erhalten – ein Platz zur
Erholung, zum Ausruhen und Entspannen. Überragt werden alle Gebäude von der
frei schwebenden Sky-Bar über der Stadtbibliothek, welche mit ihrer Beleuchtung
ein neues Wahrzeichen bildet.
Der ehemalige Stadionstandort wurde von den städtischen Entscheidungsträgern
bewusst gewählt, um den Stadtteil Lehen aufzuwerten und durch hochwertige
Infrastruktur einen Impuls zur Stadtteilerneuerung zu geben. Bei den Kaufleuten
und den Bewohnerinnen und Bewohnern in Lehen wurde dieses Signal sehr positiv
aufgenommen. Lehen ist der bevölkerungsreichste Stadtteil Salzburgs, hier wohnen
besonders viele Immigranten und neu zugezogene Österreicher; außerdem ist
Lehen ein wichtiger Schulstandort mit mehr als 6.500 Schülerinnen und Schülern.
Wenngleich die neue Bibliothek auf das unmittelbare Umfeld reagieren wird und
muss, ist es für die Konzeption trotzdem wichtig, dass es sich um eine zentrale
Stadtbibliothek handelt und nicht um eine Stadtteilbibliothek.
Löst man das Zitat von Dejan Sudjic aus seinem konkreten Bezug, so kann man es
durchaus programmatisch lesen: Dann geht es nicht mehr nur um die Integration
einer Bibliothek in ein bestimmtes örtliches Umfeld, sondern auch um die Stellung
der Bibliothek innerhalb des institutionellen Gefüges der Stadt selbst. Konkret geht
es also um die Frage, wie sich die Bibliothek im gesamten Gefüge der Stadt mit ihrer
Fülle von Aktivitäten und Einrichtungen positioniert: am Rande oder mittendrin.
Viel ist derzeit von Stadtbibliotheken als Standortfaktoren die Rede. Plausibel machen
kann man dieses Ziel nur, wenn es gelingt, die Stadtbibliothek als unabhängige
Plattform für Wissens- und Know-How-Transfer zu etablieren und mit anderen
Einrichtungen in der Stadt zu vernetzen. Die Bestände und Dienstleistungsangebote
können dann sowohl in realen als auch virtuellen Räumen der Bibliothek dieser
Aufgabe entsprechend strukturiert werden. Stadtbibliotheken nehmen damit einen
Auftrag wahr, der über den Status eines sektoralen Anbieters auf dem städtischen
Bildungs- und Kulturmarkt hinausgeht und eine neutrale, leicht zugängliche, offene
Vermittlungsfunktion für Wissen, Information und Know-How erfüllt. Damit haben
sie ein charakteristisches Alleinstellungsmerkmal, einen Auftrag, der nur von ihnen
wahrgenommen werden kann. Zugute kommt Stadtbibliotheken dabei, dass sie
traditionell eine große Bandbreite an Angeboten und Dienstleistungen aufweisen,
44
die Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Institutionen für Bibliotheken nichts
Neues ist, der Umgang mit Wissen, Information und Know-How zum Kerngeschäft
gehört und sie sich durch eine hohe Nutzerdichte und Niederschwelligkeit des
Angebotes auszeichnen. Freilich bleiben Stadtbibliotheken neben allem Handeln
mit Information immer auch ein Ort der kreativen Anregung und sinnvollen
Freizeitgestaltung. Wissen, Information, Kommunikation und Inspiration können
hier nebeneinander bestehen.
Eine ambitionierte Vision begreift die Salzburger Stadtbibliothek als Herzstück eines
städtischen Clusters für Bildung, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft, Tourismus und
Medien. Politisch fundiert wird diese längerfristige Vision durch den vom Gemeinderat
beschlossenen Kulturentwicklungsplan, der eben diesen städtischen Cluster als Ziel
fixiert und den Ausbau der Stadtbibliothek zu einem Kultur- und Medienzentrum
vorsieht. Sieht man sich die Ziele des Salzburger Kulturentwicklungsplanes an, so
lässt sich deren Umsetzung in der neuen Stadtbibliothek geradezu idealtypisch
verwirklichen:
Know-How-Transfer durch Vernetzung und Kooperation
Einrichtung realer und virtueller Räume (Center of Competence)
Brückenbildung Tradition – Moderne
Starke Kinder- und Jugendorientierung
Einsatz Neuer Medien und moderner Informationstechnologien
Kulturelle Vielfalt
Abgesehen von der langfristigen Vision gibt es ganz konkrete, handfeste Ziele,
die mit dem Neubau verbunden sind und bereits mit der Eröffnung umgesetzt
werden:
Stärkere Kundenorientierung bei der Medienpräsentation
Bildung von Portalen
Neue Angebote (z. B. Internet)
Mehr Aufenthaltsqualität
Einführung der Selbstverbuchung
Neues Corporate Design
Bildung eines Teams
Bei der Aufstellung und Präsentation der Medien soll es zu einer stärkeren
Kundenorientierung kommen. Dazu werden die Medienbestände nach thematischen
Schwerpunkten in Bereiche – so genannte Portale – zusammengefasst und
entsprechend präsentiert. Innerhalb dieser Portale kann es zu einer weiteren, flexiblen
45
Zusammenfassung von Medien aus unterschiedlichen Systematikgruppen nach
Themen kommen. Als neues Angebot wird es – endlich – Internetzugang für die
Nutzer und weitere Recherchemöglichkeiten geben; Ziel der Bibliothek ist es, die
Bibliothekshomepage mittelfristig selbst zu einem Rechercheportal auszubauen.
Abgesehen vom Bücherbus wird es in der neuen Bibliothek keine Zweigstellen
mehr geben, was auf organisatorischer Ebene die Bildung eines einheitlichen Teams
aus den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Hauptbücherei, Mediathek und
Kinderbücherei mit sich bringt; gerade auf Grund der bisherigen organisatorischen
Erfahrungen wird auf die Bildung von (Teil-)Bibliotheken innerhalb der Bibliothek
bewusst verzichtet. Sichtbarer Ausdruck des geschlossenen Erscheinungsbildes wird
auch das neue Corporate Design für die Stadtbibliothek sein.
Der Begriff „Portal“ für die einzelnen Bestandsbereiche wurde gewählt, weil er einerseits
ein im Bibliothekswesen vertrauter Begriff ist und andererseits die künftige Entwicklung
mit der Integration physischer und virtueller Bestände bereits jetzt aufgreift. Die
Gliederung des Medienbestandes in der Stadtbibliothek (z.B. Gesundheit und Psyche,
Ausbildung und Beruf ) hat durchaus Nähe zu den Portalen, in denen die Inhalte im
Internet gegliedert sind (vgl. die Deutsche Internetbibliothek). Die Integration von
virtuell und real wird so für die Leserin und den Leser nachvollziehbar: Sie finden im
Internet und in der Bibliothek vor Ort vergleichbare Themengliederungen. Außerdem
beinhaltet „Portal“ ganz einfach auch ein schönes sprechendes Bild: Durch dieses
betritt man in der physischen Bibliothek eine jeweils eigene Lebenswelt. Theoretisch
bietet sich die Möglichkeit, diese Portale auch unterschiedlich zu inszenieren und
erlebbar zu machen. Darüber hinaus eignen sie sich auch als Anknüpfungspunkt
für den oben als Ziel genannten Know-How-Transfer und die Vernetzung mit
anderen wissensproduzierenden Einrichtungen der Stadt. Letztlich lässt sich auch
die Programmarbeit thematisch mit diesen Portalen verbinden.
Stadtbibliothek Eingangshalle (Bild: Halle 1)
46
Die gesamte Bibliothek kann wie in einer Leserbiografie durchwandert werden. Der
400 m² große Eingangsbereich im Erdgeschoss dient als Umschlagplatz. Hier wird
die Erstinformation, Einschreibung und Verbuchung stattfinden; außerdem wird
hier die Außenpräsentation erfolgen; davon abgesehen soll dieser Raum aber von
anderen Nutzungen freigehalten werden. Gegenüber dem Eingang zur Bibliothek
gibt es im Gebäude ein Café. Das erste Obergeschoss beherbergt ein selbständig
geführtes Restaurant, von dem man durch eine Glaswand in die Eingangshalle der
Bibliothek blicken kann.
Im 2. OG befindet sich neben der Verwaltung die Kinderbibliothek auf einer Fläche
von rund 700 m². Dieser Bereich ist nur den Kindern gewidmet und wird für die
Funktionen Schauen, Hören, (Vor-)Lesen, Arbeiten und Spielen eingerichtet. Die
Verbindung zwischen zweitem und drittem Obergeschoss wird über eine breite
Treppe mit eingebauten Podesten hergestellt; dieser Bereich wird vorwiegend der
Jugend vorbehalten sein und die Funktionen Hören und Internet bieten.
Schließlich ist im dritten Obergeschoss die gesamte übrige Bibliothek auf rund
3.200 m² untergebracht. Die hier vorherrschenden Funktionen sind Entspannen,
Recherchieren, Kommunizieren und Arbeiten. Der große, offene Bibliotheksraum
ist baulich nicht untergliedert. Diese Situation ist einerseits eine Herausforderung
für die Abgrenzung der unterschiedlichen Funktionen in der Bibliothek, sie ist aber
andererseits von der architektonischen Gestaltung und räumlichen Erlebbarkeit
faszinierend. Der Rauminszenierung und dem Leitsystem kommt hier große
Bedeutung zu. Aufgeschlossen wird dieser Raum durch eine über die ganze Länge
laufende, mehrere Meter breite Mittelachse, die durch eine Öffnung im Dach
Tageslicht erhält. Die Innenraumgestaltung orientiert sich bis hin zu den Farben
am Corporate Design.
RECHT
48
DIGITAL RIGHTS MANAGEMENT UND TRUSTED COMPUTING: NUTZER UND BIBLIOTHEKEN ZWISCHEN DRM, TRUSTED COMPUTING UND GESETZLICHEM RAHMEN
STEPHAN BÜTTNER
Seit Jahren werden die Themen Digital Rights Management und vertrauenswürdige
Hard- und Software kontrovers diskutiert. Digital Rights Management (DRM)
wird einerseits oft auf das Thema Kopierschutz reduziert. Trusted Computing (TC)
wird andererseits oft mit DRM vermischt. Der gesetzliche Rahmen wiederum wird
davon isoliert wahrgenommen. Das eigentliche Problem für den Nutzer besteht
jedoch in der Kombination von DRM-Mechanismen, hard- und softwarebasierten
TC-Komponenten sowie den neuen Urheberrechtsgesetzen.
DIGITAL RIGHTS MANAGEMENT
Nach Kuhlmann/Gehring ist das Wesen von DRM „eine Kombination aus Techno-
logien, Rechtsvorschriften und Geschäftsmodellen zur Kontrolle und Verwertung
von digitalen Informationsgütern.“1 Bechtold hat es früher bereits ähnlich formuliert.
DRM stehe „für eine Vielzahl unterschiedlicher technischer und rechtlicher
Phänomene, die alle miteinander zusammenhängen.“2
DRM und TC haben sehr wohl unterschiedliche inhaltliche Entstehungsursachen
und sind zeitlich unabhängig voneinander entstanden.
DRM hat seine Wurzeln in den 1990er Jahren und entstand im Gefolge des
zunehmenden Vertriebs geistigen Eigentums in Form digitaler Medien. Urheber
bzw. Verwerter suchten nach geeigneten Vertriebswegen und Geschäftsmodellen
für digitale Inhalte.
Der 1. Generation bei der Entwicklung der Kerntechniken von DRM ging es zunächst
um Fragen wie nach IP-basiertem Zugriffsschutz und Verschlüsselungsverfahren.
1 Dirk Kuhlmann, Robert A. Gehring: Trusted Platforms, DRM and Beyond.
In: Lecture Notes in Computer Science. Berlin, Heidelberg 2003.
2 Stefan Bechtold: Vom Urheber- zum Informationsrecht. Implikationen des Digital
Rights Management. München 2002.
49
In der 2. Generation kam die Objektidentifizierung hinzu, im Wesentlichen mit der
Beschreibung und Identifizierung durch Metadaten.
Die 3. Generation kann sowohl den Zugriff kontrollieren als auch Informationen
über die Nutzung sammeln.
Bei den hardwarebasierten DRM-Technologien werden die Endgeräte dahingehend
gesichert, dass ein Abgreifen der digitalen Inhalte nicht möglich ist.
Beispiele sind Dongles und Smartcards.
Die Hersteller versuchten sich auch mit softwarebasierten DRM-Systemen: Es
bleibt jedoch bisher bei Stand-Alone-Lösungen (z.B. Real-Player, Windows Media
Player).3
Bei den in der Praxis angewendeten DRM-Systemen sind meist mehrere Komponenten
anzutreffen.
Sehr transparent hat ein Blogger aus Kanada die Situation in einem illustrierten
Kinderbuch beschrieben. Erzählt wird die Geschichte eines kleinen Schweinchens,
das plötzlich eine Zaubertruhe entdeckt, in der man Dinge vervielfältigen kann. Das
Schweinchen benutzt diese Truhe zunächst nur für sich und kann es nicht verstehen,
dass auch andere daran partizipieren wollen. Widerwillig erlaubt es die Nutzung,
stellt dafür aber sehr genaue Regelungen bzw. Bedingungen auf: Jeder der etwas in
der Box vervielfältigt, darf es nur für sich selbst nutzen. Nach vielen unangenehmen
Erlebnissen für alle Beteiligten entscheidet sich das Schweinchen für eine andere
Herangehensweise, eine Zauberkiste zum Teilen (Magic Sharing Box – Use it!).4
3 Für weitere Aussagen zu den DRM-Techniken sowie die für den Anwender wichtigen
Komponenten und die dahinter stehenden Technologien siehe u.a. Stephan Büttner:
Rechte und Vertrauen sichern: Digital Rights Management und „Trusted Computing“.
In: Erfolgreiches Management von Bibliotheken und Informationseinrichtungen.
Hamburg 2004, Kap. 9.4.1.
4 Pig and the box, URL: http://www.dustrunners.com/Pig_and_the_Box_German.
pdf (23.2.2007).
50
DRM-SYSTEMARCHITEKTUR
Allen am Markt befindlichen DRM-Systemen liegt eine ähnliche DRM-System-
architektur zu Grunde, bestehend aus drei Komponenten: Content Server, Lizenz-
Server und Nutzer.
DRM-Systemarchitektur (nach Rosenblatt, Trippe, Mooney)5
1. Laden von digitalen Inhalten (content package) durch den Nutzer. Der Container
enthält das verschlüsselte urheberrechtliche Werk sowie zusätzliche Informationen
wie Lizenzbedingungen, Urheberangaben etc.
2. Aktivierung des DRM-Controllers bei Aufruf der Datei (Abgleich mit den
Nutzungsbedingungen).
3. Übertragung der notwendigen Daten vom DRM-Controller zum Lizenz-
Server.
4. Identifizierung des Nutzers vom Lizenz-Server.
5. Abgleichung der Nutzungsrechte auf dem Lizenz-Server mit denen vom Nutzer
angeforderten.
6. Ggf. finanzielle Transaktion.
7. Erstellen einer personalisierten Lizenz vom Lizenz-Server.
8. Lizenz wird an den Nutzer gesendet.
9. Entschlüsselung des digitalen Inhalts vom DRM-Controller, Freigabe der
Wiedergabe an die gewünschte Anwendung und Kontrolle der in der Lizenz
vereinbarten Nutzungsbedingungen.
10. Endgerät startet die Wiedergabe.
5 William Rosenblatt, William Trippe, Stephen Mooney: Digital Rights Management:
Business and Technology. Chichester 2001.
51
TRUSTED COMPUTING
Das Bemühen um vertrauenswürdige Systeme geht zurück bis in die 1960er Jahre.6
Ziel war es, Sicherheit und Vertrauen zwischen Maschinen herzustellen. „A Trusted
Platform is one containing a hardware-based subsystem devoted to maintaining trust
and security between machines.”7
Gehring beschreibt TC wie folgt: „A tool for making the behaviour of computer systems
more predictable, by enforcing rules on users and processes (i.e., mandatory access
control), trusted computing creates ample opportunity for ruling out undesirable effects
of software – and software users. At the same time it empowers parties controlling
access to the rule-making process to forcing users to comply with their private interests,
and to cut out competitors, when attempting to access, and use, system resources“.8
Hier wird sehr klar auf Regeln, Richtlinien gesetzt. Diese Regeln werden von den
Anbietern (Hardware, Firmware und Software) gemacht.
Hinter vielen aktuellen TC-Anwendungen steht die Trusted Computing Group (TCG),
ein Unternehmen, das 2003 aus der TCPA (Trusted Computer Platform Alliance)
entstand. In diesem Unternehmen sind viele Hard- und Softwareunternehmen vereinigt,
wie AMD, Hewlett Packard, IBM, Intel, Microsoft, Sony und Sun.
HARDWAREBASIERTES TRUSTED COMPUTINGKernbausteine bei hardwarebasierten TC sind das TPM-Modul (Trusted Platform
Modul) und das Core Root of Trust Measurement (CRTM):
– Das TPM ist ein spezieller Chip, der auf dem Mainboard eingebaut wird, eine
hardwareseitige Unterstützung für die Ver- und Entschlüsselung darstellt und
zur sicheren Abspeicherung von Passwörtern und Schlüsseln dient. Das TPM
entspricht einer Smartcard, ist jedoch nicht an einen konkreten Benutzer, son-
dern im Unterschied dazu fest an ein System gebunden.
– Das Core Root of Trust Measurement (CRTM) ist eine BIOS-Erweiterung.
Nach anhaltender Kritik kann der Anwender beide Komponenten deaktivieren, was
zunächst nicht vorgesehen war. (Es geht um die Durchsetzung von Regeln des Anbieters!)
Seit der TCG-Spezifikation 1.7 sind auch pseudonyme Nutzungsformen möglich.9
6 Siehe Dirk Kuhlmann, Robert A. Gehring: Trusted Platform,a.a.O.
7 Siani Pearson: Trusted Computing Platforms. New York 2003.
8 Robert A. Gehring: Trusted computing for digital rights management. INDICARE
Monitor, 2 (2006) 12; online verfügbar unter URL: http://www.indicare.org/tiki-
read_article.php?articleId=179 (23.2.2007).
9 Siehe Trusted Computing Group (TCG): TCG Architecture Overview, URL: https://
www.trustedcomputinggroup.org/downloads/TCG_1_0_Architecture_Overview.
52
SOFTWAREBASIERTES TRUSTED COMPUTING Microsoft (MS) arbeitet seit Jahren an einer softwarebasierten Sicherheitskomponente,
die interessanterweise ihrerseits z.T. auf den TCG-Spezifikationen aufbaut. Im
aktuellen Betriebssystem VISTA ist von den jahrelangen Ankündigungen nicht sehr
viel übrig geblieben. Im Wesentlichen sind dies:
– User Account Protection (UAP):
Die Anwendungen werden (im Normalfall) mit eingeschränkten Zugriffs-
rechten gestartet, d.h. den Anwendungen wird ein Schreibzugriff auf die
Systemkonfiguration verwehrt – sie werden in einen Virtual Store im Windows-
Verzeichnis umgeleitet. Damit können Anwendungen keinen oder nur begrenzten
Schaden anrichten. Letztlich ist dies ein Rudiment aus dem Compartment-
Ansatz, dem Abschottungsprinzip von Microsoft.10
– Secure Startup Full Volume Encryption:
Mit dieser Technik wird das Verschlüsseln von Festplatten ermöglicht. Damit
wäre ein verloren gegangener oder gestohlener PC bzw. eine Festplatte wertlos,
da vor unberechtigtem Zugriff geschützt. Nach dem Start wird die Festplatte im
Hintergrund verschlüsselt (wahlweise 128 oder 256 Bit). Das Chiffrieren erfolgt
über die dieser Technik zugrunde liegende Bitlocker-Software.11
Geht es also beim DRM-Konzept um die Durchsetzung von Rechten, geht es bei den
TC-Ansätzen um Durchsetzung von vom Anbieter vorgegeben Nutzungsrichtlinien,
Regeln.
Was zunächst zu unterschiedlicher Zeit und aus unterschiedlichen Beweggründen
entwickelt wurde, kann im Zusammenspiel:
TC + DRM + Recht
für den Nutzer, die Bibliotheken, zum Problem werden. Die Hardware kontrolliert die
Software. Die Software kontrolliert den Benutzer12 und der Benutzer hat nur bedingt
Zugriff auf die Schlüssel. Der rechtliche Rahmen, der z.Z. die Verwertungsinteressen
der Informationswirtschaft in den Vordergrund stellt, „vollendet“ diese Kombination
zu Lasten der Nutzer.
pdf (23.2.2007).
10 Vgl. Gerald Himmelein: Baustelle Sicherheit – Microsoft krempelt seine Sicherheitsin-
itiative NGSCB um. In: c’t, (2004) 12, 43–46.
11 Martin Seiler: Vista-Verschlüsselung kein Allheilmittel. Computerwoche, (2006) 21.
12 Andy Müller-Maguhn: Hundertprozentige Sicherheit durch TCG? Schutz vor
wem? In: Symposium „Trusted Computing Group“, Berlin, 3.7.2003, URL:
http://ftp.gnumonks.org/pub/congress-talks/tcg2003-berlin/day2/papers/02_
huntertprozentige_it_sicherheit-ccc-maguhn.pdf (23.2.2007).
53
USER RIGHTS MANAGEMENT: GESTALTUNGSRAUM FÜR NUTZER UND BIBLIOTHEKEN
Wo bleibt nun der Nutzer, welchen Gestaltungsraum haben Bibliotheken bei dem
Zusammenwirken aller Komponenten? Neben den schon teilweise dargelegten
Problemen sind durchaus Potenziale erkennbar.
AUTHENTIZITÄT UND INTEGRITÄTDie Gewährleistung von Authentizität und Integrität digitaler Dokumente war
schon bisher für Bibliotheken und Informationseinrichtungen wichtig.
Im Kontext der Entwicklung des „Web 2.0“, indem das Netzwerk als Plattform agiert,
sind webbasierte Anwendungen nur sinnvoll, wenn Offenheit und Sicherheit, also
die Vertrauenswürdigkeit gewährleistet ist. Gleiches gilt auch für die weltweiten E-
Science oder Grid-Aktivitäten. Gemeinsame Ressourcenverwaltung, kollaboratives
Arbeiten, Schaffung einer webbasierten publikationsunterstützenden Infrastruktur
basieren auf Offenheit aber eben auch auf Vertrauenswürdigkeit.
WAHRUNG DER URHEBERRECHTEBibliotheken und Informationseinrichtungen treten zunehmend auch als Anbieter
digitaler Inhalte auf, z.B. als Betreiber eines eVerlages oder preprint-Servers etc.
Hier sind neue Möglichkeiten der Informationsbeschaffung und -bereitstellung,
neue Vertriebsformen für z.B. Audio-Dateien bereits im Einsatz.
NUTZERFREUNDLICHES URHEBERRECHT/USER RIGHTS MANAGEMENTUm einen Ausgleich zu den Regelungen des Digital Millennium Copyright Act 13
in den USA herzustellen, gibt es dort Bestrebungen, die Nutzerrechte zu stärken.
So wurde z.B. 2003 und nochmals 2005 ein Digital Media Consumers‘ Rights Act
(DMCRA) in das Repräsentantenhaus eingebracht.14 Ziel dieses Gesetzentwurfs sei
es „to restore the ability of consumers to use copyrighted material lawfully.“15
In den EU-Ländern ist der erste verpflichtende Korb der Novellierung des Urheber-
rechts im Rahmen der Umsetzung der EU-Richtlinie zum Urheberrecht in der
Informationsgesellschaft in Kraft getreten. Z. Z. wird intensiv um den zweiten Korb
gerungen, also um die Regelungen, die den Mitgliedsstaaten überlassen wurden.
13 Digital Millennium Copyright Act H.R.2281, URL: http://thomas.loc.gov/cgi-bin/
query/z?c105:H.R.2281.ENR: (28.2.2007).
14 Digital Media Consumers‘ Rights Act, URL: http://thomas.loc.gov/cgi-bin/bdque-
ry/z?d108:h.r.00107: (28.2.2007).
15 Th e Digital Media Consumers’ Right Act of 2003, Hearing. H.R. 107, May 12,
2004, Serial No. 108–109.
54
Dabei geht es u.a. um:
– die öffentliche Zugänglichmachung für Unterricht und Forschung,
– die Privatkopie,
– die Vergütung der Urheber etc.
In Deutschland setzt sich das Aktionsbündnis „Urheberrecht für Bildung und
Wissenschaft“ 16 sehr aktiv dafür ein, dass das Urheberrecht nicht ausschließlich zu
einem Instrument der Kommerzialisierung von Wissen, insbesondere im Bildungs-
und Wissenschaftsbereich, wird. Bislang ist es gelungen, Regelungen bis 2008
aufzuschieben, die es den Bibliotheken untersagen, elektronische Dokumente zu
verteilen, wenn der Markt diese Dokumente ebenfalls anbietet, bzw. eine Bereitstellung
digitaler Dokumente erst dann möglich machen, wenn kein kommerzielles Angebot
vorliegt (§52a, §52b). Grundlegende Voraussetzung wissenschaftlichen Arbeitens
ist der freie und faire Zugang zu Wissen. Sollten jedoch wissenschaftsfeindliche
und innovationshinderliche Gesetze in Kraft treten, wird Open Access so wichtig
wie nie zuvor.
Open Access wird von den Bibliotheken unterstützt, konnte sich aber bei den
Wissenschaftlern noch nicht in breiter Front durchsetzen.17 Bibliotheken und
Informationseinrichtungen sind deshalb gut beraten, sich diesem Aspekt wesentlich
stärker als bisher zuzuwenden, insbesondere auch Marketing bei den Nutzern zu
betreiben.
16 Aktionsbündnis „Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft“.
URL: http://www.urheberrechtsbuendnis.de/ (28.2.2007).
17 Deutsche Forschungsgemeinschaft: Publikationsstrategien im Wandel? Ergebnisse
einer Umfrage zum Publikations- und Rezeptionsverhalten unter besonderer
Berücksichtigung von Open Access. Weinheim 2005.
55
REGISTEREDCOMMONS.ORG – MEHR RECHTSSICHERHEIT FÜR KREATIVSCHAFFENDE
ROLAND ALTON-SCHEIDL
DIGITALER ZEITSTEMPEL ALS NACHWEIS FÜR URHEBER
RegisteredCommons.org ist ein Service, welcher im Rahmen des Kompetenznetz-
werkes Mediengestaltung, einem Zusammenschluss von vier österreichischen Fach-
hochschulen und Unternehmen der Kreativwirtschaft, entwickelt worden ist. Mit
einer Werkregistrierung bei Registered Commons ergeben sich für Kreativschaffende
zwei wichtige Vorteile: Sie können ihre Urheberschaft auf Grund des von Registered
Commons ausgestellten Zertifikats nachweisen. Und – was für den Nachweis der
Urheberschaft fast so bedeutend ist wie die Registrierung selbst – der Zeitpunkt
einer Werkregistrierung wird bei Registered Commons mit digitalen Zeitstempeln
festgehalten. Typische Anwender sind Musiker oder Photographen, die einzelne
Werke gerne ins Internet stellen, aber die Kontrolle über Ihr Werk behalten wollen,
Blogger, Wissenschafter oder auch Agenturen, die vor einer Kundenpräsentation
mit einem Zeitstempel dem Ideenklau vorbeugen wollen.
DIGITAL RIGHTS MANAGEMENT – WENIGER IST MEHR!
Viele große Medienunternehmen antworten auf die neue Herausforderung, Nut-
zungsrechte im Internet besser kontrollieren zu können, mit der Implementierung
von Digital Rights Management (DRM) in ihre Produkte. Dies bedeutet für Kon-
sumenten aber auch eine Einschränkung der Nutzbarkeit legal erworbener Werke.
Angesichts massiver Gewinneinbrüche in den letzten Jahren und Millionen im
Umlauf befindlicher privater Kopien ist diese Strategie sogar wirtschaftlich nachvoll-
ziehbar, wenn auch nicht gerade Erfolg versprechend.
Um welche Art der Auseinandersetzung es sich handelt, zeigt auch das Digital
Millenium Copyright Act (DMCA), ein vom US-amerikanischen Kongress 1998
beschlossenes Gesetz, das mittlerweile sogar Versuche, technische Schutzmethoden
zu umgehen, unter Strafe stellt. Trotz bestehendem Recht auf Privatkopie kriminali-
sieren die großen Labels weite Teile der Bevölkerung, wenn sie jede Form der Kopie
etwa in aufwändigen Kinospots untersagen.
56
Während internationale Medienkonzerne (und wie das DMCA zeigt, auch Legis-
lativen) nach wie vor mit dem offensichtlichen Kontrollverlust beschäftigt sind und
zu reagieren versuchen, hat sich in den letzten Jahren eine Bewegung formiert, in
der Werke, ganz ohne DRM, anderen bewusst zur weiteren Nutzung zur Verfügung
gestellt werden. Viele Künstler haben die Möglichkeit erkannt, die sich ihnen eröff-
net, wenn sie ihre Werke unter weniger restriktiven Lizenzbestimmungen (Creative
Commons, GPL etc.) verbreiten. Die Wahrung und Einhaltung von Urheberrechten
ist in diesem Fall weit weniger problematisch, da die freie Verfügbarkeit der Werke
dazu animiert, deren Urheberschaft anzuerkennen.
Diese neuen Lizenzmodelle erleichtern die freie Distribution von gestalterischen
Werken im Internet wesentlich, da sie Werke aus dem engen Korsett traditioneller
Urheberrechtssysteme befreien. Sie weisen aber auch bedeutende Schwachstellen
auf. Zum einen können auch sie die unrechtmäßige Verwendung der Werke nicht
verhindern. Zum anderen wird die Klärung der Nutzungsrechte für die kommerzielle
Nutzung solcher Werke (etwa die Verwendung eines unter nichtkommerzieller Crea-
tive-Commons-Lizenz stehenden Musikstücks für den Abspann eines Independent-
Films) zunehmend schwieriger, da viele dieser Werke ohne die für kommerzielle
Nutzungskontexte notwendigen und vor allem verlässlichen Informationen über
Urheber und Werknutzung veröffentlicht werden.
Selbst wo diese vorliegen, ist die Situation immer noch problematisch. Unterneh-
men, die kommerziell an Vertrieb und anderen Werknutzungen interessiert sind,
benötigen für ihre Geschäfte Rechtssicherheit, das heißt verlässliche Informationen.
Und gerade diese findet man auf vielen Websites, die Werke unter offenen Lizenzen
anbieten, nicht. Relative Anonymität ist nach wie vor ein Merkmal vieler im Internet
publizierter Informationen und deren Autoren.
Das Kompetenznetzwerk Mediengestaltung hat sich in einem eigenen Arbeitspa-
ket 2004 bis 2006 mit dem Phänomen offener Lizenzen und der Problematik des
Copyright Clearings beschäftigt. Ende 2006 ist dann mit Registered Commons
ein Service entstanden, welcher die beschriebenen Lücken bei der Nutzung freier
Lizenzmodelle schließt. Dieser Service wird auch in Zukunft für Urheber, die für
ihre Werke offene Lizenzmodelle verwenden, aber auch an einer kommerziellen
Nutzung interessiert sind, von Interesse sein.
STUFENWEISE VERTRAUEN MIT TRUST LEVELS
Eine wichtige Design-Vorgabe bei der Entwicklung von Registered Commons war,
den Einstieg so einfach wie möglich zu gestalten, ohne auf eine sichere Benutzer-
57
Authentifizierung verzichten zu müssen. Um auch Usern ohne professionellem
technischen Hintergrund ein Verständnis für die sicherheitsrelevanten Abläufe bei
Registered Commons zu vermitteln, wurden so genannte Trust-Levels eingeführt,
die mit Hilfe von Sternsymbolen (1–5) visualisieren, auf welche Art sich ein User
beim Service identifiziert hat. Registered Commons ermöglicht also auf der einen
Seite einen einfachen problemlosen Einstieg bei der Registrierung, schafft aber
gleichzeitig auch Transparenz über die Art der Identifizierung.
Während eine Registrierung mit einer E-Mail-Adresse nur wenig über die wahre
Identität einer Person aussagt, ermöglicht ein so genanntes Web of Trust (das auch
bei der PGP-Verschlüsselung angewendet wird) eine relativ sichere Identitätsfeststel-
lung. Für Benutzer, die sich anfänglich einzig mit ihrer E-Mail-Adresse registriert
haben (was mit einem niedrigen Trust-Level bewertet wird), besteht bei Registered
Commons daher zu jedem Zeitpunkt die Möglichkeit, durch Nachweis vertrau-
enswürdiger Zertifikate ihr Trust-Level zu erhöhen. Das „Community-Projekt“
CAcert, welches im Gegensatz zu kommerziellen Certification Authorities (CA)
ein dezentrales Vertrauensnetz anwendet und von zahlreichen KMUs, Bildungsein-
richtungen und verschiedensten Projekten verwendet wird, ermöglicht Registered
Commons den Nutzern, ein solches Zertifikat über das weitverbreitete Netzwerk
an Mitgliedern zu erhalten.
Mit einer Werkregistrierung bei Registered Commons ergeben sich für Urheber
zwei wichtige Vorteile. Sie können ihre Urheberschaft aufgrund des von Registe-
red Commons ausgestellten Registrierungs-Zertifikats nachweisen. Je höher der
Trust-Level des Users, desto wertvoller ist natürlich der Nachweis. Und, was für
den Nachweis der Urheberschaft fast so bedeutend ist wie die Registrierung selbst:
Der Zeitpunkt einer Werkregistrierung wird bei Registered Commons ebenfalls
mit digitalen Zeitstempeln festgehalten, die von einer unabhängigen dritten Partei
(A-Cert) nach RFC 3161 erstellt werden und den in Europa gesetzlich verankerten
Grundlagen entsprechen.
Auch die Web 2.0-Technologie AJAX kam zum Einsatz: Auf diese Weise wurden
die unmittelbare Überprüfung von Formularfeldern und die Lizenzauswahl, wel-
che den ersten Schritt einer Werkregistrierung darstellt, gestaltet. In letzterem Fall
wird das Auswahlformular direkt über das von Creative Commons zur Verfügung
gestellte API (Application Programming Interface) mit sämtlichen verfügbaren
CC-Lizenzen gespeist und ständig aktualisiert. So bleibt Registered Commons
auch bei zukünftigen Änderungen im Lizenzmodell von Creative Commons stets
aktuell. Für die Registrierung von Softwareprojekten kann zusätzlich die GPL-
Lizenz ausgewählt werden.
58
Registered Commons funktioniert somit als transparentes Panzerglas für digitale
Werke. Um den Service auch für Agenturen attraktiv zu machen, kann man vor
seinem Werk auch das Rollo herunterlassen, sodass nur die Metadaten sichtbar sind,
das Werk selbst jedoch nicht.
STRATEGISCHE KOOPERATIONEN
Erste Überlegungen einer Werkregistrierung gehen auf ein Treffen zu Creative
Commons im deutschen Sprachraum (D, A, CH) an der Universität Konstanz im
Jahr 2005 zurück. Mit der Universität Konstanz und zahlreichen anderen Partnern
aus Industrie und Forschung wurde ein Proposal zu einem Forschungsprojekt zu
Networked AudioVisual Systems verfasst, in dem die Einbindung und besondere
Rolle frei lizenzierter Inhalte in diesem Kontext untersucht werden sollte. Hier-
bei wurden bereits UseCases für eine Werkregistrierung entworfen. Nachdem im
sechsten Rahmenprogramm das Projekt leider nicht zum Zug kam, ergab sich die
Möglichkeit, Teilaspekte im Rahmen des Kompetenznetzwerks Mediengestaltung
weiterzuführen. Mit strg.at als neuem technischen Partner wurde im Juni 2006 mit
der Umsetzung begonnen, sodass bis zur Wizards of OS-Konferenz der Service am
15. September 2006 bereits inklusive der Anbindung an CAcert funktionstüchtig
online ging.
Während der Konferenz in Berlin fand der offizielle Launch statt. RegisteredCom-
mons.org wurde dort der Öffentlichkeit mit Lawrence Lessig (dem Erfinder von
Creative Commons an der Stanford Law School) präsentiert. „I think this will be
extremely useful. You guys took something we did, and you added to it in a way that
will really add important value and really make the copyright system – in a way that
it should – work much better“, meinte Lawrence Lessig zum Start von Registerd
Commons vor dem Premierenpublikum.
Seit dem Launch Event wurde bis Ende 2006 keine Gelegenheit ausgelassen,
Registered Commons zu präsentieren: bei den Bibliothekar tagen der Vereinigung
Österreichischer Bibliothekare, am Blogtalk im Museumsquartier, beim Streaming
Communities Workshop der FH Joanneum in Maribor oder beim Netlabel Festival
in Zürich. Zahlreiche Print-, Radio- und Online-Medien haben über Registered
Commons berichtet, wie Netzpolitik.org, ORF OE1 Matrix, der iCommons.org-
Newsletter, Der Standard, bei der ARGE creativwirtschaft Austria oder in Plagia-
rism Today, ein Weblog zum Thema.
59
Screenshot des RegisteredCommons.org Service
Die Idee einer Werkregistrierung wurde von zahlreichen Werkschaffenden für
notwendig befunden, insbesondere natürlich von jenen, die mit den Fragen der
Rechtsklärung befasst sind oder deren Werke schon einmal plagiiert oder auf nicht
lizenzkonforme Art genutzt wurden.
Für den fortlaufenden Betrieb wurde eine strategische Kooperation geknüpft. Die
Fachhochschule Vorarlberg wird den Dienst hosten, wobei dedizierte Rechner sowie
eine klare Zutrittskontrolle Teil des Sicherheitskonzeptes sind.
strg.at hat der Open Source Genossenschaft OSalliance.com die Nutzungsrechte
insofern übertragen, als dadurch der Weg für weitere Kooperationen geebnet wird.
Der Genossenschaft kann prinzipiell jeder Nutzer des Registered Commons Dien-
stes beitreten und dadurch die Weiterentwicklung mitbestimmen und den operativen
Ablauf auch formal, etwa durch eine entsprechende Anfrage in der Generalver-
sammlung der Genossenschaft, überwachen. Durch die genossenschaftliche Struktur
ist weiters gewährleistet, dass Registered Commons nicht wie so manche Web 2.0
Anwendung plötzlich weiterverkauft wird, sondern einerseits unter Kontrolle der
Entwickler und der Nutzer bleibt und andererseits offen für jegliche Form von
Kooperation bleibt.
MUSIKALIENBEARBEITUNG
61
DIGITALISIERUNG DER SCHUBERT-AUTOGRAPHE DER WIENBIBLIOTHEK IM RATHAUS
THOMAS AIGNER
Als der Industrielle und Kunstmäzen Nicolaus Dumba im Jahr 1900 starb, wurde
seine hoch bedeutende Sammlung von Schubert-Autographen per Legat auf zwei
namhafte heimische Institutionen aufgeteilt. Während die Autographe der Schubert-
Symphonien in den Besitz der Gesellschaft der Musikfreunde übergingen, erhielt
die Stadt Wien den knapp 200 Manuskripte umfassenden Rest der Sammlung, den
sie ihrer Bibliothek einverleibte.
Im Lauf der Jahre systematisch ausgebaut, ist die Schubert-Sammlung der
Wienbibliothek heute die weltgrößte ihrer Art. Derzeit umfasst sie ca. 340 Noten-
autographe zu 450 Werken, Erstausgaben fast aller Kompositionen, zahlreiche
spätere Ausgaben sowie Abschriften von fremder Hand, eigenhändige Schriftstücke,
weitere Dokumente betreffend Schubert und seinen Freundeskreis sowie
umfangreiche internationale Literatur über Schubert. Dem Materialtyp und der
Organisationsstruktur der Wienbibliothek entsprechend ergibt sich eine Aufteilung
auf Musik-, Handschriften-, Druckschriften- und Plakatsammlung.
Zu den von der Wienbibliothek verwahrten Spitzenautographen Schuberts zählen
etwa das Oktett, die Deutsche Messe und das Lied „Gretchen am Spinnrade“. Der
letzte bedeutende Neuzugang, die eigenhändige Niederschrift zweier Tänze für
Klavier, erfolgte 2005. Sämtliche Notenmanuskripte sowie Erst- und Frühdrucke
sind in einem klimatisierten und alarmgesicherten Tresorraum untergebracht, der
konservierungs- und sicherheitstechnisch den modernsten Standards entspricht.
Das Gleiche gilt neuerdings auch für die literarischen Handschriften, die im neu
errichteten Tiefspeicher der Bibliothek im Hof 6 des Rathauses verwahrt werden.
Die Schubert-Sammlung der Wienbibliothek wird von Musikwissenschaftlern und
Interpreten aus aller Welt aufgesucht. Sie enthält insbesondere unverzichtbares
Quellenmaterial für die „Neue Ausgabe sämtlicher Werke“ und andere quellen-
kritische Ausgaben der Kompositionen Schuberts. Über die Manifestation seines
künstlerischen Willens hinaus geben die Notenautographe auch Einblick in
seine Arbeitsweise. Sie sind weiters für die Datierung der Werke Schuberts von
entscheidender Bedeutung, insbesondere da ein Großteil von ihnen erst nach seinem
Tod publiziert und öffentlich aufgeführt wurde.
62
Das Interesse breiterer Publikumsschichten an den Autographen Schuberts konnte
aus konservatorischen Gründen bisher nur über Ausstellungen befriedigt werden.
So wurden Teile der Schubert-Sammlung der Wienbibliothek bei den großen
Jubiläumsausstellungen 1978 und 1997 im Historischen Museum der Stadt Wien
(heute Wien Museum Karlsplatz) und bei der Wien-Ausstellung in Nagoya 2003
gezeigt.
Bereits im Frühling 2000 wurde der Autor dieses Aufsatzes von dem damaligen
Generalsekretär des Internationalen Franz Schubert Instituts und zugleich seinem
Vorgänger als Leiter der Musiksammlung der Wienbibliothek, Dr. Ernst Hilmar,
auf eine Digitalisierung sämtlicher Schubert-Autographe angesprochen. Diese
Idee wurde ein Jahr später im Zuge der Aufnahme der Schubert-Sammlung
der Wienbibliothek in das „Memory of the World“-Register der UNESCO (4.
September 2001) aufgegriffen. „Memory of the World“ bedeutet soviel wie
„Gedächtnis der Welt“: Das Programm setzt sich für sachgerechte Konservierung,
freie Zugänglichkeit sowie Bewusstmachung der Bedeutung ausgewählter Archiv-
und Bibliotheksbestände ein. Im „Management Plan“ des Aufnahmeantrags findet
sich folgender Passus:
„Repeated handling and natural aging of the material have, however slightly,
already left their marks. Therefore, restrictions concerning its accessibility have
become unavoidable. A partial solution to this problem may lie in providing at least
Schubert’s autograph music manuscripts as photo-reproductions via digital media.
This measure, which is currently being envisaged, would have the positive side-
effect of offering a basis for a side-by-side comparison of the world’s largest body of
Schubert autographs with respective items of other collections.“
Bei der praktischen Umsetzung dieser Absichtserklärung kam dem letzteren
Punkt sogar die größere Bedeutung zu. Das Hauptziel war nun, Wissenschaftlern,
außeruniversitären Experten (Musikverlagen, Archiven, Museen, Labels usw.),
Musikinstitutionen, Musikern, Komponisten und Musikinteressierten den Zugang
zu den Schubert-Autographen zu erleichtern und damit die Beschäftigung mit Leben
und Werk eines der zentralen Komponisten der europäischen Musikgeschichte zu
fördern und zugleich die Wienbibliothek verstärkt international zu positionieren.
Die Benützung der Originale konnte fortan auf die relativ wenigen Fälle von
Papieruntersuchungen und dergleichen eingeschränkt werden. Infolge des durch das
Online-Angebot zu erwartenden generell stärkeren Interesses an den Autographen
Schuberts ist jedoch auch auf diesem Gebiet mit vermehrter Nachfrage zu rechnen, was
den angestrebten Schonungseffekt teilweise wieder aufhebt. Die Langzeitsicherung
63
durch Digitalisierung wird überhaupt zunehmend problematisch gesehen. Hardware,
Software und die zu Grunde liegenden Normen sind wiederholten Änderungen
unterworfen, was eine kontinuierliche Datenpflege bedingt. Ist die Migrationskette
einmal unterbrochen, sind die Daten ein für allemal verloren.
Die Digitalisierung der Schubert-Autographe der Wienbibliothek erfolgte schließlich
im Rahmen eines von o. Univ.-Prof. Dr. Gernot Gruber, dem Vorstand des Instituts
für Musikwissenschaft der Universität Wien, initiierten und geleiteten Projekts, das
vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds finanziell gefördert
wurde. Das Thema der Auslobung lautete „SciENCE for creative industries“. Gefördert
wurden Projekte, „die das wissenschaftliche Fundament für ,Creative Industries‘
verbreitern und mit einer mittelfristigen Nutzen- und Verwertungsperspektive zu
einer Stärkung der ,Creative Industries‘ in Wien beitragen können.“ Zu den besonders
förderungswürdigen Feldern zählten dabei ausdrücklich: Intelligent Cultural Heritage
und Musik sowie auch Future Interface und Visualisierung.
Das eingereichte Projekt trug den Titel „Online content management system for Vienna
music institutions“ und umfasste mehrere Teilprojekte. Neben der Digitalisierung
der Schubert-Autographe der Wienbibliothek ging es dabei um Internet-Radio
(Musikwissenschaftliches Institut der Universität Wien), das virtuelle Spielen
alter Musikinstrumente (Technisches Museum) und die Verwaltung historischer
Tonaufnahmen (Phonogrammarchiv Wien). Die technische Umsetzung oblag Univ.-
Doz. Dr. Christoph Reuter vom Institut für angewandte Musikwissenschaft und
Psychologie, Köln.
Für die Wienbibliothek erfolgte der Startschuss mit der Abgabe von einem am
19. November 2003 abgefassten „Letter of Intent“. Koordinator des Schubert-
Teilprojekts war der Verfasser dieses Aufsatzes, als Hauptmitarbeiter fungierte
Dr. Marc Strümper, der nach dem Ende des Projekts eine feste Anstellung an der
Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek erhielt. Die zu erstellende
Datenbank umfasste sowohl alle von der Musiksammlung der Wienbibliothek
im Rathaus verwahrten Notenmanuskripte Schuberts als auch die Briefe und
Lebensdokumente des Komponisten aus der Handschriftensammlung. Insgesamt
waren 7.290 Seiten im Format von ca. 34 x 24 cm zu digitalisieren, davon 7.252
Notenseiten und 38 Textseiten. Dabei kam es dem Projekt sehr zustatten, dass keine
Urheberrechte abzugelten waren.
Von einem Großteil der zu digitalisierenden Manuskripte lagen in der Redaktion
der Neuen Schubert-Ausgabe in Tübingen Mikrofilme vor. Diese sind jedoch nur
schwarz-weiß und waren daher als Ausgangsmaterial nicht geeignet. Zwar geht es
64
den Interpreten vornehmlich um den Vergleich des Autograph mit den praktischen
Ausgaben und der Gesamtausgabe, doch spielen für eine andere Zielgruppe, nämlich
die Musikwissenschaftler, auch die Farbe von Tinte und Papier sowie eine hohe
Auflösung der Bilddateien eine wichtige Rolle. Da einige der Schubert-Autographe
der Wienbibliothek, allen voran die Manuskripte der Opern und Messen, gebunden
sind und beim Anpressen an eine Glasscheibe Schaden zu nehmen drohten, war die
gestellte Aufgabe mit einem Flachbettscanner nicht zu bewältigen.
Die Gerätewahl fiel schließlich auf einen Großformat-Scanner der Firma Cruse, den
Synchronlicht-Buchscanner CS-90A SL. Die Autographe wurden von September
2004 bis Jänner 2005 gescannt, wobei die Speicherung im TIFF-Format in einer
Auflösung von 300 dpi und einer Farbtiefe von 48 Bit im Sinne der Langzeitsicherung
sowohl auf DVDs als auch auf externen Festplatten erfolgte. Parallel dazu wurde der
bestehende Zettelkatalog der von der Wienbibliothek verwahrten Notenautographe
Schuberts in das OPAC-Format der Bibliothek retrokonvertiert, was die Erstellung
der deskriptiven Metadaten wesentlich erleichterte.
Die Web-Darstellung inklusive Beschlagwortung und Suchsystem wurde von April
bis Dezember 2005 entwickelt. Das Content Management System basiert auf PHP/
MySQL, als Werkzeuge für Grafikbearbeitung wurden ImageMagick-Anwendungen
verwendet. Die Bildschirmdarstellung erfolgt im JPEG-Format in einer Auflösung
von 150 dpi. Ein elektronisches Wasserzeichen soll vor unautorisierter Publikation
schützen. Die Daten liegen auf einem Server des Rechenzentrums der Universität
Wien.
Die Website bietet eine für den Umgang mit digitalisierten Archivmaterialien
optimierte Umgebung. Der Zugriff erfolgt schnell und bequem über eine Vielzahl
an Sucheinstiegen wie etwa Werktitel, Werkverzeichnis-Nummer, Werkgattung,
Besetzung, beteiligte Personen, Entstehungszeit, Wasserzeichen, Volltext sowie
deren Verknüpfungen. Angeboten werden folgende Ansichten: Überblick über alle
Seiten, Blätter und Detailansicht. Die einzelnen Seiten können online vergrößert
und verkleinert (25 bis 200 Prozent) sowie gedreht, geschärft, farbinvertiert und
vermessen werden.
Nach einem fünfmonatigen Probelauf von Jänner bis Mai 2006 wurde die neue
Online-Datenbank unter der URL www.schubert-online.at im Rahmen der Feiern
zum 150-jährigen Bestandsjubiläum der Wienbibliothek im Rathaus am 1. Juni
2006 in deren Musiksammlung präsentiert. Die Online-Benützung der virtuellen
Schubert-Autographe ist kostenlos, für die Reproduktion in Publikationen gelten
die Gebühren und sonstigen Bedingungen der Wienbibliothek.
65
Zur Zeit wird an einer Verknüpfung der Digitalisate mit den Katalogisaten im OPAC
der Wienbibliothek gearbeitet. Mittelfristig wird die Speicherung der Datenbank
und der hochauflösenden Scans auf einem Server der Wienbibliothek erwogen.
Fernziel des Projekts ist eine Ausdehnung auf sämtliche Schubert-Autographe
weltweit, seien sie in öffentlichem oder privatem Besitz. Dadurch ergäben sich
einzigartige Möglichkeiten des Vergleichs von Schubert-Handschriften untereinander.
So könnten verschiedene Fassungen bzw. Kompositionsstadien ein und desselben
Werks, die meist auf mehrere Sammlungen verteilt sind, von einem einzigen Ort aus
und ohne aufwändige Reproduktionsmaßnahmen miteinander verglichen werden.
Analoges gilt für die Zusammenführung verstreuter Manuskriptteile sowohl zu
Einzelwerken als auch zu Kompositionszyklen. Zur „Reliquie-Sonate“ etwa existieren
Fragmente des Autographs in mindestens fünf verschiedenen Sammlungen in drei
Ländern (ein Blatt ist verschollen).
Als erste Institution hat sich die Österreichische Nationalbibliothek dem Projekt
angeschlossen, wobei die Bestellung von reprofähigen Vorlagen der von ihr
verwahrten Autographen ihren gewöhnlichen Benützungsbedingungen unterliegt.
Weitere Kooperationspartner, die grundsätzlich zu einer Zusammenarbeit bereit
wären, sind die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, der Wiener Schubertbund,
die Pierpont Morgan Library (New York), die British Library (London), das Royal
College of Music (London), die Nasjonalbiblioteket (Oslo), die Kongelige Bibliotek
(Kopenhagen), die Russische Nationalbibliothek (St. Petersburg) und das Puschkin-
Haus (St. Petersburg).
Die Wienbibliothek im Rathaus widmet dem Projekt unter dem Titel „Von
Schuberts Nachlass zu Schubert online“ eine vom Verfasser dieses Aufsatzes
kuratierte Ausstellung, die von Anfang Juni bis Ende Oktober 2007 im Haus der
Musik zu sehen ist.
66
ZUR DIGITALISIERUNG DER ANALOGEN AV-MEDIEN. KONZEPT UND ERSTE ERFAHRUNGEN ZUR LANGZEITARCHIVIERUNG IN DER ÖSTERREICHISCHEN NATIONALBIBLIOTHEK
MICHAELA BRODL
ANALOGE AV-MEDIEN
Tondokumente ermöglichen erst seit etwa 100 Jahren ein wiederholtes Abhören
eines Klangerlebnisses und enthalten wesentlich mehr Informationen als ein
schriftliches Dokument wiedergeben kann. Sie sind lebendige Zeugnisse ihrer
Zeit. Dynamik, Agogik, der Klang einer Stimme, eines Instruments ist nicht oder
nur zum Teil schriftlich fassbar. Tondokumente sind aber aufgrund der Instabilität
ihrer Trägermaterialien wesentlich kurzlebiger als Papier und unaufhaltsam vom
Zerfall bedroht, womit der Verlust des Inhalts verknüpft ist. Darüber hinaus ist
das Verschwinden der Abspielgeräte auf dem Markt ein weiterer Faktor, der die
Zugänglichkeit zu den Informationen bedroht.
Das Sammeln von Wissen als Basis jeder Kultur enthält auch die Verantwortung,
dieses auf Dauer verfügbar zu halten. Von einer Nationalbibliothek wird erwartet,
dass die Originale erhalten und bewahrt werden, bzw. sollte das nicht möglich
sein, die Inhalte unabhängig vom Träger so aufgehoben werden, dass sie dem
Original möglichst nahe kommen. Da der Zerfallsprozess nicht aufzuhalten ist,
kann nur mit der Überführung der analogen Dokumente in die digitale Domäne
und mit der fortlaufenden Erhaltung und Migration dieser digitalen Dateien das
weitere Überleben der Inhalte gewährleistet werden.1 Dabei geht es nicht um einen
gegenwärtigen Zeitgeschmack oder um aktuelle Hörgewohnheiten, sondern um
eine objektive Darstellung kultureller Inhalte und Zeitdokumente als Grundlage
wissenschaftlicher Forschung und Analysen.
Um die Nähe zum Original und die langzeitige Verfügbarkeit der Inhalte zu
erreichen, empfiehlt die IASA (Internationale Gesellschaft der Schallarchive)
1 Dietrich Schüller: Sammeln – Bewahren – Verbreiten. Traditionelle Anliegen im
technischen Umfeld des jungen 21. Jahrhunderts. In: Jahrbuch des Österreichischen
Volksliedwerkes, 53/54 (2005), 29.
67
eine Übertragungsrate von 24 bit und 96 kHz.2 Beim Abhören erkennt nur ein
wirklich gut geschultes und sehr sensibles Ohr den Unterschied zwischen einem
speicherintensiven wav-file und einem dateikomprimierten MP3-file. Da aber
davon ausgegangen werden muss, dass relativ bald nur mehr die Digitalisate zur
Verfügung stehen werden, sind diese hohen Ansprüche durchaus gerechtfertigt.
Eine ausführliche Dokumentation der Übertragung mit allen Angaben zu
Abspielgeräten, Übertragungsgeschwindigkeiten etc. bildet die Voraussetzung für
jede wissenschaftliche Untersuchung und erhöht den Wert der Ergebnisse.
BESTAND DER ÖSTERREICHISCHEN NATIONALBIBLIOTHEK
Der Bestand der analogen AV-Medien in der Österreichischen Nationalbibliothek
ist sehr vielfältig und heterogen. Die Trägermaterialien reichen von Walzen über
Schellackplatten, Langspielplatten und Selbstschnittfolien bis hin zu Tonbändern
unterschiedlichster Ausführung und Kassetten. Auch Videobänder und Filme
gibt es. Alle diese Tondokumente werden in vielen Abteilungen verwaltet, den
größten Bestand hat die Musiksammlung, gefolgt vom Archiv des Österreichischen
Volksliedwerkes und dem Österreichischen Literaturarchiv. Aber auch das
Esperantomuseum, die Handschriftensammlung oder die Kartensammlung zählen
einzelne kleinere Bestände zu ihrem Besitz. Die Gesamtsumme beläuft sich auf
etwa 22.000 analoge audiovisuelle Dokumente mit einer Gesamtspieldauer von etwa
30.000 Stunden Klangmaterial.
Die Bedrohung der Dokumente weist für die einzelnen Trägertypen einen
unterschiedlichen Grad auf: Walzen und auch Selbstschnittfolien sind beim Abspielen
einer hohen Belastung ausgesetzt. Nur Experten, die über geeignete Abspielgeräte
verfügen, sind dazu befähigt. Die Schellackplatte und auch ihre Nachfolgerin, die
Vinylplatte, bestehen aus einem sehr haltbaren Material und sind daher eher durch
Zerbrechen und durch Abschürfen beim Abspielen gefährdet als durch chemische
Prozesse. Allerdings verschwinden dafür allmählich die Abspielgeräte vom Markt
und deshalb können sie nicht mehr abgespielt werden. Tonbänder sind am stärksten
von chemischen Veränderungen bedroht, weil sich die verleimten Materialien
auflösen können. Ist die Information einmal von der Trägerschicht getrennt, ist sie
unwiederbringlich verloren.
2 Th e Safeguarding of the Audio Heritage: Ethics, Principles and Preservation Strategies,
Version 3, 2005 (= IASA Technical Committee – Standards, Recommended Practices
and Strategies, IASA-TC 03).
68
Das Sammeln von Tondokumenten war nie Hauptaufgabe der ÖNB. Und
doch ist die Sammlung auf diese beachtliche Größe angewachsen. Neben
musikalischen Besonderheiten gibt es auch zahlreiche Unikate. So findet man in der
Musiksammlung die Schellack-Sammlung „L’Anthologie sonore“, eine Sammlung
von Schellackaufnahmen aus den Jahren 1933–1959, wo bedeutende Interpreten
alte Musik auf Originalinstrumenten einspielten, die in dieser Geschlossenheit
sonst nirgendwo vorhanden ist. Über 30 Jahre hindurch wurden hauseigene
Konzerte veranstaltet und dokumentiert, in deren Rahmen auch Uraufführungen
verbunden mit Komponistengesprächen stattgefunden haben. Persönliche Gespräche
von Schriftstellerinnen und Schriftstellern auf Tonbändern, Kassetten und
Diktierkassetten im Literaturarchiv sowie Feldforschungsaufnahmen aus dem Archiv
des Österreichischen Volksliedwerkes stellen weitere außergewöhnliche Aufnahmen
dar, die auf der ganzen Welt einzigartig sind und in hohem Maße die kulturelle
Identität des Landes dokumentieren.
ÜBERTRAGUNG
Um erste Schritte zur Digitalisierung für die Langzeitarchivierung zu setzen,
wurde im Frühjahr 2005 eine Arbeitsgruppe in der ÖNB eingerichtet, die unter der
Leitung der Autorin ein Konzept sowie eine Kostenschätzung zur Digitalisierung
dieser wertvollen Dokumente außer Haus erstellen sollte. Der Endbericht der
Arbeitsgruppe legte eine Prioritätenliste vor, die eine Reihenfolge der Übertragung
nach Dringlichkeit durch Bedrohung, Zugänglichkeit und inhaltlichem Interesse
anbietet. Nach Vorlage dieses Berichtes wird dieses Konzept nun schrittweise
umgesetzt. Dr. Marc Strümper von der Musiksammlung und Mag. Martin Wedl aus
dem Österreichischen Literaturarchiv haben mit der Autorin alle nötigen Schritte
in intensiver Arbeit im vergangenen Jahr ausgefeilt.
Die Höhe der Auftragssumme schrieb eine Ausschreibung vor, womit aber das
Problem verknüpft war, dass das Endprodukt einer Übertragung, das heißt das
digitale Audiofile nicht überprüfbar ist. Es ist nicht messbar, welche Bearbeitungen
vorgenommen wurden. Musikbearbeitungsprogramme haben zur vermeintlichen
Klangverbesserung viel anzubieten. Außerdem kann bei der Langzeitarchivierung
noch nicht auf Erfahrungen zurückgegriffen werden. Die IASA hat zwar
Empfehlungen schriftlich veröffentlicht, aber es gibt keine Institution, die schon so
lange damit gearbeitet hat, um daraus zuverlässige Schlüsse ziehen zu können.
Die technische Leiterin des Phonogrammarchivs hat nun für die Ausschreibung
eine Analyse des physischen Zustands der Tonbänder durchgeführt und ein
Leistungsverzeichnis erstellt, das den Vorgang der Digitalisierung entsprechend
den IASA-Vorgaben detailliert mit allen nötigen Parametern und Einstellungen
69
festschrieb und den Anbietern auch als Grundlage ihrer Kalkulationen diente. Den
Zuschlag erhielt die Österreichische Mediathek beim Technischen Museum. Die
ersten Bänder wurden bereits zur Digitalisierung übergeben.
Von der Ausschreibung ausgenommen wurde die Übertragung der besonders
gefährdeten Materialien: Die Wachszylinderwalzen der Musiksammlung und die
Selbstschnittfolien wurden im Phonogrammarchiv übertragen, eine erste Auswahl
von Schellackplatten und Diktierkassetten in der Mediathek. Im Zuge dieser
Arbeiten wurden auch die Workflows, die genauen Arbeitsabläufe im Haus und
außerhalb entwickelt und erprobt, denn für die große Zahl der Dokumente ist eine
automatische Einspielung aller Dateien in einem Schritt erforderlich.
METADATEN
Eng verknüpft mit den Audio-files müssen die deskriptiven, technischen und
historischen Metadaten verwaltet werden. Enthalten die deskriptiven Metadaten alle
bibliothekarischen Angaben zu Titel, Urheber und Interpreten, Erscheinungsjahr, bei
nicht veröffentlichten Tondokumenten ist das das Jahr der Aufnahme, etc., versteht
man unter den technischen Metadaten jene Informationen, die zur Erstellung
der Datei geführt haben, die verwendeten Programme, die Abtastraten etc. Die
historischen Metadaten geben Aufschluss über die Parameter der Übertragung:
Welche Wiedergabegeräte mit welchen Einstellungen der Geschwindigkeit, der
Nadel beim Plattenspieler etc. wurden verwendet. Ohne diese Angaben verliert das
Dokument seinen Wert für wissenschaftliche Untersuchungen.
ARBEITSABLÄUFE
Der Arbeitsauftrag der Digitalisierung fordert ein hoch aufgelöstes wave-file, das
sozusagen ein neues Original darstellt und soweit wie möglich dem alten entspricht.
Zur Bearbeitung, für den Benützer und die Benützerin wird ein komprimiertes
MP3-file erzeugt, das sehr wohl Bearbeitungen wie Entrauschen und Entklicken
enthalten kann.
Nach der Übertragung erhält die ÖNB 2 Audio-files (1 x wav, 1 x MP3) und 3 XML-
Dateien mit den deskriptiven, den technischen und den historischen Metadaten, die
nach der Kontrolle der Dateien und dem Erstellen der Markerlisten automatisiert in
Digitool eingespielt werden. Eine Datei entspricht einer Einheit eines Tondokuments.
Das heißt: Für eine Schellack oder Schallplatte werden zwei Dateien erzeugt, wenn
sie auf beiden Seiten bespielt sind, ebenso wie für ein Tonband oder eine Kassette.
Bei einer Schellackplatte ist nur ein Lied auf jeder Seite zu katalogisieren. Bei den
70
Tonbändern und Kassetten, die noch dazu den größten Anteil unserer Sammlungen
ausmachen, können sehr viele einzelne Werke wie Instrumentalmusikstücke, Lieder,
Lesungen, Gedichte, Gespräche oder mehrere Veranstaltungen auf einem Dokument
enthalten sein. Auf der Suche nach einem bestimmten Stück ist die Kenntnis des
Inhalts mit genauen Zeitangaben eine wichtige Voraussetzung, damit der Besucher
das jeweils gesuchte Werk finden und direkt vom Katalogdatensatz ansteuern kann.
Markerlisten, die mit den Titeln und Incipits auch genaue Zeitcodes enthalten,
sind wertvolle Hilfsmittel dabei. Die Erstellung dieser Markerlisten ist durch die
Bearbeitung mittels der digitalen Dateien wesentlich einfacher und in kürzerer Zeit
möglich.
KATALOGISIERUNG
Digitalisate ohne Katalogisierung sind wertlos, weil sie von keinem Benutzer
gefunden werden können. So wie die Tondokumente auf mehrere Sammlungen
verstreut sind, finden sich die Katalogeinträge ebenfalls in unterschiedlichen
Datenbanken, deren Erschließungstiefe variiert. Die Musiksammlung erfasst ihre
Tondokumente sowohl im Aleph-Verbundkatalog als auch in einem lokalen Katalog.
Das Literaturarchiv benutzt für ihre Dokumente den Nachlasskatalog HANNA, der
basierend auf Aleph den Regeln der Nachlassbearbeitung folgt. Als dritter Katalog
wird im Archiv des Österreichischen Volksliedwerkes das Bibliotheksprogramm
Infolk-Dokumentenverwaltung benutzt, das auf der Basis von Bis-C 2000 der Firma
Dabis den Bedürfnissen der Erfassung nach musikalischen Parametern nachkommt.
Es bedurfte zahlreicher Diskussionen und Besprechungen vieler betroffenen
Kolleginnen und Kollegen, bis wir nun soweit sind, dass die digitalen Tondokumente
gemeinsam mit allen dazu gehörenden Metadatendateien in einem automatisierten
Vorgang an die richtige Position in Digitool eingereiht werden können, damit eine
dauerhafte Verfügbarkeit gewährleistet ist.
SAMMLUNGSRICHTLINIEN
Der hohe Aufwand der Digitalisierung verlangt eine gezielte Auswahl: Die
Kriterien dafür sind vor allem die allgemeinen Sammelrichtlinien der ÖNB und die
Richtlinien für die Langzeitarchivierung. In den Beständen befinden sich nämlich
auch Dubletten und zwar Dubletten in der Form, dass idente Tonbeispiele auf
verschiedenen Trägern enthalten sind. Wir erachten es deshalb nicht sinnvoll, wenn
Tonbandaufzeichnungen von Radiosendungen digitalisiert werden, wo Schallplatten
vorgespielt wurden, die im Original in der ÖNB vorhanden sind. Wie hoch dieser
71
Anteil am Gesamtbestand ist, lässt sich momentan noch nicht sagen. Dazu müssen
die Bestände erst genauer erfasst und recherchiert werden.
War man ursprünglich davon ausgegangen, dass die Übertragung in geschlossenen
Einheiten durchgeführt werden kann, wurde im Laufe des vergangenen Jahres
die Erfahrung gewonnen, dass die Heterogenität des Bestandes eine solche
Vorgangsweise nicht erlaubt. Es finden sich auch besonders gefährdete Dokumente
darunter, die nicht ohne Spezialbehandlung übertragen werden können und daher
aus dem Routineverfahren ausgeschieden werden müssen.
ZIEL
Wenn diese Dokumente nun übertragen sind, erfüllt die Österreichische
Nationalbibliothek als Gedächtnisinstitution eines Landes eine ihrer wichtigen
Aufgaben und eröffnet damit einen barrierefreien und unkomplizierten Zugang
zu den Musik- und Sprachaufnahmen der bisher weitgehend unbekannten
Sammlungsbestände.
72
DER BRUNO-WALTER-NACHLASS AN DER UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEK DER UNIVERSITÄT FÜR MUSIK UND DARSTELLENDE KUNST WIEN
SUSANNE ESCHWÉ
Am 15. September 2007 jährte sich der Geburtstag von Bruno Walter Schlesinger
zum 130. Mal. Schon zu Lebzeiten umjubelt erweckt sein Name heute wie damals
– entgegen dem Schicksalsverlauf vieler anderer Vertriebener – hohe Wertschätzung,
seine künstlerische Bedeutung steht für die Nachwelt außer Zweifel.
Bruno Walter Schlesinger wird am 15. September 1876 in Berlin geboren. Nach
Lehrjahren am Stern‘schen Konservatorium beginnt er seine Dirigenten-Laufbahn
als Korrepetitor in Köln. 1894 begegnet er in Hamburg zum erstenmal Gustav
Mahler. Es folgen Wanderjahre nach Breslau, Pressburg, Riga und Berlin. 1901
holt ihn Mahler als Kapellmeister an die Wiener Hofoper. Diese Zeit, die Ära
Mahler, war die überwältigendste künstlerische Erfahrung in seinem Leben. Die
beiden verbindet eine tiefe Freundschaft. Ein Leben lang ist Bruno Walter um das
kompositorische Schaffen seines verehrten Freundes und Meisters bemüht.
Wien ist lange Zeit Bruno Walters Zuhause. Zeitlebens fühlt er sich dieser Stadt
mit ihrer „Musikerfülltheit“ und dem geistigen, künstlerischen Flair zur Zeit des Fin
de Siècle tief verbunden. Bis 1912 ist Bruno Walter als Hofopernkapellmeister in
Wien tätig. Nach Mahlers Tod geht er als Generalmusikdirektor an die Bayerische
Staatsoper nach München. Hier lernt er Thomas Mann kennen. Die beiden verbindet
eine lebenslange Freundschaft, die im kalifornischen Exil ihre Fortsetzung findet.
73
1925 wird Bruno Walter an die Städtische Oper nach Berlin berufen; später wird
er Nachfolger von Wilhelm Furtwängler als Kapellmeister am Gewandhaus in
Leipzig. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten und seiner Flucht aus
Deutschland leitet er 1936–1938 die Wiener Staatsoper. Der „Anschluss“ zwingt
ihn, auch Österreich zu verlassen. Er flieht vor den Nationalsozialisten in die USA.
1946 nimmt er die amerikanische Staatsbürgerschaft an. 1948, nach seiner Rückkehr
aus dem Exil, bereiten ihm die Wiener einen enthusiastischen Empfang, die Presse
spricht von „Trennung“, „Abwesenheit“ – eine seit damals gebräuchliche Diktion,
hinter der man versucht, das Unbewältigte der Schrecken des Dritten Reiches zu
verbergen. Der damalige Jubel gilt aber auch dem „großen Menschen“ Bruno Walter,
der – wie die Presse schreibt – auch in den bitteren Jahren der Ferne nie den leisesten
Schatten auf seine Liebe zu dieser Stadt fallen ließ. Er erntet viel „Lob“ für seinen
„guten Willen“, Vergangenes vergessen zu machen. Bruno Walter stirbt am 17.
Februar 1962 im Alter von 86 Jahren in Beverly Hills, Los Angeles in Kalifornien,
er ist im schweizerischen Montagnolo bei Lugano begraben.
Der Wert von Nachlässen, also per definitionem Materialien von „einheitlicher
Provenienz“ und „gewisser Vielfalt“– begehrt und ungeliebt zugleich –, erschließt
sich einem nicht auf den ersten Blick.1 Meist sind es wenig ansehnliche Kisten,
Kartons, Konvolute, die Wertvolles nur erahnen lassen; den Stellenwert des
Materials bestimmt die historische Bedeutung des „Nachlassers“. Die Spuren jenes
Menschenlebens, dessen Schaffen, Handeln, Fühlen, Denken werden erst erkennbar,
erfahrbar, ist der Nachlass, dieses „Mixtum compositum“, geordnet, verzeichnet,
erschlossen.2 Dieses spezifisch amorphe Erscheinungsbild eines Nachlasses gebildet
aus Manuskripten, Marginalien, Memorabilia ist es, das bei aller Wertschätzung des
1 Beibl. zur Erhebung „Zum Begriff Nachlaß“ zit. n. Gerhard Renner: Die Nachlässe in
den Bibliotheken und Museen der Republik Österreich, ausgenommen die Österreichi-
sche Nationalbibliothek und das Österreichische Th eatermuseum. Wien 1993, 15.
2 Ebd.
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Besitzes desselben, sich der Erschließung, ganz und gar aber der regelrechten – oft
nur allzu lange – widersetzt, sodass der Nachlass selbst „Geschichte“ wird.
Nur wenige Monate nach Bruno Walters Tod am 17. Februar 1962 gelangt sein
Nachlass auf Wunsch der Tochter und Erbin, Lotte Walter-Lindt, an die damalige
Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien, der heutigen Musikuniversität.
Die Schenkung erfolgt unter der Auflage, dass das Material „nicht wie in einem
Museum tot gelegt wird“, sondern Lehrern und Schülern zugänglich bleiben
soll. Des weiteren sollte es in einem „speziellen kleinen Raum, der Bruno Walter
Zimmer heißen soll“, untergebracht werden.3 Man war auch anfangs sehr bemüht,
einen Gedächtnisraum zu schaffen, im Laufe der Zeit ist dieser allerdings den
Unterrichtserfordernissen zum Opfer gefallen. Das Thema Gedächtnisraum ist
bis heute ungelöst. Der Nachlass wird heute in einem Magazinsraum aufbewahrt
und nur eine kleine, erlesene Auswahl an Exponaten ist permanent ausgestellt. Die
„Raum-Frage“ ist bis heute ungelöst.
Nach und nach treffen die Materialien in Wien ein. Im Spätherbst 1964 ist es dann
so weit: In Anwesenheit von Lotte Walter-Lindt wird der Gedächtnisraum im Palais
Cumberland in Wien-Penzing feierlich eröffnet. Nach dem Tod von Lotte Walter-
Lindt 1970 geht jener Teil des Nachlasses, der in ihrem Privatbesitz verblieben ist, in
das Eigentum der Bruno Walter Memorial Foundation mit Sitz in New York über, von
dort gelangt er an die New York Public Library. Demzufolge ist der Bruno-Walter-
Nachlass ein „angereicherter Teilnachlass“, was mit dem Zusatz „Wiener Nachlass“
deutlich gemacht werden soll.
Die für einen Nachlass charakteristische „Mischung des Materials“ findet ihren
Niederschlag in den verschiedenen Materialkategorien, in die Nachlässe meist
gegliedert werden und die es gilt, nach bibliothekarischen Regeln in Kategorien
und Konvolute zusammenzufassen.
Die Kategorie der Werkmanuskripte innerhalb des Bruno-Walter-Nachlasses
umfasst 32 Handschriften von Kompositionen und 8 Konvolute mit Entwürfen
und Aufzeichnungen zu Schriften Bruno Walters, darunter etwa 30 Autographe. Im
Fall von Bruno Walter kommt gerade diesen Materialien besondere Bedeutung zu,
umfassen sie doch sein gesamtes schöpferisches Werk als Komponist und Autor.
Bruno Walter hat sich aber bekanntlich nicht nur künstlerisch mit Musik
auseinandergesetzt. Er war mit den bedeutendsten Schriftstellern seiner Zeit –
3 Aktenvermerk v. 29.5.1962 (Archiv d. Univ. f. Musik u. darst. Kunst Wien, /Zl.
1823/62).
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Thomas Mann, Stefan Zweig, Franz Werfel befreundet – er war aber vor allem
selbst ein geistreicher Schriftsteller, geradezu ein Meister des Ausdrucks über
Musik. Thomas Mann schwärmte von seiner „unbekümmerten Gescheitheit“,
seiner „treuherzigen Klugheit“ und dem „literarischen Zauber“ seiner Gedanken
über Musik In mehreren Schriften hat er sein großes Wissen für die Nachwelt
verewigt. Zahlreiche Entwürfe und Aufzeichnungen zu diesen Schriften sind im
Nachlass überliefert.
Die Gruppe der Briefe ist entgegen dem herrschenden Grundsatz, bestehende
Ordnungen in Nachlässen nach Möglichkeit beizubehalten, auf verschiedene
Konvolute aufgeteilt. Der wertvollste Brief, der im Nachlass verwahrt wird, ist
zweifellos der Entwurf eines Gratulationsbriefs Thomas Manns zum 70. Geburtstag
von Bruno Walter. Der Löwenanteil der Korrespondenz befindet sich in der Bruno
Walter Collection der New York Public Library.
Druckwerke sind nur „in begründeten Fällen“ als Bestandteil eines Nachlasses
anzusehen. Innerhalb des Nachlasses von Bruno Walter kommt aber gerade diesem Teil,
der Bibliothek, besonderer Stellenwert zu, denn eindringlicher als in Tonaufnahmen
drückt sich die Fähigkeit der musikalischen Darstellung eines Dirigenten in Gestalt
von schriftlichen Anmerkungen und Einzeichnungen in dessen persönlichen
Aufführungsmaterialien aus, denn es ist ja gerade diese Fähigkeit der Verbalisierung,
die uns oft eindringlicher als Tonaufnahmen die musikalischen Vorstellungen
eines Dirigenten vermitteln. Die annotierten persönlichen Notenmaterialien sind
demnach der wertvollste Bestandteil des Bruno-Walter-Nachlasses. Dabei kommt
denjenigen der Werke Gustav Mahlers besondere Bedeutung zu, denn Bruno Walters
Wirken in der Ära Mahler an der Wiener Hofoper verleiht seinen Interpretationen
von Werken Mahlers höchste Authentizität. Die wertvollste Mahler-Partitur im
Nachlass ist zweifellos das Mahler’sche Handexemplar seiner 5. Sinfonie, in dem
sich neben dirigiertechnischen Anmerkungen von Bruno Walter auch zahlreiche
handschriftliche Korrekturen von der Hand Gustav Mahlers finden.
Groß ist die Zahl der Ehrengaben und Memorabilien innerhalb der Kategorie Lebens-
dokumente. Orden, Medaillen, Ringe, Urkunden, Ehren- und Glückwunschdekrete,
Auszeichnungen und sonstige Ehrengeschenke werden bis heute in jener braunen
Ledertasche aufbewahrt, in der sie im September 1963 zusammen mit anderen
Schriftstücken in Wien ankamen.
76
Dem „Kern“ des Nachlasses werden in späterer Folge auch mehrere „Anreicherungen“
hinzugefügt. Es sind dies Sammlungen und Erinnerungsstücke von Freunden und
Verehrern des Künstlers, die meist als Geschenk oder durch testamentarische
Verfügung in die Bibliothek gelangen und dem Nachlass später hinzugefügt werden.
Die wichtigste Anreicherung ist zweifellos die lebensgroße Gipsbüste, geschaffen
1952 in Los Angeles von Anna Mahler, der Tochter Gustav Mahlers.
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Nachlässe gelten als „sperriger Rohstoff“, sie entziehen sich nur allzu oft dem
gewohnten, regelrechten bibliothekarischen Handwerk der Bearbeitung. Das
amorphe Erscheinungsbild des Nachlasses, aber auch der Mangel an eindeutigen
Begriffsbildungen und einheitlichen Bearbeitungsgrundsätzen haben lange Zeit
die Entstehung einheitlicher Beschreibmodalitäten verhindert. Der Bruno-
Walter-Nachlass, der bereits in geordneter Form an die Bibliothek gekommen war,
wurde überwiegend den Ordnungsprinzipien eines preußischen Nominalkatalogs
unterzogen.
2001 gewährte die Universitätsbibliothek zum 125. Geburtstag des weltberühmten
Dirigenten nach langem wieder Einblick in das reichhaltige Quellenmaterial. Die
Ausstellung mit dem Titel Bruno Walter 1876-1962. Dirigent, Komponist, Schriftsteller,
Vertriebener … war vom 11. Oktober bis 9. November in der Aula der Universität
für Musik und darstellende Kunst Wien zu sehen. Die Ausstellung zeigte Facetten
des künstlerischen Wirkens und Schaffens von Bruno Walter anhand ausgewählter
Exponate aus dem Nachlass. Zum erstenmal wurde auch die leidvolle Erfahrung der
rassischen Verfolgung und letztendlich der Vertreibung des gefeierten Künstlers aus
Österreich thematisiert. Sie dokumentiert aber auch die Geschichte des Nachlasses
selbst, jenes unschätzbaren Erbes eines der größten Dirigenten des vergangenen
Jahrhunderts.
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DIGITALISIERUNG – EINE REVOLUTION IN DER ZUGÄNGLICHKEIT VON AV-MEDIEN?
GABRIELE FRÖSCHL
Seit rund sechs Jahren digitalisiert die Österreichische Mediathek ihre Audio-
Bestände. Zu diesem Zweck wurde ein neuartiges System entwickelt, das für
Benutzer vor Ort den schnellen Vollzugriff auf Audiodateien in Form von MP3-Files
direkt aus der Katalogdatenbank heraus ermöglicht. So genannte Marker-Listen
ermöglichen auch für Benützer eine zusätzliche, individuell editierbare, inhaltliche
Erschließung des Tondokuments. Im Hintergrund läuft hier sowohl eine vollständige
bibliothekarische Datenbank als auch ein Archivsystem mit Massenspeicher, das
den dauerhaften Erhalt der Tonfiles (hochauflösende Broadcast-wav-Dateien als
Archivformat, MP3-Dateien als Benutzungskopie) zuverlässig gewährleistet.
Die Digitalisierung hat in vielen Fällen, abhängig vom jeweiligen Format, durch
einfachere Handhabung und verbesserte Suchbarkeit einen entscheidenden
Fortschritt in der Benutzbarkeit von AV-Medien gebracht. Andererseits hat sich
gezeigt, dass mit der Digitalisierung neue Fragen im Zusammenhang mit der
Aufbereitung von Medien für die Öffentlichkeit auftreten, sei es im Bereich einer
weiteren Optimierung der Benutzerfreundlichkeit, aber auch in Hinblick auf
rechtliche Einschränkungen, vor allem in Bezug auf Internetnutzung.
PUBLIKUMSKATALOGE
Ein wichtiger Aspekt der Digitalisierungsstrategie in der Österreichischen Mediathek
ist die einfachere Handhabung von Tondokumenten durch Benützer. Das Abrufen
von Medienfiles (Format MP3) aus der Katalogdatenbank ersetzt den Umgang
mit dem Original-Material, ohne etwas an dessen Qualität zu ändern, denn: Mit
hohen Qualitätsstandards digitalisiert, wird das Digitalisat zum neuen Original. Der
Zugriff auf Medienfiles erleichtert zudem die inhaltliche Arbeit mit Tondokumenten
ganz wesentlich, denn die optische Darstellung der Tonkurve ermöglicht, mit
einiger Übung, eine bessere Orientierung innerhalb der Tonaufnahme und ein
schnelleres Auffinden gesuchter Informationen. Dies lässt für die Zukunft hoffen,
dass Tondokumente, mehr als bisher, als Quellen für wissenschaftliche Arbeiten
unterschiedlicher Disziplinen herangezogen werden.
Zudem kann digital vorliegendes Tonmaterial weiter aufgeschlossen werden. Das
Einfügen inhaltlich beschreibbarer Zeitpositionen, so genannter Marker, erlaubt eine
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tiefgehende Inhaltserschließung, denn Marker können individuell gesetzt werden.
Marker sind im Katalogsystem der Österreichischen Mediathek suchbar, können
beim einzelnen Tonfile direkt angespielt werden und ermöglichen so ein sofortiges
Abhören der gewünschten Stelle.
Digitalisierung bedeutet, generell betrachtet, für Tondokumente eine Verbesserung
der Benutzbarkeit, vor allem in Hinsicht auf die praktische Handhabung von Medien.
Der tatsächliche Grad der Verbesserung hängt einerseits vom Medium selbst ab,
andererseits von den Digitalisierungseinheiten sowie der Einbindung der Digitalisate
in ein Katalogsystem, also der Verbindung von Tonfiles und Metadaten. Generell
hat sich in der Praxis bewährt, dass die Digitalisierungseinheit gleichzusetzen ist mit
dem Stück, d.h. ein Tonband ein File, eine Schallplatte ein File usw. Dies kommt
sowohl der Logistik der Digitalisierung entgegen als auch den Gegebenheiten der
Katalogdatenbank. Digitalisierung ist damit nicht automatisch eine Aufgliederung
auf Beitrags- bzw. Trackebene, ermöglicht aber, in Verbindung von Katalogeintrag
und File, eine wesentlich vereinfachte inhaltliche Erschließung durch direkten
Zugriff auf das Dokument. Kann diese Mehrarbeit einer vertiefenden inhaltlichen
Erschließung nicht geleistet werden, bleibt als Verbesserung der Benutzbarkeit
der leichtere Zugriff, der eine schnellere Orientierung ermöglicht. Soll das File als
alleiniges Benützungsexemplar dienen, steht man, vor allem bei publizierten Medien,
vor einem erhöhten Aufwand hinsichtlich der Datenaufnahmen. Als Beispiel sei hier
die CD erwähnt. Das automatische Einlesen der Tracks bedarf in vielen Fällen einer
Ergänzung, zudem müsste das gesamte Begleitmaterial ebenfalls digital vorliegen
um einen tatsächlichen Ersatz für die Benutzung des Originalmediums bieten zu
können. In diesen Fällen dient Digitalisierung eher der Langzeitarchivierung als der
Verbesserung der Benutzbarkeit.
AUTOMATISCHE SPRACHERKENNUNG1
Eine bislang in der Praxis noch wenig erprobte Möglichkeit, wie Digitalisierung
die Zugänglichkeit von AV-Medien entscheidend verbessern könnte, sind
Softwareprogramme zur automatischen Spracherkennung, die als Voraussetzung
1 Zum Th ema Spracherkennung siehe: Zwischenbericht zum Forschungsprojekt an
der Österreichischen Mediathek „Aus dem Parlament“ – Radioberichterstattung von
Nationalratssitzungen in Zeiten der Großen Koalition und der ÖVP-Alleinregierung
1952 bis 1969. Quellensicherung und Quellenauswertung unter Einsatz moderner
Informationstechnologie. Die Ausführungen zur Spracherkennung wurden von Tina
Plasil verfasst. (unveröff entlichtes Dokument, Wien 2007). Gearbeitet wird bei diesem
Projekt mit dem NOA Dactylo Indexer Version 1.0.0 (Build ‚16) und dem Language
Model Toolkit Version 3.0 (Matador_1111) von Saillabs.
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das Vorliegen eines digitalen Tonfiles benötigen. Die Versuche in diese Richtung
sind in der Österreichischen Mediathek von den Intentionen getragen, dass mit Hilfe
automatischer Spracherkennung eine große Anzahl von Stichwörtern entstehen
kann, die in Verbindung mit dem entsprechenden Tonfile die Suchbarkeit innerhalb
der Audiodokumente erhöhen.
Zur Spracherkennung wird ein Tonfile in einem vierstufigen Modell mathematisch
analysiert. In der ersten Stufe werden Hintergrundgeräusche aus dem Tonfile
herausgefiltert. Dann wird in einer zweiten Stufe eine Phonemtranskription
durchgeführt. Phoneme sind die kleinsten bedeutungsunterscheidenden, aber nicht
bedeutungstragenden Einheiten einer Sprache.2 Die deutsche Sprache verfügt über
etwa 40 Phoneme, die nicht identisch mit Buchstaben sind, da viele Buchstaben
in mehreren Varianten ausgesprochen werden können. In einer dritten Stufe
entsteht auf Grund dieses phonetischen Transkripts eine Übersetzung anhand eines
Wörterbuchs. Das Spracherkennungsprogramm enthält ein Wörterbuch mit 150.000
bis 180.000 Wörtern, die aber in einem weiteren Arbeitsschritt mit neuen Worten
ergänzt werden können. Da die Spracherkennungssoftware lernend ist, kann man
davon ausgehen, dass durch das Hinzufügen neuer Wörter bzw. Textpassagen (das
Programm lernt nicht nur Worte, sondern rechnet auch aus dem kontextuellen
Zusammenhang Wahrscheinlichkeiten aus) die Trefferquote der Texterkennung
gesteigert werden kann.
In der vierten und letzten Stufe wird das Resultat mit einem Sprachmodell verglichen,
das mit Hilfe von Linguisten durch Analyse der gesprochenen Sprache entwickelt
wurde. Das Sprachmodell geht speziell auf den semantischen Kontext ein, der je nach
Wissenschaftsgebiet oder Thema variiert, wobei vektorielle Wahrscheinlichkeiten
für jedes Wort berechnet werden.
Probleme treten dann auf, wenn die Tonqualität der Files nicht optimal ist, z.B.
bei Aufnahmen, die über einen starken Hall verfügen, denn hier erkennt das
Sprachprogramm keine menschliche Stimme mehr, sondern erachtet die komplette
Aufnahme als Geräusch. Insgesamt zeigt sich, dass bei guten akustischen
Bedingungen verwendbare Ergebnisse erzielt werden können.
INTERNETPRÄSENZ
Ein unbestreitbarer Vorteil digitalisierter Medien liegt in der Möglichkeit via
Internet ein größeres Publikum zu finden und diesem die Benutzung der Bestände
zu ermöglichen. Unter Berücksichtigung urheber- und leistungsschutzrechtlicher
Gegebenheiten, die besonders für AV-Archive in einem hohen Maß einschränkend
wirken, können digitalisierte Medien sowohl in Online-Kataloge eingebunden
2 URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Phonem (20.2.2007).
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werden als auch, inhaltlich aufbereitet, darüber hinaus einen größeren Publikumskreis
ansprechen.
Webausstellungen haben sich für die Österreichischen Mediathek in den letzten
Jahren als zielführendes Mittel erwiesen, breitere Publikumsschichten für die
Bestände des Archivs zu interessieren. Ton- und auch Filmdokumente bieten sich
besonders an, Ausstellungen von herkömmlichen musealen Orten zu lösen und in den
virtuellen Raum zu setzen, sind diese Aufnahmen doch in gewisser Weise an jedem
Ort Original und verlieren, bei sorgfältigem und quellenkritischem Umgang, nichts
an Unmittelbarkeit und Authentizität. Vergangenheit wird so in Momentaufnahmen
gegenwärtig, Hören und Sehen verschafft ganz unmittelbare Eindrücke – und das
unabhängig von einem bestimmten Ausstellungsort.
Hinzu kommt, dass alle Webausstellungen der Mediathek keine temporären
Ereignisse sind, sondern ein dauerhafter Teil des Internetauftritts bleiben, der
mit jeder Webausstellung weiter wächst. Und hinter all dem steht ein digitales
Langzeitarchiv, das gewährleistet, dass das, was im Netz zu hören ist, auch auf Dauer
gesichert und erhalten bleibt.
WEBPROJEKTE DER ÖSTERREICHISCHEN MEDIATHEK
WWW.STAATSVERTRAG.ATwww.staatsvertrag.at war der Beitrag der Österreichischen Mediathek zu den
Ausstellungsaktivitäten rund um das Jubiläumsjahr 2005. Mit hunderten Ton- und
Filmdokumenten zu Politik, Alltag, Musik, Literatur und Sport wird der Weg zum
Staatsvertrag von 1945 bis 1955 nachgezeichnet. Tondokumente illustrieren jedoch
nicht nur die Geschichte, sie sind auch selbst Geschichte geworden. Der Umstand,
unter denen sie entstanden sind, die Art, wie Information transportiert wurde, all dies
sagt mehr über die Zeit aus, als man beim ersten Hineinhören wahrnimmt, deshalb
wird, neben der unmittelbaren Ebene des Surfens durch die Themenbereiche, einer
umfassenden Quellenkritik ein wichtiger Stellenwert eingeräumt.
MOZART – RUNDE GESCHICHTEN – EINE AKUSTISCHE HÖRREISE ZUM 250. GEBURTSTAG Rund hundert Schellackeinspielungen aus dem reichhaltigen Fundus der Öster-
reichischen Mediathek vermitteln in dieser Webausstellung zum Mozartjahr 2006
ein Bild von Mozarts Musik, das geprägt ist vom Interpretationsstil und dem
Musikgeschmack der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie der besonderen
Charakteristik des Mediums Schellack.
82
Die Aufnahmen machen mit einem Mozart-Klang bekannt, der zeigt, wie wandelbar
und individuell Interpretationen sein können. Die Musikbeispiele werden ergänzt
durch Hörproben von Briefen Mozarts, Eindrücken von Zeitgenossen und
literarischen Werken. Der Rückgriff auf Schellackeinspielungen ist einerseits
eine bewusste Konzentration auf historische Aufnahmen, andererseits ist er einer
der wenigen Möglichkeiten für ein Archiv, unter Beachtung der Urheber– und
Leistungsschutzrechte Musik online zu stellen.
HOWDY! GÜNTHER SCHIFTERDiese, dem Moderator und passionierten Schellacksammler Günther Schifter
gewidmete Webausstellung gibt einerseits einen Querschnitt seiner umfangreichen
Sammlung zu Jazz und Swing wieder, andererseits präsentiert sie ein Stück
Rundfunkgeschichte mit Ausschnitten aus Klassikern wie „Music Hall“ oder
„Günther Schifter’s Schellacks“. Rundfunkmitschnitte generell gehören zu jenem
Teil der akustischen Überlieferung, der in den Köpfen noch sehr präsent ist, der aber
in den meisten Archiven nur sehr unvollständig erhalten ist.
WWW.AKUSTISCHE-CHRONIK.ATMit der akustischen Chronik zur österreichischen Geschichte von 1900 – 2000 steht
den Internetusern eine umfassende multimediale Darstellung zur Zeitgeschichte
zur Verfügung. Hunderte, zum Teil erstmals veröffentlichte Töne und Videos aus
dem Archiv der Österreichischen Mediathek illustrieren die wechselvollen Jahre
von der Monarchie bis zur Jahrtausendwende. Ein Schwerpunkt liegt hier auf den
Dokumenten zur Politik des Landes, daneben kommen jedoch auch Kunst, Kultur –
und soweit greifbar – auch das Alltagsleben nicht zu kurz, sodass in der Gesamtheit
ein facettenreiches Bild eines Jahrhunderts entsteht.
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MUSIKBIBLIOTHEKEN IN ÖSTERREICH – IHRE AUFGABEN UND TÄTIGKEITEN
MANFRED KAMMERER
EINLEITUNG
Die Bandbreite österreichischer Musikbibliotheken reicht von den Bibliotheken
der vier Musikuniversitäten mit ihrer grundsätzlichen Orientierung am
gelehrten Fächerspektrum und der aktuellen Literaturversorgung bis zu den
großen Musiksammlungen der Österreichischen Nationalbibliothek oder der
Wienbibliothek im Rathaus, von themenzentrierten Archiven wie dem Archiv
des Volksliedwerks oder dem Arnold Schönberg Center in Wien bis zum MICA,
einem „Musikinformationszentrum“ mit angegliederter Bibliothek. Im folgenden
soll die Landschaft der österreichischen Musikbibliotheken in Form eines Überblicks
dargestellt und Besonderheiten ihrer Aufgabenstellungen und Tätigkeiten
herausgearbeitet werden.
TYPEN ÖSTERREICHISCHER MUSIKBIBLIOTHEKEN
Vorangestellt sei eine kurze Typologie österreichischer Musikbibliotheken. Die
Darstellung soll sich dabei auf den Kreis der in der „AG-Musikalienbearbeitung“ und
im österreichischen Zweig von IAML (International Association of Music Libraries)
vertretenen Institutionen konzentrieren. Die beiden Gremien können durchaus
als Spiegel der professionalisierten Landschaft österreichischer Musikbibliotheken
gelten. In diesem Rahmen kann unter anderem nicht auf das Thema „Musik
an öffentlichen Bibliotheken“ sowie auf die Vielfalt musikalischer Bestände im
kirchlichen Bereich eingegangen werden.
Typologien von Musikbibliotheken können von verschiedenen Ansätzen her
gedacht werden. Unterscheidungen ergeben sich aus der Berufspraxis selbst, aus dem
hypostasierten Nutzerkreis und der Art des daraus abgeleiteten Versorgungsauftrags
oder auch aus dem Grad der Selbstständigkeit der Institution. Überblickt man den
Teilnehmerkreis von IAML Österreich, so lassen sich unter Bezugnahme auf die
Themenstellung drei Typen erkennen:
– Die erste Gruppe bilden die großen Sammlungen der Nationalbibliothek, der
Wienbibliothek im Rathaus (ehem. Wiener Stadt- und Landesbibliothek) sowie
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Archiv, Bibliothek und Sammlung der Gesellschaft der Musikfreunde. Ohne die
genannten Institutionen darauf reduzieren zu wollen, ist deren hervorstechendes
Merkmal, dass sie alle über einen weltweit einzigartigen Bestand an Autographen
und historischen Drucken verfügen und als wahre Autographenschatzkammern
gelten können. Um den Reichtum dieser Sammlungen zu illustrieren seien
einige herausragende Beispiele angeführt: Die Musiksammlung der ÖNB
besitzt u.a. die weltweit größte Brucknersammlung, das Autograph von Requiem
und Ave verum corpus von W. A. Mozart, 140 Autographe von Hugo Wolf,
darunter alle großen Liederzyklen. Die Musiksammlung der Wienbibliothek
besitzt die weltweit größte Schubert- und Strausssammlung. Zudem sei auf
wertvolle Einzelautographe von Haydn, Mozart, Brahms, Bruckner und vielen
anderen verwiesen. Für die Gesellschaft der Musikfreunde sind insgesamt 180
Werke von Schubert sowie die Nachlässe von Johannes Brahms und Gottfried
von Einem anzuführen. Anzumerken bleibt, dass sich die Bandbreite der
Musiksammlungen der Nationalbibliothek und der Wienbibliothek weit über
den großartigen historischen Bestand hinaus erstreckt. Beide Institutionen sind
auch vollwertige wissenschaftliche Musikbibliotheken und fungieren außerdem
als Ablieferungsstellen für die Pflichtexemplare der österreichischen respektive
Wiener Verlagsproduktion.
– Die zweite Gruppe umfasst Musikbibliotheken an Institutionen mit Bildungs-
auftrag:
Hier sind neben den Bibliotheken der vier Musikuniversitäten mit ihrer Ausrichtung
am gelehrten Fächerspektrum auch musikwissenschaftliche Teilbibliotheken
größerer Einheiten, wie sie an den Allgemeinuniversitäten Salzburg, Wien oder Graz
existieren, anzuführen. Die Schwerpunktsetzung liegt bei den letztgenannten mehr
im wissenschaftlichen Bereich gegenüber der stärker an der lebendigen Musikpraxis
orientierten Herangehensweise der Bibliotheken an reinen Musikuniversitäten. Die
Bibliotheken der Landeskonservatorien in Graz, Wien, Innsbruck, Feldkirch und
Klagenfurt reihen sich in diesen Kreis ein.
Wesentliche Aufgaben dieser Gruppe sind:
– Bereitstellung der für Forschung und Lehre erforderlichen Materialien
(Noten, Bücher, Zeitschriften, audiovisuelle Medien)
– Beschaffung der Materialien für die Aufführungen der jeweiligen Institution.
Diese sind in vielen Fällen nicht käuflich zu erwerben und müssen für die
jeweiligen Aufführungen als Leihmaterial bereitgestellt werden.
– Unterhaltung eines wissenschaftlichen Apparats. Darunter fallen Lexika,
Bibliographien, thematische Werkverzeichnisse und wissenschaftliche Gesamt-
Ausgaben.
85
– Über den Bereich dieser spezifischen Aufgaben hinaus kommt zumindest den
größeren Bibliotheken dieser Gruppe auch ein Auftrag zur Versorgung der
regionalen Öffentlichkeit zu. In den durch das UG 2002 vorgegebenen Strukturen
wird es nötig sein den Gedanken an die Universitätsleitungen heranzutragen, dass
Universitätsbibliotheken sehr wohl Teil der regionalen Kulturlandschaft sind und
großes Potential in sich tragen, die Außenwirkung der Universitäten im Sinne
der im Gesetz geforderten Erschließung der Künste zu stärken.
– Die dritte Gruppe bildet der Kreis der themenzentrierten Archive. Im Mittel-
punkt der Sammeltätigkeit steht hier oft eine Institution wie beim Archiv der
Wiener Konzerthausgesellschaft oder eine musikalische Gattung wie beim
Archiv des österreichischen Volksliedwerks. Genannt seien hier auch Sammlun-
gen, die Werk und Person eines Komponisten in den Mittelpunkt stellen, wie
etwa die Bibliotheca Mozartiana des Mozarteums oder das Arnold Schönberg
Center in Wien.
SPEZIFIKA DER GESAMMELTEN MATERIALIEN
Im Wesentlichen werden an Musikbibliotheken folgende Materialien gesammelt:
– Druckschriften über Musik
– Musik- bzw. Notendrucke
– Musikhandschriften
– Musik auf audiovisuellen Medien
– Sonstige Materialien (Mikroformen, Photos, Dias, Computerdisketten etc.)
Es sind in erster Linie die Materialtypen Musikhandschriften, Musik- und
Notendrucke und audiovisuelle Medien, die eine deutliche Abgrenzung gegenüber
anderen Bibliothekstypen erlauben und rechtfertigen, dass man von einer eigenen
musikbibliothekarischen Praxis sprechen kann.
Neben der offensichtlichen Tatsache der „Nichtsprachlichkeit“ seien drei wesentliche
Merkmale, die diese Materialien vom üblichen Sammlungsgut abheben, ausgeführt.
Es sind dies:
– die Vielzahl der Ausgabeformen für den jeweiligen Gebrauch
– die starke Bedeutung des Gattungs- und Besetzungsprinzips
– für die audiovisuellen Medien die Vielfalt der technischen Formate
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In keinem anderen Bereich tritt uns ein- und dasselbe Werk in so vielen
unterschiedlichen Ausgabeformen entgegen. Wir sehen ein Werk als Partitur,
Taschenpartitur, Chorpartitur, Klavierauszug, Klavierpartitur, als Aufführungsmaterial
(Stimmenmaterial), Faksimile u.a. vorliegen. Rechnet man den audiovisuellen Bereich
dazu, so erweitert sich der Umfang nochmals.
Die starke Präsenz von Gattungs- und Besetzungsnamen in den Titeln führt zu
einem Ineinanderfließen von Formal- und Inhaltskriterien. Das im Bibliothekswesen
vorherrschende Prinzip der alphabetischen Ordnung birgt u.a. dadurch Schwierig-
keiten, dass viele Titel aus den immer wieder gleichen Gattungsnamen wie Fuge,
Messe, Sonate oder Symphonie bestehen, was selbst bei ein und demselben
Komponisten Erschließung und Recherche erschweren kann. Zusätzlich kompliziert
wird die Angelegenheit durch die häufig vorkommenden fremdsprachigen
Bezeichnungen, wie z. B.: Quartett, Quartet, Quatuor.
Natürlich trägt die RAK-Musik diesen Gegebenheiten unter anderem auch
in den Einheitssachtiteln Rechnung. Durch die wenig intuitive Gestaltung der
Einheitssachtitel gestaltet sich die Recherche durch die Nutzer aber häufig als
schwierig und bedarf intensiver Unterstützung von Seiten der Bibliothekare.
Das Gattungs- und Besetzungsprinzip spielt auch bei der inhaltlichen Erschließung
von Musikalien eine nicht zu unterschätzende Rolle. Inhaltliche Suche bei
Musikalien gestaltet sich, anders als bei wissenschaftlicher Literatur, nicht in erster
Linie als Suche nach „Inhalten“ im engeren Sinn, sondern in vielen Fällen als Suche
nach Besetzungen, nach musikalischen Gattungen oder Genres. Für die inhaltliche
Erschließung von Musikalien existieren in Österreich zurzeit nur lokale Lösungen.
Eine verbundübergreifende Sacherschließung für Musikalien wäre sinnvoll und wird
in den Gremien auch bereits diskutiert.
Das zu Erschließung und Recherche von Noten Gesagte gilt auch für die
audiovisuellen Medien, wobei sich die Sachlage durch das Hinzukommen der
Interpreten eher kompliziert. Das übliche Primat des Autors wird durch die
Bedeutung des Interpreten quasi „unterminiert“. In engem Zusammenhang damit
steht auch das Problem der zahlreichen Sammelausgaben. In den meisten Einheiten
gibt es erhebliche Bestände an audiovisuellen Medien und die entsprechenden
Möglichkeiten, die Medien innerhalb der Bibliothek zu benützen. Die rasante
technologische Entwicklung im audiovisuellen Bereich stellt die Bibliotheken
immer wieder vor neue Herausforderungen. Geräte, entsprechendes Know-how
und Betreuung müssen bereitgestellt werden. Wir sehen uns mit einer Vielfalt von
technischen Formaten und ihrem permanenten Wandel konfrontiert. Der Ansatz
einer Digitalisierung, der von vielen Institutionen gewählt wird, ist sicherlich richtig;
führt er doch die verschiedenen Formate, von denen die älteren noch dazu einem
erheblichen Verschleiß unterliegen, in einem „Universalformat“ zusammen.
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ÖFFENTLICHKEITSARBEIT
Öffentlichkeitsarbeit wird von fast allen Musikbibliotheken betrieben. Es ist heute
unabdingbar, sich gegenüber der regionalen Öffentlichkeit zu präsentieren und damit
neue Nutzerkreise für die jeweilige Bibliothek zu erschließen. Konkret sei hier die
Initiative der sechsmal jährlich stattfindenden Musiksalons der Musiksammlung
der Nationalbibliothek angeführt. Neben einer verstärkten Verankerung in der
Öffentlichkeit darf der Kontakt zu zeitgenössischen Komponisten als nicht zu
unterschätzender Vorteil dieses Projekts angesehen werden. Ähnliches gilt auch
für die Reihe „Kunst in der Musiksammlung“ der Wienbibliothek. Auch die an
vielen Bibliotheken vorhandenen Nachlässe bieten eine gute Möglichkeit zur
Öffentlichkeitsarbeit.
AUSBILDUNG
Im Gegensatz zu Deutschland, wo eine Ausbildung zum Musikbibliothekar in Form
eines Zusatzstudiums möglich ist, erfolgt die musikbibliothekarische Schulung in
Österreich immer „on-the-job“. Das erforderliche Wissen und Know–how wird an
den Bibliotheken von einer Generation an die nächste – fast ist man versucht zu
sagen, in oraler Tradition – weitergereicht. Dass das Niveau des bibliothekarischen
Könnens dennoch sehr hoch ist, ist erstaunlich und darf sicherlich dem individuellen
Engagement der Kolleginnen und Kollegen an den einzelnen Einheiten
zugeschrieben werden. In Anbetracht der Komplexität musikbibliothekarischer
Arbeit ist es bedauerlich, dass keinerlei fundierte Angebote existieren. Das UG 2002
regelt eine einheitliche Ausbildung für das Bibliothekspersonal an den Universitäten.
Eine entsprechende Verordnung wurde erlassen und an den größeren Universitäten
werden bereits die ersten Lehrgänge durchgeführt. Entsprechende Angebote – sei es
in Form eines Wahlfachs oder eines aufbauenden Kurses – wären hier zu begrüßen.
Ein erster gut angenommener Ansatz, das Thema Musik in ein Curriculum
aufzunehmen, existiert seit drei Jahren an der Fachhochschule Eisenstadt in Form
einer Lehrveranstaltung „Musik-, Kunst- und Mediendokumentation“.
MUSIKBIBLIOTHEKARISCHE GREMIEN
Fast alle österreichischen Musikbibliotheken sind Mitglied im österreichischen
Zweig der IAML (International Association of Music Libraries, Archives and
Documentation Centers). Dieser wurde im Jahre 2002 von Thomas Leibnitz,
dem Leiter der Musiksammlung der ÖNB, ins Leben gerufen. Es finden jährlich
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zwei Sitzungen statt, die jedes Mal eine musikbibliothekarische Themenstellung
zum Gegenstand haben und eine wichtige Gelegenheit für Zusammenarbeit und
Meinungsaustausch bieten.
Ein weiteres Gremium ist der bei der VÖB-Kommission für Nominalkatalogisierung
angesiedelte Arbeitskreis für Musikalienbearbeitung, der 2001 auf Anregung der
damaligen Direktoren der Hochschulbibliotheken Wien und Graz, Scholz und
Amtmann, gegründet wurde. Dieser Arbeitskreis trägt mit seiner profunden Arbeit
ganz wesentlich zum Niveau der bibliographischen Kultur und zur Qualität der
Kataloge bei und setzte auch den entscheidenden Impuls zur Präsentation der
Musikbibliotheken beim diesjährigen Bibliothekartag.
Nicht unerwähnt bleiben soll, dass eine Reihe von Kollegen auch in internationalen
musikbibliographischen Unternehmen wie RISM und RILM engagiert sind.
So betreut etwa die ÖNB das RILM (Repertoire Internationale de la littérature
musicale) für Österreich.
AUSBLICK
Die österreichischen Musikbibliotheken sind ein wichtiger Teil unserer
Bibliothekslandschaft. Die Qualität der an ihnen geleisteten Arbeit ist hoch.
Musikbibliotheken und musikbibliothekarische Praxis bewahren Musik, ermöglichen
Musik und ihre reflexive Durchdringung. Sie sind Grundlage und unverzichtbarer
Teil der Musikkultur unseres Landes.
89
RETROKATALOGISIERUNG AN DER MUSIKSAMMLUNG DERÖSTERREICHISCHEN NATIONALBIBLIOTHEK:AUSGANGSSITUATION – LÖSUNGSVARIANTEN
THOMAS LEIBNITZ
Um die Katalogsituation der Musiksammlung der ÖNB zu verstehen, ist es zunächst
notwendig, einen kurzen Blick in die Geschichte zu werfen, in deren Verlauf es zur
relativen Eigenständigkeit dieser Sammlung (sowie der anderen Sondersammlungen
des Hauses) kam. Musikbezogene Materialien wurden von der Hofbibliothek vom
Spätmittelalter an gesammelt, doch erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert
begann man mit einer eigenständigen Katalogisierung von Musikalien; diese waren
bis dahin in die allgemeinen Handschriften- und Druckschriftenkataloge integriert
gewesen. Ein markantes Beispiel dafür sind die „Tabulae codicum manu scriptorum“,
die ab 1864 in zehn Bänden erschienene Handschriftenaufnahme der Bibliothek,
die die Musikhandschriften in den Bänden 9 und 10 im Signaturenbereich Cod.
15.501 bis 19.500 erschloss. Die räumliche Selbstständigkeit der Musiksammlung
ab 1920 – in diesem Jahr übersiedelte sie in das Albertinagebäude, wo sie bis 2005
blieb – machte eine eigenständige Katalogisierung der Musikbestände notwendig,
mit Ausnahme allerdings der musikbezogenen Sekundärliteratur, die stets (und bis
heute) im Rahmen des allgemeinen Bücherbestandes erfasst wurde.
AUSGANGSSITUATION
Kurze Zeit nach ihrem Amtsantritt als Generaldirektorin im Juni 2001 definierte Johanna
Rachinger als strategisches Ziel der Bibliothek bis 2005 die Umwandlung sämtlicher
bestehender Zettelkataloge des Hauses, insbesondere der Sondersammlungen, in
Online-Kataloge. Die Katalogsituation der Musiksammlung bot zu diesem Zeitpunkt
folgendes Bild:
MUSIKDRUCKEAlter Katalog der Musikdrucke (Zettelkatalog, Großformat, hand- u. maschin-
schriftlich, erfasst Erwerbungen bis 1948): ca. 140.000 Aufnahmen
Neuer Katalog der Musikdrucke (Zettelkatalog, internationales Format,
maschinschriftlich, erfasst Erwerbungen von 1948 bis 1999): ca. 122.000
Aufnahmen
90
Katalog der Musikdruck-Serienwerke (Zettelkatalog, Großformat, hand-
schriftlich): ca. 50.000 Aufnahmen
Katalog der Sammlung Hoboken (gedruckter, mehrbändiger Bandkatalog,
erfasst die Erst- und Frühdrucksammlung Anthony van Hoboken): ca. 5.600
Aufnahmen
Aleph-Verbundkatalog (Online-Katalog ab 2000)
MUSIKHANDSCHRIFTEN Katalog der Musikhandschriften (Zettelkatalog, Großformat, hand- und
maschinschriftlich, erfasst Erwerbungen bis 1997): ca. 80.000 Aufnahmen
Nachlass- und Autographenkatalog (Online-Katalog ab 1997)
NACHLÄSSE Katalog der Fonds und Nachlässe (Zettelkatalog, Großformat, hand- und
maschinschriftlich, erfasst Erwerbungen bis 1997): ca. 30.000 Aufnahmen
Nachlass- und Autographenkatalog (Online-Katalog ab 1997)
TONTRÄGER Katalog der Tonträger (Zettelkatalog, internationales Format, erfasst Erwerbungen
von Schellacks, Schallplatten, Tonbändern und Compact Discs bis 1999): ca.
18.000 Aufnahmen
Aleph-Verbundkatalog (Online-Katalog ab 2000)
SEKUNDÄRLITERATUR Zettelkataloge wurden im Rahmen des Retroprojektes der Hauptabteilung
Bestandsaufbau und Bearbeitung digitalisiert
Die Nachteile, die aus dieser historisch gewachsenen, äußerst heterogenen und
inkonsistenten Katalogstruktur erwuchsen, brauchen nicht im Detail erläutert zu
werden; es genügt der Hinweis, dass ein Leser allein im Bereich der Musikdrucke
fünf Kataloge konsultieren musste, um eine Suchfrage vollständig zu bearbeiten.
Hinzu kam der Umstand, dass Teile des Zettelkatalogs, die dem 19. Jahrhundert
entstammten, wegen der verwendeten Kurrentschrift für einen erheblichen Teil der
Leserschaft unlesbar waren.
Der Wunsch, diese Situation grundlegend zu bereinigen, bestand in der Musiksammlung
bereits seit langer Zeit; allerdings bewegte sich jeder der denkbaren Reformschritte
in Dimensionen, die die Möglichkeiten des „Normalbetriebs“ weit überschritten. Die
naheliegende Lösung, die Zettelkataloge physisch zusammenzuführen, scheiterte
nicht nur am unterschiedlichen Zettelformat, sondern auch an unterschiedlichen
91
Regelwerken und Personenansetzungen. Vor allem aber, und das muss nüchtern
festgestellt werden, bestand lange Zeit seitens der Führung der ÖNB keine Strategie
und keine Zielvorgabe hinsichtlich der Sammlungskataloge des Hauses.
LÖSUNGSVARIANTEN
Das an der ÖNB entwickelte Programm „KatZoom“ bot sich zunächst als schnell
durchführbare Variante an: Bei „KatZoom“ wird in digitalisierten Imagekatalogen
analog zum Zettelkatalog gesucht. Es war freilich bereits zu diesem Zeitpunkt (2002)
durchaus absehbar, dass „KatZoom“ in der Katalogdigitalisierung nur eine Etappe
bleiben würde; zu gravierend sind die Nachteile: Die Zersplitterung der Kataloge
bleibt erhalten, die Irrtumsmöglichkeiten sind groß, eine nachträgliche Korrektur
des Katalogs ist ausgeschlossen. Im Falle der Musik wäre als zusätzliches Problem
die Tatsache hinzugetreten, dass der Katalog der Musikalien zwar alphabetisch nach
Komponisten, innerhalb des Komponisten jedoch systematisch nach Gattungen
geordnet ist, was die am Alphabet orientierte „KatZoom“-Suche außerordentlich
erschwert hätte.
Diesem grundsätzlich unzulänglichen Lösungsansatz stand als Maximalvariante die
komplette Neukatalogisierung des Gesamtbestands im Aleph-Verbund gegenüber.
Die Vorteile zu erläutern, ist beinahe müßig: Es wäre ein in sich geschlossener Online-
Katalog inklusive der online erfassten Neuerwerbungen ab 2000 entstanden, die
Neuerfassung hätte die Inkonsistenzen und Unvollkommenheiten der historischen
Kataloge überwunden. Als unübersteigbar erwiesen sich allerdings die Hürden
finanzieller und organisatorischer Art: Einer Überschlagsrechnung zufolge hätte
die Neuerfassung des Bestandes zehn Vollzeitarbeitskräfte für den Zeitraum von
zehn Jahren erfordert. Dies war sowohl mit dem zur Verfügung stehenden Budget
als auch mit dem Zeitrahmen des Projektes „Digitale Sammlungskataloge bis 2005“
unvereinbar.
So kam es zu einer Kompromissvariante, die sich als sehr effektiv erwies: Die
Zettel wurden gescannt und von einem externen Unternehmen kategorisiert
abgeschrieben, wobei detaillierte Erfassungsanleitungen dafür sorgten, dass der
Nachbearbeitungsaufwand in überschaubarem Rahmen blieb. Dass dieser dennoch
beträchtlich war, sollte nicht verwundern; nicht nur Abschrift- und Verständnisfehler
mussten korrigiert werden, auch zahlreiche Inkonsistenzen und Lücken des
Altkatalogs waren zu bearbeiten. Das Ergebnis konnte sich schließlich durchaus
sehen lassen:
92
– Sämtliche Sammlungsbestände (Musikhandschriften, Musikdrucke, Tonträger,
Nachlassbestände, mit Ausnahme allerdings der Neuerwerbungen ab 2000
und der Nachlassbestände im „Nachlass- und Autographenkatalog“ ab 1997)
sind nun in einem einheitlich strukturierten, online suchbaren Datenbestand
zusammengefasst (in www.onb.ac.at unter „Kataloge“ als „Katalog der Musik-
sammlung“).
– Es ist möglich, getrennt nach Materialarten (Musikdrucke, Musikhandschriften,
Tonträger, Dokumente) zu suchen.
– Die bisher auf die Funktionen eines Nominalkatalogs eingeschränkten
Suchmöglichkeiten wurden massiv ausgeweitet.
– Eine elektronische Bestellfunktion ermöglicht Recherche und Bestellung vom
Wohnsitz aus.
Folgende suchbare Kategorien stehen den Benützern zur Verfügung:
– Autor
– Titel (mit Verlags- und Kollationsangaben)
– Signatur
– Schlagwort 1: Materialart (Musikdruck, Musikhandschrift, Tonträger,
Dokument)
– Schlagwort 2: Gattungsgruppe (Dramatische Musik, Chormusik, Ensemble
vokal, Orchestermusik, Kammermusik, Solo instrumental)
Die Vergabe von Schlagwort 2 (Gattungsgruppe) ist noch in Arbeit; damit soll den
Benützern die Möglichkeit geboten werden, unabhängig von konkreten und nicht
immer bekannten Titelfassungen thematisch zu suchen. Ebenfalls in Arbeit ist die
Vereinheitlichung der Personenansetzungen nach PND, die auch die Suche mit
Nondeskriptoren ermöglicht (so führt z.B. die Suche nach „Tschaikowsky“, aber auch
nach „Tchaikovsky“ zu allen Treffern mit der korrekten Ansetzung „Čajkovskij“).
Für die Zukunft ist eine Integration dieses Katalogs in den Aleph-Verbund
ebenso ins Auge zu fassen wie die Verlinkung mit Volldigitalisaten. Und was die
„Annahme“ des neuen Mediums durch die Benützerinnen und Benützer betrifft:
Wenn das Ausbleiben von Beschwerden als Zustimmung anzusehen ist, dann
kann der neue Katalog der Musiksammlung als akzeptiert gelten (explizites Lob
gab es natürlich auch). Nostalgiker des Zettelkatalogs mögen sich damit trösten,
dass die digitalen Katalogaufnahmen auch jeweils den Blick auf den originalen,
gescannten Katalogzettel ermöglichen, vor allem aber, dass der historisch wertvolle
und geschichtsträchtige Zettelkatalog selbstverständlich weiterhin als Bestand der
Musiksammlung aufbewahrt wird.
93
ZUR PROBLEMATIK BEI DER RECHERCHE VON MUSIKALIEN IN ONLINE-KATALOGEN
ROBERT SCHILLER
Bei der Autor- und Titelsuche nach Musikalien – genauer gesagt nach Musikalien
durch Durchführung von Recherchen in Online-Katalogen nach ihren auf die
konkreten Bestandsexemplare referierenden bibliographischen Nachweisen – ist man
mit außer gewöhnlichen Schwierigkeiten konfrontiert. Wie schwierig diese Suchen
wirklich sind, wird den Musikbibliothekaren immer dann besonders deutlich, wenn
sie selbst erfolglos im Online-Katalog nach einem Titel recherchieren, vom dem sie
aus dem Gedächtnis wissen, dass ein entsprechendes Exemplar in der Bibliothek
vorhanden ist. Die Folgen dieses Misserfolges sind aber noch vergleichs weise
harmlos; man schließt dann zumeist folgerichtig auf Fehler in den Katalogangaben
oder auf Fehler in der Suchstrategie.
Ich werde lediglich für einen Teilbereich des gesamten Notenrecherche-Problemkomplexes,
den gänzlich zu umreißen hier zu weit führen würde, versuchen darzustellen,
(1) mit welchen Schwierigkeiten schon einfachste Nominal-Recherchen verbunden
sind,
(2) welche Auswirkungen diese Probleme in den Treffermengen zeitigen und
(3) welche Lösungsansätze sinnvoll erscheinen.
Betrachten wir eingangs ein einfaches Suchexempel, das die Veränderungen
von Trefferquoten bzw. Ausbeuten (oder Recalls) bei Variation der verwendeten
Suchbegriffe anschaulich machen soll. Recherchiert wurde im Online-Katalog
der Universitätsbibliothek der Kunstuniversität Graz (im Folgenden „UBKUG“
genannt), wobei bei der Recherche die Grundgesamtheit stets von vornherein auf
Musikalien (Noten und Tonträger) eingeschränkt wurde.1
Die in den Beispielsuchen verwendeten Suchwörter entstammen dem Suchvokabular
unserer Lesern.
1 Ca. 54.000 Musikalientitelsätze (rd. 66.000 Exemplare).
94
Stichwortsuchen nach Mozarts „Hochzeit des Figaro“
Suchterme Treffer Recall/Ausbeute2
(Mozart & Hochzeit) 33 50%
(Mozart & Nozze) 66 100%
Die unterschiedlichen Ausbeuten der beiden Suchen sind einfach zu erklären.
Der Suchbegriff „Mozart“ ist zumindest als Teil des nach RAK angesetzten
Verfassernamens Bestandteil aller relevanten bibliographischen Datensätze,
„Hochzeit“ ist nur in der Hälfte aller relevanten Datensätze Bestandteil des
Hauptsach- oder Parallelsachtitels. Der Suchbegriff „Nozze“ ist entweder selbst
Teil des Hauptsach- oder Parallelsachtitels oder sonst jedenfalls Teil des nach RAK-
Musik gebildeten Einheitssachtitels (in diesem Fall der Originalsachtitel; die RAK
bezeichnen solche Titel auch als individuelle Benennung eines Werks).
Es besteht aus formaler Sicht noch kein grundsätzlicher Unterschied zwischen dieser
Recherche und einer Suche nach allgemeiner bzw. schöngeistiger Literatur, z.B. nach
Shakespeares „Romeo und Julia“ mit dem Suchterm (Shakespeare & Romeo & Julia),
wobei man im Fall der Shakespeare-Recherche mit den angegebenen Suchbegriffen
als Treffer generell Übersetzungen des Werkes ins Deutsche erwarten darf, im Fall
der Mozart–Hochzeit–Recherche aber generell nur Ausgaben mit Übersetzungen
des Werktitels ins Deutsche (ob der gesungene Text selbst in Deutsch vorliegt, bleibt
dabei unklar).
Stichwortsuchen nach Mozarts Klarinettenkonzert
Suchterm Treffer Ausbeute
(Mozart & Klarinettenkonzert) 5 18%
(Mozart & Konzert & Klarinette) 15 55%
Stichwortsuche nach Klavierquintett von Josef Suk
Suchterme Treffer Ausbeute
(Suk & Klavier & Quintett) 0 0%
2 Der Recall beschreibt die Vollständigkeit eines Suchergebnisses. Er ist defi niert als der
Anteil der bei einer Suche gefundenen relevanten Dokumente (bzw. Datensätze) an
den relevanten Dokumenten der Grundgesamtheit.
95
Es ist klar, dass mit den gezeigten Suchen nur die Ausgaben gefunden wurden, deren
Titelangaben in der formalen Beschreibung die angegebenen deutschen Suchbegriffe
enthalten.
Es ist eine Besonderheit der instrumental-musikalischen Werkbenennung, dass
von Komponisten und Musikern häufig Werktitel gebildet werden, die formale
oder gattungsspezifische, besetzungsbezogene und andere spezifizierende oder
individualisierende Bezeichnungen enthalten (z.B. „Konzert für Violine und
Orchester“)3. Parallelfälle in der Literatur sind dagegen Ausnahmen (wie z.B.
die Bezeichnung „Gedicht“ oder „Sonett“). Vergleichsweise selten werden für
Instrumentalkompositionen individuelle Benennungen gebildet, wie beispielsweise
Schumanns „Kinderszenen“ oder die Streichquartette, die Puccini „Crisantemi“
nennt.
Der Einheitssachtitel der Werke wird in diesen Fällen gemäß RAK-Musik als
Formalsachtitel gebildet. Sein Zweck ist es, verschiedene Ausgaben einer bestimmten
instrumentalen Komposition, für die keine individuelle Benennung existiert, an
gleicher Stelle im Katalog nachzuweisen.4 Für die Bildung des Einheitssachtitels
wird im Unterschied zu schöngeistiger Literatur nicht der originale Titel des Werkes
verwendet, sondern unter anderem Angaben zu dessen Form oder Gattung und
Besetzung (günstigerfalls auch eine Werknummer).
Die zu erwartende Frage des laienhaften Lesers, die er uns etwa angesichts des
dargestellten Sachverhaltes stellen wird, lautet nun: „Ja, kommen denn meine
Suchbegriffe wie „Konzert“ und „Klarinette“ nicht zumindest im Einheitssachtitel
vor?“ Die beschämende Antwort des ehrlichen Musikbibliothekars: „Nun, wenn
ich’s genau nehme, nein!“. Der korrekte Einheitssachtitel im Mozartbeispiel sieht
nämlich folgendermaßen aus:
Konzerte, Klar Orch, KV 622.
Und im Suk-Beispiel so:
Quintette, Vl 1 2 Va Vc Kl, op. 8.
Der Gattungsbegriff erscheint im Formalsachtitel im Plural (ich nenn’s deswegen das
Pluralproblem), die Instrumentenangaben sind abgekürzt (ich nenn’s deswegen das
Abbreviationsproblem). Wenn die OPACs der Bibliothekssysteme nicht automatisch
die „Suchstrings“ bei der Stichwortrecherche rechtstrunkieren – was sie generell
3 Brahms bezeichnet sein Violinkonzert in der autographen Partitur lediglich als „Con-
cert“, der Erstdruck gibt unter anderem an: „Concert für Violine“.
4 Wobei es gleichgültig ist, ob der Nachweis im Zettelkatalog erfolgt oder in einer nach
dem Einheitssachtitel sortierten Treff erliste im Online-Katalog.
96
nicht tun –, dann kommt „Konzert“ im angeführten Formalsachtitel sozusagen gar
nicht vor.
Das Argument, dass sich die Leser vor ihrer Recherche mit der Bildung von
Einheitssachtiteln befassen sollten, ist ungültig und beschämend.
Wir gestehen dem verwirrten Leser noch: „Hm, der Formalsachtitel ist für die Leser
bei der Recherche in Online-Katalogen leider keine große Hilfe.“ –
Ich habe zuvor die Recalls bezogen auf die Titeltreffer und nicht exemplarbezogen
berechnet und angegeben. Was dem Leser aber bei seiner Literatursuche entgeht,
sind ja die ihm gewissermaßen vorenthaltenen Exemplare (denn in den meisten
Fällen wünscht er oder sie die Bibliothek zu verlassen mit Notenheften unterm
Arm und nicht mit Titeldaten). Umgerechnet auf die Exemplare sieht es noch
schlimmer aus:
Suchterme Titeltreffer Titelrecall Exemplare Ausbeute
(Mozart & Klarinettenkonzert) 5 18% 5 16%
(Mozart & Konzert & Klarinette) 15 55% 15 50%
Berücksichtigt man nun noch die Quote entlehnter Exemplare, so tritt häufig der Fall
ein, dass der Leser die Bibliothek mit leeren Händen verlässt, obwohl die benötigten
relevanten Exemplare, deren Titelangaben trotz korrekt geleisteter Katalogisierungs-
arbeit einfach nicht recherchiert werden konnten, in den Magazinen liegen!
Dies veranlasst uns hier die nachfolgende milchmädchen- und stallknechtpsychologische
Generalisierung G einzukeilen:
Wenn eine Person P in einem durch sie selbst bestimmten Zielbereich Z einen
Gegenstand G sucht, von dem sie nicht weiß, ob er in Z existiere, und G in Z nicht
finden kann, so wird P glauben, dass G in Z nicht existiere.
Wir leiten daraus folgende für uns wichtige Nutzanwendung ab. Wenn der
Studierende über den Online-Katalog in den Titeldaten der UBKUG nach dem
musikalischen Werk „Quintett von Suk“ sucht, das Quintett von Suk aber über
den Online-Katalog in den Titeldaten der UBKUG nicht finden kann, so wird
der Studierende glauben, dass das Werk „Quintett von Suk“ in der UBKUG nicht
existiere.
Wie wir gesehen haben, lässt sich der Suk-Such-Fall unter die Generalisierung G
subsumieren; epistemisch oder erkenntnistheoretisch betrachtet bedeutet dies, dass
der Glaube, zu dem der Studierende gelangt, zwar gerechtfertigt, aber falsch ist: Die
UBKUG besitzt ein Exemplar des Quintetts von Josef Suk.
Bei der Milderung des Problems kann verbale inhaltliche Erschließung, die die Aspekte
97
musikalische Form bzw. Gattung und Besetzung berücksichtigt, helfen. Neben
dem Nutzen, den sie natürlich für die inhaltliche Suche und vor allem für die für
Musikbibliotheken so wichtige Suche nach Besetzungen hat, stellt verbale inhaltliche
Erschließung auch für die Autor-Titelsuche äußerst bedeutsame Suchtermini zur
Verfügung. Für die Stichwortrecherche stehen in der UBKUG-Datenbank bei
inhaltlich erschlossenen Titeln wie im Fall des Suk-Quintetts folgende zusätzliche
Recherchewörter zur Verfügung:
Quintett
Violine 1 2
Viola
Violoncello
Klavier
Stimmen
Musikdruck.
Die Suche nach Suks Quintett verläuft nun gänzlich anders und ihr Ergebnis sieht
folgendermaßen aus:
Stichwortsuche nach Quintett von Josef Suk
Suchterme Treffer Ausbeute
(Suk & Quintett & Klavier) 1 100%
Die Schlagwörter für die inhaltliche Erschließung wurden aufbauend auf dem
Entwurf der RSWK-Musik5 bei uns gebildet. Die Schlagwörter lösen, abgesehen
davon, dass sie eine thematische – im Falle von Musikalien – insbesondere auch
eine Form- und Besetzungssuche ermöglichen, die beiden genannten Probleme: das
Pluralproblem und das Abbreviaturproblem.
Wir haben oben bemerkt, dass die Dekomposition von Suchbegriffen die
Trefferausbeute erheblich verbessert hat, zur Erinnerung:
Suchterme Titeltreffer Titelrecall Exemplare Ausbeute
(Mozart & Klarinettenkonzert) 5 18% 5 16%
(Mozart & Konzert & Klarinette) 15 55% 15 50%
5 Regeln für den Schlagwortkatalog (RSWK), Musikalien und Musiktonträger. Entwurf.
Berlin 1991.
98
Die Dekomposition von Suchbegriffen wird aber üblicherweise von Lesern
zumindest nicht gezielt eingesetzt, sondern eher zufällig. „Klarinettenkonzert“ ist
einfach aus der Sicht, korrekter: aus der Begrifflichkeit des Lesers ein für diese
Suche adäquat erscheinender Suchbegriff. Das Kompositumproblem, wie ich es
nenne, wird durch die verbale inhaltliche Erschließung nicht gelöst und bleibt
somit weiter bestehen.
Dessen Lösung erscheint aber einfach: Man muss eben die bibliographischen
Datensätze mit den entsprechenden relevanten, über die bloße formale, titel-
bezogene Erschließung hinausgehenden Suchtermini versorgen, damit sie für die
Stichwortrecherche zur Verfügung stehen. Die einfachste Möglichkeit besteht
darin, ein Fußnotenfeld dafür zu verwenden. Viel zielführender aber scheint mir
der Ansatz, Alternativformen für den Einheitssachtitel zu hinterlegen und in einer
EST-Datei zu pflegen. Damit umgeht man die Schwierigkeit, dass man etwa bei
zusätzlicher Eintragung des Schlagwortes „Klarinettenkonzert“ der gemäß RSWK
verschlagworteten Sekundärliteratur ins Gehege kommt (eine einfache material-
bzw. medienbezogene Trennung müsste in musikbibliographischen Datenbanken
aber ohnedies Standard sein; mediengruppenbezogene Einschränkungen werden
bei den Suchen in der UBKUG regelmäßig verwendet). Die nunmehrige in allen
Beispielen stark verbesserte Ausbeute allein rechtfertigt dieses Vorgehen.
Oft empfehlen wir unseren Lesern nur mit dem Komponistennamen im Verfasserfeld
und der Werkverzeichnis- oder Werknummer im Stichwortfeld zu recherchieren.
Diese Suchstrategie ist in vielen Fällen zielführend, aber nicht in allen (es gibt
hierbei jede Menge Fußangeln, vor allem jene der individuellen Benennungen); die
wenigsten Leser verfallen aber sozusagen auf diese Strategie von sich aus bzw. aus
ihrer Suchbegrifflichkeit heraus. Die oben beschriebene Anreicherung der Daten
scheint jedenfalls mehr als gerechtfertigt. Weiters müssen bibliographisch korrekte
Beschreibungen um Zitiertitel und ähnliches bereichert werden, damit ein Auffinden
auch für diese Fälle gewährleistet ist.
Es gibt also noch viel zu tun (ich erinnere noch an die Problematik gezielt nach
musikalischen Ausgabeformen oder Epochen zu suchen), damit ein für den
Musikbibliotheksbenützer erfolgreiches und zufriedenstellendes Auffinden von
Musikalien und eine für Bibliotheken zufriedenstellende Bestandsnutzung möglich
sind.
SCHULBIBLIOTHEKEN
100
UNTERRICHTSMODELL ZUR ENTWICKLUNG VON INFORMATIONSKOMPETENZ BEI SCHÜLERN DER GYMNASIALEN OBERSTUFE
ANDREAS KLINGENBERG
Wir sprechen heute von der Informationsgesellschaft, weil viele Lebensbereiche
von Informationen abhängig sind. Andererseits finden wir uns in einer Flut von
Informationsangeboten wieder. Der kompetente Umgang mit Informationen ist
inzwischen die Schlüsselqualifikation.
Auch in der breiten Öffentlichkeit ist, insbesondere durch das schlechte Abschneiden
der deutschen Schüler bei den PISA-Studien, aber auch durch andere Bildungsstudien,
eine Bildungsdiskussion in Gang gekommen. Eine der vielen Erkenntnisse ist, dass
weniger Faktenwissen vermittelt werden sollte, sondern Schüler in die Lage versetzt
werden müssen, Probleme eigenständig zu lösen und selbständig zu lernen.
VORGESCHICHTE
Das „Unterrichtsmodell zur Entwicklung von Informationskompetenz bei
Schülern der gymnasialen Oberstufe“1 entstand aus den Erfahrungen während
eines Praktikums in der Schulbibliothek des Gymnasiums Käthe-Kollwitz-Schule,
Hannover. Ausgelöst durch bevorstehende Referate wurden von den Schülern immer
wieder Rechercheanfragen an den Verfasser herangetragen. Aus Gesprächen auch
mit den Lehrern wuchs die Idee, Schulungen für die Literaturrecherche anzubieten.
Die Rechercheeinführungen sollten zur Vorbereitung auf die Facharbeit dienen, die
in Niedersachsen in der Oberstufe Pflicht ist.
RECHERCHEEINFÜHRUNG
Die Rechercheeinführungen fanden in einer Doppelstunde vor Beginn der
Bearbeitungszeit der Facharbeit in fünf Leistungskursen statt. Inhalte der
Einführungen waren:
– Recherchevorbereitung: Thema festlegen, Suchbegriffe sammeln, Informations-
quellen auswählen
1 In: Neues für Bibliotheken, Neues in Bibliotheken, hg. von Rolf Fuhlrott. Wiesbaden
2006 (= B.I.T. online: Innovativ; 12).
101
– Bibliotheksrecherche: Welche Bibliotheken gibt es in Hannover, welches sind ihre
Bestände, wie funktioniert der Online-Katalog?
– Internetrecherche: Was ist ein Katalog, was eine Suchmaschine, was eine
Metasuchmaschine, wie gestaltet sich eine fachbezogene Recherche im
Internet?
– Wissenschaftliche Arbeiten: Was macht eine wissenschaftliche Arbeit aus, wie ist
der Aufbau, wie gestaltet man ein Literaturverzeichnis?
Die Erfahrungen zeigten deutlich, dass die Zeit viel zu knapp bemessen war: In
90 Minuten konnten die aufgeführten Themen nicht ausführlich genug behandelt
werden, für Übungen blieb nur sehr wenig Zeit. Es zeigte sich auch, dass die Schüler
zur Internetrecherche ausschließlich eine Suchmaschine nutzten und nur mit einem
Begriff suchten. Es war klar, dass für ein Unterrichtsmodell ein Schwerpunkt auf die
Internetrecherche gelegt werden musste.
RECHERCHEPROTOKOLL
Für die Facharbeit im Leistungskurs Englisch mussten die Schüler die einzelnen
Schritte ihrer Suche in einem Rechercheprotokoll festhalten. Geforderte Elemente
waren:
– Thema
– genutzte Informationsmittel
– Suchanfrage/Sucheinstieg
– Ergebnis der Recherche
Das Protokoll ermöglichte einen guten Überblick über die Suche, was die Schüler
als hilfreich empfanden. Das Rechercheprotokoll konnte auch Bewertungsgrundlage
für den Lehrer sein. Die Auswertung zeigte, dass fast alle Schüler das Internet
als Informationsquelle genutzt hatten, und zwar obwohl nur wenig Fähigkeiten
in der Nutzung von Suchmaschinen vorhanden waren. Eine Schlussfolgerung
für ein Unterrichtsmodell musste deshalb auch an dieser Stelle sein, in Zukunft
einen Schwerpunkt auf die Internetrecherche zu legen. Die Wissenschaftlichen
Bibliotheken wurden nur wenig genutzt; die Befragung von Experten wurde von
fast keinem Schüler in Erwägung gezogen.
Aber die Schüler kamen durch das Rechercheprotokoll auch zu erstaunlichen
(Selbst-)Erkenntnissen. Zwei Zitate können dies beispielhaft belegen:
„[...] but I found out that most of the things that were published on the internet
could also be found in the books I had [...]“.
102
Das Internet war also nicht unbedingt die einzige oder bessere Quelle.
„The best source of information was obviously the library.“
Dieser Schüler hatte erkannt: Die Bibliothek liefert wichtige (die besten)
Informationen zur Lösung seiner Frage, seines Problems. Dies war für alle Beteiligten
eine äußerst erfreuliche Erkenntnis.
INFORMATIONSKOMPETENZ
Die gängige Definition der Informationskompetenz stammt aus dem Final Report2
des Presidential Committee on Information Literacy der American Library
Association (ALA). Daraus lassen sich vier Elemente der Informationskompetenz
ableiten:
– einen Informationsbedarf zu erkennen,
– Informationen zu beschaffen,
– Informationen zu bewerten
– und Informationen effektiv zu nutzen.
Als informationskompetenter Schüler wird man demnach zunächst einen Bedarf
an Informationen zur Lösung eines spezifischen Problems erkennen. Des Weiteren
wird der Schüler Quellen ausfindig machen und Suchstrategien anwenden. Er muss
schließlich entscheiden: Helfen die gefundenen Informationen zur Lösung meines
Problems? Und der Schüler muss das Gefundene in den eigenen Wissensbestand
integrieren, er muss lesen, muss verstehen. Wenn gewünscht, können die
Informationen schließlich an andere weitergeben werden, entweder gesprochen
oder schriftlich, als Hausarbeit oder in Form eines Vortrags.
Für das Unterrichtsmodell hat der Verfasser die Standards der Informationskompetenz
für Schüler3 betrachtet. Als weitere Anregung dienten die Angebote für Schüler von
Bibliotheken in Deutschland. In den bisherigen Benutzerschulungen wurde der
Online-Katalog, manchmal noch alte Zettelkataloge vorgestellt. Es ging um die
verschiedenen Standorte und natürlich um die Ausleihmodalitäten. Es ging also in
2 American library association presidential committee on information literacy: fi nal
report, URL: http://www.ala.org/ala/acrl/acrlpubs/whitepapers/presidential.htm
(15.11.2006).
3 American association of school librarians ; association for educational communications
and technology: Information literacy standards for student learning, URL: http://www.
ala.org/ala/aasl/aaslproftools/informationpower/InformationLiteracyStandards_fi nal.
pdf (15.11.2006).
103
der Regel um die Vermittlung der eigenen Bestände. Die Internetrecherche blieb
meist wenig oder gar unberücksichtigt.
Dazu kommen heute weitere Angebote der Bibliotheken unter Schlagwörtern wie
Lesekompetenz, Medienkompetenz und eben Informationskompetenz. Leseförderung
findet dabei in der Regel für das Grundschulalter statt, auch Medienkompetenz
hat eher die unteren Jahrgangsstufen als Zielgruppe. Informationskompetenz
ist in der Regel Thema der Angebote Wissenschaftlicher Bibliotheken für ihre
Studierenden. Angebote für ältere Schüler, für Oberstufenschüler zur Vermittlung
von Informationskompetenz gibt es praktisch nicht. Das Ziel des Unterrichtsmodells
und die Motivation des Verfassers war es, diese Lücke zu schließen.
Die erfolgversprechenden Konzepte für Studenten wurden genauer betrachtet.
Die folgenden drei flossen letztlich in die Arbeit ein: Das von Benno Homann
entwickelte Dynamische Modell der Informationskompetenz (DYMIK), das
Lernsystem Informationskompetenz (LIK) von Detlev Dannenberg und die
Bibliothekspädagogik von Holger Schultka.
Die wichtigsten Erkenntnisse aus den verschiedenen Konzepten waren zum
einen die Individualität von Lösungsstrategien und Recherchewegen. Jeder sucht
auf seine Weise, jeder hat einen eigenen Lösungsansatz und eine individuelle
Problemlösungsstrategie. Andererseits zeigte sich, dass ein Informationsprozess
nicht linear, sondern viel mehr netzartig verläuft. Der Suchende springt immer
wieder zurück und ändert seine Suchstrategie, weil er auf andere, neue Suchbegriffe
gestoßen ist oder neue Ideen erst während der Recherche bekommen hat. Eine
weitere Erkenntnis, die schon über das Unterrichtsmodell hinausgeht, war die
Notwendigkeit der Kooperation unterschiedlicher Bildungseinrichtungen und der
Bibliotheken.
VORÜBERLEGUNGEN
Das folgende Zitat hebt noch einmal den Unterschied zwischen den bisherigen
Benutzerschulungen und der Vermittlung von Informationskompetenz hervor: „We
must de-emphasize the mechanics“4 meint, dass man wegkommen muss von der
ausschließlichen Erläuterung des Kataloges, der Systematik oder ähnlichem, um
so den Wandel von reinen Benutzerschulungen zur Vermittlung von Informations-
kompetenz zu vollziehen.
4 Esther S. Grassian, Joan R. Kaplowitz: Information literacy instruction. Th eory and
practice. New York u.a. 2001, 9.
104
Folgende Vorüberlegungen spielen für die Vermittlung von Informationskompetenz
an Schüler – und hier zunächst einmal ganz konkret in der Schule – eine Rolle:
– Räumliche und technische Ausstattung: Aus den Räumen der Schule sollte ein
Zugang zum Online-Katalog der örtlichen Bibliotheken möglich sein sowie ein
Zugang zum Internet allgemein.
– Kenntnisstand der Zielgruppe: Wie gut sind die Fähigkeiten der Schüler in der
Computernutzung, wie gut in der Bibliotheksbenutzung? Welche Bibliotheken
kennen die Schüler, welche nutzen sie regelmäßig?
– Selbstbestimmtes, selbständiges Lernen: Jeder Mensch lernt auf andere Art und
Weise, hat eigene Problemlösungsstrategien.
– Schließlich sollte das Ziel der Bemühungen sein, den Schülern ein Gesamtkonzept
der Informationskompetenz zu vermitteln und somit einen großen, übergeordneten
Rahmen zu schaffen.
UNTERRICHTSEINHEITEN
Zu Beginn jeder Unterrichtseinheit sind Bezüge zu den Standards der
Informationskompetenz hergestellt, um die Lernziele genauer zu definieren. Es
werden die Inhalte und die eigentliche Idee der Unterrichtseinheit beschrieben. Im
Anhang finden sich passende Arbeitsblätter zur Umsetzung.
Das Unterrichtsmodell umfasst zahlreiche Elemente: Eine Unterrichtseinheit
beschäftigt sich mit dem experimentellen Vergleich von Internetsuchdiensten. Sie dient
dem Kennenlernen unterschiedlicher Suchdienste, um die Schüler zur Verwendung
auch anderer Suchmaschinen anzuregen. Die Schüler sollen außerdem lernen, die
angebotenen Hilfetexte bei den Suchanbietern zu nutzen. Schließlich sollen die
Schüler entscheiden können, wann sie sinnvoller Weise welchen Dienst benutzen.
Die Einheit zu weiteren Methoden der Informationsbeschaffung soll die Schüler
animieren, durch Ausprobieren auch andere Quellen zur Problemlösung heran-
zuziehen. Dazu kann das Befragen anderer Personen zählen; hinzu kommt der
Besuch eines Archivs oder der Impuls, eigene Umfragen durchzuführen.
Eine weitere Unterrichtseinheit beschäftigt sich mit den verschiedenen Arten von
Informationsquellen und -trägern. In dieser Einheit geht es um die Sensibilisierung der
Schüler für das Thema „Information“. Es sollen die richtigen Fragen zum Schlagwort
Informationsgesellschaft gestellt werden:
– Was sind Informationen?
– Wie findet man Informationen?
105
– Wer produziert Informationen?
– Wer publiziert Informationen?
– Wer benötigt Informationen?
– Was kosten Informationen?
– Wer bezahlt Informationen?
Im offenen Gespräch mit den Schülern werden zunächst Beiträge gesammelt, die in
Zusammenhang mit dem Begriff Information stehen. Dabei geht es zunächst um
das bereits vorhandene Wissen der Schüler. Münden kann ein solches Gespräch in
der Aufstellung von Informationsquellen und -trägern, darstellbar beispielsweise in
einer Mind Map.
Die Schüler sollen außerdem unterschiedliche Quellen kennen lernen und unter-
scheiden können. Dazu kann ihnen die Rechercheaufgabe gestellt werden, Hintergrund-
informationen zu bestimmten Quellen zu sammeln. Anhand eines Fragenkataloges
sowie der Auflistung von Vor- und Nachteilen für Produzenten und Nutzer können nun
Portraits einzelner Medien erstellt werden, die die Schüler untereinander präsentieren.
Dies ist auch sinnvoll im Hinblick auf die Bewertung gefundener Informationen und
deren Verlässlichkeit.
ERKENNTNISSE
Erkenntnisse aus der Arbeit am Unterrichtsmodell waren unter anderem: Es gibt
einen grundsätzlichen Bedarf der Schüler nach Informationskompetenz, aber auch
einen ganz praktischen durch Facharbeit und Seminarfach. Auf der anderen Seite
findet die Vermittlung von Informationskompetenz an Oberstufenschüler nicht
oder nur vereinzelt statt.
Die Motivation für die Kooperation zwischen Fachhochschule Hannover und Käthe-
Kollwitz-Schule war diese Lücke zu schließen. Warum ist eine Kooperation sinnvoll?
Bibliothekare und Informationsspezialisten besitzen Informationskompetenz. Lehrer
besitzen die pädagogische und didaktische Kompetenz, um solche Fähigkeiten zu
vermitteln. Die Hoffnung des Verfassers ist, dass die Arbeit zum Ausprobieren
animiert und die vorgeschlagenen Unterrichtseinheiten konkrete Anwendung
finden. Darüber hinaus hat die Diskussion mit Lehrern und die Arbeit an dem
Unterrichtsmodell ergeben, dass eine Professionalisierung auf beiden Seiten – also
bei Lehrern und Bibliothekaren – nötig ist. Eine Kooperation macht also Sinn.
106
INFORMATIONSKOMPETENZ FÜR SCHÜLER – DER VEREIN INFOKOS UND DAS PROJEKT AN DER FACHHOCHSCHULE HANNOVER
ANDREAS KLINGENBERG
Das Projekt zur Vermittlung von Informationskompetenz an Schüler startete unter
der Leitung des Verfassers zum Wintersemester 2005/06 und hatte entsprechend
der Studienordnung eine Laufzeit von einem Jahr. Teilnehmer waren 20 Studierende
aus dem Studiengang Informationsmanagement der Fachhochschule Hannover. Das
Gymnasium Käthe-Kollwitz-Schule, Hannover, diente als Kooperationspartner
unter anderem als Praxis- und Experimentierfeld für das Projekt.
ZIELE
Die Fragestellung zu Beginn des Projektes lautete: Wie kann Schülern der Oberstufe
Informationskompetenz vermittelt werden? Die Ziele wurden in Gesprächen mit
Lehrern der Käthe-Kollwitz-Schule festgelegt. Als wichtigstes Ziel wurde vereinbart,
informationskompetente Schüler zu erreichen sowie konkrete Unterrichtseinheiten
zu entwerfen, die dieses Ziel unterstützen können. Auf der anderen Seite war klar,
dass auch die Informationskompetenz der Lehrer gestärkt werden muss. Schließlich
sollten Konzepte für das in Niedersachsen neu eingeführte Seminarfach entwickelt
werden.
ARBEITSGRUPPEN
Die Themenschwerpunkte wurden in fünf
Arbeitsgruppen umgesetzt, die im folgenden
genauer vorgestellt werden.
RECHERCHEHANDBUCHDie erste Arbeitsgruppe beschäftigte sich mit
dem Erstellen eines Handbuches für Schüler zur
Hilfe bei der Recherche und zur Vermittlung
der Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens.
Das sogenannte Recherchehandbuch enthält
107
ein Glossar bibliothekarischer und anderer Fachbegriffe und Einführungen in
grundlegende Recherchetechniken. Das gedruckte Handbuch wird im Unterricht der
Käthe-Kollwitz-Schule eingesetzt. Es ist auch in elektronischer Form verfügbar1.
Zu den Inhalten des Recherchehandbuches zählen unter anderem folgende
Kapitel:
– Durchführung der Recherche (darin: Vorbereitung der Recherche, Typologie von
Suchdiensten und konventionellen Medien, Aufbau einer Recherchestrategie,
Übersicht hannoverscher Bibliotheken, wichtige Kataloge für die Medienrecherche,
Operatoren, Klammerung, Phrasensuche, Platzhalter, Trunkierungsmöglichkeiten
sowie Übungen)
– Evaluation der Ergebnisse (darin: Analyse der Misserfolge bei der Recherche,
Bewertung der Ergebnisse, Quellen kritisch hinterfragen)
– Weiterverarbeitung der Ergebnisse (darin: Auswertung der gefundenen Materialien,
Anleitung zur Erstellung wissenschaftlicher Arbeiten, Vorgaben der Käthe-
Kollwitz-Schule für die Facharbeit)
– Präsentationstechniken (darin: Präsentationen ansprechend gestalten, Hinweise
zu Artikulation und Körpersprache, Tipps für Präsentationen mit Power Point
und Overheadprojektoren)
– Zitiertechniken (darin: Verwendung von Zitaten in wissenschaftlichen Arbeiten,
korrektes Zitieren, Belegen der Zitate, Anlegen eines Literaturverzeichnisses,
Titelaufnahme bzw. Quellenangabe, Zitieren von Internet-Veröffentlichungen)
1 URL: http://www.infokompetenz.de/fi les/Recherchehandbuch.pdf.
108
Neben den inhaltlichen Aspekten war der Arbeitsgruppe eine übersichtliche
Gestaltung wichtig, z.B. die schnelle Orientierung anhand der Symbole am
Rand. Das Monitor-Symbol dient als Erkennungszeichen für alle elektronischen
Informationsmittel, die Glühbirne als Symbol für besondere Tipps. Alle Fachbegriffe
haben einen Verweis auf das Glossar, zu erkennen an Pfeil und Kursivdruck.
SCHULUNGEN FÜR SCHÜLEREine andere Arbeitsgruppe führte Schulungen für Schüler durch. In diesen
Einführungen ging es z.B. um verschiedene Informationsquellen, die die Schüler
kennen lernen sollten. Auch die Recherche, insbesondere im Internet wurde ausführlich
thematisiert. Angesprochen wurden Vorträge, Referate und Präsentationstechniken
sowie Hausarbeiten und die Problematik von „copy & paste“, Plagiaten, Abschreiben
usw. Schließlich wurden Zitiertechniken vermittelt und der Umgang mit Textver-
arbeitungsprogrammen.
Ziel dieser Arbeitsgruppe war es, Schulungen durchzuführen und daraus übertragbare
Unterrichtskonzepte in Form einzelner Unterrichtsstunden zu entwickeln, die von
anderen nach genutzt werden können sowie Arbeitsblätter und Übungsaufgaben zu
erstellen. Bei diesen Schulungen war die Absprache mit den Lehrern sehr wichtig,
z.B. damit der thematische Bezug zum Unterricht hergestellt werden konnte oder um
Vorkenntnisse zu klären. Weiterhin wichtig bei den Schulungen war, dass zumindest
ein Drittel der Zeit für Übungen reserviert war. Es wurden vorzugsweise weniger
Inhalte vermittelt, statt dessen mehr Ausprobieren und Experimentieren der Schüler
ermöglicht.
FORTBILDUNGEN FÜR LEHREREine weitere Arbeitsgruppe beschäftigte sich mit der anderen Seite: Auch die Lehrer
müssen ihre Informationskompetenz stärken. Und sie müssen bei der Vermittlung
von Informationskompetenz an Schüler fachlich unterstützt werden. Im Frühjahr
2006 wurden drei Fortbildungen für Lehrer mit zusammen über 80 Teilnehmern
durchgeführt. Inhalte der Fortbildungen waren z.B. plagiierte Schülerarbeiten und
gezielte Suchstrategien im Vergleich zu „trial and error“. Behandelt wurden auch die
Themen Internetsuchdienste und Webseitenbewertung.
Es gab hier schon erste Ansätze, das Projekt auszuweiten: Die Fortbildung zum
Seminarfach beispielsweise wurde regional, also über die Käthe-Kollwitz-Schule
hinaus angeboten. Mit der enormen Teilnehmerzahl von 63 Lehrern hatte das
Projektteam nicht gerechnet.
109
SUCHPORTALEine vierte Arbeitsgruppe des Projektes beschäftigte sich mit der Schaffung eines
Internet-Portals2 für Schüler. Ziel war es, Schüler insbesondere in Recherchefragen zu
unterstützen. So zählen zu den Inhalten des Portals unter anderem eine elektronische
Fassung des bereits erwähnten Recherchehandbuches sowie Linksammlungen zu
einzelnen Unterrichtsfächern. Es gibt verschiedene Kategorien von Links, der
Bereich mit Hinweisen zum Erkennen von Plagiaten und Unterrichtsvorschlägen
ist Lehrern vorbehalten. Im Portal finden sich Tipps und Tricks für Schüler und
unter „Downloads“ die Übungsblätter aus den Schulungsveranstaltungen. Außerdem
kann über eine Art Forum der Austausch der Schüler über Jahrgänge und Klassen
hinweg ermöglicht werden.
Werbung spielte in der Projektarbeit eine große Rolle: Nicht nur für die Fortbildungen
mussten die Lehrer mobilisiert werden. Auch für das Suchportal wurden eigens
gestaltete Plakate in der Schule ausgehängt, die insbesondere die Schüler ansprechen
sollten. Das zusätzlich ursprünglich geplante E-Learning-Modul war mit dem Zeit-
und Personaleinsatz leider nicht mehr zu leisten.
EVALUATIONDie fünfte Arbeitsgruppe des Projektes machte sich die Evaluation des gesamten
Projektes zur Aufgabe. Die Gruppe hatte drei Ziele: Die Erfolgsmessung des
Projektes an sich mit Hilfe von Fragebögen und Interviews, die Einschätzung
der Informationskompetenz der Schüler und die Entwicklung von Tests, die zur
Selbstkontrolle aber auch als Prüfung oder Lernkontrolle von Lehrern verwendbar
sind.
2 URL: http://www.komm-in-form.info/.
110
Ergebnisse der Evaluationsbemühungen sind z.B.:
– Die überwiegende Mehrheit der befragten Schüler beginnt die Informationssuche
für ein Referat im Internet.
– Nur ein Viertel der Schüler nutzt zur Vorbereitung auf einen Vortrag die
Bibliothek.
– Nur die Hälfte der Schüler hat jemals bisher ein Lexikon für den Unterricht
benutzt.
In der Praxis ist es wichtig, die Kenntnisse der Zielgruppe festzustellen, und zwar
bereits etwa eine Woche vor den Schulungen, um bei der Planung noch darauf
eingehen zu können. Der Kenntnisstand wurde dann noch einmal direkt nach den
Schulungen anhand der gleichen Tests überprüft, um zu sehen, ob die Schulungen
eine Änderung gebracht haben. Ein Beispiel: Während vor der Schulung bei fast
allen Schülern nur eine einzige Internetsuchmaschine bekannt war, konnten 60%
der Schüler nach der Schulung drei weitere nennen. Das heißt zwar noch nicht, dass
sie diese auch benutzen, aber es geht in die richtige Richtung. Grundsätzlich wäre
eine längerfristige Evaluation in diesem Bereich notwendig.
ERGEBNISSE
Es gab viel „Drumherum“ bei diesem Projekt: Dazu gehörte der Besuch des Bibliotheks-
ausschusses der Käthe-Kollwitz-Schule, die Einladung zur Gesamtkonferenz oder
der Bericht auf der schuleigenen Webseite. Auch einen Artikel in der gedruckten
Schülerzeitung hat es gegeben. Das Projektteam musste viel Werbung machen in
der Schule, z.B. mit Plakaten für die Lehrerfortbildungen oder mit dem schriftlichen
Angebot, eine Schulung im Unterricht durchzuführen.
Was hat die Arbeit gebracht? Die Studierenden sammelten während des Projektes erste
Praxiserfahrung in der Informationsvermittlung. Die Schüler der Käthe-Kollwitz-
Schule profitierten als primäre Zielgruppe von den Schulungsveranstaltungen, von
der Hilfestellung während der Erstellung der Facharbeit und von weiteren Produkten.
Darüber hinaus wurden den Lehrern mit den Fortbildungsveranstaltungen Strategien
und Anregungen zur Vermittlung von Informationskompetenz angeboten. Die Unter-
stützung durch die Studenten, also durch die angehenden Informationsspezialisten,
wurde durch die Lehrer sehr positiv aufgenommen. Der Erfolg des Projektes zeigt sich
auch darin, dass im Wintersemester 2006/07 ein Folgeprojekt gestartet ist.
111
AUSBLICK: DER VEREIN INFOKOS
Eine Ausweitung der Kooperation zwischen Käthe-Kollwitz-Schule und Fachhoch-
schule Hannover ist darüber hinaus in Sicht: Im April 2006 wurde der Verein
INFOKOS e.V. – Informationskompetenz für Schüler gegründet. Der Verein soll
das Engagement einzelner Personen zusammenführen. Dazu gehören Professoren
der Hochschulen, Bibliothekare aus unterschiedlichen Bibliothekstypen, Lehrer
verschiedener Schularten und Studenten, z.B. von der Fachhochschule Hannover
aus dem Studiengang Informationsmanagement. Zu den Zielen des Vereins zählen
unter anderem informationskompetente Schüler zu erreichen, die Zusammenarbeit
von Schule und Bibliothek zu vertiefen, auszubauen oder überhaupt erste zu
schaffen. Dabei geht es ganz gezielt um die Zusammenarbeit konkreter Personen,
also einzelner Lehrer und Bibliothekare. Wichtig ist dabei die Professionalisierung
in der Vermittlung von Informationskompetenz.
Arbeitsfelder zum Erreichen dieser Ziele sind die Öffentlichkeitsarbeit, z.B. in
Form einer Webseite. Weitere Aktivitäten finden im Bereich Fortbildungen
statt, die in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Hannover, der Akademie
für Leseförderung, dem niedersächsischen Institut für Lehrerbildung und
Schulentwicklung (NiLS) oder der niedersächsischen Schulbehörde durchgeführt
werden. Zwei Lehrerfortbildungen zum Seminarfach fanden bereits statt, unter
anderem in der Technischen Informationsbibliothek (TIB), Hannover, sowie
eine Tagung unter dem Titel „Informationskompetenz im Deutschunterricht“ in
Zusammenarbeit mit dem NiLS.
Die Webseite des Vereins ist unter der Adresse http://www.infokompetenz.de
abrufbar. Hier sollen auf lange Sicht Unterrichtsmaterialien zur Vermittlung von
Informationskompetenz an Schüler angeboten und zusammengestellt werden.
112
Weiterhin soll der Informationsaustausch im Bereich Informationskompetenz
für Schüler gefördert oder überhaupt erst ermöglicht werden. Auf der Seite
fallen an zentraler Stelle die vier Begriffe „Suchen“, „Prüfen“, „Wissen“ und
„Darstellen“ besonders ins Auge. Sie sind das Ergebnis der Beschäftigung mit
dem Begriff Informationskompetenz und auf schulische Inhalte zugeschnitten.
Sie korrespondieren mit der Definition der Informationskompetenz als Fähigkeit
einen Informationsbedarf zu erkennen/Informationen zu beschaffen/Informationen
zu bewerten/Informationen effektiv zu nutzen. Insgesamt dient die Seite dem
Bündeln von Informationen und Aktivitäten im Bereich Informationskompetenz
für Schüler. So finden sich neben Ideen für einzelne Schulfächer auch Links zu
Schulbibliotheken, Hochschulen und zu Themen wie Leseförderung als einer
Grundlage der Informationskompetenz.
113
ZUM EINSATZ VON SACHBÜCHERN IN DER SEKUNDARSTUFE II (OBERSTUFE AHS)
WERNER SCHÖGGL
AUSGANGSSITUATION – SELBSTSTÄNDIGES LERNEN IN DER OBERSTUFE
Die AHS soll auf das Studium vorbereiten und zur aktiven Teilnahme am
gesellschaftlichen Diskurs befähigen.
Für beides sind hohe Lese- und Medienkompetenz unabdingbar.
Sachbücher können beim Erwerb dieser Fertigkeiten eine bedeutsame Rolle spielen.
In der Sekundarstufe II erfolgt der selbstständige Erwerb von Wissen, Fertigkeiten
und Fähigkeiten in der Regel außerhalb der Unterrichtsstunden. Die Ergebnisse
werden in Form von Referaten, Facharbeiten, Ausarbeitungen zu den Spezialgebieten
für die Matura und Fachbereichsarbeiten im Unterricht vorgestellt oder als schriftliche
Arbeiten in die Beurteilung mit einbezogen.
Abgesehen von der Begleitung bei den Fachbereichsarbeiten wird im Allgemeinen
erwartet, dass die Schülerinnen und Schüler über die für solche eigenständigen
Arbeiten erforderlichen Fertigkeiten bereits verfügen bzw. sich diese während der
Ausarbeitung selbstständig erwerben:
Motivation, Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem selbst oder von der
Lehrkraft gewählten Thema.
Klare Formulierung und Eingrenzung der Thematik und des Ziels
Auswahl der geeigneten Materialien
fortgeschrittene Lesefertigkeiten
der Zielsetzung und der Zielgruppe angemessene Verarbeitung und Aufbereitung
der Ergebnisse.
Eine beträchtliche Anzahl von Schülerinnen und Schülern beherrscht diese
Fertigkeiten auch tatsächlich und liefert ausgezeichnete Arbeiten ab – vor allem
dann, wenn sie das Thema selbst gewählt haben.
Weniger erfreulich sind die Ergebnisse bei Schülerinnen und Schülern mit unzu-
reichender Medienkompetenz – unter Medienkompetenz verstehe ich, was in der
englischsprachigen Literatur unter information literacy1 verstanden wird – oder wenn
das Thema den Schülerinnen und Schülern nicht liegt.
Sie greifen dann zum Internet, tippen bei Google ein paar Suchbegriffe ein und
1 Eine gute Übersicht mit weiteren Verweisen unter URL: http://de.wikipedia.org/wiki/
Informationskompetenz (3.3.2007).
114
übernehmen die Inhalte eines ihnen viel versprechenden Webangebots, das sie unter
den ersten paar Treffern auswählen. Sie liefern dann eine mittelmäßige Arbeit ab
und haben damit ihren Auftrag erfüllt. Nur selten wird die Arbeit mit dem Hinweis
„reines Kopieren aus dem Internet“ negativ beurteilt.
Das Ziel der Schüler, eine positive Note zu bekommen, wurde mit dieser Strategie
und einem Minimum an Arbeitszeit und geistiger Leistung erreicht – sie wird
dann bei weiteren Aufgabenstellungen erneut eingesetzt. Das rasche Auffinden
von brauchbaren Informationen wird damit vielleicht sogar perfektioniert. Dieser
Nebeneffekt mag ein wenig über den grundsätzlichen Mangel hinwegtäuschen.
Befriedigen können solche Ergebnisse natürlich keinesfalls.
Was dabei nämlich nicht- oder in zu geringem Ausmaß - gelernt wird, ist:
Aktive Auseinandersetzung mit – längeren – Texten.
Auseinandersetzung mit verschiedenen Standpunkten.
Herausarbeiten des eigenen Standpunkts.
Und: die emotionale Beteiligung, ein ganz entscheidendes Merkmal bei der
Generierung von Wissen.
Hier kommen Sachbücher ins Spiel:
Beim Erwerb und der Verfeinerung von fortgeschrittener Lese- bzw. Medienkompetenz
und bei der aktiven, von Emotionen begleiteten, Auseinandersetzung mit
verschiedensten Themen sind Sachbücher eine äußerst brauchbare Hilfe.
WARUM EIGNEN SICH SACHBÜCHER BEIM ERWERB VON MEDIENKOMPETENZ IN DER OBERSTUFE
Auf Grund ihrer Eigenschaften können Sachbücher in diesem Zusammenhang eine
große Hilfe sein: Sachbücher gehen vielfach von allgemein anerkannten Wahrheiten
aus und versuchen diese entweder zu widerlegen oder lassen sie in einem neuen
Licht erscheinen. Dieser Ansatz ist besonders für Jugendliche anziehend, weil damit
Hoffnung gemacht wird: Auch ich kann noch einiges ändern in dieser Welt, die
etablierte Schicht weiß nicht alles. Es wird also eine Überlegenheit versprochen:
Wenn ich bestimmte Dinge weiß, dann bin ich mächtiger als andere (daher muss ich
dieses Buch lesen). Diese Überlegenheit wird durch neues Wissen erlangt – daher
sind Fakten wichtig, und ebenso wichtig ist die Interpretation von Fakten durch
die Autorinnen und Autoren. Es wird ein Problem thematisiert, dem alle hilflos
gegenüber stehen: die Autorin/der Autor verspricht Hilfe – man braucht nur ein
paar Dinge zu wissen – und diese Dinge stehen in ihrem/seinem Buch.
Sachbücher reden von der wirklichen Welt – und zwar direkt, nicht auf die Umwege
über die literarische Betrachtungsweise, den Filter einer Romanfigur. Gleichwohl
gibt es Verweise auf große Schriftsteller, Zitate aus Romanen, Dramen, Lyrik-
115
Einsprengsel, mit denen die Autoren ihre Argumente stützen oder veranschaulichen
– damit können Sachbücher auch als Brücke zur großen Literatur genutzt werden
(und der Jugendliche kann sich mit Wissen aus der Weltliteratur schmücken).
Schließlich werden die Argumente der Sachbuchautoren in Film, Funk, Fernsehen,
Internet thematisiert. Somit eignen sie sich besonders auch als Impulsgeber bei der
multimedialen Behandlung von Themenbereichen.
Die Behandlung von Sachbüchern im Unterricht, was auch bedeutet, dass
Lesestrategien bewusst gemacht und geübt werden, hat zur Folge, dass auch
die Internet-Ressourcen besser verstanden werden: Mit einer allgemein hohen
Lesefertigkeit können sich Schülerinnen und Schüler auch schwierige Texte zu
eigen machen.
Denn Sachbücher kommen nicht immer volksnah und für jedermann verständlich
daher. Wir sollten uns im Laufe unseres Lebens mit Themen auseinander
setzen, von denen wir in der Schule nicht wussten, dass diese einmal wichtig sein
werden. Es bereitet z.B. vermutlich kein besonderes Lesevergnügen, das aktuelle
Regierungsprogramm zu lesen. Wenn wir aber wissen wollen, was tatsächlich dahinter
steckt, müssen wir uns darum bemühen und dabei eine Vielfalt an Lesetechniken
einsetzen. Gute Leserinnen und Leser werden damit keine Schwierigkeiten haben,
denn sie verfügen über die erforderlichen Lesetechniken (Veranschaulichung mittels
Mindmap, Textsortenwissen aktivieren, Vorwissen aktivieren, Wissenslücken füllen,
Markieren, Notizen machen). Jugendliche haben aber infolge der geringeren Anzahl
an Erfahrungen von vornherein weniger Möglichkeiten, Vorwissen zu aktivieren
und Fakten zu vernetzen. Sie werden daher mehr Zeit für das Füllen von Lücken
aufwenden müssen – und auch Textsortenwissen könnte ihnen fehlen. Daher sollten
sie angeleitet werden unterschiedlichste Textsorten zu behandeln – und zwar nicht
nur exemplarisch in Auszügen. Zudem enthalten viele der neueren Sachbücher
unterschiedliche Textsorten: Sachbeschreibungen, Tabellen, Diagramme, Dialoge,
biografische Notizen, aber auch fiktive Erzählungen und erfundene Dialoge.
Die deutsche Sachbuchforschung, ein Forschungsprojekt der Humboldt Universität
(http://www.sachbuchforschung.de2), begreift das Sachbuch als eigene Gattung.
Mit Aufsätzen, Veranstaltungen und der neuen Zeitschrift Non fiktion, Arsenal der
anderen Gattungen (www.non-fiktion.de3) untersucht sie Geschichte und Wirkung
2 Sachbuchforschung. Das populäre deutschsprachige Sachbuch im 20. Jahrhundert
(1918 – 2000). Geschichte, Th eorie und Praxis einer literarischen Gattung.
Ein Forschungsprojekt der Humboldt-Universität Berlin/Universität Hildesheim,
URL: http://www.sachbuchforschung.de/index.html (3.3.2007).
3 Non Fiktion. Arsenal der anderen Gattungen, 1 (2006) 1, zum Th ema „Die Popularität
des Sachbuchs.“
116
des deutschsprachigen Sachbuchs. Demzufolge wäre die Befassung mit dem
Sachbuch als eigene Gattung Aufgabe des Deutschunterrichts.
Allerdings: Sachbücher vermitteln Wissen und Ideen in vielen Themenbereichen
in relativ leicht lesbarer Form, sie eignen sich daher ganz besonders für
fächerübergreifenden Unterricht. Ein Beispiel von vielen sei hier kurz genannt:
Michael Frayn: Kopenhagen. Stück in zwei Akten über Heisenbergs umstrittene
Rolle beim deutschen Atomprojekt. Göttingen ³2003.
„Das Schauspiel erweckt Neugier nach mehr Hintergrundinformation, und das
Buch befriedigt sie durch eine gelungene Auswahl von Kommentaren namhafter
Wissenschaftshistoriker, die zudem einen guten Eindruck von den Möglichkeiten
und Grenzen der (Wissenschafts-) Geschichtsschreibung vermitteln. Zusammen
mit dem umfangreichen Nachwort des Autors – ursprünglich für die amerikanische
Buchfassung geschrieben – und einer Auswahlbibliografie ist der Kommentarteil
mehr als doppelt so lang wie der Text des Stücks!“ (Aus der Rezension in Spektrum
der Wissenschaft (online verfügbar bei amazon.de)
Dazu bieten sich dann zusätzlich an:
Paul L. Rose: Heisenberg und das Atombombenprojekt der Nazis. Zürich 2001.
Ernst Peter Fischer: Werner Heisenberg: Das selbstvergessene Genie. München
2001.
WIE KÖNNEN SCHULBIBLIOTHEKEN DEN EINSATZ VON SACHBÜCHERN IN DER OBERSTUFE UNTERSTÜTZEN
Im Grunde ist alles, was für Lesemotivation in Zusammenhang mit fiktionalen
Texten geschieht, auch auf Sachbücher übertragbar. Schulbibliothekare sollen dem
Bestand ihrer Sachbücher besonderes Augenmerk widmen und die Attraktivität ihres
Angebots mit den Kollegen und Schülern besprechen. Sie sollten ihr Angebot breiter
bekannt machen, und zwar durch das Aufstellen nach für Jugendliche interessanten
Themen, durch regelmäßiges Ausstellen von Sachbüchern zu aktuellen Themen
(Was ist gerade los? Was ist in den nächsten Wochen los? An der eigenen Schule oder in
den Medien.), durch Unterrichtsempfehlungen für Kollegen u.ä. Veranstaltungen
zu Sachbüchern mit Sachbuchautoren bzw. Experten zu bestimmten Themen sind
anzuregen oder selbst zu organisieren.
117
DIE AKADEMIE FÜR LESEFÖRDERUNG DER STIFTUNG LESEN:AUFBAU VON REGIONALEN LESENETZWERKEN IN NIEDERSACHSEN
ANKE MÄRK-BÜRMANN
Die Akademie für Leseförderung der Stiftung Lesen an der Gottfried Wilhelm
Leibniz Bibliothek in Hannover wurde am 26. Februar 2004 als Einrichtung des
Kultusministeriums, des Ministeriums für Wissenschaft und Kultur und der Stiftung
Lesen mit dem Ziel gegründet, die regionalen Voraussetzungen für die Förderung
der Lesekompetenz und Lesefreude von Kindern und Jugendlichen in Niedersachsen
systematisch, nachhaltig und flächendeckend zu verbessern. Der zwischen der
Stiftung Lesen und dem Land Niedersachsen geschlossene Kooperationsvertrag
über die Einrichtung der Akademie ist zunächst auf 3 ½ Jahre begrenzt.
Die Akademie hat drei Aufgabenschwerpunkte:
1. die Durchführung von Veranstaltungen zur Fortbildung und Information von
Multiplikatorinnen und Multiplikatoren im Bereich der Leseförderung (Eltern,
Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer, Bibliothekarinnen und
Bibliothekare, Leselernhelferinnen und Leselernhelfer, Vorlesepatinnen und
Vorlesepaten usw.),
2. die Einrichtung eines Internetportals zur Leseförderung, in dem
unter anderem gelungene Projekte zur Leseförderung dokumentiert werden
(www.akademiefuerlesefoerderung.de), sowie
3. der Aufbau und die Betreuung von regionalen Lesenetzwerken in ganz
Niedersachsen.
Zur Erfüllung dieser Aufgaben sind drei Mitarbeiterinnen mit unterschiedlichen
Schwerpunkten an der Akademie tätig:
1. weiterführende Schulen (Sek. I und II), Vermittlung von Erkenntnissen der
Leseforschung, Leseevents
2. Grundschulen, Förderschulen, Fortbildung von Leselernhelferinnen und
Leselernhelfern (Lesementorinnen und Lesementoren)
3. Zusammenarbeit Kindertagesstätte, Schule und Bibliothek, Fortbildung von
Vorlesepatinnen und Vorlesepaten
118
FORTBILDUNG UND INFORMATION VON MULTIPLIKATORINNEN UND MULTIPLIKATOREN
Es werden regelmäßig Veranstaltungen am Ort der Akademie, in der Gottfried
Wilhelm Leibniz Bibliothek in Hannover, angeboten. Darüber hinaus können
Einrichtungen zur Leseförderung die Mitarbeiter zu bestimmten Themen zu sich
einladen, wobei nur die Fahrtkosten zu tragen sind. Mit diesen „Abrufangeboten“ wird
eine möglichst flächendeckende Versorgung in ganz Niedersachsen gewährleistet.
Besondere Perspektiven ermöglichen die Angebote der Akademie, die sich
an mehrere Berufsgruppen gemeinsam richten und dadurch die Chance des
Erfahrungsaustausches, der gegenseitigen Information sowie zukünftigen
Kooperation bieten. So lernen beispielsweise Lehrkräfte mehr von den vielfältigen
Angeboten der Bibliotheken zur Leseförderung kennen. Bibliothekarinnen und
Bibliothekare gewinnen einen besseren Einblick in den schulischen Arbeitsalltag und
können somit effektivere Strategien in der Kooperation mit diesen Einrichtungen
entwickeln.
Ein erheblicher Teil der Angebote der Akademie richtet sich an Ehrenamtliche,
die in der Leseförderung tätig sind: Leselernhelferinnen und Leselernhelfer, die
Kinder im Leselernprozess unterstützen, sowie Vorlesepatinnen und Vorlesepaten,
die Kindern regelmäßig in Kindergärten, Schulen oder Bibliotheken vorlesen.
Systematisch aufeinander aufbauende Module legen bei dieser Zielgruppe die Basis
für eine qualifizierte Grundausbildung. Die Fortbildungen für Vorlesepatinnen und
Vorlesepaten beispielsweise umfassen folgende Themen: Bedeutung des Vorlesens für
die Entwicklung einer Lesekarriere, Planung und Durchführung einer Vorlesestunde,
Vorlesetechnik sowie Vorstellung aktueller Bilder- und Kinderbücher.
Ein weiteres Ziel der Veranstaltungen besteht in einer umfassenderen Verbreitung
der Erkenntnisse der Leseforschung für die in der praktischen Leseförderung tätigen
Berufsgruppen. In Kooperation mit der Universität Hannover wurde beispielsweise
eine Ringvorlesung unter dem Thema „Lesen in der Mediengesellschaft“ angeboten,
im Rahmen derer namhafte in der Leseforschung tätige Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler Vorträge gehalten haben.
INTERNETPORTAL ZUR LESEFÖRDERUNG
Das Internetportal www.akademiefuerlesefoerderung.de informiert über die
Einrichtung und Arbeit der Akademie, über Veranstaltungs- und Fortbildungs-
angebote, gelungene Projekte zur Leseförderung sowie bereits vorhandene regionale
Lesenetzwerke.
119
Darüber hinaus bietet es die Möglichkeit einer weiteren Begleitung der Teil-
nehmerinnen und Teilnehmer von Fortbildungsveranstaltungen, die in der nach
Zielgruppen geordneten Materialiensammlung vertiefende und aktuelle Hinweise
finden. Es werden dort beispielsweise Literaturlisten und Power-Point-Vorträge
von Veranstaltungen hinterlegt, die die Möglichkeit bieten, die entsprechenden
Veranstaltungen nachzuarbeiten.
Zusätzlich soll das Internetportal noch stärker als Kommunikationsplattform für alle
in Niedersachsen an der Leseförderung beteiligten Einrichtungen genutzt werden.
Es wird angestrebt, zukünftige Entwicklungen in Abstimmung mit anderen Portalen
zur Leseförderung (www.lesenindeutschland.de, www.schulmediothek.de usw.) im
Sinne einer deutlicheren Schwerpunktsetzung durchzuführen.
REGIONALE LESENETZWERKE
Unter einem Lesenetzwerk versteht die Akademie den Zusammenschluss von
mindestens drei Partnern, die sich regelmäßig treffen und gemeinsam Projekte zur
Leseförderung planen und durchführen. Ein Lesenetzwerk sollte eine Einrichtung
bzw. eine Person als regionale Kontaktstelle bzw. Ansprechpartner festlegen.
Die Einrichtung von regionalen Lesenetzwerken unterstützt die Forderung,
dass Leseförderung vor Ort nur gelingen kann, wenn die Einrichtungen, die
eine Leserbiographie beeinflussen, möglichst eng miteinander kooperieren:
Elternhaus, Kindergarten, Schule und Bibliothek. Nur der regelmäßige Austausch
von Informationen und die gemeinsame Planung von Aktivitäten sichert auf
120
Dauer eine systematische und nachhaltige Wirkung der gewählten Maßnahmen
sowie eine verbesserte Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Die Mitarbeiter der
Akademie informieren in ihren Veranstaltungen über die Idee der Einrichtung eines
Lesenetzwerks. So sind seit Gründung viele neue Lesenetzwerke entstanden, zusätzlich
Vorleseinitiativen und Mentorengruppen. Die Akademie unterstützt und begleitet
die entstandenen Netzwerke mit Informations- und Fortbildungsveranstaltungen
vor Ort. Sie werden außerdem im Internetportal erfasst. Ein Erfahrungsaustausch
der einzelnen regionalen Kontaktstellen soll in Zukunft initiiert werden. Die
bereits gegründeten Lesenetzwerke weisen sehr individuelle Strukturen auf, die
den jeweiligen Bedingungen vor Ort Rechnung tragen.
Exemplarisch sollen hier einzelne vorgestellt werden.
Lesenetzwerk Hannover (520.000 EW) als Beispiel für eine Großstadtinitiative
Das Lesenetzwerk Hannover wurde auf Anregung der Direktorin der Stadtbibliothek
Hannover, Frau Dr. Carola Schelle-Wolff, im Mai 2004 gegründet. Gemeinsame
Aktionen wie die „Hannoverschen Lesefeste“ (2005 auf einem zentralen Platz in
der Innenstadt, 2006 im Zoo, 2007 in einer Straßenbahn) sollen in Zukunft durch
ein nachhaltiges Gesamtkonzept für die Region Hannover ergänzt werden. Es wird
angestrebt, ein Projekt zur frühkindlichen Leseförderung nach dem englischen
Vorbild des „Bookstart“ durchzuführen.
z erLesenetzwerk Hannover (520.000 EW)
Mentor – die Leselernhelfer e.V.
Regionale Kontaktstelle:Stadtbibliothek Hannover
Börsenverein des Deutschen Buchhandels-Landesverband Niedersachsen
3 Buchhandlungen
Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien der GEW
Alice-Salomon-Schule
Akademie für Leseförderung
Friedrich-Bödecker-Kreis e.V. Evangelische Buch- und Büchereiarbeit
Freiwilligenzentrum
Arbeiterwohlfahrt
Fachbereich Bildung und Qualifizierung
Berater fürSchulbibliotheksarbeit
121
Lesenetzwerk Lüneburg (68.000 EW) als Beispiel für eine Mittelstadtinitiative
Das Lesenetzwerk Lüneburg (www.netzwerk-lesefoerderung.de) existiert seit Mai
2006. Es ist eine Gründung, die auf die Initiative von Frau Prof. Dr. Christine Garbe,
Professorin für Literaturwissenschaften und Literaturdidaktik an der Universität
Lüneburg, zurückgeht. Die für Lüneburg anvisierten Ziele sind der Aufbau einer
Internetplattform für das Lesenetzwerk Lüneburg (www.netzwerk-lesefoerderung.de),
die Verbesserung der Zusammenarbeit in der Leseförderung zwischen Kindergarten
und Grundschule, die Unterstützung der Leseförderung in der Grundschule durch
den Verein Mentor e.V., die Förderung der Lesekompetenz von Risikoschülerinnen
und -schülern der Sek. I, die systematische Verbesserung der Aus- und Weiterbildung
in Sachen Lesekompetenz bei Lehrkräften, die konzertierte Leseförderung durch
Bibliotheken, Buchhandlungen und weitere Einrichtungen, die Durchführung
eines Leseevents „Lüneburg liest!“ mit Hilfe von Studierenden der Universität
Lüneburg sowie Leseförderungsaktivitäten im Rahmen der Jugend(sozial)arbeit.
Ein besonderes Kennzeichen für das Lesenetzwerk Lüneburg ist die Vernetzung von
Leseforschung und praktischer Leseförderung. Netzwerkpartner sind unter anderem
die Universität Lüneburg, der Verein „MENTOR – Die Leselernhelfer Lüneburg
e.V.“, die Ratsbücherei sowie der Freundeskreis der Ratsbücherei Lüneburg e.V.
Lesenetzwerk Rehburg-Loccum (10.000 EW) als Beispiel für eine Initiative in einer
ländlichen Region
Dieses Lesenetzwerk wurde Ende 2005/Anfang 2006 ins Leben gerufen. Die
Entstehung wurde maßgeblich durch das Engagement der Leiterin des Kindergartens
122
Littlefoot, Frau Karin Busse, und die Frauenbeauftragte der Gemeinde, Frau Judith
Weber, beeinflusst. Es werden verschiedene Vorleseveranstaltungen angeboten,
Aktionen zum Welttag des Buches sowie Vorträge über Legasthenie. Beteiligt
sind Kindergärten und Grundschulen mit ihren jeweiligen Fördervereinen und die
ehrenamtlich geleiteten evangelischen Büchereien.
Projekte und Ideen zur Zusammenarbeit in Lesenetzwerken
Zusätzlich zu Großveranstaltungen, bei denen alle Partner eines Lesenetzwerks
beteiligt sind, können sich durch die enge Zusammenarbeit in einem Lesenetzwerk
Projekte zwischen den einzelnen Einrichtungen entwickeln, von denen hier einzelne
beispielhaft erwähnt werden sollen. Die vorgestellten eignen sich insbesondere für
die Kooperation von Schulen mit Bibliotheken.
Elternabend in der Bibliothek
Ein Elternabend zur Leseförderung wird von der Schule in die öffentliche Bibliothek
als einem besonders attraktiven, zum Lesen anregenden Raum verlagert. Im
Rahmen eines handlungsorientierten Konzepts beschäftigen sich die Eltern mit
den Leseinteressen ihrer Kinder, werden durch die Bibliothek geführt, besonders
auf deren Veranstaltungs- und Medienangebote für Kinder im Grundschulalter
hingewiesen und tauschen Tipps zur Leseförderung in der Familie aus.1
Die dargestellten Beispiele könnten durch zahlreiche weitere ergänzt werden. Ein
Lesenetzwerk bietet eine solide Basis zur Umsetzung dieser überaus kreativen
und vielfältigen Ideen zur Verbesserung der Lesemotivation. Die Akademie für
Leseförderung übernimmt dabei die wichtige Aufgabe, die Lesenetzwerke bei
der Implementierung dieser Ideen zu unterstützen und somit zu deren Stabilität
beizutragen.
Visionen „Leseland Niedersachsen“
Eine systematische Aus- und Fortbildung von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren
in der Leseförderung, eine selbstverständliche und kontinuierliche Kooperation
zwischen Elternhaus, Kindertagesstätten, Schulen und Bibliotheken sowie ein
flächendeckendes Netz von Lesenetzwerken sind Visionen für die zukünftige
Gestaltung des „Leselands Niedersachsen“. Die Akademie für Leseförderung setzt
sich intensiv dafür ein, dass diese Visionen in naher Zukunft Realität werden.
1 Siehe dazu Michael Diekmann, Svenja Henatsch, Anke Märk-Bürmann: Elternabend
in der Bibliothek. In: BuB, 58 (2006) 9, 636–638.
123
Celler Lese-Experten
Das auf die Initiative der Bibliotheksgesellschaft Celle e.V. zurückgehende Projekt
zur Zusammenarbeit zwischen Schulen und Öffentlichen Bibliotheken konnte 2006
ca. 1500 Schülerinnen und Schüler der 5. und 6. Klassen des Landkreises Celle
als Leseexpertinnen und Leseexperten (www.lese-experten.de) gewinnen. Diese
hatten die Aufgabe, sich aus einem Paket von 15 Kinder- und Jugendbüchern eine
bestimmte Anzahl auszuleihen, zu lesen und dazu Buchbesprechungen anzufertigen.
Als Belohnung wurden Buchpreise, Autorenlesungen und Veröffentlichungen der
Buchbesprechungen in der örtlichen Presse in Aussicht gestellt.
BIBLIOTHEKEN UND GESELLSCHAFT
125
PROVENIENZFORSCHUNG AN DER UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEK WIEN – EIN ZWISCHENBERICHT
STEFAN ALKER, CHRISTINA KÖSTNER, MARKUS STUMPF
DAS PROJEKT PROVENIENZFORSCHUNG AN DER UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEK WIEN
Anstoß zur aktuellen Provenienzforschung in der Universitätsbibliothek (UB) Wien
gaben Hinweise auf bedenkliche Bestände in der Bibliothek und das allgemeine
Interesse an dieser Aufarbeitung. Erste Hinweise auf konkrete Bestände gaben
drei bibliothekarische Hausarbeiten1 an der UB Wien, aus denen jedoch keine
Konsequenzen gezogen wurden. Erst Evelyn Adunka mit ihren Ergebnissen zur
„Sammlung Tanzenberg“2 stieß auf Resonanz und schärfte das Problembewusstsein
an der UB Wien. Peter Malina, der ehemalige Leiter der Fachbibliothek für
Zeitgeschichte, konnte 2004 das Provenienzforschungsprojekt an der Hauptbibliothek
beginnen und gewann ein Projektteam des Universitätslehrganges „Library and
Information Studies“ für Forschungen zu den Anfang der 1950er Jahre von der
Büchersortierungsstelle übernommenen, in den 1960er Jahren einsignierten und mit
„Sammlung Tanzenberg 1951“ bezeichneten Beständen der Hauptbibliothek.3
In der Folge ging man daran, die Eingänge aus den Jahren 1938–1945 der Haupt-
bibliothek systematisch und durchgängig auf Vorbesitzervermerke zu untersuchen
1 Maria Aldouri-Lauber: Die Fachbibliothek für Romanistik. Retro-Perspektive einer
wissenschaftlichen Institution. Bibliothekarische Hausarbeit. Wien 1988; Erika Neu-
ber: Die Fachbibliothek für Völkerkunde. Entstehungsgeschichte, Bestand und Verwal-
tung. Bibliothekarische Hausarbeit. Wien 1988; Susanne Wicha: Die Fachbibliothek
für Volkskunde. Ein Beitrag zur Geschichte und Entwicklung eines Außenbereichs
der Universitätsbibliothek Wien sowie zur Disziplin Volkskunde. [Bibliothekarische
Hausarbeit] Wien 1994.
2 Evelyn Adunka: Der Raub der Bücher. Plünderung in der NS-Zeit und Restitution
nach 1945. Wien 2002, 143–148.
3 Vgl. die Website des Projekts: http://www.ub.univie.ac.at/tanzenberg/; Karin Lach: Der
historische Hintergrund zur „Sammlung Tanzenberg“ an der Universitätsbibliothek
Wien, URL: http://www.ub.univie.ac.at/tanzenberg/downloads/Historischer_Hinter-
grund.pdf (15.1.2007); Angelika Zdiarsky: Stempelspuren in der NS-Vergangenheit.
Die „Sammlung Tanzenberg 1951“ an der Universitätsbibliothek Wien. In: Mitteilun-
gen der Gesellschaft für Buchforschung in Österreich, (2006) 1, 19–26.
126
und diese zu dokumentieren. Diese Arbeit ist im Kern abgeschlossen, erste Ergebnisse
über Teilbestände liegen bereits vor.4
Im Frühjahr 2006 wurde das Projekt Provenienzforschung auch auf den dezentralen
Bereich der UB, das heißt auf die Fachbereichs- und Institutsbibliotheken, erweitert.
Ein eigenes Team (bestehend aus den Autoren des vorliegenden Zwischenberichts)
übernahm die aus organisatorischen und historischen Gründen anders gelagerte
Untersuchung der an vielen Standorten angesiedelten einzelnen Bibliotheken,
betreut die Website des Projekts5, organisiert die geplante Tagung im Frühjahr
20086 und koordiniert das Gesamtprojekt.
Im Gegensatz zur Österreichischen Nationalbibliothek fallen die Bestände der
UB Wien nur teilweise unter das Kunstrückgabegesetz, denn einerseits werden
die Universitäten nicht vom Bundesmuseengesetz geregelt und andererseits
sind sie mit dem UG 2002 nicht mehr direkt dem Unterrichtsministerium als
Bundeseinrichtung unterstellt. Im UG 2002 wird geregelt, dass „die Bestände der
Universitätsbibliotheken, die aus geschichtlichem, künstlerischem und sonstigem
kulturellen oder wissenschaftlichen Zusammenhang ein Ganzes bilden, im
Eigentum des Bundes“ verbleiben.7 Für die UB Wien wurde diesbezüglich die
Grenze für Bestände, die im Bundesbesitz verbleiben, mit dem Erscheinungsjahr
bis 1800 festgelegt, während jene mit späterem Erscheinungsjahr ins Eigentum der
Universität Wien übergehen. Aus dieser Grenze, also der Jahreszahl 1800, ergibt sich
daher auch die jeweilige Zuständigkeit. Bei Bundeseigentum ist selbstverständlich
entsprechend dem Kunstrückgabegesetz vorzugehen, d.h. es werden der Kommission
für Provenienzforschung Dossiers vorgelegt, die in weiterer Folge die Restitution an
die Erben oder die Abgabe an den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer
des Nationalsozialismus empfiehlt.
Bei Beständen im Eigentum der Universität Wien wird grundsätzlich analog zum
Kunstrückgabegesetz verfahren, d.h. das Projektteam übergibt zunächst der UB-
Direktion Dossiers über nachgewiesen restitutionswürdige Erwerbungen sowie
über bedenkliche Erwerbungen, bei denen die Aktenlage trotz eines begründeten
Verdachts nicht ausreichend Information über den Erwerbungsvorgang liefert, und
in weiterer Folge der Kommission für Provenienzforschung. Auch die Aufgabe der
Erbensuche liegt beim Projektteam. Um eine Regelung für die als erblos bezeichneten
Bücher, also jene, bei denen zwar die bedenkliche Quelle, nicht aber der Vorbesitzer
4 Vgl. Peter Malina: Die Gestapo als Bücherlieferant. Vorläufi ge Ergebnisse der Proveni-
enzforschung an der Universitätsbibliothek Wien. In: Mitteilungen der Gesellschaft für
Buchforschung in Österreich, (2006) 2, 30–41.
5 URL: http://www.ub.univie.ac.at/provenienzforschung/.
6 URL: http://www.ub.univie.ac.at/provenienzforschung/tagung_2008.html.
7 Aus: BGBl. I Nr. 120/2002, §139, Abs. 4.
127
festgestellt wurde, zu treffen, trat die Bibliotheksleitung an den Nationalfonds8 heran,
der die entsprechenden Bestände der UB Wien analog zu anderen Fällen in seinem
Aufgabenbereich abwickeln wird.
Die UB Wien ist die erste Universitätsbibliothek in Österreich, die sich umfassend
mit unrechtmäßigen Beständen beschäftigt und die Geschichte der eigenen
Institution in der NS-Zeit gründlich aufarbeiten läßt. Ziel ist die Lokalisierung
und Klärung unrechtmäßiger Bestände und deren Restitution, aber auch die aktive
Auseinandersetzung mit dem Thema.
FACHBEREICHS- UND INSTITUTSBIBLIOTHEKEN
Die heutige Struktur der UB Wien ist historisch gewachsen. Während der NS-Zeit
entsprach die UB der heutigen Hauptbibliothek, die Fachbibliotheken lagen im
Verwaltungsbereich der einzelnen Institute bzw. Seminare, die bibliothekarische
Arbeit wurde meist von Assistenten oder bibliothekarischen Hilfskräften erledigt.
Erst mit dem UOG 1975 gingen erste Institutsbibliotheken in die Verwaltung
der UB über und im Herbst 2006 gibt es noch zehn, die von Institutsmitarbeitern
betreut werden. Die Bücher stehen aber alle im Besitz der UB und daher werden
alle Buchbestände durchgesehen.
An der Universität Wien gibt es dzt. 50 Fachbereichs- und Institutsbibliotheken,
von denen nur wenige von vornherein aus einer näheren Untersuchung ausscheiden,
weil sie erst nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurden und keine Altbestände
übernommen haben.9 Prinzipiell kann festgehalten werden, dass jede Bibliothek ihr
eigenes System, anders geführte Inventarbücher, eine andere Aufstellung etc. hat. Das
bedeutet ein immer neues Einstellen auf die Situation und fortgesetztes Anpassen
der Methoden an die jeweilige Lage. Die Palette reicht von ausführlich geführten
Inventarbüchern und Aufstellungen im Numerus Currens bis zu nach vielen kleinen
Sachgruppen aufgestellten Bibliotheken, wo sich keinerlei historische Unterlagen
erhalten haben und nur eine Generalautopsie der Bücher ein Ergebnis bringt.
Den ersten Schritt der Untersuchung bildete ein Besuch in der jeweiligen Bibliothek
zur Erfassung von grundlegenden Daten und zur Einschätzung des Recherchebedarfs.
Es erleichtert die Arbeit, wenn in den Inventarbüchern neben den Provenienzen
Erwerbungsart und Eingangsdatum angeführt sind und wenn neben Autor und Titel
auch das Erscheinungsjahr angegeben ist. Andere Unterlagen zu den Erwerbungen
sind in den seltensten Fällen erhalten geblieben, nur manchmal finden sich Hinweise
8 URL: http://www.de.nationalfonds.org/.
9 Das gilt für folgende Bibliotheken: Institutsbibliothek für Genderforschung, Instituts-
bibliothek für LehrerInnenbildung, Bibliothek des Kurt Gödel Research Centers für
Mathematische Logik und Institutsbibliothek für Vergleichende Literaturwissenschaft.
128
auf Erwerbungen in Institutskorrespondenzen und anderen Archivmaterialien. Um
die Entwicklung der einzelnen Bibliotheken besser nachvollziehen zu können und
handelnde Personen bzw. den Aufbau der Institute zu kennen, werden darüber hinaus
Institutsgeschichten und Jahresberichte herangezogen sowie Zeitzeugen befragt.
Mit Ende 2006 konnte die Ersterfassung abgeschlossen werden. In siebzehn
Bibliotheken ist auch die Autopsie bereits abgeschlossen und es sind etwa 20.000
Bände auf Vorbesitzervermerke, also handschriftliche Eintragungen, Stempel oder
Exlibris durchgesehen. Nach der Durchsicht aller in Frage kommenden Bibliotheken
beginnt mit den dabei gewonnenen Daten die eigentliche Provenienzforschung,
also die Recherche in Archiven und anderen Quellen nach den Personen und
Institutionen. Denn es hat sich gezeigt, dass sich erst mit der Durchsicht mehrerer
Bibliotheken Zusammenhänge und Parallelen erkennen lassen.10
Im Zuge dieser Forschungen entsteht ein Bild sehr inhomogener Geschichten.
Einige Institute und damit ihre Bibliotheken wie jene der Zeitungswissenschaft
(heute: Publizistik- und Kommunikationswissenschaft) oder der Theaterwissenschaft
(heute: Theater-, Film- und Medienwissenschaft) wurden am Beginn der 1940er
Jahre gegründet und vom NS-Staat massiv unterstützt. In anderen, wie etwa in
der Astronomie, herrschte weitgehend Stillstand, der erst nach dem Krieg wieder
beendet wurde. Die Entwicklung der einzelnen Wissenschaften wirkte sich oft sehr
stark auf die Bücherbestände aus. So sind die Bücher, die während der NS-Zeit am
Orientalischen Institut waren, heute auf fünf verschiedene Bibliotheken verteilt. Sie
fanden sich außer an der heutigen Bibliothek für Orientalistik an den Bibliotheken
für Byzantinistik, Südasien-, Tibet- und Buddhismuskunde, Judaistik, Japanologie
und Sinologie. Auch andere Bibliotheken sind durch ihre Entwicklung sehr eng
miteinander verbunden.
Die eben erwähnte Orientalistik ist auch auf Grund der dort betriebenen Erwerbungs-
politik interessant. 1933/34 und dann von 1936 bis 1945 leitete Viktor Christian
(1885–1963) das Orientalische Institut. Ab 1933 Mitglied der NSDAP, hatte er viele
Verbindungen zu hohen Funktionären im NS-Staat bzw. zur NSDAP und nutzte
diese, um aus diversen Bibliotheken Bücher an sein Institut zu bringen. Unter dem
Titel „Leihgabe Ahnenerbe“ wurde nicht nur ein Teil der sehr wertvollen Bibliothek
von Ludwig Feuchtwanger (1885–1947), dem Bruder des Schriftstellers Lion
Feuchtwanger (1884–1958), nach Wien gebracht, sondern auch Bibliotheksbestände
des damals bekannten jüdischen Gelehrten Samuel Krauss (1866–1949). Außerdem
kamen Bücher aus den drei großen jüdischen Gemeinden des Burgenlandes (Kittsee,
Lackenbach und Frauenkirchen) ans Institut.11 Alle diese Bücher wurden nicht
einsigniert, sondern nur mit einem Etikett gekennzeichnet und separat aufgestellt.
Das erklärt, warum trotz einiger Restitutionen in der Nachkriegszeit noch zu Beginn
10 Vgl. den Fall der französischen Bücher bei den Fallbeispielen.
11 Institut für Orientalistik, Mappe Ahnenerbe.
129
der 1990er Jahre etwa 400 unbearbeitete Bücher in einem Schrank extra aufbewahrt
wurden. Beim Umzug vom Neuen Institutsgebäude der Universität Wien auf den
Campus im Alten AKH wurde diese „Last“ zurückgelassen. Nur unter den Dubletten
der Bibliothek fand sich durch Zufall ein einziges Buch aus diesem Bestand.12
FALLBEISPIELE
Französische Bücher von der Gestapo
Ein besonders interessanter Fall sind jene französischen Bücher, die die
Universitätsbibliothek im Juni 1942 an diverse Institute verteilte. Erst die Durchsicht
mehrerer Inventarbücher zeigte, dass immer im selben Monat französische Bücher
aus der UB an die Institute kamen. Da diese Bücher durch keinen Besitzervermerk
gekennzeichnet sind, konnte dieser Umstand zunächst nicht erklärt werden.
Die Universitätsbibliothek hatte 1942 eine große Anzahl französischsprachiger
Bücher von der Gestapo erhalten. Knapp 1.000 Bände wurden in der heutigen
Hauptbibliothek einsigniert und mit „1942 d.d. Polizeileitstelle“ gekennzeichnet,
andere wurden weitergegeben.13 Die Herkunft dieser Bücher, die alle verlagsneu
scheinen, im Zeitraum zwischen 1920 und 1941 erschienen sind und keinerlei
Eintragungen aufweisen, ist unklar. Fest steht aber schon heute, dass es sich um
einen der größten bedenklichen Buchbestände im Bereich der UB handelt.
Österreichische Pressekammer
An der Fachbereichsbibliothek für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft,
die aus der Bibliothek des 1938 mit Unterstützung des Propagandaministeriums
gegründeten und 1942 eröffneten Instituts für Zeitungswissenschaft hervorgegangen
ist, finden sich gut 50 Bücher aus Sammlungen und Fachverbänden der
Österreichischen Pressekammer. Diese war 1936 als berufsständische Vertretung
der Presseschaffenden gegründet und 1939 endgültig aufgelöst worden, wobei ihre
Fachverbände in die Reichspressekammer überführt wurden. In der Bibliothek finden
sich Bücher mit dem Stempel des Verbands Österreichischer Zeitungsverleger bzw.
der Herausgeber österreichischer Tageszeitungen, sowie solche mit dem Stempel der
in der Pressekammer angesiedelten „Sammlung Münz“.14
12 Gespräch mit einem Zeitzeugen am 6.4.2006 (anonym).
13 Vgl. Peter Malina: Die Gestapo als Bücherlieferant, a.a.O., 37.
14 Vgl. Wolfgang Duchkowitsch: Zeitungswissenschaft „an der schönen heimatlichen
Donaustadt“. Aufbau, Einrichtung und Funktion des Wiener Instituts für Zeitungs-
wissenschaft. In: Willfährige Wissenschaft. Die Universität 1938–1945, hg. von Gernot
Heiß u.a. Wien 1989 (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik; 43), 155–178, 156.
130
Jacob Persky
Im Inventarbuch der Slawistikbibliothek sind 24 von der Nationalbibliothek
Wien geschenkte Titel verzeichnet (16 davon waren tatsächlich auffindbar). Bei
der Durchsicht dieser Bücher fand sich in zweien der Stempel der Leihbibliothek
Persky. Der Fall war bereits aus der Nationalbibliothek bekannt, dort wurden 23
Signaturen festgestellt.15 Der in der heutigen Ukraine gebürtige Buchhändler Jacob
Persky betrieb in Wien eine Leihbibliothek, die am 26. April 1938 von der Gestapo
versiegelt wurde, etwa 4.000 Bände wurden beschlagnahmt. Persky wurde drei Tage
später, am 29. April 1938, verhaftet und nach Dachau deportiert. Später konnte er
nach Italien emigrieren, sein weiteres Schicksal konnte jedoch noch nicht geklärt
werden.
Charlotte und Karl Bühler
Karl Bühler (1879–1963) gründete das Wiener Psychologische Institut 1922 und
leitete es bis zum so genannten „Anschluss“ im März 1938. Am 23. März 1938
wurde das Institut versiegelt und Bühler verhaftet. Später konnte er über Norwegen
in die USA emigrieren. Vor seiner Emigration löste er seinen Hausstand auf und
verkaufte auch seine Privatbibliothek. Einen Teil dieser Bibliothek, nämlich etwa 900
Werke, schätzte der UB-Bibliothekar Prof. Viktor Kraft auf 500,--RM. Schließlich
zahlte das Psychologische Institut 400,-- statt der ursprünglichen 500,-- RM für die
Bücher.16 Bis jetzt konnten gut 150 Werke in verschiedenen Fachbereichsbibliotheken
lokalisiert werden. Obwohl das Institut damals für die Bücher gezahlt hat, werden sie
heute als unrechtmäßige Erwerbungen eingestuft, weil solche Käufe unter Zwang
abgewickelt wurden und die Verkäufer nie auch nur eine Reichsmark tatsächlich
erhielten.
AUSBLICK
Fünf Jahre nach der Konferenz Raub und Restitution in Bibliotheken im April 2003
im Wiener Rathaus geben die jüngsten Forschungen und Projekte an diversen
Bibliotheken sowie die verstärkten Bemühungen an der Universitätsbibliothek Wien
den Anstoß zu einer Tagung. Im März 2008 veranstalten die UB Wien und die
15 Vgl. Personendossier Jacob Persky. In: Abschlussbericht der Österreichischen Natio-
nalbibliothek an die Kommission für Provenienzforschung, bearbeitet im Auftrag der
Generaldirektion der Österreichischen Nationalbibliothek von Margot Werner. Wien
2003.
16 Zahlung im Rechnungsbuch und Gutachten datiert mit 19.11.1938; der Brief, in dem
es heißt, die Bücher seien nur 400,-- RM wert, stammt vom 9.1.1939 (zu diesem Zeit-
punkt war bereits gezahlt).
131
Wienbibliothek im Rathaus in Kooperation mit der Vereinigung Österreichischer
Bibliothekarinnen und Bibliothekare (VÖB) die Tagung Bibliotheken in der NS-Zeit.
Provenienzforschung und Bibliotheksgeschichte17, bei der auf die aktuellen Ergebnisse
der Provenienzforschung und der Forschung über Bibliotheken in der NS-Zeit
eingegangen werden soll.
Ziel des Projekts ist es, bis Frühjahr 2008 die Autopsie und Auswertung der Daten
weitgehend abgeschlossen zu haben und bei der Tagung Ergebnisse vorlegen zu
können. So sollen die Resultate der Provenienzforschung und der damit verbundenen
historischen Aufarbeitung einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert werden. Zugleich
will das Projekt damit auch Ansporn und Öffentlichkeit für andere Institutionen,
allen voran Universitätsbibliotheken, bieten, sich mit dem vorliegenden Thema
auseinanderzusetzen. Verglichen mit der sehr aktiven Erwerbungspolitik an der
Österreichischen Nationalbibliothek in der NS-Zeit,18 war die der UB Wien
gemäßigt. Das Projekt zeigt, dass eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit
der eigenen Bibliothek notwendig und dass sie, auch bei einer komplexen historischen
bzw. institutionellen Situation, machbar und zielführend ist.
17 URL: http://www.ub.univie.ac.at/provenienzforschung/tagung_2008.html.
18 Vgl. Murray G. Hall und Christina Köstner: „… allerlei für die Nationalbibliothek zu
ergattern“. Eine österreichische Institution in der NS-Zeit. Wien u.a. 2006.
132
RAUB UND RESTITUTION.DIE ÖSTERREICHISCHE NATIONALBIBLIOTHEK STELLT SICH IHRER NS-VERGANGENHEIT
MARGOT WERNER
In den letzten Jahren wurde die öffentliche Aufmerksamkeit verstärkt auf das Thema
der Restitution von in der NS-Zeit enteigneten Kunstobjekten gelenkt – man denke
beispielsweise an die Diskussionen rund um den Fall der Klimt-Gemälde aus dem
ehemaligen Besitz der Familie Bloch-Bauer. Kaum jemand würde jedoch vermuten, dass
auch in österreichischen Bibliotheken nach wie vor geraubtes Eigentum meist jüdischer
Verfolgter verwahrt wird. Dabei geht es nicht um einige wenige prominente Objekte,
sondern um eine Unmenge an Druckschriften, Handschriften, Autographen und
Photographien höchst unterschiedlicher Qualität und höchst unterschiedlichen Werts.
Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über die Bemühungen der Österreichischen
Nationalbibliothek (ÖNB) zur Ausforschung und Rückgabe dieser Objekte sowie
den damit verbundenen Schwierigkeiten. Im Folgenden wird kurz über das seit dem
Jahr 2002 laufende Projekt „Provenienzforschung“ berichtet und im Anschluss an
Hand von zwei markanten Fallbeispielen der typische Verlauf von der Entziehung
über die Rückstellungen der Nachkriegszeit bis zur aktuellen Provenienzforschung
und schließlich der Rückgabe an die Erben der Verfolgten skizziert.
Um einen Eindruck der Größenordnung dieses Projekts der ÖNB zu vermitteln,
zuallererst die Recherchergebnisse: 52.403 Einzelobjekte – Bücher, Photos, Negative,
Autographen, Handschriften, Karten und Musikalien – mussten nach Abschluss
der Erhebungsarbeiten als bedenkliche Erwerbungen der NS-Zeit, oder deutlicher
gesagt, als geraubt eingestuft werden.
Im Fall der Österreichischen Nationalbibliothek, die zweifellos als „Staatsbibliothek“
der damaligen Ostmark und drittgrößte Bibliothek des Deutschen Reiches eine
Sonderstellung einnahm, kann die Aufnahme von beschlagnahmten Bibliotheken als
eine Form der gezielten „Erwerbungspolitik“ bezeichnet werden: Mit Kriegsbeginn
waren Handel und Tausch mit dem Ausland weitgehend unterbrochen, diese Lücke
wurde durch die Aufnahme von beschlagnahmten Beständen kompensiert. In Zahlen
ausgedrückt bedeutet dies, dass z.B. allein in der Druckschriftenabteilung von 70.000
in der NS-Zeit vergebenen Signaturen über 10.000 mit beschlagnahmten Bänden
belegt wurden.
133
Federführend für diese Form des Zuwachses verantwortlich zeichnete mit dem
1938 berufenen Generaldirektor Paul Heigl ein hochrangiger und überzeugter
Nationalsozialist, der sich persönlich um die Beschlagnahme und Zuweisung
berühmter Bibliotheken und Sammlungen vornehmlich jüdischer Sammler bemühte
(einige prominente Beispiele wären etwa die Bibliothek Arthur Schnitzlers, die
Bibliothek der Familie Kuffner – Moritz Kuffner war Begründer der Sternwarte
am Wiener Gallitzinberg und besser bekannt als Besitzer der Ottakringer Brauerei
– oder die Privatbibliothek von Alphonse de Rothschild.)
Beschlagnahmt und in die Nationalbibliothek eingebracht wurden aber auch die
Bibliotheken von der nationalsozialistischen Ideologie entgegenstehenden Vereinen
und politischen Organisationen: Zu nennen wäre etwa die Bibliothek der Freimaurer
Großloge und die beschlagnahmten Bibliotheken von kulturellen Institutionen und
staatlichen Einrichtungen der vom Deutschen Reich besetzten Gebiete.
Wie ging nun die Nationalbibliothek mit diesen Massen an beschlagnahmten Büchern
und Sammlungsobjekten um? Sie wurden teils in ihre Bestände aufgenommen (etwa
15.000 Bücher und mehrere tausend Sammlungsobjekte), teils aber aus Zeitmangel
in den Magazinen gelagert oder auch als Dubletten an Bibliotheken des Deutschen
Reichs abgegeben.
Nun möchte ich einen Bogen zur heutigen Provenienzforschung spannen: Jene
beschlagnahmten Objekte, die in die Bestände des Hauses aufgenommen wurden,
wurden mit einem markanten Kürzel – das die heutigen Forscher erst in die Lage
versetzt beschlagnahmtes von rechtmäßig erworbenem Eigentum zu unterscheiden
– gekennzeichnet:
Als Provenienzangabe, die geeignet war die Herkunft der Bestände zu verschleiern
– denn das war die Vorgabe der damaligen Leitung –, wurde die Sigle „P 38“ (als
Abkürzung für „Polizei 1938“) gewählt. Dieses Kürzel wurde entsprechend der
in der Nationalbibliothek üblichen bibliothekarischen Aufnahme eines Werkes
sowohl in die beschlagnahmten Bücher selbst als auch in die jeweiligen Inventare
als Provenienzangabe eingetragen.
Stempel „P(-olizei 19)38“
134
Stempel „P (-olizei 19)38“ in der Druckschrift „Josephus Flavius (germ.),
Flavii Josephi des Hochberuempten Histori beschreibers alle Bücher,
nemlich zwenzig, Straßburg 1561.
Besagte Kennzeichnung gewinnt heute auch insofern an Bedeutung, als ja bei
weitem nicht nur Bibliotheken prominenter Verfolgter von der Nationalbibliothek
beansprucht wurden – die Mehrzahl der anonymen, von der Gestapo abgelieferten
Bücher stammte aus kleinen Privatbibliotheken ausgewanderter oder deportierter
Verfolgter. Diese Bücher, die nicht mit Eigentumsvermerken ihrer ehemaligen
Besitzer gekennzeichnet sind, die auch ohne weitere Formalitäten und ohne
Übergabeverzeichnisse per LKW in der Nationalbibliothek abgeladen wurden, sind
ausschließlich über das in Inventaren und Büchern eingetragene Kürzel als Raubgut
identifizierbar.
Immer wieder wird die Frage gestellt, wie hoch die Zahl der in die Nationalbibliothek
eingebrachten geraubten Bücher und Sammlungsgegenstände insgesamt anzusetzen
ist. Diese Frage ist leider nicht in absoluten Zahlen zu beantworten. Nur so viel: Allein
jene Fälle namentlich bekannter Vorbesitzer, zu welchen auch Akten nachweisbar
sind, umfassen mindestens 150.000 Druckschriften und 45.000 Sammlungsobjekte,
rechnet man nun die anonym von der Gestapo zugelieferten Objekte hinzu, so erhöht
sich diese Zahl – vorsichtig geschätzt – auf das Doppelte. Das heißt also, wir können
zwischen 1938 und 1945 von einem Zuwachs von 400–500.000 beschlagnahmten
Objekten ausgehen.
135
Ein Großteil dieser niemals bearbeiteten und inventarisierten Objekte wurde bald
nach Kriegsende restituiert. Rückgestellt wurden dabei aber in erster Linie die
umfangreichen Bibliotheken bekannter Sammler und Institutionen. Die bereits
inventarisierten Objekte aus der großen Masse der von der Gestapo anonym
zugelieferten privaten Klein- und Kleinstbibliotheken blieben aber im Haus, wie
das unerwartet hohe Ergebnis der heutigen Provenienzforschung zeigt.
Im Jahr 1950 waren die Restitutionen in der ÖNB weitgehend abgeschlossen.
Ungeachtet der Tatsache, dass noch zahlreiche unrechtmäßig erworbene Bücher
und auch Sammlungsobjekte in den Magazinen lagerten, wurde der Themenkomplex
als abgeschlossen betrachtet.
PROVENIENZFORSCHUNG HEUTE
Erst Anfang 1998 setzte Bundesministerin Elisabeth Gehrer eine „Kommission für
Provenienzforschung“ ein, die den Auftrag erhielt, in den Museen und Sammlungen
des Bundes alle Erwerbungen von 1938–1945 systematisch zu überprüfen, um
noch verbliebene, von ihrer Provenienz her bedenkliche Zugänge festzustellen.
Die ersten Ergebnisse der Tätigkeit dieser Kommission waren dann Grundlage für
das in kürzester Zeit erstellte Kunstrückgabegesetz, das im Dezember 1998 vom
Nationalrat einstimmig verabschiedet wurde.
Das Kunstrückgabegesetz sieht die Rückgabe von in den österreichischen
Bundesmuseen und Sammlungen verwahrten Kunstgegenständen an die
ursprünglichen Eigentümer oder deren Rechtsnachfolger in drei möglichen Fällen
vor und zwar:
1. Objekte, die zwar nach Kriegsende im Zuge eines Rückstellungsverfahrens ihren
Eigentümern zurückgegeben, dann aber im Gegenzug für die Gewährung einer
Ausfuhrgenehmigung ihren Besitzern abgepresst wurden.
2. Objekte, die während der NS-Zeit unrechtmäßig erworben wurden und sich
noch heute im Eigentum des Bundes befinden (das ist der weitaus häufigste Fall),
oder
3. nach Abschluss von Rückstellungsverfahren nicht an die ursprünglichen
Eigentümer oder deren Rechtsnachfolger zurückgegeben werden konnten und
demzufolge als herrenloses Gut unentgeltlich in das Eigentum des Bundes
übergegangen sind.
Die Ergebnisse der Provenienzforschung der einzelnen Bundesmuseen (wozu auch
die Österreichische Nationalbibliothek zählt) werden dem auf der Grundlage des
136
Kunstrückgabegesetzes beim Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und
Kultur eingerichteten Beirat vorgelegt, der eine Empfehlung an die zur Entscheidung
über die Rückgabe berufene Ministerin abgibt.
Die ÖNB hat seit Erlass des Kunstrückgabegesetzes umfangreiche Recherchen zur
Ermittlung von nach wie vor innerhalb der Bestände befindlichem Raubgut angestellt.
Vor allem das Nachholen einer in der Nachkriegszeit versäumten systematischen
Durchsicht aller fraglichen Bestände (eine sogenannte „Generalautopsie“) in den
Magazinen der Druckschriftenabteilung und der Sammlungen wurde als notwendig
erkannt. Dabei mussten alleine in der Druckschriftenabteilung weit über 150.000
Bände geprüft werden.
Als unschätzbare Quelle erwies sich das weitgehend vollständige Archiv der
Generaldirektion. Zuweisungen größerer und wertvoller Bibliotheken und
Sammlungen sind gut dokumentiert. Schlecht bis überhaupt nicht dokumentiert ist
hingegen die Zulieferung jener Unzahl an Druckschriften und Sammlungsobjekten,
die aus den schon erwähnten kleinen Sammlungen emigrierter oder deportierter
Verfolgter stammt. Übergabelisten sind leider nur in den seltensten Fällen erhalten.
War einem Akt dennoch ein Verzeichnis beigelegt, so wurde gezielt nach den
einzelnen Objekten gesucht.
137
Zuweisung von beschlagnahmten Beständen des Jüdischen Museums Wien, 1942
Als ein großer Vorteil erwies sich die in der Druckschriftenabteilung vorgenommene
Aufstellung nach dem Numerus-currens-System. Die Vergabe der Signaturen
entspricht mit geringen Abweichungen dem Datum der Inventarisierung. Demzufolge
war es möglich, einen eingegrenzten Signaturenbereich von 70.000 Signaturen (etwa
100.000 Bänden) den Jahren 1938–1945 zuzuordnen.
Die Einlaufsbücher der Druckschriftenabteilung selbst geben keinen Hinweis auf
einen eventuellen Vorbesitzer, alle aus beschlagnahmten Bibliotheken stammenden
Werke sind durch die schon erwähnte einheitliche Provenienzangabe „P 38“
gekennzeichnet.
138
Für beschlagnahmte Zuwächse („Provenienz P 38“)
reserviertes Inventar der Druckschriftensammlung
Ein Hauptziel der Buchautopsie war daher die Erfassung von Besitzerzeichen in
Form von Exlibris und handschriftlichen oder gestempelten Namenseinträgen und
Widmungen.
Auch in den Sondersammlungen der ÖNB mussten vorerst die unterschiedlichen
Ordnungsprinzipien unterworfenen Inventare und Zuwachsbücher der Jahre 1938–
1945 überprüft, im Anschluss die als bedenkliche Erwerbungen vermuteten Objekte
einer Autopsie unterzogen werden.
In allen Sammlungen wurde zudem darauf geachtet, ob auf Grund von Bearbeitungs-
rückständen aus der NS-Zeit Objekte erst nach 1945 inventarisiert worden waren.
139
„Stefan Zweig, Jeremias, Leipzig 1917“. Eigenhändige Widmung an Roda Roda
(Alexander Friedrich Rosenfeld). Das Buch stammt aus der beschlagnahmten
Bibliothek Roda Rodas.
Ein spezielles Problem stellte in diesem Zusammenhang der sogenannte „Altbestand“
dar. Der Altbestand präsentiert sich als eine durch Bearbeitungsrückstände seit
dem Ende der Monarchie entstandene Ansammlung von unterschiedlichsten
Druckwerken, deren genaue Herkunft heute nicht mehr restlos geklärt werden
kann. Dieser Bestand, der alleine 52.500 Bände umfasst und von dem angenommen
werden musste, dass sich darunter auch in der NS-Zeit geraubte Bände befinden,
wurde im Zuge der jetzt durchgeführten Provenienzforschung vollständig, ebenfalls
Buch für Buch, autopsiert.
Als Gesamtergebnis der Autopsien in allen Abteilungen des Hauses lag nicht nur
eine Liste der eingangs erwähnten 52.403 vermutlich entzogenen Objekte, sondern
auch ein Verzeichnis von etwa 450 verschiedenen Besitzzeichen von Privatpersonen
und Institutionen vor, das als Grundlage der weiteren Recherchen benutzt wurde.
Nach allen erfassten Namen wurde sowohl in diversen Archivbeständen (wie etwa im
Österreichischen Staatsarchiv, im Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, im
Archiv des Bundesdenkmalamtes) als auch in der Sekundärliteratur recherchiert.
140
Druckschriften aus der beschlagnahmten Bibliothek Ottmar Strauss.
Vielfach wurden in der NS-Zeit Besitzzeichen entfernt – eine Zuordnung ist heute nur
noch selten möglich.
In 72 Fällen ist es gelungen, die Entziehungsgeschichte sowie Anhaltspunkte zu
möglichen Erben zu ermitteln. Jene Besitzervermerke, die nicht identifiziert werden
konnten, da sie zum Teil nur aus Namensfragmenten bestehen bzw. eindeutig
ausländischer Herkunft sind, werden vom Nationalfonds der Republik Österreich
für Opfer des Nationalsozialismus in einer Datenbank publiziert, um eventuellen
Erben die Möglichkeit zu geben, Ansprüche zu stellen.
Die ÖNB hat sich mit tatkräftiger Unterstützung der Israelitischen Kultusgemeinde
Wien und dem Nationalfonds der Republik Österreich zudem der sehr schwierigen
Aufgabe der Erbensuche gestellt. Mit teils enormen Rechercheaufwand wird versucht
Erben auf der ganzen Welt ausfindig zu machen.
Es ist uns bislang gelungen 42 Einzelfälle abzuwickeln und zusammen 32.247
Objekte an ihre rechtmäßigen Besitzer zu restituieren.
FALLBEISPIELE
Fall Arthur Schnitzler
Einer der prominentesten Fälle in der ÖNB ist wahrscheinlich die Beschlagnahmung
der Bibliothek des Schriftstellers Arthur Schnitzler:
141
Im Inventar des Bildarchivs der ÖNB wurden im Zuge der Arbeiten zur
Provenienzforschung 84 Signaturen Negative und 27 Photographien, 1941 unter
dem fragwürdigen Inventareintrag „H. Schnitzler via Gen. Dir. Heigl“ verzeichnet,
entdeckt. Wie eine erste Sichtung ergab, waren es in erster Linie Bilder privater
Natur: Erinnerungsaufnahmen an eine Urlaubsreise nach Italien und in die Schweiz,
Arthur Schnitzler in Wanderadjustierung mit Spazierstock, Schnitzler bei einem
Spaziergang und – eine der fröhlichsten Aufnahmen – Arthur Schnitzler lachend
vor seinem ersten Auto.
Diese Photos führten zu einem Entziehungsfall, der vermutlich alleine auf die aktive
Beteiligung der Nationalbibliothek zurückzuführen ist.
Die Nationalbibliothek bekundete schon lange vor dem „Anschluss“ Interesse am
literarischen Nachlass und an der Autographensammlung des 1931 verstorbenen
Arthur Schnitzler. Am 30. April 1939 schien dann die Gelegenheit zum Erwerb
dieser Sammlung gekommen, die Wiener Zeitung vermeldete an diesem Tag die
Beschlagnahme des gesamten Besitzes von Arthur Schnitzlers Sohn Heinrich. Bereits
am nächsten Tag setzte Generaldirektor Heigl ein entsprechendes Bittschreiben an
das zuständige Ministerium auf.
Um der sich zögerlich dahinschleppenden Angelegenheit den nötigen Nachdruck
zu verleihen wurde seitens der Nationalbibliothek schließlich die Zentralstelle für
Denkmalsschutz (heute Bundesdenkmalamt) und die Gestapo eingeschaltet – mit
Erfolg: 1940 wurde die Bibliothek im Umfang von etwa 12.000 Bänden, die einen
damaligen Wert von etwa 30 bis 40.000,-- RM repräsentierte, sowie zwei Kisten
diverse Schriften und private Photographien der Familie von der Nationalbibliothek
übernommen.
142
Bescheid der Gestapo 1940:
Zuweisung der beschlagnahmten Bibliothek Arthur Schnitzlers
Nun kommen die eingangs erwähnten Photographien ins Spiel: Die Nationalbibliothek
musste feststellen, dass sich die eigentlich beanspruchte Autographensammlung
nicht unter den übernommenen Bibliotheksbeständen befand, sondern bereits 1938
von der Familie Schnitzler außer Landes gebracht worden war. Nun sah man die
Gelegenheit gekommen, diese privaten Aufnahmen, um deren Rückgabe die Familie
dringend ersuchte, gegen die wertvolle Autographensammlung einzutauschen.
Verständlicherweise ging der Anwalt der Familie Schnitzler nicht auf diesen Handel
ein. So blieben die Aufnahmen bis zuletzt im Haus und wurden erst kürzlich wieder
aufgefunden.
143
1946 wandte sich Heinrich Schnitzler mit einem Rückgabeantrag an die ÖNB. Da
die Bibliothek aber leider im Zuge ihrer Bearbeitung völlig zerrissen worden war,
sollte es dreieinhalb Jahre dauern bis die Restitutionsarbeiten halbwegs abgeschlossen
waren und Heinrich Schnitzler mitteilen konnte etwa zwei Drittel seiner Bibliothek
wiedererhalten zu haben.
Im Jahr 2005 konnten schließlich sowohl die erwähnten Photographien als auch
einige Bücher und Sammlungsobjekte, die in der Nachkriegszeit übersehen worden
waren, an ihre nunmehrigen Besitzer, die Enkeln und die Schwiegertochter Arthur
Schnitzlers, restituiert werden.
Fall Hugo Friedmann
Der Fall des jüdischen Wiener Wäschefabrikbesitzers Hugo Friedmann ist hingegen
nun einer jener zahlreichen Restitutionsfälle, die keinerlei Niederschlag in den
Aktenbeständen des Hauses gefunden haben. Dementsprechend schwierig gestaltete
sich die Recherche, an deren Beginn lediglich ein sehr markantes, schmuckloses
schwarzes Exlibris mit der Aufschrift „Hugo Friedmann Vindobonensis“ stand.
Exlibris des Sammlers Hugo Friedmann
Zu Beginn der Recherchen war nicht einmal klar, ob die so gekennzeichneten
insgesamt neun Handschriften und Inkunabeln überhaupt als bedenkliche
Erwerbungen im Sinne des Kunstrückgabegesetzes zu bewerten sind, wurden sie doch
erst lange nach 1945 in den Bestand der Handschriftensammlung aufgenommen.
Alleine auf Grund des Namens von Friedmann wurden Nachforschungen in
verschiedenen österreichischen Archiven angestellt. Im Zuge der Recherchen
offenbarte sich Stück für Stück das Schicksal des Sammlers Hugo Friedmann.
In Vorbereitung seiner Ausreise beauftragte Friedmann eine Wiener Spedition, sein
gesamtes Umzugsgut – darunter eine wertvolle Bibliothek und eine Kunstsammlung
– nach Triest zu transportieren, von wo aus die Verschiffung erfolgen sollte.
Das Umzugsgut tausender Emigranten wurde allerdings im Hafen von Triest
zurückgehalten und schließlich im Jahr 1944 durch die Dienststelle des Obersten
144
Kommissars für das Adriatische Küstenland beschlagnahmt. Darin befindliche
Bücher wurden in der Triester Synagoge gesammelt und von dort ins ganze Deutsche
Reich verteilt.
Maßgeblich an dieser Verteilung beteiligt war der zum Spezialsachverständigen für
Bücherkunde ernannte Generaldirektor Heigl, nachgewiesen ist ebenso, dass auch die
Nationalbibliothek sich aus diesen in Triest gesammelten geraubten Büchermassen
bediente. Es ist daher dringend anzunehmen, dass zumindest ein Teil von Friedmanns
Bibliothek auf diesem Weg Eingang in die Bestände der Nationalbibliothek fand.
Friedmanns Bemühungen die Ausreise seiner Familie zu organisieren, schlugen
fehl:
Hugo, seine Ehefrau Hilde und die beiden Kinder – Hans-Georg, damals 14, und
Liselotte, zehn Jahre alt – wurden im Oktober 1942 gemeinsam in das Ghetto
Theresienstadt deportiert und 1944 in Auschwitz beziehungsweise Dachau
ermordet.
Die wenigen nun aufgefundenen Stücke aus Friedmanns Bibliothek wurden 2005
an seine überlebenden Neffen restituiert.
Der Sammler Hugo Friedmann um 1938
145
PARLAMENTS- UND RECHTS-INFORMATIONEN FÜR EUROPÄISCHE BÜRGER. CROSSLINGUALES, SEMANTISCHESLANDTAGSINFORMATIONSSYSTEM IN VORARLBERG, EIN DIENST DER LANDESBIBLIOTHEK
MANFRED HAUER
ABSTRACT Die Landesregierung des österreichischen Bundeslandes Vorarlberg in Bregenz hat
die Analyse und Erschließung der Dokumente im Umfeld der Landtagssitzungen an
seine Landesbibliothek delegiert. Aus einfachen Word-Dokumenten werden durch
automatisierte Workflows mehrsprachig suchbare PDF-Dokumente generiert. Sie
sind durch Browsing für Bürger und Internet-Search-Engines sichtbar. Eine auf den
speziellen Bedarf abgestimmte Volltextsuche für alle Bürger und Landtagsmitglieder
ist verfügbar. In der Erschließung kommen u.a. eine kleine Klassifikation (Taxonomie,
Systematik) und mehrere Thesauri zum Einsatz, darunter der große EUROVOC
der EU in 18 Sprachen.
1. EUROPÄISCHER RAHMENDie Bundesrepublik Deutschland hat im Mai das „Gesetz über die Weiterverwendung
von Informationen öffentlicher Stellen (IWG)“ beschlossen und damit die Richtlinie
2003/98/EG umgesetzt. Dabei geht es darum, die Informationen aus öffentlichen
Stellen zur Weiterverwendung zur Verfügung zu stellen, dies in nicht diskriminierender
Weise, zeitnah und ohne überhöhte Entgelte und möglichst nicht exklusiv.
Der Landtag des Bundeslandes Vorarlberg hat schon seit vielen Jahren seine
Parlamentsschriften online suchbar. Die Suchergebnisse der alten, exklusiven Lösung
waren oft problematisch. Vorhandene Dokumente wurden in der Volltextsuche nicht
gefunden. Parlamentarier, Sachbearbeiter und Bürger hatten alle Schriften des Landtags
theoretisch voll zur Verfügung: öffentlich, kostenlos, technisch kompatibel – fanden
praktisch aber nicht den Weg dorthin. Wegen typischer Retrieval-Probleme!
Die Vorarlberger Landesbibliothek ist europaweit im Bibliothekswesen als Pionier
146
bekannt. Sie hatte einen elektronischen Katalog lange vor den meisten anderen
Bibliotheken und war vor vier Jahren Pionier mit der maschinellen Inhaltsanalyse
von Bücherinhaltsverzeichnissen und der Literatursuche auf Basis moderner
Retrievaltechnologie. Sie hat dem Landtag eine Alternative zur bestehenden Lösung
vorgeschlagen und übernimmt die maschinelle und die intellektuelle Inhaltsanalyse
der Parlamentsmaterialien.
2. ANFORDERUNGEN AN EINE NEUE LÖSUNGDie Lösung sollte im Landtag wenig an den gewohnten Arbeitsgängen ändern,
wo in Word-Dateien die Protokolle der Parlamentssitzungen und der sonstige
Schriftverkehr wie z. B. Anfragen an das Parlament erfasst werden. Wie bisher
sollte das Sekretariat die formalen Angaben erfassen, nun aber nicht mehr in Word-
Metadatenfeldern, weil es hier über die Jahre Inkonsistenzen gegeben hatte, sondern
in Notes-Masken. Eine Terminologiekontrolle, Übersichtslisten zur Kontrolle vieler
Dokumente oder Ähnliches war nicht vorhanden und sind in Word auch nicht
möglich.
Die neue Lösung sollte
Inkonsistenzen in den Metadaten reduzieren,
mehr Übersicht bieten,
die Produktion weitestgehend automatisieren und
die Suchleistung sollte sich verbessern.
Die Entwicklung der Lösung sollte von AGI – Information Management Consultants
durchgeführt werden, welche auch die maschinelle Indexierung und das crosslinguale
Information Retrieval bei der Landesbibliothek eingeführt haben. Die Entwicklung
erfolgte stark interaktiv.
3. INPUT-WORKFLOWDer Input ist nun deutlich stärker automatisiert und kontrolliert. Sobald eine Word-
Datei fertig ist, wird sie in einem Input-Folder abgelegt.
Die neue Applikation auf Basis von Lotus Notes & Domino 7.0 mit dem Projekt-
namen VLR-GOV überprüft automatisch beim Start, ob in dem Input–Folder
eine oder mehrere neue Dateien liegen und importiert nach Zustimmung. Durch
Meldungen sichtbar sieht sie, wie im Hintergrund MS-Word 2003 startet, verfügbare
Metadaten extrahiert werden, die Notes übernimmt, wie die Datei in eine PDF-
Datei für die Internet-Anzeige und eine Text-Datei für die maschinelle Indexierung
konvertiert wird und schließlich selbst ins Archiv wandert. Das Benutzerinterface
147
der Datenbank ist über Benutzerrollen gesteuert. Die Sekretärin sieht eine Liste
all jener neu importierten Dokumente, in denen die Metadaten noch fehlen oder
unvollständig sind. Hinter den meisten dieser formalen Metadatenfelder liegen nun
kontrollierte Listen, so von Landtagsperioden, Sitzungen, Parteien, Jahren, Orten,
Dokumenttypen.
Nach Erfassung der formalen Metadaten ist die Vorarlberger Landesbibliothek am
Ball – in einem einige Kilometer entfernten und sehr schön gelegenen ehemaligen
Benediktinerkloster mit Blick auf den Bodensee. Dort läuft intelligentCAPTURE
täglich zur Produktion in der Bibliothek, um Bücherinhaltsverzeichnisse zu scannen,
automatisch Aufsätze aus dem Internet zu holen und zu erschließen und einige
Websites automatisch zu beschreiben. Hier hinein fließen die Parlamentsdokumente,
werden automatisch im Hintergrund dieser Anwendung verarbeitet und verschwinden
nach der Produktion wieder ganz aus dem Programm intelligentCAPTURE.
Den letzten Schritt übernimmt ein ausgebildeter Bibliothekar. Er ordnet das
Dokument einer selbst entwickelten Klassifikation zu, einem hierarchischen
Themenbaum. Er kann ein oder mehrere solcher Klassen auswählen. Gegenüber
jedem maschinellen Document Clustering ist dieses Verfahren hinsichtlich
Richtigkeit und Relevanz überlegen. Denn dieser Bibliothekar kann diese Klassen
jederzeit fortschreiben, wenn neue Themen erforderlich sind. Er nimmt auch
die Auswahl relevanter Personen und Parteien vor. Suchbar sind alle Parteien und
Personen, aber besonders relevante werden durch seine Bewertung hervorgehoben.
Diese Bewertung verlangt ein gutes Verständnis der Landespolitik. Das kann bislang
keine Maschine erkennen.
4. DIE SEARCH ENGINE – CROSSLINGUAL, SEMANTISCHSo einfach es ist, ein Wort in eine Suchzeile zu tippen, so schwierig kann es manchmal
sein, die richtigen Worte zu finden.
VERZEICHNISSE:Manchmal weiß man nur grob den Zeitraum, in dem ein Thema behandelt worden
ist, dieser kann zeitlich weit zurückliegen, und Sprache wandelt sich laufend.
Sachbegriffe unterliegen Moden, Gremien werden umbenannt, Personen wechseln
ihre Namen etc. Deshalb ist ein einfaches Top-Down-Browsing von Landtagsperiode
über Jahre über Sitzungen und deren Themen realisiert.
Alternativ schafft der Themenbaum einen fachlichen Zugang – auf hohem
Abstraktionsniveau und innerhalb eines Themas nach zeitlicher Folge. So können
Diskussionsstränge überblickt werden.
148
Für viele Anfragen ist es leichter, über diese Navigationsstrukturen sich einem Thema
und einzelnen Dokumenten zu nähern, als über eine Volltextsuche.
Suche über beliebige Web-Search-Engines:
Die Verzeichnisstrukturen haben darüber hinaus einen technischen Nutzen. Sie
sind Links, die von Web-Crawlern von Search Engines ausgewertet werden. Somit
sind all diese Daten nicht mehr exklusiv über die Homepage der Landesregierung
suchbar, sondern auch über jede gute Search Engine. Diese Öffnung erscheint uns
wesentlich, da die Mehrzahl der heutigen Internet-Benutzer eher auf allgemeinen
Search Engines wie Yahoo, MSN, Ask oder Google zugreift, als von Anfang an auf
einschlägige Fachportale wie hier der Landesregierung.
SUCHMASKE: Für die meisten Recherchierenden steht dennoch die spezialisierte Suchmaske im
Vordergrund. So einfach wie bei Google genügt es, ein oder mehrere Suchworte
einzugeben. Doch dann beginnt der Unterschied: Jedes Suchwort wird in dem Thesaurus
der Europäischen Union, dem EUROVOC, gesucht und der längsten Übereinstimmung
wird der Vorzug gegeben. Der EUROVOC hat derzeit 18 Sprachen und wird vom
Parlament in Brüssel in Kooperation mit nationalen Parlamenten laufend fortgeschrieben
und übersetzt. Er kennt nicht nur für jeden Begriff seine Übersetzung, sondern auch
seine Synonyme, seine Unter- und Oberbegriffe und andere Begriffsassoziationen.
Wegen der Mehrsprachigkeit des Thesaurus spielt es keine Rolle, ob die Suchworte
in Deutsch oder einer der anderen EU-Sprachen eingegeben werden. Alle Suchworte
werden automatisch auf den deutschen Fachbegriff hingeführt – weil alle Dokumente
nur in deutscher Sprache eingestellt werden. So führt z.B. das Suchwort:
„bevölkerungsentwicklung“ zu der expandierten Query:
„bevölkerungsentwicklung“ OR „Bevölkerungsentwicklung“ OR „Bevölkerungs-
dynamik“ OR „dynamik, Bevölkerungs~“ OR „bewegung, Bevölkerungs~“ OR
„entwicklung, Bevölkerungs~“ OR „Bevölkerungsbewegung“ OR „Bevölkerungs-
entwicklung“ OR „Bevölkerungsbewegung“ OR „Demographische Entwicklung“
OR „Bevölkerungswachstum“ OR „Bevölkerungsrückgang“.
Ein Thesaurus ist eine sprachliche Sicht auf eine Domäne und der EUROVOC
keine spezielle Sicht auf Vorarlberg. Deshalb hat die Landesbibliothek ihren
Fachthesaurus zusätzlich eingebunden und wird einen speziellen Landesthesaurus,
der erst rudimentär existiert, entwickeln. Hier werden die Zusammenhänge
zwischen Regionen, Orten, Lagen, Pflanzen, Tieren, Wirtschaftsfeldern, Parteien,
Vereinigungen, Personen und mehr semantisch modelliert. Auch dies ist ein Thema
für die Landesbibliothek als Dienstleister für die Landesregierung.
149
Bei der Query-Expansion um Übersetzungen, Synonyme und optional auch
Unterbegriffe steht auch die Wortstammsuche (*familie*) und die Fuzzy-Suche
(Meyer, Mayer, Maier, Meir, Meier ...) alternativ zur Verfügung. Suchoperatoren wie
OR, AND, NOT, NEAR, SENTENCE sind zulässig, aber meist nur von Experten
genutzt. Anstelle von NEAR wie bei Google ist das strengere logische AND als
Default-Operator zwischen zwei Suchbegriffen implementiert.
Die maschinelle Indexierung hat nicht nur wichtige Worte in dem jeweiligen
Dokument erkannt und betont, sondern auch zusätzlich Grundformen erzeugt
und angemessene Deskriptoren, sprachliche Vorzugsbenennungen ergänzt. Somit
können Worte unabhängig von ihrer morphologischen Variante (Haus oder Häuser)
und oft unabhängig von ihrer Bezeichnung gefunden werden. In Kombination mit
den Thesauri, die während der Suche zugeschaltet werden, sollte dem Suchenden
nichts mehr entgehen.
Die Ergebnisanzeige nach Relevanz-Ranking, nach Dokumententyp oder Zeit wird
evtl. noch um eine Sortierung nach Themen ergänzt. Die gefundenen Dokumente
können mit und ohne Metadaten angezeigt werden, dank Acrobat ist das Drucken,
Sammeln in einer Kollektion, Versenden per E-Mail oder lokales Abspeichern,
Herauskopieren, die Suche, Zooming und mehr möglich.
5. EINSCHÄTZUNGDie Retrievalmöglichkeiten des neuen Landtagsinformationssystems dürften
im europäischen Raum für Parlamente noch weitgehend einzigartig sein. Es
ermöglicht zeitnah, kostenlos und insbesondere ohne sprachliche Barrieren einen
variantenreichen Zugang zu den Schriften des Vorarlberger Landtages.
150
DIE BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK: FORSCHUNGSBIBLIOTHEK UND MEHR
WILHELM HILPERT
Die Bayerische Staatsbibliothek (BSB) ist mit knapp über neun Millionen Bänden
die zweitgrößte Universalbibliothek des deutschen Sprachraumes. Sie nimmt
einerseits für Bayern als zentrale Landes- und Archivbibliothek eine führende
Rolle im Rahmen des Bayernkonsortiums und des kooperativen Leistungsverbundes
aller wissenschaftlichen bayerischen Bibliotheken ein. Darüber hinaus ist sie Teil
der virtuellen deutschen Nationalbibliothek, gemeinsam mit der Staatsbibliothek
zu Berlin Preußischer Kulturbesitz und der Deutschen Nationalbibliothek. In
diesem Zusammenhang sind die Aktivitäten der BSB vielfältiger Art und haben
ihren Schwerpunkt bei der Digitalisierung und der Langzeitarchivierung sowie
der Buch- und Handschriftenrestaurierung. Die Einzigartigkeit ihrer Bestände
sichert der Bayerischen Staatsbibliothek eine Rolle unter den weltweit führenden
Forschungsbibliotheken. Kennzahlen zur Bayerischen Staatsbibliothek aus dem Jahr
2005 sind in der Tabelle 1 zusammengefasst.
Leistungskennzahlen 2005
Gesamtbestand (Bände) 9.020.000
Bestandsaufbau (Euro) 11.700.000
Jahreszugang (Bände) 140.000
Leihvorgänge 2.115.000
davon Fernleihe/Dokumentlieferung 518.000
Benutzer 46.000
Personelle Ressourcen 460*
Tabelle 1: Leistungskennzahlen und personelle Ressourcen der Bayerischen
Staatsbibliothek (*inklusive 70,5 Stellen für Landesaufgaben)
Andererseits liegt die Bayerische Staatsbibliothek in unmittelbarer Nähe zu
einer der größten deutschen Universitäten. Viele der Studierenden, die täglich
in ihre Räumlichkeiten strömen, kennen kaum den Unterschied zwischen der
Universitätsbibliothek auf der gegenüberliegenden Straßenseite und der Bayerischen
Staatsbibliothek, haben beide Bibliotheken doch sogar einen gemeinsamen
Bibliotheksausweis. Überraschend zahlreich finden sich aber auch die Studierenden
der Technischen Universität und der Fachhochschule in den Lesesälen der BSB
ein. Es gehört heute ganz bewusst zur Philosophie unserer Direktion, keinerlei
151
künstliche Hürden für studentische Besucher des Hauses aufzubauen. Noch vor
fünfzehn Jahren war dies völlig anders. Jeder Student, der ein Buch ausleihen wollte,
musste nachweisen, dass er dieses nicht auch an einer Universitätsbibliothek hätte
entleihen können. Der Ruf, den sich die Bayerische Staatsbibliothek durch diese und
ähnliche Haltungen bei einer ganzen Generation von Studierenden erworben hat,
könnte katastrophaler kaum sein.
Die Bayerische Staatsbibliothek begibt sich heute ganz bewusst in dieses Spannungsfeld
zwischen den oft gegensätzlichen Ansprüchen einer Forschungsbibliothek einerseits
und einer Bibliothek für die studentische Grundversorgung andererseits. Aus Tabelle
2 ist ersichtlich, dass sich die Nutzer der BSB in zwei große Blöcke aufteilen lassen,
mit den studentischen Nutzern auf der einen und den wissenschaftlichen und
privaten Nutzern auf der anderen Seite.
Benutzergruppierung Aktive Nutzer (innerhalb der letzten 12 Monate)
Studenten und Schüler 28.637 61,5%
Wissenschaftler und
wissenschaftliche Einrichtungen 12.809 27,5%
Sonstige Privatnutzer 2.769 6,0%
Bibliotheken im Rahmen des
Leihverkehrs 1.647 3,5%
Behörden und interne Kunden
der BSB 728 1,5%
Gesamt ca. 46.590 100%
Tabelle 2: Benutzerübersicht der Bayerischen Staatsbibliothek
Natürlich findet sich unter den Studierenden auch der eine oder andere Doktorand
oder Habilitand, der mit seinen Nutzungskonditionen zufrieden ist und daher seine
studentische Nutzergruppe nicht hat ändern lassen. Auch die privaten Nutzer sind
zum überwiegenden Teil Wissensarbeiter mit einer akademischen Ausbildung. In
einer Gesellschaft, in der die Bürger selbstbewusst angemessene Leistungen der von
ihnen finanzierten Einrichtungen einfordern, wäre es äußerst gefährlich, sich nur
für einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung zuständig zu erklären. Wenn man sich
152
aber entscheidet, die mündigen und erwachsenen Bürger zuzulassen, dann gilt dies
eben auch für die Studierenden, die eindeutig dieser Gruppe zuzurechnen sind. Die
allerschlechteste Lösung ist jedenfalls, sie nur ein ‚kleines bisschen’ zuzulassen, so
wie bis in die frühen neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts an der BSB geschehen,
denn dies wird letztendlich nur dazu führen, dass der Bibliothek dieses Vorgehen
von den meisten Betroffenen völlig zu Recht als behördliche Schikane ausgelegt
wird. Der Service für Studierende an der Bayerischen Staatsbibliothek hat aber
auch seine Grenzen, da die BSB eben keine Universitätsbibliothek ist. So ist trotz
immer wieder vorgebrachter studentischer Forderung keine Lehrbuchsammlung
eingerichtet worden und es wird auch keine Mehrfachexemplare der wichtigsten
Studienliteratur im Allgemeinen Lesesaal geben.
Es ist längst gängige Praxis, auch Dienstleistungen, wie sie von Bibliotheken erbracht
werden, zu messen. Die Qualität solcher Dienstleistungen ist dabei naturgemäß sehr
viel schwerer fassbar als die reine Quantität. Eine Institution, die nur auf Qualität
setzen würde, liefe hier Gefahr, als zwar einerseits elitär, aber andererseits auch wenig
effektiv zu gelten. Wer diesen Ruf besitzt, dem wird von Entscheidungsträgern wohl
kaum zugetraut, einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Bildungs- und
Ausbildungssituation sowie der Informationsversorgung der Bürger eines Landes zu
leisten. Die Folgen für Etat und Personalstand wären nicht nur in Zeiten knapper
öffentlicher Kassen für eine Bibliothek verheerend.
Es soll nicht verschwiegen werden, dass der Weg, den die Bayerische Staatsbibliothek
hier geht, schwierig ist. Und ganz sicher ist er eines nicht, konfliktfrei. Im Allgemeinen
Lesesaal, der mit seinen 550 Arbeitsplätzen zwar groß, aber nicht unbegrenzt
ist, treffen die unterschiedlichen Ansprüche und Erwartungen der Nutzer sehr
akzentuiert und massiv aufeinander. Durch die starke studentische Inanspruchnahme
ist der Lesesaal an vielen Tagen im Jahr ab 10.00 Uhr bis auf den letzten Platz
gefüllt. Wer ab dieser Zeit den Lesesaal besucht, um die Bücher einzusehen, die er
sich für seine Forschung in den Lesesaal bestellt hat – alle Bestände vor 1906 werden
nur in den Lesesaal ausgegeben –, der ist gezwungen, im Stehen zu arbeiten oder
sich auf eine der Treppen zu setzen.
153
Der Allgemeine Lesesaal der Bayerischen Staatsbibliothek ist an
sieben Tagen der Woche von 8.00 bis 24.00 Uhr geöffnet.
Da die räumlichen Möglichkeiten weitgehend ausgeschöpft sind, haben wir zur
Lösung der oben geschilderten Überfüllung zunächst den Weg über die Erweiterung
der Öffnungszeiten ins Auge gefasst. Es bestand dabei immerhin die Chance, dass ein
Teil der Nutzer auf die erweiterten Randzeiten ausweicht, um somit eine Entlastung
zu den Kernzeiten zu erreichen. Dazu wurde im Sommer 2005 eine ganz bewusst
kurz gehaltene Umfrage unter den Besuchern des Lesesaales durchgeführt. Über
70 % der Besucher zeigten sich mit den bestehenden Öffnungszeiten unzufrieden
und konnten zwischen mehreren Varianten zukünftiger Öffnungszeiten wählen,
darunter auch eine Rund-um-die-Uhr-Öffnung. Mit großem Abstand wurde von
den Besuchern die Variante gewählt, bei der die Bibliothek an sieben Tagen der
Woche von 8.00 Uhr bis 24.00 Uhr geöffnet ist.1 Mit Beginn des Jahres 2006 haben
wir entsprechend dieser Wahl die Öffnungszeiten erweitert. Sehr schnell zeigte sich,
dass das neue Angebot hervorragend angenommen wurde: sowohl was den Besuch
in den Morgen- und Abendstunden, aber auch an den Wochenenden betraf. Die
Hoffnung auf eine Entlastung zu den Kernzeiten unter der Woche hat sich jedoch
nicht erfüllt.
1 Klaus Ceynowa: 2.000 Stunden mehr … Die neuen Öff nungszeiten der Bayerischen
Staatsbibliothek. In: Bibliotheksforum Bayern, 34 (2006) 1/2, 41.
154
Das wichtigste Ergebnis einer Nutzerumfrage im Jahr 2005 war, dass
für ca. 86% der Besucher Öffnungszeiten von 8.00 Uhr bis 24.00 Uhr
an sieben Tagen in der Woche ausreichend sind.
Die Betreuung des Lesesaales in den Erweiterungszeiten wurde ausschließlich in die
Verantwortung einer externen Firma übergeben, die dafür zwei Personen einsetzt.
Eine Person besetzt die Zugangs-Ausgangs-Kontrolle und eine Person ist als „mobile
Aufsicht“ im Einsatz.
Das Problem einer adäquaten Arbeitssituation für unsere forschende Klientel war damit
aber immer noch nicht annähernd gelöst. In dieser Situation hat sich die Bayerische
Staatsbibliothek entschlossen, einen Teil des Allgemeinen Lesesaales – insgesamt 58
Arbeitsplätze – durch einerseits variable, andererseits hinreichend stabile Elemente
aus Lärm dämmendem Material und Glas abzutrennen und als Lesesaalbereich für
Forschung auszuweisen. Für die Zulassung zu diesem Lesesaalbereich für Forschung
ist erstens ein abgeschlossenes Hochschulstudium nachzuweisen, zweitens eine
aktuelle Forschungstätigkeit, sei es über eine Bestätigung einer Hochschule, ein
Stipendium oder aktuelle Veröffentlichungen. Drittens muss ein Bezug zum Bestand
der Bayerischen Staatsbibliothek gegeben sein. Der Zugang zum Lesesaalbereich
für Forschung geht über eine Türe mit einer Transponderschließanlage. Der Vorteil
solcher Schließanlagen liegt darin, dass verloren gegangenen Transponderschlüsseln
die Zugangsberechtigung entzogen werden kann. Ein Missbrauch verlorener
Schlüssel kann somit auf einfachem Wege verhindert werden. Die Ausgabe der
Transponder erfolgt gegen Kaution und ist jeweils auf ein halbes Jahr befristet.
Gewünschte Öffnungszeiten
304
30%
129
13%428
43%
111
11%
29
3%
Öffnungszeiten wie bisher
Werktags 8-24 Uhr Sa/So wiebisher
An jedem Tag 8-24 Uhr
7 Tage / 24 Stunden
eigener Vorschlag
155
Der Lesesaalbereich für Forschung findet sich im Allgemeinen
Lesesaal und ist durch flexible, schalldämpfende und weitgehend
transparente Elemente abgetrennt.
Bis heute – der Lesesaalbereich für Forschung ist nun fünf Monate in Betrieb –
wurden ca. 180 Transponderschlüssel ausgegeben. In Spitzenzeiten der Nutzung sind
die 58 Arbeitsplätze zu etwa 80% belegt. Eine Vielzahl der Zugelassenen hat sich sehr
positiv über diese Einrichtung geäußert, zum Teil gab es geradezu überschwängliches
Lob. Die Kritik der Nichtzugelassenen, im Wesentlichen sind es Studierende, ist
überraschend moderat ausgefallen, bedenkt man, dass ein abgeschlossener Bereich
mit freien Plätzen in einem ansonsten hoffnungslos überfüllten Lesesaal äußerst
provokant wirkt. Insgesamt waren es nur vier Beschwerden. Ein Grund für diese
erstaunlich geringe Zahl mag sein, dass die Studierenden erkennen, dass sie in
absehbarer Zeit als Doktoranden selbst in den Genuss einer Zulassung kommen
können und dass die Sicherheit auf einen Lesesaalplatz gerade in dieser Phase ihrer
Studien auch für sie selbst ein hohes und dringend benötigtes Gut darstellt.
Zeitgleich mit der Einrichtung des Lesesaalbereiches für Forschung wurden weitere
Maßnahmen gegen einen Missbrauch des Allgemeinen Lesesaales und seiner
Angebote unternommen. Ein Beispiel ist die Einführung von Sisis-Web-Control.
Durch den Einsatz dieser Software kann sichergestellt werden, dass nur noch
eingetragene Nutzer der Bayerischen Staatsbibliothek die 50 Internetarbeitsplätze
im Lesesaal benutzen. Die Bayerische Staatsbibliothek wird es verschmerzen, dass
sie dadurch zukünftig keine Erwähnung mehr in ostasiatischen oder australischen
156
Reiseführern findet. Wurde sie doch dort nicht wegen ihrer reichhaltigen Buch-
bestände, sondern nur wegen der Möglichkeit des kostenfreien Zuganges ins Internet
– auch für Touristen – aufgenommen.
In einer Umfrage im Jahr 2006 wurden einige Fragen zur Wirkung der
Bibliothek gestellt. Die Ergebnisse haben uns überaus ermutigt.
Die Bayerische Staatsbibliothek hat sich in den letzten Jahren insgesamt zu einem
modernen bibliothekarischen Dienstleistungszentrum für alle Bürger gewandelt.
Ein neuer Internetauftritt, die Einführung eines virtuellen Auskunftsdienstes
oder der Beitrag der BSB zum Erwerb und zur Verbreitung der Nationallizenzen
für Datenbanken runden das in diesem kurzen Beitrag geschilderte Bild ab.
Den Mitarbeitern wird hohe Flexibilität und laufend die Bereitschaft zu Neuem
abverlangt. Ein Lohn hierfür ist, dass die BSB offensichtlich für ihre Nutzer zu
einer Institution geworden ist, die ihnen bei der Lösung ihrer Probleme in hohem
Maße behilflich ist. In einer Umfrage im Jahr 2006 hat auf die Frage: „Inwieweit
hat die BSB folgende Ihrer Tätigkeiten unterstützt oder zu einem erfolgreichen Abschluss
gebracht?“, der überwiegende Teil der Nutzer – weit über 85% – die BSB als sehr
hilfreich oder gar als Voraussetzung für den Erfolg angesehen.
050
100150200250300350400450500
Wissenschaftliche Arbeit
Studium
Berufliche Arbeit
Schulzeit
157
AGENTEN DER WISSENSGESELLSCHAFT? FRAGEN AN EINE NEUE SOZIOLOGIE DER BIBLIOTHEK
OLAF EIGENBRODT
Bibliotheken sehen sich – wie andere Informationseinrichtungen auch – gerne
als selbstverständlichen Teil der Wissens- oder Wissenschaftsgesellschaft. Hierbei
handelt es sich oberflächlich betrachtet um eine gesellschaftliche Konstellation, in
der ökonomisch das Wissen bzw. die Wissenschaft (als Tätigkeit und Einrichtung)
eine bedeutende Rolle spielt. Gefragt wird, ob Information hier Rohstoff oder Ware
ist oder wie man mit der beschleunigten technischen Entwicklung Schritt halten
kann. Dies sind Fragen an die Ökonomie und die Technologie, die gestellt werden,
wenn es um die Zukunft und die Entwicklung des Bibliothekswesens geht. Die
Fragen, die man an eine neue gesellschaftliche Konstellation – wenn man sie als
solche wirklich ernst nimmt – stellen sollte, sind jedoch zuallererst soziologische
Fragen. In dem Moment, in dem wir die Bibliothek nicht mehr als Teil einer
lebendigen Gesellschaft und die Benutzer oder Kunden nicht mehr als Individuen
mit speziellen Bedürfnissen und Fragen sehen, geben wir den Anspruch auf, uns mit
der Gesellschaft und den Individuen zu entwickeln. Im Folgenden möchte ich diesem
Anspruch etwas nachgehen – theoretisch, indem ich Fragen an die gesellschaftliche
Bedeutung von Bibliotheken und Informationseinrichtungen stelle – praktisch,
indem ich an zwei Beispielen zeige, welche Bedeutung soziologische Fragestellungen
haben können. Ich beginne aber mit der grundlegenden Frage, warum wir eigentlich
eine Soziologie der Bibliothek brauchen.
Im deutschsprachigen Raum spielte die Soziologie im bibliothekswissenschaftlichen
Bereich lange die Rolle einer Hilfswissenschaft. Sie lieferte empirische Daten und
Vergleichswerte – zum Beispiel für die Benutzerforschung – oder auch Schlagworte
wie ‚Informationsgesellschaft’ für politische Debatten um die Zukunft der Bibliothek.
Diese Marginalisierung grundlegender soziologischer Forschung hat einen Grund:
Die Bibliothekswissenschaft führt seit ihrer Entstehung ein Doppelleben zwischen
einer geisteswissenschaftlichen Disziplin und einem anwendungsorientierten Fach.
Mit der weltweiten Umbenennung von Library Science in Information Studies schien
diese Frage in den 1990er Jahren und darüber hinaus entschieden. Aus deutscher
Sicht war der Höhepunkt dieser Entwicklung die drohende Schließung des einzigen
universitären Instituts für Bibliothekswissenschaft an der Humboldt-Universität zu
Berlin, das jetzt als Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft reüssiert.
158
Man fragte sich endlich: Bibliothekswissenschaft – quo vadis.1 Im angelsächsischen
Raum und den skandinavischen Ländern hatte diese Diskussion schon in den 1990er
Jahren begonnen. Auf Grund immer sichtbarer werdender gesellschaftlicher Brüche
machte man sich über die makrostrukturelle Rolle der Bibliotheken Gedanken.
Ausgehend von den Öffentlichen Bibliotheken nahm man den ‚sozialen Raum’ der
Bibliothek ins Visier, doch dazu später. Bei eingehender Literaturrecherche stellt sich
heraus, dass die Soziologie der Bibliothek unterschwellig immer ein Thema war, nach
den 1970er Jahren aber von technischen und ökonomischen Fragestellungen verdrängt
wurde. Jetzt beginnt man wieder öffentlich, sich über die Rolle der Soziologie in der
Bibliotheks- und Informationswissenschaft Gedanken zu machen:
„What we need are profound reflections on the unique characteristics of today‘s
democratic challenges and the ways public librarianship can and must be reformulated
in order to be relevant with respect to those changes.”2
Was Ragnar Audunson hier als Herausforderung für die Auseinandersetzung mit
dem öffentlichen Bibliothekswesen definiert, sieht Magnus Torstensson allgemeiner
und auch existentieller:
„I think that it is important that courses and research within the perspective ‚library
and society‘ are given substantial scope in LIS departments. This, I consider, is
important, not only for the role of libraries concerning citizenship, but also for the
survival of libraries and library education itself. We must know why we exist and
what we are working for.”3
Torstensson geht davon aus, dass die Impulse hinsichtlich sozialer Verantwortung
eher aus der Praxis und von den Bibliotheksverbänden kommen als aus dem
wissenschaftlichen Bereich. Das sehe ich für den deutschsprachigen Raum auch
so. Schon lange beschäftigen sich Bibliothekare mit Problemen wie Erreichbarkeit
migrantischer Bevölkerungsgruppen oder dem Digital Divide. Dies sind zuallererst
gesellschaftliche Fragen, mit denen sich eine Soziologie der Bibliothek systematisch
und substantiell auseinandersetzen müsste. Dass der Digital Divide nicht in erster
Linie ein technisches Problem ist, wird später noch einmal Thema sein.
Heißt das, dass Soziologie der Bibliothek vor allem Selbstversicherung für
Bibliothekare ist? Eine Art Selbsthilfeprogramm für einen Berufsstand, der sich in
Zeiten von Google neue Beschäftigungen sucht? Ich denke nicht. So wichtig die
1 Petra Hauke: Bibliothekswissenschaft – quo vadis? Eine Disziplin zwischen Traditio-
nen und Visionen. Programme – Modelle – Forschungsaufgaben. München 2005.
2 Ragnar Audunson: Th e public library as a meeting place in a multicultural and digital
context. Th e necessity of low-intensive meeting places. In: Journal of Documentation,
61 (2005) 3, 429–441, 440.
3 Magnus Torstensson: Libraries and society – the macrostructural aspect of library and
information studies. In: Library Review, 51 (2002) 3/4, 211–220, 219.
159
Selbstvergewisserung über das für wen und warum für eine erfolgreiche Arbeit ist, so
wenig ist sie nur eine Nabelschau. Es geht nicht um die Erfindung neuer Rollen, weil
man ansonsten mit der Entwicklung nicht mithalten kann. Bibliotheken haben schon
immer einen Katalog an gesellschaftlichen Funktionen, der ihre Existenz wesentlich
begründet. Dieser wird nicht durch einen neuen ersetzt, sondern lediglich erweitert.
Aus meiner Sicht würde ich zur Zeit folgende Punkte in den Vordergrund stellen:
– Sicherung der Meinungs- und Informationsfreiheit
– Teilnahme am kulturellen und gesellschaftlichen Leben
ermöglichen bzw. unterstützen
– Gesellschaftliche Vielfalt fördern
– Austausch zwischen Individuen und Gruppen ermöglichen
– Kulturelles Erbe bewahren und zugänglich machen
– Wissenschaftskommunikation fördern
– Unterstützung von Erziehung, Bildung und Wissenschaft
– Individuelles Lernen ermöglichen
– Demokratisches Denken und Handeln fördern
Dies ist nur eine vorläufige und etwas ungeordnete Liste. Ich denke, es ist aber wichtig
zu begreifen, dass hier Kernaufgaben bibliothekarischen Handelns und Grundwerte
bibliothekarischer Ethik liegen. Technologie und Betriebswirtschaft sind nur
Hilfsmittel, dies unter sich verändernden Rahmenbedingungen zu erreichen. Das war
auch schon Martin Schrettinger bewusst, der die ‚vollkommene Geschäftsführung‘
nicht als Selbstzweck begriffen hat.4 Es ist aber gerade in Deutschland aus
historischen Gründen etwas schwieriger, Grundwerte bibliothekarischen Handelns
so selbstverständlich aus der Tradition heraus zu vermitteln, wie es Amerikaner,
Briten oder Skandinavier tun. Bibliotheken lassen sich eben auch unter Bedingungen
wie Monarchie oder Totalitarismus effizient organisieren – ihre gesellschaftliche
Rolle bleibt dann zu hinterfragen.
Die gesellschaftlichen Umbrüche, die wir jetzt unter demokratischen Vorzeichen
erleben, sind weitreichend genug, um sich zu überlegen, wie wir darauf reagieren
können und müssen.
Nicht erst seit den 1990er Jahren ist absehbar, dass wir uns von dem Konzept der
Industriegesellschaft wie wir es kannten abwenden müssen. Der Soziologe Daniel
Bell hat bereits in den 1970er Jahren basierend auf empirischen Daten den Übergang
in eine nachindustrielle Gesellschaft beschrieben.5 Nachindustriell bedeutet, dass
4 Martin Schrettinger: Versuch eines vollständigen Lehrbuchs der Bibliothek-
Wissenschaft oder Anleitung zur vollkommenen Geschäftsführung eines Bibliothekars.
München 1829.
5 Daniel Bell: Die nachindustrielle Gesellschaft. Frankfurt am Main 1985.
160
der industrielle Sektor gegenüber der Dienstleistungswirtschaft volkswirtschaftlich
an Bedeutung verliert, dass die Zahl professionalisierter und technisch qualifizierter
Berufe zunimmt und dass das theoretische Wissen wichtiger wird als praktische
Fähigkeiten. Bell war nicht der einzige Soziologe, der sich schon damals mit
diesen Fragen beschäftigte. In diesem Umfeld wurden die wirkungsmächtigen
Begriffe Dienstleistungsgesellschaft, Mediengesellschaft, Informationsgesellschaft,
Wissensgesellschaft und Wissenschaftsgesellschaft (und noch einige mehr) geprägt.
Dabei war schon Bell sich bewusst, dass mit der Industriegesellschaft das letzte
gesellschaftstheoretische Modell mit normativem Anspruch abgelöst wurde:
„Wir können die ‚Totalität‘, das ‚Ding an sich‘ nicht erkennen. Jede Gesellschaft
muss unter verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden, wobei sich ein Analytiker
allerdings seines jeweiligen Standpunktes bewusst sein muss.”6
Es ist heute nicht möglich, ein bestimmtes Modell als für die gesamte Gesellschaft
gültiges zu konstatieren. Die Auflösung der bürgerlichen Öffentlichkeit, von
Jürgen Habermas zehn Jahre zuvor formuliert, ist durchaus mit diesen Prozessen in
Verbindung zu bringen.7 Dieser Tatsache sollten wir uns bewusst sein, wenn wir von
Informations- oder Wissensgesellschaft reden.
Untereinander sind diese Begriffe – entgegen ihrer gängigen Verwendung – auch
nicht austauschbar. Informationsgesellschaft ist ein technologisch zentriertes
Gesellschaftsmodell, das im wesentlichen von binären Konstellationen bestimmt
wird. Die zugrunde liegenden Modelle und Formeln sind fest in einer technischen
Welt verhaftet und machen dort auch Sinn. Sie sind aber nicht einfach auf den
Menschen übertragbar. Die intersubjektive Anthropologie weiß schon seit langem,
dass ein dyadisches Modell nicht ausreicht, die Konstitution des Individuums zu
erklären.8 Die Subjektbildung und jede nachfolgende Kommunikation setzt demnach
die Figur des oder der Dritten voraus, der/die/das nicht auf ein Rauschen reduziert
werden kann, sondern durch seine Anwesenheit den Prozess erst ins Laufen bringt.
Oder anders:
„The ends of information, after all, are human ends. The logic of information must
ultimately be the logic of humanity. For all information‘s independence and extent,
it is people, in their communities, organizations and institutions, who ultimately
decide what it all means and why it matters.”9
6 Ebd., 19.
7 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öff entlichkeit. Untersuchungen zu einer Kate-
gorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied u.a. 1962.
8 Jürgen Fischer: Der Dritte. Zur Anthropologie der Intersubjektivität. In: wir/ihr/sie.
Identität und Alterität in Th eorie und Methode, hg. von Wolfgang Eßbach. Würzburg
2000, 103–136, 104.
9 John Seely Brown, Paul Duguid: Th e social life of information. Boston 2000, 18.
161
Das dyadische Konzept der Informationsgesellschaft widerspricht dieser Logik.
‚Reine’ Information kann in einer menschlichen Umgebung nicht existieren, weil
Erfahrung und Bedeutung sie immer direkt verändern. Insofern stellt das Wissen eine
entscheidende Erweiterung dar. Nicht nur, weil es die beiden genannten Faktoren
voraussetzt, sondern weil es genau in den Räumen entsteht und existiert, die in der
technischen Informationstheorie als Rauschen wahrgenommen werden. Dabei ist es
egal, ob es sich um die aufklärerische Vorstellung des diskursiv erworbenen Wissens
handelt, oder um das „Schwarmwissen“ des Internet.
Wenn man sich aus diesen Gründen für das Modell Wissensgesellschaft entscheidet,
muss man sich bewusst sein, dass man damit nicht die gesamte Gesellschaft beschreibt
und erst recht nicht alle Menschen erreicht. Für mich ist es aber in zweierlei Hinsicht
wertvoll: Zum einen, weil man in der Diskussion über den Begriff eine Vermittlung
zwischen den beiden Polen einer polytechnischen und einer geisteswissenschaftlichen
Bibliothekswissenschaft erreicht, zum anderen, weil Wissensgesellschaft sich als
politisches Schlagwort sehr gut mit Bibliotheken verbinden lässt.
Es bleibt die Frage, warum die Wissensgesellschaft oder jede andere Teilgesellschaft
auf den physischen Raum der Bibliothek setzen sollte, wo doch genug andere
physische und virtuelle Räume zur Verfügung stehen. Dazu muss man zunächst die
Frage beantworten, inwiefern der Bibliotheksraum überhaupt ein sozialer Raum
ist oder sein sollte. Audunson definiert in dem schon zitierten Aufsatz drei soziale
Theorien des Bibliotheksraums:
Der ‚moralische Raum’: Diese kommunitaristisch geprägte Theorie geht von einer
Ethik der Gemeinschaft aus, die von der Bibliothek gegen eine zunehmende
Individualisierung und Kommerzialisierung zu verteidigen ist. Die Verwurzelung in
den 1960er und 1970er Jahren ist diesem Modell deutlich anzumerken, es lässt sich
aber auch an moderne globalisierungskritische Protestbewegungen anschließen.
Der ‚soziale Raum’ ist dagegen weniger politisch als soziologisch basiert. Populär
geworden ist dabei das Modell der Bibliothek als ‘Dritter Raum’: ein barrierefrei
zugänglicher, politisch neutraler, nicht-kommerzieller und vor allem nicht hierarchisch
geprägter Treffpunkt zur gesellschaftlichen Verständigung über soziale, ethnische,
politische oder religiöse Schranken hinweg.
Der ‚diskursive Raum’ schließt an das Ideal des öffentlichen Raums der bürgerlichen
Gesellschaft an: Die Menschen treffen sich als Bürger ihrer Gemeinde bzw. aktive
Teile ihrer Gemeinschaft.10
Ich möchte die Frage etwas von den politischen Implikationen der einzelnen Modelle
lösen und eine von den Funktionen her gedachte Herangehensweise wählen. Sicher
10 Vgl. Ragnar Audunson: Th e public library as a meeting place in a multicultural and
digital context, a.a.O., 435.
162
ist die Bibliothek seit Habermas nicht mehr als eine im klassischen bürgerlichen
Sinne öffentliche Sphäre zu denken, obwohl sie auch noch entsprechende Funktionen
erfüllt. Daher habe ich in Anlehnung an Hannah Arendt vorgeschlagen, die Bibliothek
als gesellschaftlichen Raum zu bezeichnen.11 Der gesellschaftliche Raum definiert
sich danach über seine Multifunktionalität. Wie Audunsons Liste zeigt, sind je
nach politischer Voraussetzung ganz unterschiedliche Funktionen möglich, die sich
aber meiner Meinung nach gegenseitig nicht ausschließen. Hinzu kommen aber
etliche andere Funktionen, die, auch wenn sie zum Teil kontemplativen Charakter zu
haben scheinen, die Anwesenheit des/der Dritten voraussetzen oder zumindest nicht
ausschließen. In seiner Neutralität kommt die Definition als gesellschaftlicher Raum
dabei dem sozialen Raum am nächsten, der vor allem von Oldenburg als ‚Dritter
Raum‘ propagiert wurde.12 Audunson spricht in diesem Zusammenhang von „low
intensive meeting places” und meint damit solche Orte, die nicht durch fest gefügte
und hierarchische soziale Strukturen definiert sind, sondern Begegnungen auf einem
relativ niedrigen Level zulassen.
Obwohl die Öffentliche Bibliothek hier immer besonders hervorgehoben wird,
sind auch Wissenschaftliche Bibliotheken mit diesen Modellen zu erfassen. Sie
funktionieren als gesellschaftliche Räume auch dann, wenn sie explizit nur eine
Teilgesellschaft oder eine definierte Gruppe wie z.B. die Campusgemeinschaft
ansprechen. Gerade für die im Gegensatz zu Universitätsstädten in Deutschland oder
Österreich in ihrer Reichweite sehr begrenzten Universitäts- und Collegebibliotheken
in den USA sind in den letzten Jahren soziologische Studien angestellt worden.
Ich möchte zeigen, wie hier soziologische Erkenntnisse zum Raum der Bibliothek
tatsächlich in die praktische Planung von Bibliotheken eingreifen könnten.
Ausgehend von der Fragestellung, welche Bedeutung Bibliotheken heute noch für
das soziale Leben auf dem Campus und damit das Funktionieren der Universität
haben, stellte man ein unerwartetes Verhalten von Studierenden fest:
„While students are intensely engaged in using new technologies, they also want
to enjoy the library as a contemplative oasis. Interestingly, a significant majority of
students still considers the traditional reading-room their favorite area of the library
– the great, vaulted, light-filled space whose walls are lined with books they may
never pull off the shelf.”13
11 Olaf Eigenbrodt: Bibliotheken als Räume urbaner Öff entlichkeit. Berliner Beispie-
le. Berlin 2005, 20. Vgl. auch Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigem Leben.
München 1996.
12 Ray Oldenburg : Th e Great Good Place. New York 1989.
13 Geoff rey T. Freeman: Th e Library as Place. Changes in Learning Patterns, Collections,
Technology and Use. In: Library as Place. Rethinking Roles, Rethinking Space, hg. von
Council on Library and Information Resources. Washington 2005, 1–9, 6.
163
Betrachtet man soziologische Erkenntnisse und Studien der letzten 10 Jahre, ist
diese Feststellung weniger überraschend. Würde man allerdings mitteleuropäische
Kapazitäten des Bibliotheksbaus mit der Frage konfrontieren, ob man bei einem
Um- oder Neubau einen Lesesaal vorsehen soll, würde die Antwort negativ ausfallen.
Der Raum der Bibliothek muss – dogmatisch betrachtet – funktional und voll
flexibel sein. Entgegen lernpsychologischer und soziologischer Erkenntnisse wird
ein Arbeitsverhalten bei den Benutzern behauptet, das dem erwähnten dyadischen
Mensch-Maschine-Verhältnis entspricht. Allenfalls Gruppenarbeitsräume sind heute
denkbar. Warum aber die merkliche Anwesenheit anderer Menschen und das Arbeiten
in einer Gemeinschaft auch ohne direkte Kommunikation für die Konzentration
wichtig sein können und für die Selbstvergewisserung des Individuums in der
Wissensgesellschaft sogar entscheidend sind, kann man nicht beantworten, wenn man
keine soziologische Reflektion betreibt. Wieder einmal sind es die angelsächsischen
und skandinavischen Länder, die hier angefangen haben, neue Fragen zu stellen und
Antworten zu suchen. Bibliotheken sind keine eindimensionalen Funktionsräume,
sondern bieten ein Konglomerat an verschiedenen Nutzungen. Dies bedeutet die
Abkehr von einer auf Effizienz klassischer bibliothekarischer Aktivitäten und die
Präsentation von Informationsressourcen konzentrierten, rein funktionalistischen
Bibliotheksarchitektur.14
Damit bin ich bei meinen abschließenden Bemerkungen und Fragen zum Digital
Divide angelangt. Der Digital Divide wird oft – ausgehend von den Problemen
der weniger oder wenig entwickelten Länder – als die soziale Frage der Zukunft
betrachtet. Globale Akteure wie die UNESCO und die Bill and Melinda Gates
Foundation legen Programme auf und Kofi Annan stellt auf dem UN-Weltgipfel
zur Informationsgesellschaft Notebooks mit Handkurbeln vor, die Schülern in
unterentwickelten Ländern auch ohne Stromversorgung Anschluss an das Internet
bieten sollen. Es wird also viel getan, auch wenn manches nach Aktionismus klingt.
Ich möchte das Augenmerk auf einige soziologische Fragen lenken, die sich für
mich damit verbinden. Zum einen – und das ist inzwischen nichts Neues mehr
– verläuft der digitale Graben nicht nur irgendwo südlich der Sahara, sondern
mitten durch die europäischen postindustriellen Gesellschaften. Auch hier wird
Aktionismus entwickelt und in den Schulen (und neuerdings auch Altenheimen)
werden Anschlüsse an das Internet geschaffen. Aber bedeutet so ein Anschluss
auch einen wirklichen Zugang zu den Informationsressourcen? Was ist mit Kindern
und Jugendlichen, die die Angebote ihrer Schule gar nicht nutzen? Welches sind
14 Vgl. Olaf Eigenbrodt: Living Rooms und Meeting Places – aktuelle Annäherungen
an den Raum der Bibliothek. In: Die Bibliothek als öff entlicher Ort und öff entlicher
Raum/Th e Library as a Public Place and Public Space, hg. von Paul S. Ulrich. Berlin
2006, 47–61, 55–59.
164
die Informationskompetenzen, die Kinder in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit
brauchen? Welche Informationen brauchen arabischstämmige Jugendliche, um
die antisemitische und gewaltverherrlichende Propaganda, die ihnen auf vielen
Fernsehkanälen und Internetseiten ihrer Community begegnet, als solche einordnen
zu können? Oder kürzer gefasst: Ist die Zahl der Internetanschlüsse wirklich ein
Zeichen für den Grad der Informationskompetenz, den eine Gesellschaft hat? Es geht
eben nicht nur um einen digitalen Graben, den man mit Rechnern und Anschlüssen
überbrücken kann, sondern um ein grundsätzliches Problem der Wissensgesellschaft,
den Zugang zum Wissen selbst. Die vorhandenen Lösungsansätze lassen überdies
viele Fragen offen. Wo kommen eigentlich die Rohstoffe für die Hardwareausstattung
der Anschlüsse her, wenn man wirklich das Ziel hätte, möglichst allen Menschen in
Schwellen- und Entwicklungsländern einen Internetzugang zu ermöglichen? Wer
stellt die Rechnerkapazitäten, baut die Netze und sichert die Stromzufuhr? Zur Zeit
stellt sich die Lage ganz anders dar: Jeden Monat werden 400.000 Computer umsonst
aus entwickelten Ländern nach Nigeria gebracht, allerdings als Sondermüll.15
Wenn man den Digital Divide diskutiert, kommt man sehr schnell auf das Thema
Open Access zu sprechen, aktuell eine der wichtigsten Fragen im Bereich der
wissenschaftlichen Bibliotheken. Open Access spielt jedoch nur da eine entscheidende
Rolle, wo die Personen und Infrastrukturen vorhanden sind, die frei verfügbaren
Angebote zu finden und zu nutzen. Der Digital Divide ist aber nicht in erster Linie
mit der quantitativen Frage von Anschlüssen oder frei zugänglichen Ressourcen
verbunden, sondern mit sozialen Problemen. Die Schaffung von wirklichem Zugang
zu – im jeweiligen kulturellen Kontext – relevanten und qualitativ hochwertigen
Informationen ist der einzige wirklich strategische Ansatz:
„Providing access is much more than having equipment available for people to see. It
is about motivating people to become involved making them feel comfortable about
doing so, helping them get started and then to develop their learning capabilities;
and, ultimately, to encourage the broad mass of people in our society to communicate
and participate in shaping the information society”16
Viele der Fragen, die eine in diesem Sinne neue Soziologie der Bibliothek stellen
könnte und müsste, sind hier nicht berücksichtigt worden. Die angerissenen
Problemfelder haben aber gezeigt, dass es notwendig ist, gesellschaftliche
Verhältnisse zu analysieren und Antworten auf die Frage zu finden, was
15 Basel Action Network: Executive Summary. Are We Building High-Tech Bridges or
Waste Pipelines? URL: http://www.ban.org/BANreports/10-24-05/documents/Execu-
tiveSummary.pdf (12.2.2007).
16 Joe D. Hendry: Social inclusion and the information poor. In: Library Review, 49
(2000) 7, 331–336, 334.
165
Bibliotheken in sich verändernden Gemeinschaften leisten können. Technische
und ökonomische Fragen sind in diesem Kontext wichtig, aber kein Selbstzweck.
So wie die Bibliothekswissenschaft substantielle Antworten aus einer Verbindung
theoretischer und anwendungsorientierter Überlegungen finden muss, sollten sich
die Bibliotheken die Räume schaffen, die Individuen brauchen, um ihre Potentiale
vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderung zu entfalten. Insofern ist die
Fragestellung meines Titels auch falsch: Bibliotheken sollten sich nicht als Agenten
für ein gesellschaftstheoretisches Modell betrachten, sondern als Beauftragte der
Individuen und Gemeinschaften, für die ihre Einrichtung tätig ist.
166
INFORMATIONSKOMPETENZ HINTER DEM BACHELOR-HORIZONT:ERGEBNISSE EINER STUDIE AN DER UNIVERSITÄT KONSTANZ
OLIVER KOHL-FREY
1. EINLEITUNG: BOLOGNA, BACHELOR, BIBLIOTHEK
Die Vermittlung von Informationskompetenz wird im Zuge der Umsetzung des
Bologna-Prozesses ein zunehmend wichtiges Feld bibliothekarischen Handelns. Die
Hochschulen stellen dabei im Zuge der Schaffung eines einheitlichen europäischen
Hochschulraums auf gestufte Bachelor-, Master- und Promotionsstudiengänge um.
Der Bachelor als erster Abschluss soll neben der wissenschaftlichen Ausbildung
häufig sogenannte berufsfeldorientierte Kompetenzen vermitteln, zu denen neben
IT-Kenntnissen, Sprachen und Soft Skills häufig auch Informationskompetenz gehört.
Informationskompetenz wird von vielen Bibliotheken als eigene Kernkompetenz
gesehen, weswegen an vielen Universitäten Bibliothekare die Lehre in Informations-
kompetenz übernommen haben. Dies geschieht unter unterschiedlichsten
institutionellen Rahmenbedingungen und in vielfältigen Ausprägungen, die an
anderer Stelle ausführlich dokumentiert sind.1
An der Universität Konstanz wurde sehr frühzeitig mit der Umstellung auf die
gestuften Studiengänge begonnen. Von Anfang an wurde von Seiten der Bibliothek
ein Lehrangebot in Informationskompetenz im Bereich Schlüsselqualifikationen der
Bachelor-Studiengänge geschaffen, das heute circa fünf Kurse pro Semester in bisher
zwölf Studiengängen umfasst. Dieses Lehrangebot ist mittlerweile sehr gut etabliert
1 Für Deutschland insgesamt z.B. bei Claudia Lux und Wilfried Sühl-Strohmenger:
Teaching Library in Deutschland. Wiesbaden 2004. Für einzelne deutsche Regionen
z.B. bei Annemarie Nilges und Marianne Reesing-Fidorra: Informationskompetenz als
Gemeinschaftsaufgabe der Hochschulbibliotheken in NRW – eine Bilanz. In: Geld ist
rund und rollt weg, aber Bildung bleibt (94. Deutscher Bibliothekartag in Düsseldorf
2005), hg. von Daniela Lülfi ng. Frankfurt am Main 2006, 193–202; oder für Bayern bei
André Schüller-Zwierlein: Informationskompetenz stärken – Schlüsselqualifi kationen
lehren. In: Bibliotheksdienst, 39 (2005) 12, 1631–1639; oder bei Oliver Kohl-Frey:
Modularisierung und E-Learning. Das Projekt Informationskompetenz in Baden-
Württemberg, http://www.ub.uni-konstanz.de/kops/volltexte/2005/1492 (21.2.2007).
Für die Schweiz z.B. bei Esther Bättig: Information Literacy an Hochschulen. Ent-
wicklungen in den USA, in Deutschland und der Schweiz. [Diplomarbeit], Chur 2005.
167
und wird noch immer kontinuierlich ausgebaut. Gleichzeitig wurde im Rahmen
eines vom Land Baden-Württemberg geförderten Projekts (Informationskompetenz
I) ein aus sieben Modulen bestehender Musterkurs für Präsenzlehre und E-Learning
entwickelt.2 Dieser wird nicht nur an der Universität Konstanz, sondern auch an
zahlreichen anderen Hochschulen genutzt. Diese können auf die unter Creative
Commons lizenzierten Module über die Website der Bibliothek zugreifen3.
2. INFORMATIONSKOMPETENZ HINTER DEM BACHELOR-HORIZONT
Viele Bibliotheken haben sich in den letzten Jahren stark im Feld der
Informationskompetenz, vor allem für Studienanfänger in den Bachelor-Studiengängen
engagiert. Die Informationskompetenz von fortgeschrittenen Studierenden,
Doktoranden, Wissenschaftler oder Professoren stand bisher eher nicht im Zentrum
der Aufmerksamkeit. Dabei wiesen bereits einige Studien darauf hin, dass auch die
Informationskompetenz Fortgeschrittener nicht optimal zu sein scheint.4 Die Bibliothek
der Universität Konstanz beschäftigt sich deshalb seit Anfang 2006 im Rahmen eines
von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten internationalen
Projekts (Informationskompetenz II) mit diesem Thema. Ausgangspunkt war zunächst
die Ermittlung der Informationskompetenz Fortgeschrittener an der Universität
Konstanz mit Hilfe einer Befragung. Diese quantitativen Ergebnisse wurden
2 Vgl. Johanna Dammeier: Informationskompetenz mit Blended Learning. Ergebnisse
des Projekts Informationskompetenz I der Bibliothek der Universität Konstanz. In:
Bibliotheksdienst, 40 (2006) 3, 314–330; und Oliver Kohl-Frey: Modularisierung,
E-Learning und die Einbindung in Studienpläne. Zur Vermittlung von Informations-
kompetenz an der Universität Konstanz. In: Bibliothek, 29 (2005) 1, 42–48.
3 URL: http://www.ub.uni-konstanz.de/bibliothek/projekte/informationskompetenz/
material.html (21.2.2007).
4 Für Deutschland ist hier v.a. die so genannte SteFi-Studie zu nennen, von der fast
ausschließlich die Studierenden-Ergebnisse wahrgenommen wurden, nicht aber die
Professoren-Ergebnisse (Rüdiger Klatt u.a.: Nutzung elektronischer wissenschaftlicher
Information in der Hochschulausbildung. Barrieren und Potenziale der innovativen
Mediennutzung im Lernalltag der Hochschulen (Endbericht). Dortmund 2001. Für die
Darstellung einiger ausgewählter Ergebnisse der SteFi-Studie mit Bezug auf Fortge-
schrittene vgl. auch Oliver Kohl-Frey: Beyond the Bachelor. Informationskompetenz für
Anfänger und Fortgeschrittene an der Universität Konstanz. In: Teaching Library, hg. von
Ute Krauss-Leichert. Frankfurt am Main 2007, im Druck. Im englischsprachigen Raum
sind eine ganze Reihe von Untersuchungen erschienen, über die derzeit ein Literatur-
bericht im Projekt Informationskompetenz II der Bibliothek der Universität Konstanz
erstellt wird.
168
ergänzt durch eine Reihe von Experteninterviews an deutschen, amerikanischen und
chinesischen Bibliotheken5. Auf diesen Erkenntnissen aufbauend wurden Strategien
entwickelt, die derzeit in der Konzeptions-, Einführungs- bzw. zum Teil schon in einer
ersten Evaluationsphase sind.
2.1 ZUR METHODIK DER STUDIE
Um die Informationskompetenz Fortgeschrittener an der Universität Konstanz
zu ermitteln, wurden im Frühjahr 2006 alle Graduierten – Master-Studierenden,
Doktoranden und wissenschaftlichen Mitarbeiter – der Universität mit Hilfe eines
Online-Fragebogens befragt. Dieser richtete sich an alle, deren E-Mail-Adresse
von der Universitätsverwaltung zur Verfügung gestellt werden konnte (N=867).
Dieses Forschungsdesign schließt zwei Teilgruppen aus der Untersuchung aus: Zum
einen wurden Studierende in höheren Semestern in den noch laufenden Diplom-,
Magister- und Staatsexamensstudiengängen, die grundsätzlich auch fortgeschrittene
Benutzer sind, nicht berücksichtigt, weil sie formal noch keinen Abschluss haben.
Zum anderen wurden Master-Studierende, Doktoranden und wissenschaftliche
Mitarbeiter ohne eine der Universitätsverwaltung bekannte E-Mail-Adresse nicht
erfasst. Aufgrund dieser beiden Unschärfen ist jedoch keine systematische Verzerrung
der Ergebnisse zu erwarten.
Die Befragung wurde von einer Projektgruppe vorbereitet, innerhalb der Bibliothek
diskutiert und ergänzt und schließlich einem Pretest mit 23 Teilnehmern unterzogen,
die ein breites Spektrum an Fachdisziplinen und akademischen Abschlüssen
aufwiesen. Die zahlreichen nützlichen Anregungen aus dem Pretest wurden im
weiteren Verlauf in der Projektgruppe diskutiert und teilweise eingearbeitet.
Insgesamt enthielt der Fragebogen 16 Fragen, die neben demographischen Daten
und den Fragen zur Informationskompetenz vor allem Angaben zu zukünftigen
Informations- und Beratungswegen sowie zu gewünschten Arbeitsschwerpunkten
der Bibliothek abfragen.6
5 Bisher wurden Leitfadengespräche mit Vertretern folgender Einrichtungen geführt:
Deutschland: Geoforschungszentrum Potsdam, Max-Planck-Institut für Biochemie
Martinsried, Wissenschaftszentrum Berlin. USA: Columbia University, MIT, New York
University, Stanford University, University of California Berkeley, University of California
Los Angeles, Yale University. China: Academy of Sciences Wuhan, Tsinghua University
Peking. Weitere Gespräche sind in Planung.
6 Der Fragebogen ist verfügbar unter der URL: http://www.ub.uni-konstanz.de/fi lead-
min/Dateien/Informationskompetenz/Publikationen/KonstanzFragebogenPDFVersion.
pdf (21. 2. 2007). Diese Version (pdf ) weicht zwar in der Gestaltung vom verwendeten
Fragebogen etwas ab, die Fragentexte aber sind mit dem Original völlig identisch.
169
Bei der Entwicklung der Fragen wurde besonders die Problematik der Messung von
Informationskompetenz intensiv diskutiert. Für gewöhnlich erfolgt die Messung von
Informationskompetenz durch Tests, die ganz konkrete Aufgabenstellungen enthalten, z.B.
die Recherche zu einem bestimmten Thema, die Evaluation von gefundener Information
oder die Zitierung einer bibliographischen Einheit.7 Eine solche Messung mag mit einer
Gruppe Studierender8 oder eventuell auch einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern
denkbar sein, aber nicht bei einer standardisierten Online-Befragung mit der hier
ausgewählten Zielgruppe. Wäre ein solches Test-Verfahren eingesetzt worden, wäre nach
Einschätzung der Projektgruppe die Rücklaufquote signifikant niedriger ausgefallen.
Deshalb wurde auf eine Selbsteinschätzung der Wissenschaftler zurückgegriffen, die ihr
eigenes Niveau in verschiedenen Feldern der Informationskompetenz einschätzen sollten.
Trotz der Gefahr einer möglichen Verzerrung aufgrund der sozialen Erwünschtheit einer
hohen Informationskompetenz9 schien dies der einzig gangbare Weg, um eine ausreichend
hohe Rücklaufquote zu erreichen. Bei der Zusammenstellung und Formulierung der
20 einzuschätzenden Items wurde auf eine starke Orientierung an den bestehenden
Standards der Informationskompetenz geachtet, vor allem an den deutschsprachigen
Standards des Netzwerks Informationskompetenz Baden-Württemberg.10 Zusätzlich
wurde eine Frage eingefügt, die zumindest die Recherchekompetenz der Befragten
separat messen sollte: „Welche Recherchequellen verwenden Sie in der Regel, um gezielt
nach Forschungsergebnissen zu suchen?“
7 Gerade in den USA wird dies in Prüfungen von Studierenden auch häufi g praktiziert.
Das Projekt SAILS (Standardized Assessment of Information Literacy Skills, URL:
http://www.projectsails.org/ (21.2.2007) z.B. stellt dafür einen umfangreichen Fragen-
katalog zur Verfügung.)
8 Im Wintersemester 2006/07 wurde an der Universität Konstanz eine Pre-/Post-Mes-
sung im Kurs Informationskompetenz Politik-/Verwaltungswissenschaft für Master-
Studierende durchgeführt. Dabei wurde den Studierenden am Anfang und am Ende des
Kurses (sprich: des Semesters) der gleiche Test vorgelegt, wobei der Test zwischenzeitlich
nicht besprochen wurde. Dabei stieg die durchschnittlich erreichte Punktzahl der Studie-
renden um 8%, die gleichzeitig abgefragte Selbsteinschätzung in Informationskompetenz
sogar um 12,5%. 23 Studierende verbesserten ihre Punktzahl, zwei blieben gleich und
drei verschlechterten sich (Quelle: Eigene Daten und Berechnungen).
9 Zum Problem sozialer Erwünschtheit vgl. z.B. Andreas Diekmann: Empirische Sozi-
alforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen. Hamburg 1995, 382–385; oder
Rainer Schnell, Paul B. Hill und Elke Esser: Methoden der empirischen Sozialforschung.
München, Wien 31992, 363–364.
10 Netzwerk Informationskompetenz Baden-Württemberg: Standards der Informations-
kompetenz für Studierende. 2006, URL: http://www.informationskompetenz.de/laen-
der/bw/materialien/NIK-Standards.pdf (21.2.2007).
170
Der Fragebogen wurde schließlich elektronisch mit einem an der Universität weit
verbreiteten Werkzeug zur Evaluierung von Lehrveranstaltungen (Evasys) erstellt.
Zum Beginn der Befragung Anfang April wurde an die bekannten Adressen
eine E-Mail verschickt, die den Link auf die Online-Befragung enthielt. Drei
Wochen später wurde eine Erinnerungsmail versandt und Anfang Mai wurde die
Befragung nach fünf Wochen Laufzeit beendet. 285 Befragte beantworteten den
Fragebogen, was einer Rücklaufquote von knapp einem Drittel (32,9%) entspricht.
Von diesen 285 Graduierten geben 10,5% einen Bachelor als höchsten Abschluss
an, 73,3% einen Master oder vergleichbare Abschlüsse wie Diplom, Magister oder
Staatsexamen und 11,9% sind bereits promoviert oder sogar habilitiert. Der größte
Teil also befindet sich in der wissenschaftlichen Qualifizierungsphase und arbeitet
an einer Promotion. Im Folgenden sollen die wichtigsten Ergebnisse der Studie
bezüglich der Informationskompetenz vorgestellt werden.
2.2 ERGEBNISSE DER UNTERSUCHUNG
Recherche nach Forschungsergebnissen
Einen grundlegenden Bestandteil der wissenschaftlichen Tätigkeit macht, gerade
in der wissenschaftlichen Qualifizierungsphase bis zur Promotion, die Suche nach
Ergebnissen anderer Forschungsarbeiten aus. Deshalb wurden die Graduierten
gefragt, welche Recherchequellen in der Regel benutzt werden, um gezielt nach
Forschungsergebnissen zu suchen. Die am häufigsten benutzten Quellen sind
demnach allgemeine Suchmaschinen (76,1%) vor Bibliothekskatalogen (71,9%),
bibliographischen Fach- und Volltextdatenbanken (58,6%) und wissenschaftlichen
Suchmaschinen (43,2%), wie die folgende Abbildung verdeutlicht:
Gezielte Recherche nach Forschungsergebnissen (n=285)
171
Suchmaschinen sind also die Hauptquellen bei der Recherche nach wissenschaftlichen
Forschungsergebnissen; sie werden von über drei Viertel der Fortgeschrittenen zur
Recherche herangezogen.11 Für Bibliothekare, die erhebliche Ressourcen in die
Pflege von Katalogen und den Kauf von Aufsatzdatenbanken und anderen Quellen
aufwenden, lassen sich aus diesen Ergebnissen mindestens zwei Strategien ableiten:
Zum einen muss auf der Ebene der Vermittlung von Informationskompetenz noch
mehr als bisher über die inhaltlichen und recherchetechnischen Schwächen der
wissenschaftlichen, aber vor allem auch der allgemeinen Suchmaschinen informiert
werden. Zum anderen müssen im Bereich des Einsatzes neuer elektronischer Services
Suchmaschinen noch stärker als bisher in bibliothekarische Überlegungen einbezogen
werden. Suchmaschinen etablieren sich als das Suchinstrument für alle Fälle, vor
allem Google als Marktführer „which offers patrons a fast and easy-to-use way to find
information and answers”12. Suchmaschinen sind vollständig in den Arbeitsprozess der
Wissenschaftler integriert, weshalb die Integration von Inhalten in Suchmaschinen
bzw. die Verknüpfung von bibliothekarischen Diensten mit Suchmaschinen (Stichwort
Linkresolving) weiter vorangetrieben werden muss.
Selbsteinschätzung der Informationskompetenz
Die Befragten wurden – trotz der in Abschnitt 2.1 ausgeführten methodischen
Schwierigkeiten – um eine Selbsteinschätzung in 20 Feldern der Informations-
kompetenz gebeten. Die Mittelwerte der 20 Items der Fragenbatterie sowie der
ungewichtete Index über alle Items sind der folgenden Abbildung zu entnehmen.
11 Dies deckt sich mit den Ergebnissen der SteFi-Studie, vgl. Rüdiger Klatt u.a.: Nutzung
elektronischer wissenschaftlicher Information in der Hochschulausbildung, a.a.O, 173.
12 Jane Lee und Felicia Poe: UC Health Sciences Libraries Metasearch Exploration. Part
II: Medical Faculty, Researcher and Resident Focus Group Findings (Draft). University
of California 2006, 4, URL: http://www.cdlib.org/inside/assess/evaluation_activities/
docs/2006/draft_healthSciences_aug2006.pdf (21.2.2007).
172
Selbsteinschätzung der Informationskompetenz (n=276)
Besonders hoch schätzen die Befragten demnach ihre Fähigkeiten in den Bereichen
Richtiges Zitieren (Mittelwert x=1,82), Einfache Suche im lokalen Katalog (1,75)
und vor allem Einfache Suche im Internet mittels Suchmaschinen (1,50) ein. Dies ist,
bezogen auf die zuvor dargestellten Ergebnisse, eine besonders interessante Aussage:
Suchmaschinen sind also für die Fortgeschrittenen das wichtigste Instrument für die
Recherche nach aktuellen Forschungsergebnissen und mit der einfachen Suche mit
Suchmaschinen kennen sich die Graduierten nach eigener Einschätzung besonders
gut aus. Dies bestätigt aus unserer Sicht die bereits diskutierten Strategien.
Weiterer Handlungsbedarf für Schulungsmaßnahmen im weiteren Sinne ergibt sich
aus Bereichen, in denen sich die Graduierten weniger gut einschätzen. Daraus lässt sich
ein Informations- oder Fortbildungsbedarf ableiten, der von Seiten der Bibliothek mit
verschiedenen Methoden gedeckt werden kann. Eher skeptisch werden die eigenen
Kenntnisse in den folgenden Feldern eingeschätzt: Elektronische Literaturverwaltung
(Mittelwert x=2,80), Nutzung weiterer Suchoptionen in Fachdatenbanken wie z.B.
Verknüpfung von Suchbegriffen, Indexsuche etc. (2,84), Export von Trefferdaten aus
Katalogen und Datenbanken (2,87), der Umgang mit audiovisuellen Medien wie
Videoschnitt etc. (3,62), automatische Benachrichtigungsdienste wie Alerts (3,63)
und Web-Publishing von Texten, z.B. auf einem Institutional Repository (3,66). Trotz
der in Abschnitt 2.1 diskutierten Gefahr der sozialen Erwünschtheit einer hohen
Informationskompetenz bewerten die Befragten also einige ihrer Fertigkeiten im
Durchschnitt eher als gering. Wollte man annehmen, dass die Befragten aufgrund
der Tatsache sozialer Erwünschtheit ihre Informationskompetenz noch zu positiv
eingeschätzt hätten, wäre der bibliothekarische Schulungsbedarf nochmals größer.
Bibliothekarische Schulungsmaßnahmen sollten sich nach diesen Ergebnissen
vorwiegend der fortgeschrittenen Suche in Datenbanken, dem Einrichten von
Benachrichtigungsdiensten (Alert, RSS Feed etc.), dem Export von Treffern
173
aus Datenbanken und anderen Quellen sowie dem Arbeiten mit Literatur-
verwaltungsprogrammen13 wie RefWorks oder Bibliographix widmen. Auch das
Publizieren elektronischer Dokumente jenseits der gängigen Publikationswege, z.B.
auf einem Institutional Repository, scheint ein für die gesamte Zielgruppe interessantes
Thema. Beim Umgang mit audiovisuellen Medien, z.B. dem Videoschnitt für eine
Lehrveranstaltung, dürfte es sich eher um den Bedarf einer sehr speziellen Gruppe
(Medienwissenschaften, Geschichte etc.) handeln.
3. ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
Die vorgestellten Ergebnisse der Konstanzer Graduiertenstudie weisen darauf hin,
dass auch fortgeschrittene Studierende und Wissenschaftler/innen nicht in allen
relevanten Feldern informationskompetent sind. Daraus lässt sich für Bibliotheken
ein Handlungsbedarf bei der Verbesserung der Informationskompetenz auch von
fortgeschrittenen Studierenden und Wissenschaftler ableiten.
Bei der Konstanzer Befragung wurden auch die Präferenzen für gewünschte
Informationskanäle, etwaigen Beratungsbedarf und bevorzugte Beratungswege
abgefragt, worüber an anderer Stelle berichtet wird; ebenso wie über die Umsetzung
der Erkenntnisse der Studie durch die Bibliothek der Universität Konstanz.14
13 In den in den USA geführten Experteninterviews wurde mehrfach die Strategie ge-
nannt, Literaturverwaltungsprogramme als eine Art trojanisches Pferd („door-opener“,
Bibliothek 8, „to sneak databases in“, Bibliothek 4; Bibliotheken hier in anonymisierter
Form) zu nutzen: Die Studierenden und Wissenschaftler versprechen sich von ihnen
zunächst eine Arbeitserleichterung beim Management ihrer Referenzen und nehmen
deshalb an Schulungsveranstaltungen teil. Damit haben die Bibliothekare die Chance,
auf wichtige Kataloge und Datenbanken hinzuweisen, aus denen Treff er importiert
werden können, wobei sich häufi g herausstellt, dass die Teilnehmenden die vorgestell-
ten Quellen bis dahin nicht kannten oder nutzten.
14 Oliver Kohl-Frey: Beyond the Bachelor, a.a.O.; und Oliver Kohl-Frey: Mittendrin
statt nur dabei. Informationskompetenz und Fachreferat an der Universität Konstanz.
Vortrag auf dem 3. Kongress für Bibliothek und Information in Leipzig 2007, in
Vorbereitung, URL: http://www.ub.uni-konstanz.de/bibliothek/projekte/informations-
kompetenz/publikationen.html (21.2.2007).
174
ZUR ROLLE VON WEBSUCHDIENSTEN UND FACHINFORMATION IM SUCHVERHALTENVON STUDIERENDEN. BEFUNDE EINER EXPLORATIVEN STUDIE
JOACHIM GRIESBAUM
ABSTRACTDie Suchdienste des Internet, allen voran Google, haben die Art und Weise Infor-
mationen zu suchen grundlegend verändert. Die Potenziale dieser Dienste für die
informationelle Absicherung sind unbestritten und kommen insbesondere auch in
Ausbildungskontexten zum Tragen. Andererseits ist zu konstatieren, dass die Ge-
fahr besteht, dass der bequeme und einfache Zugriff auf Informationen über einige
wenige Websuchdienste letztlich zu einem eingeengten Verhaltensspektrum führt,
indem im Sinne einer Selbstbeschränkung andere, potenziell adäquatere Informati-
onsquellen zunehmend ausgeblendet werden. Der Text schildert die Ergebnisse einer
explorativen Fallstudie in einem Kurs der Informationswissenschaft Konstanz. In der
Studie wird die Einschätzung der Lernenden zum wahrgenommenen Nutzen ein-
schlägiger Fachinformationsdienste für den Studienerfolg erfragt. Ergänzend wird
exemplarisch geprüft, inwieweit es derzeit möglich ist, die in derartigen Diensten
nachgewiesenen relevanten Dokumente auch kostenfrei zu beschaffen.
1. PROBLEMFELDER POPULÄRER WEBSUCHDIENSTE
Neben traditionellen Medien und klassischen Informationsdiensten wie etwa Biblio-
theken stellen die populären Websuchdienste zunehmend das zentrale Hilfsmittel
zur Befriedigung von Informationsbedürfnissen dar. Kink & Hess 2006 fassen die
Ergebnisse einer qualitativen Vorstudie zum Wandel der Informationsbeschaffung
durch Suchmaschinen in der These zusammen, dass Suchmaschinen zunehmend
diejenigen Medien substituieren, die „zwar im weitesten Sinne vergleichbar sind, in
ihrer Funktionalität und Effizienz diesen aber weitgehend unterliegen.“1 Suchmaschi-
nen eignen sich zwar sehr gut für eine erste Orientierung und werden folgerichtig
1 N. Kink, T. Hess: Suchmaschinen als Substitut für traditionelle Medien? Erste Ergeb-
nisse einer Studie zum Wandel der Informationsbeschaff ung durch Suchmaschinen.
In: Th e Rising Power of Search-Engines on the Internet: Impacts on Users, Media
Policy, and Media Business Scientifi c Workshop, 26 June 2006, Berlin/Germany, URL:
www.uni-leipzig.de/~journ/suma/abstracts/Abstract_Kink_Hess.pdf (30.8.2006).
175
in vielen Fällen als das erste Mittel der Informationsbeschaffung genutzt. Oftmals
dominieren Suchmaschinen aber selbst in Recherchekontexten – wie z.B. der Suche
nach wissenschaftlicher Information – in denen systematischere und effektivere
Suchwerkzeuge zur Verfügung stehen.
2. SUCHVERHALTEN VON STUDIERENDEN
Im deutschsprachigen Raum erlangte vor allem die sogenannte Stefi-Studie2 zur
Nutzung elektronischer Fachinformationen von Studierenden hohe öffentliche
Aufmerksamkeit. Im Ergebnis werden erhebliche Defizite bezüglich der Informa-
tionskompetenz3 von Lehrenden und Lernenden konstatiert. Griffiths bestätigt in
einer Literaturanalyse zum Suchverhalten bei Websuchdiensten und einer Studie
zum Suchverhalten von Studierenden diese Befunde.4 Dabei wird hinsichtlich der
Suchmaschinennutzer deutlich, dass diese vor allem auf Geschwindigkeit und Ef-
fektivität von Suchmaschinen Wert legen und nur in geringem Maße bereit sind,
komplexe Suchanfragen einzugeben bzw. einen interaktiven mehrstufigen Recher-
cheprozess zu durchlaufen.5
2 R. Klatt et al.: Nutzung elektronischer wissenschaftlicher Information in der Hoch-
schulausbildung. Barrieren und Potenziale der innovativen Mediennutzung im
Lernalltag der Hochschulen. 2003, URL: http://www.stefi .de/download/kurzfas.pdf
(26.8.2006).
3 Informationskompetenz kann dabei grundlegend als Fähigkeit zur informationel-
len Absicherung (Information Literacy) verstanden werden. Konkret: kompetent zu
sein, benötigte Informationen zu suchen und zu fi nden, die Relevanz und Validität
der gefundenen Wissensobjekte zutreff end beurteilen zu können und fähig sein, das
erworbene Wissen in den gegebenen Kontexten nutzen und anwenden zu können. Vgl.
Th e Association of College and Research Libraries: Information Literacy Competency
Standards for Higher Education, 2000, URL: http://www.ala.org/ala/acrl/acrlstan-
dards/informationliteracycompetency.htm (28.8.2006).
4 J. Griffi ths: Student searching behavior and the web: use of academic resources and
Google. In: Library Trends, Vol.22 No.3, 2005, URL: http://fi ndarticles.com/p/articles/
mi_m1387/is_4_53/ai_n14732768 (letzter Zugriff 1.9.2006).
5 F. Johnson, J. Griffi ths, R. J. Hartley: Task dimensions of user evaluations of informa-
tion retrieval systems. In: Information Research, 8 (4) 2003, URL: http://informationr.
net/ir/8-4/paper157.html (1.9.2006).
176
3. INFORMATIONSKOMPETENZVERMITTLUNG IM CURRICULUM DER INFOR-MATIONSWISSENSCHAFT DER UNIVERSITÄT KONSTANZ
Im Fachbereich Informatik und Informationswissenschaft in Konstanz wird In-
formationskompetenz im Kurs Informationsaufbereitung/Information Retrieval
eingeübt. Die Beförderung von Informationskompetenz wird kursbegleitend durch
mehrere Gruppenübungen angestrebt, in denen systematische Vorgehensweisen bei
problemorientierten Recherchen eingeübt werden. Die Übungsgruppen führen die
jeweiligen Recherchen zunächst mit Hilfe frei wählbarer Websuchdienste und an-
schließend mit Hilfe der thematisch einschlägigen INSPEC-Datenbank6 durch.
4. EXPLORATIVE STUDIE
In der im Kurs vorgenommenen Untersuchung wurde die Durchführung der Re-
cherchen beobachtet, die erarbeiteten Ergebnisse bewertet und die Studierenden
nach der Durchführung der Rechercheübungen hinsichtlich des wahrgenommenen
Nutzens einschlägiger Fachinformationsdienste für den Studienerfolg befragt. Das
Ziel bestand darin,
– Informationen zum wahrgenommenen Nutzen der im Kurs gewählten Methodik
der Informationskompetenzvermittlung zu gewinnen,
– die Nützlichkeitseinstufung und Nutzungshäufigkeit von Suchdienstetypen zu erfra-
gen bzw. festzustellen, ob sich im Ablauf des Kurses Änderungen feststellen lassen,
– zu ermitteln, ob und inwieweit seitens der Studenten prinzipiell die Bereitschaft
besteht, für den Zugriff auf Fachinformation auch zu bezahlen.
Ergänzend wurden die Ergebnisse der Übungsrecherchen dahingehend analysiert,
ob die mit Hilfe der INSPEC-Datenbank gefundenen und als relevant beurteilten
Artikel, die in der Datenbank selbst ja nur als Referenz nachgewiesen werden, auch
tatsächlich beschafft und dabei kostenfrei bezogen werden konnten.
Die Befragung wurde im Juli 2006 durchgeführt. An der Befragung nahmen 25
Teilnehmer teil. Alle Teilnehmer sind männlichen Geschlechts und zwischen 19
und 30 Jahren alt. 23 der 25 Teilnehmer sind Studenten des Studiengangs Infor-
mation Engineering, ein Teilnehmer studiert Soziologie mit Nebenfach Informatik,
ein Teilnehmer machte bezüglich des Studienfachs keine Angaben. Die Befragten
stehen in der überwiegenden Zahl der Fälle am Beginn ihres Studiums. Die Befunde
der Studie sind damit in keinem Fall für die Gruppe der Studenten als Ganzes re-
präsentativ, vielmehr können sie als Beispiel für die Einschätzung eines hochgradig
technikorientierten und internetaffinen Teilnehmerkreises betrachtet werden.
6 URL: http://www.iee.org/Publish/INSPEC/ (2.9.2006).
177
Der Fragebogen weist insgesamt 31 Items auf. Bei geschlossenen Fragen wurden
5-stufige Likert-Skalen von „-2“ bis „+2“ verwendet und Intervallskalenniveau unter-
stellt. Die Befunde zu den Übungsrecherchen wurden anhand der von den Übungs-
gruppen erarbeiteten Rechercheprotokolle und -analysen derselben erschlossen.
5. RESULTATE
5.1 BEFÖRDERUNG DER INFORMATIONSKOMPETENZFolgende Tabelle zeigt die Selbsteinstufung der Informationskompetenz vor dem
Kurs und nach Absolvierung der Übungen.
Tabelle 1: Informationskompetenzeinstufung
Vor dem Kurs nach den Übungen im Kurs
Mittelwert -0,08 1,04
Sta. Abw. 0,70 0,45
Mit Ausnahme eines Teilnehmers stufen alle Teilnehmer ihre Informationskompetenz
nach den Übungen im Kurs höher ein als zuvor. Der Mittelwert der Informationskompe-
tenzeinstufung erhöht sich von einem neutralen Wert (-0,08) um gut einen Skalenpunkt
auf den Wert 1,04, was einer hohen Informationskompetenzeinstufung entspricht. Es
handelt sich um eine signifikante Änderung, die impliziert, dass die im Kurs angewand-
ten Schulungsmaßnahmen als sehr erfolgreich eingestuft werden können.
5.2 SUCHDIENSTETYPEN Hinsichtlich der verschiedenen im Kurs behandelten bzw. für eine Recherche
sinnvoll nutzbaren Suchdienstetypen zeigt sich sowohl bezüglich der Einstu-
fung der Nützlichkeit derselben als auch der angegebenen Nutzungshäufi gkeit
ein eindeutiges Bild. Tabelle 2 zeigt, dass im Vergleich zu anderen Suchdiensten
die populären Suchdienste des Web als in hohem Grade unverzichtbare Such-
dienste gelten.
Tabelle 2: Nützlichkeit von Suchdienstetypen für das Studium
Mittelwert Sta. Abw.
Websuchdienste 1,60 0,71
Karteikästen der Bibliothek 1,00 1,00
Elektronische Kataloge der Bibliothek 0,48 0,85
Fachspezifische Informationsdienste 0,54 1,06
(Fachdatenbanken, Online-Zeitschriften)
178
Die eben angeführte Nützlichkeitseinstufung korrespondiert mit den Angaben zur
Nutzungshäufigkeit. Folgende Tabelle zeigt die Ergebnisse der Befragung zur Such-
dienstenutzung der Teilnehmer vor dem Kurs und der voraussichtlichen Nutzung
derselben im weiteren Studienverlauf.
Tabelle 3: Nutzung von Suchdiensten
Vor dem Kurs im weiteren
Verlauf des Studiums
Mittelwert Sta. Abw. Mittelwert Sta. Abw.
Websuchdienste 1,88 0,34 1,71 0,55
Karteikästen der Bibliothek -1,58 0,88 -1,24 1,01
Elektronische Kataloge der -0,58 1,28 0,52 0,87
Bibliothek
Fachspezifische Informations-
dienste -0,96 1,23 0,75 0,85
(Fachdatenbanken, Online-Zeitschriften)
Die Tabelle verdeutlicht das Bild der wahrgenommenen Relevanz der populären
Suchmaschinen, die auch nach dem Kurs der mit Abstand am meisten genutzte
Suchdienstetyp bleiben. Es werden aber ebenso starke Veränderungen im antizipier-
ten künftigen Nutzungsverhalten der unterschiedlichen Suchdienstetypen deutlich.
Während vor dem Kurs die Nutzungshäufigkeiten sowohl von OPACs als auch
fachspezifischen Informationsdiensten als gering bzw. sehr gering bezeichnet werden
kann, wollen die Studierenden des Kurses diese Dienste im weiteren Studienverlauf
wesentlich häufiger nutzen.
5.3 ZAHLUNGSBEREITSCHAFT FÜR DEN ZUGRIFF AUF FACHINFORMATION Nach Kuhlen ist zu erwarten, dass in Deutschland in Folge der Reform des Ur-
heberrechts auf die Studierenden erhebliche Informationskosten zukommen.7 Die
Bibliotheken sind auf Grund z.T. bereits monopolartiger Strukturen auf dem Markt
für Forschungsveröffentlichungen, „bei denen einige Großanbieter die Preise und Kon-
ditionen für den elektronischen Zugang diktieren können“,8 tendenziell immer weniger
in der Lage, den kostenlosen Zugriff auf wissenschaftliche Arbeiten sicherzustellen.
Eine derartige Entwicklung lässt befürchten, dass sich die Substitutionseffekte zwi-
schen Fachinformations- und Websuchdiensten für Lernkontexte weiter verstärken.
7 R. Kuhlen: Was läuft verkehrt beim Urheberrecht? Vortrag bei einer Podiumsdiskussi-
on zur Urheberrechtsreform an der Universität Konstanz, 19.7.2006, URL: http://www.
kuhlen.name/Vortraege06-Web/vortrag-asta190706-urhr.pdf (4.9.2006).
8 Heise News „Riesengewinne mit wissenschaftlichen Publikationen“, 18.4.2006, URL:
http://www.heise.de/newsticker/meldung/72062 (4.9.2006).
179
Es ist plausibel zu erwarten, dass bei der Auswahl von Suchdiensten die populären
Suchmaschinen, die ja fast ausschließlich nur frei zugängliche Wissensbestände
nachweisen, gegenüber fachspezifischen Suchdiensten, die oft einen hohen Anteil
kostenpflichtiger Dokumente referenzieren, von Seiten der Studenten noch stärker
bevorzugt werden, zumindest dann, wenn seitens der Studierenden nur eine geringe
Zahlungsbereitschaft vorhanden ist. Um bezüglich dieser Bereitschaft ein erstes
Bild zu gewinnen, wurde die Befragung abschließend mit fünf Fragen zu diesem
Themenbereich ergänzt. Folgende Tabelle zeigt die Ergebnisse im Überblick.
Tabelle 4: Zahlungsbereitschaft für den Zugriff auf Fachinformation
Mittelwert Sta. Abw.
Ich bin bereit, für den Bezug wissenschaftlicher Artikel, -0,68 1,18
die relevant für mein Studium sind, die bei SUBITO
anfallenden Gebühren in Höhe von 5–10 Euro pro
Artikel zu bezahlen
Ich bin bereit, für den Bezug wissenschaftlicher Artikel, -1,32 1,07
die relevant für mein Studium sind, die bei
kommerziellen Anbietern üblichen Preise in Höhe
von 15–40 Euro zu bezahlen
Ich bin nicht bereit, für wissenschaftliche Artikel, 0,20 1,32
die relevant für mein Studium sind, zu bezahlen,
notfalls beschränke ich mich auf kostenfrei
erhältliche Dokumente
Informationskosten sollten grundsätzlich 1,24 1,01
nicht von den Studierenden getragen werden
Die Studierenden sind bezüglich der Frage der Zahlungsbereitschaft für wissen-
schaftliche Artikel gespalten, 14 der 25 Teilnehmer stimmen der Aussage: „Ich bin
nicht bereit, für wissenschaftliche Artikel, die relevant für mein Studium sind, zu bezahlen,
notfalls beschränke ich mich auf kostenfreie erhältliche Dokumente“, zu. Bezüglich der
Frage, ob Informationskosten grundsätzlich nicht von den Studierenden getragen
werden sollten, ergibt sich ein eindeutiges Bild. Mit einem Mittelwert von 1,24
stimmen die Teilnehmer der Befragung zu – nur ein Teilnehmer äußert zu dieser
Fragestellung eine negative Einschätzung. Insgesamt zeigt sich also, dass der privat
zu tragende kommerzielle Erwerb fachrelevanter wissenschaftlicher Information von
den Lernenden in der Mehrzahl skeptisch gesehen wird. Eine Zahlungsbereitschaft
180
ist hinsichtlich der Gebühren kommerzieller Anbieter faktisch nicht vorhanden, sie
ist aber auch bei dem durch Bibliotheksinstitute betriebenen Dienst SUBITO, der
wesentlich geringere Gebühren aufweist, sehr gering ausgeprägt.
In ihrer realen Bedeutung sind diese Befunde zwar zu relativieren, da zu beachten
bleibt, dass die Befragung quasi nur Absichtserklärungen zu ermitteln vermag und
zudem die Studierenden, zumeist am Anfang ihres Studiums stehend, noch kaum reale
Erfahrungen im Umgang mit derartiger Information, etwa als notwendiger Grund-
lage für Haus- oder gar Abschlussarbeiten, aufweisen. Zudem lässt sich das Ergebnis
nicht ohne weiteres auf andere Studienfächer beziehen, da die Bedeutung von Fach-
information sicher nicht für alle Studienfächer gleichermaßen relevant ist. Gerade für
informatik- und informationswissenschaftsnahe Themenfelder existiert eine Vielzahl
qualitativ hochwertiger, kostenlos zugänglicher, über Suchmaschinen recherchierbarer
Wissensbestände. Es bleibt also letztlich offen, ob und inwieweit diese Einschätzung
der Lernenden tatsächlich eine „Verweigerung“, einen Boykott kostenpflichtiger In-
formationen nach sich ziehen würde. Sicher hingegen ist, dass die Problematik nicht
gerade dazu beiträgt, den Gebrauch von fachspezifischen Suchdiensten und Fachin-
formation respektive deren Attraktivität für die Studierenden zu befördern.
5.4 DOKUMENTZUGRIFFInwieweit tatsächlich von Seite der Studenten derzeit bereits eine Zahlungsbe-
reitschaft für den Zugriff auf Fachinformation nötig ist, soll abschließend durch
ein konkretes Fallbeispiel beleuchtet werden. Im Kurs wurde die Dokumentbe-
schaffung im Rahmen der Gruppenübungen durchgeführt und eingeübt. Hierbei
wurde von den einzelnen Gruppen geprüft, ob und wie sie auf den Volltext der in
der INSPEC-Datenbank recherchierten und als relevant bewerteten Referenzen
zugreifen können. Klassischerweise stellen die Bibliotheken (Bibliotheksverbünde)
vor Ort die Dokumente in eigenen Beständen zur Verfügung und ermöglichen z.T.
auch den unmittelbaren und kostenlosen elektronischen Zugriff auf externe An-
bieter. Ergänzend besteht die Option, entweder über Fernleihen oder SUBITO die
Dokumente aus anderen Bibliotheksbeständen zu beziehen. Am einfachsten und
häufig die schnellste Möglichkeit auf einen Volltext zuzugreifen ist es oft, den Titel
der Publikation in einer Websuchmaschine einzugeben und zu hoffen, dass der Text
von dieser indexiert und irgendwo auf einem Webserver frei zugänglich abgelegt ist.
Zuletzt besteht schließlich die meist teure Option, die Dokumente bei den jeweiligen
Verlagen und Publishern (Elsevier, Springer, etc.) direkt zu beziehen. Aufgabe der
Übungsgruppen war es nun, für die relevanten Treffer ihrer Recherchen zu prüfen,
ob sie bei einer Titelsuche in einer Suchmaschine auf den Volltext zugreifen können
und/oder ob der kostenlose Zugriff in Papier- oder elektronischer Form durch die
Bibliothek ermöglicht wird. Die Resultate sehen wie folgt aus.
181
Tabelle 5: Kostenloser Dokumentzugriff durch Websuchdienste
und Bibliothek
Relevante Dokumente Websuch- Bibliothek Über- Kostenfrei
dienste lappung insgesamt
Summe 236 67 32 9 99
Quote 100% 28,39% 13,56% 3,81% 41,94%
Die Ergebnisse deuten an, dass ein kostenloser Zugriff auf fachrelevante wissen-
schaftliche Dokumente, zumeist Artikel aus Zeitschriften und Proceedings, tat-
sächlich nicht in der Mehrheit der Fälle vorausgesetzt werden kann und deshalb die
oben thematisierte Problematik einer kommerziellen Verknappung von Wissensbe-
ständen tatsächlich ein für Studienkontexte relevantes Problemfeld darstellt. Die in
der obenstehenden Tabelle eingetragenen Werte haben sicher nur exemplarischen
Wert, zeigen aber auf, dass vor dem Hintergrund einer faktisch nicht vorhandenen
Zahlungsbereitschaft der Studenten diese Entwicklung zumindest potenziell zu
einer qualitativen Verschlechterung der Ausbildung an Universitäten beizutragen
vermag.
6. ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die vorliegende explorative Studie zu-
nächst hinsichtlich des Suchverhaltens die Forschungsbefunde anderer Studien
untermauert und dabei die hohe Relevanz der populären Websuchdienste auch
bzw. gerade in Ausbildungskontexten bestätigt. Weiterhin wird dargestellt, wie im
Fachbereich Information Engineering die Nutzung elektronischer wissenschaftlicher
Information als integraler Bestandteil des Curriculums in der Lehre verankert und
damit für die Studenten obligatorisch im Studium eingebunden ist. Dabei lassen
die Ergebnisse der Befragung hoffen, dass die Studierenden im weiteren Verlauf
ihres Studiums neben Suchmaschinen vermehrt weitere, im Ausbildungskontext
potenziell adäquatere Informationsdienste zumindest ergänzend nutzen.
Weiters deuten die Ergebnisse der Befragung an, dass seitens der Studierenden
zunächst keine Zahlungsbereitschaft für den Zugriff auf hochwertige Wissensbe-
stände erwartet werden kann. Damit ist eine weitere wichtige Hürde auf dem Weg
hin zu einer kompetenten informationellen Selbstversorgung angesprochen. Die
kommerzielle Verknappung von Wissen kann durchaus einer Googlerisierung der
Ausbildung Vorschub leisten. Aktuelle Bestrebungen, in der Folge der Reform des
Urheberrechts die Rechte der Informationsverwerter zu stärken, sind somit unter
182
dem Aspekt der informationellen Versorgung der Studenten, letztlich damit der
Qualität der Ausbildung, nicht nur an Universitäten, skeptisch zu betrachten. Die
im Kurs angesprochene Idee, die künftig anfallenden Studiengebühren zur Deckung
derartiger Informationskosten zu verwenden, wird von den Studierenden zumindest
nicht a priori abgelehnt. Dies könnte auch als Anreiz wirken, um auf Seiten der
Studierenden vermehrt derartige Fachinformation zu nutzen. Dieses erste Gedan-
kenspiel ist sicher noch nicht ausgereift, aber vielleicht kann die vorliegende Studie
einen Impuls geben, um neue Konzepte zur Erhöhung der Attraktivität von Fach-
information zu entwickeln und damit sowohl die Informationskompetenz befördern
als auch die Informationsversorgung verbessern. Denn es geht schon längst nicht
mehr darum, einen Gegensatz zwischen den klassischen Informationsdiensten für
Forschung und Lehre an Hochschule einerseits und Suchmaschinen andererseits
zu pflegen, sondern darum, trotz der Effektivität, Effizienz und Kostenfreiheit von
Suchmaschinen die Attraktivität „professioneller“ Fachinformationsdienste für die
Nutzer nachhaltig zu erhalten und dabei die Kompetenz zu deren zieladäquater
Anwendung sicher zu stellen.
183
ERWARTUNGEN AN DIE WISSENSCHAFTLI-CHE BIBLIOTHEK DER ZUKUNFT – UNTER BERÜCKSICHTIGUNG VON BEFUNDEN DER NEUEREN NUTZERFORSCHUNG
WILFRIED SÜHL-STROHMENGER
1. INFORMATIONSÜBERFLUTUNG UND AUFMERKSAMKEIT
Die im Zuge weiter wachsender Nutzung des Internet überproportional steigenden
Informationsmengen stellen Bibliotheken, aber vor allem die Nutzer selbst vor enorme
Probleme der Präsentation, Vermittlung und Auswahl von Informationsressourcen:
Wenn sich die verfügbare Information innerhalb eines Jahres verdoppelt oder gar
verdreifacht, wird es dementsprechend doppelt oder dreimal so schwierig, etwas zu
finden.
Die Informationspraxis im Zeitalter des Internet stößt ohnehin an Grenzen der
menschlichen Informationsverarbeitungskapazitäten1 – das sollte auch hinsichtlich
der zukünftigen Gestaltung von Bibliotheken berücksichtigt werden: Der limitierende
Faktor der Informationsverarbeitung ist die Aufmerksamkeit: „If attention goes one
place, then it can’t go another.“2 Die „Theorie der Innovationsdiffusion“ von Everett
Rogers3 aus den 60er Jahren beinhaltet ein Modell, das die Aneigner von Innovationen
in verschiedene Kategorien einteilt und auf dem Gedanken basiert, dass bestimmte
Individuen gegenüber Innovationen zwangsläufig offener sind als andere.
2. ENTWÜRFE ZUR „BIBLIOTHEK DER ZUKUNFT“
Dieter E. Zimmer hat bereits im Jahr 2000 die Hauptkennzeichen der hybriden
Bibliothek beschrieben, die eine „Schnittstelle zwischen den verschiedenen
1 Siehe dazu auch Steff en-Peter Ballstaedt: Kognition und Wahrnehmung in der Informa-
tions- und Wissensgesellschaft. Konsequenzen gesellschaftlicher Veränderungen für die
Psyche. In: Medienpädagogik „Wissensgesellschaft“, hg. von Hans-Dieter Kübler, Elmar
Elling Bonn 2005 (= Arbeitsmaterialien Medien), URL: http://www.bpb.de/publikationen/
JF6K73,html.
2 Vgl. dazu u.a. Th omas H. Davenport, John C. Beck: Th e attention economy. Under-
standing the new currency of business. Boston 2001.
3 Vgl. Everett M. Rogers: Diff usion of innovations. New York 52003.
184
Aggregatzuständen der Information“4 sein müsse, d.h. sie benötigt Magazine
und Leseplätze genauso wie Bildschirmarbeitsplätze und Leseplätze für e-Books
sowie Drucker und Scanner, um elektronische Veröffentlichungen in gedruckte
verwandeln zu können und umgekehrt.5 Krichel und Koenig plädieren für die offene
wissenschaftliche Bibliothek, die aus einer frei verfügbaren Datensammlung mit
Abstracts und Indices besteht.6 Im Endstadium enthält eine offene wissenschaftliche
Bibliothek Beschreibungen aller wissenschaftlichen Dokumente, die jeweils mit
den Publikationskanälen (Zeitschrift, Konferenz usw.) verlinkt sind, in denen sie
erschienen sind, mit genauen Autoreninformationen und mit Zitatbeschreibungen
für jedes zitierte Werk.7
Elmar Mittler nannte 1996 u.a. folgende Aspekte:8 Die Bibliothek der Zukunft
ist die nutzerorientierte Bibliothek, d.h. die Bedürfnisse der Nutzer müssen in der
Bibliothek der Zukunft besser realisiert werden können. Die neue Bibliothek kann
nur in Kooperation von Wissenschaftlern, Bibliothekaren und Rechenzentren
geschaffen werden, und zwar auf verschiedenen Kooperationsebenen (regional,
national, international).
4 Dieter E. Zimmer: Die Bibliothek der Zukunft. Text und Schrift in den Zeiten des
Internet. Hamburg 2000, S. 13.
5 Relativ weit fortgeschritten ist die digitale Bibliothek der Zukunft an der Bibliothek
der ETH Zürich: vgl. dazu die Beiträge in: Auf dem Weg zur digitalen Bibliothek, hg.
von Corinne Gysling und Wolfram Neubauer. Strategien für die ETH-Bibliothek im
21. Jahrhundert Zürich 2005 (= Schriftenreihe B der ETH-Bibliothek; Bibliothekswe-
sen; 7); siehe auch die „Vision Bibliothek 2015“ in: Ludger Syré und Jürgen Seefeldt:
Portale zu Vergangenheit und Zukunft – Bibliotheken in Deutschland. Hildesheim,
Zürich 2003, S. 95 ff .; ferner Jürgen Seefeldt: Zukunftsvisionen – Die Bibliothek
von morgen, in: B.I.T.online, 8 (2005), 1, 11–18, URL: http://www.b-i-t-online.de/
archiv/2005-01-idx.html.
6 Th omas Krichel, Michael E.D. Koenig: From Open Access to Open Libraries. Claims and
Visions for Open Academic Libraries. Paper presented in the second China Digital Librar-
ies conference. Beijing 2004, URL: http://openlib.org/home/krichel/papers/dijon.pdf.
7 Beispiel einer solchen off enen wissenschaftlichen Bibliothek ist RePEc (Research Pa-
pers in Economics) an der sich hunderte von Freiwilligen aus 55 Ländern und 34 US-
Staaten beteiligen, um so die Verbreitung wirtschaftswissenschaftlicher Forschungser-
gebnisse voranzubringen, URL: http://repec.org/.
8 Vgl. Elmar Mittler: Die Bibliothek der Zukunft. Überlegungen aus Anlaß der Planun-
gen zu einem Informations- und Kommunikationszentrum in Adlershof (Berlin). In:
Bibliothek. Forschung und Praxis, 20 (1996) 2, 259–261.
185
Schließlich sind nach Norbert Lossau die digitalen Services wesentlich für eine
zukunftsorientierte wissenschaftliche Bibliothek. Im Fokus seiner Überlegungen
stehen die Wissenschaftler, offensichtlich insbesondere der naturwissenschaftlich-
technischen Disziplinen. Schlüsselbegriff für Lossau ist die e-Science, die neue
Formen wissenschaftlicher Arbeitsweisen sowie vernetztes Wissen impliziert. Die
heute von Bibliotheken angebotenen Informationsdienste erstrecken sich auf eine nur
schwer überschaubare Vielfalt von Ressourcen, während die zukünftigen Services eine
integrierte Suche aller gedruckten und online verfügbaren Informationsressourcen
beinhalten sollen. Es bedarf sodann vielfältiger inhaltlicher Relevanzfilter, der
Reduzierung bibliographischer Suche auf Grundkategorien und auf die Volltextsuche,
eines Ergebnis-Rankings u.a.m. Lossau empfiehlt multidisziplinäre wie auch
fachbezogene Suchmaschinen, sodann die Entwicklung inhaltlicher, fachspezifischer
und interdisziplinärer Navigationssysteme.9
3. EMPFEHLUNGEN
Die Erwartungen an die wissenschaftliche Bibliothek der Zukunft kommen auch
in den Positionspapieren und Empfehlungen von Wissenschaftsorganisationen wie
der Deutschen Forschungsgemeinschaft10 bzw. des Wissenschaftsrats11, ferner im
gemeinsam von der Bertelsmann Stiftung und der Bundesvereinigung Deutscher
Bibliotheksverbände (heute: BID) herausgegebenen Strategiekonzept „Bibliothek
2007“12 oder in der kürzlich von der österreichischen Sozialdemokratie initiierten
„Bibliotheksinitiative Österreich“13 zum Ausdruck.
9 Vgl. dazu u.a. Norbert Lossau: Weiterentwicklung der Infrastruktur für wissenschaft-
liche Information im digitalen Zeitalter. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Techni-
schen Universität Dresden, 55 (2005) 1–2, 73–81.
10 Vgl. u.a. Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG): Wissenschaftliche Literaturversor-
gungs- und Informationssysteme: Schwerpunkte der Förderung bis 2015. DFG-Posi-
tionspapier. Bonn 2006, URL: http://www.dfg.de/forschungsfoerderung/wissenschaft-
liche_infrastruktur/lis/download/positionspapier.pdf; vgl. ferner das DFG-Programm
„Nationallizenzen für elektronische Medien“, URL: http://www.nationallizenzen.de/
11 Vgl. Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur digitalen Informationsversorgung durch
Hochschulbibliotheken. Greifswald 2001 (Drucksache 4935/01), URL:http://www.
wissenschaftsrat.de/texte/4935-01.pdf.
12 Vgl. Bertelsmann Stiftung: Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheksverbände e. V.:
Bibliothek 2007. Gütersloh 2004.
13 Vgl. Bibliotheksinitiative Österreich: Bibliotheksinitiative Österreich. Für eine Mo-
dernisierung und nachhaltige Entwicklung des österreichischen Bibliothekswesens. In:
Mitteilungen der VÖB, 59 (2006) 2, 97–102.
186
Hochschulbibliotheken werden zu „Hybridbibliotheken“. Gegenüber der ehemals stark
betonten Bestandsorientierung gewinnt die Beschaffungs- und Nachweisorientierung
an Bedeutung; im allgemeinen hält die Bibliothek nicht mehr nur die Daten selbst
vor, sondern auch Informationen über die Daten anderer Anbieter, um im Falle der
Nachfrage einen effizienten Zugang und Zugriff auf die gewünschten Informationen
zu ermöglichen.14 „Auf absehbare Zeit werden „Hybridbibliotheken“, welche eine
Mischung aus gedruckten und digitalen Publikationen und Informationsquellen
vorhalten, das vorherrschende Modell sein, zu welchem sich die Bibliotheken
weiterentwickeln müssen.“15
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) erstrebt ein integriertes digitales
Informationssystem für die Wissenschaft, wie es in Gestalt von „vascoda“ als
Keimzelle sowie des Systems der Sondersammelgebiete schon existiert. „Ziel muss
es sein, das DFG-Sondersammelgebietssystem in das nationale Wissenschaftsportal
einzubetten und durch digitale Ressourcen zu komplettieren. Neben der Lizenzierung
digitaler Verlagsangebote sollen im Rahmen einer Prioritätenplanung gemeinfreie
Bestände der Sondersammelgebiete digitalisiert werden.“16 Bereits realisiert wurde
in diesem Zusammenhang das DFG-Projekt der „Nationallizenzen“17, um dadurch
die Versorgungslücken insbesondere bei digitalen Text- und Werkausgaben, den
von wissenschaftlichen Verlagen angebotenen Digitalisierungen zurückliegender
Zeitschriftenjahrgänge sowie speziellen Fachdatenbanken wirkungsvoll zu
schließen.
Die Entwürfe im Rahmen des Projekts „Bibliothek 2007“ beziehungsweise der
sozialdemokratischen „Bibliotheksinitiative Österreich“ beziehen sich auf die
wachsende Bedeutung des öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliothekswesens
für das lebenslange Lernen in der Wissensgesellschaft.
4. NUTZERERWARTUNGEN AN DIE BIBLIOTHEK DER ZUKUNFT
Die Nutzerperspektive ist aus einschlägigen Studien zum Informationsverhalten
der wissenschaftlichen Nutzer sowie aus Nutzerbefragungen an deutschen,
österreichischen und schweizerischen Hochschulbibliotheken zu gewinnen.
Differenziert muss dabei nach studentischen und nach wissenschaftlichen Nutzern
14 Vgl. Wissenschaftsrat, a.a.O., 30.
15 Ebd., 29.
16 Ebd., 4.
17 Siehe Näheres auf der entsprechenden WWW-Seite unter URL: http://www.Natio-
nallizenzen.de.
187
werden, weil die Erwartungen dieser beiden für die Hochschulbibliotheken zentralen
Gruppen recht unterschiedlich sind.
Die Münsteraner Studie zum Informationsverhalten und zum Informationsbedarf
der Wissenschaftler hat ergeben, dass der Informationsbedarf der Wissenschaft
ständig anwächst und sich verändert. Der „information overload“ übersteigt die
Aufnahmekapazität nicht nur der Studierenden, sondern auch der Wissenschaftler
– Informationsverzicht ist vielfach der Ausweg.18 Gewünscht wird ein breiter,
übergreifender, einheitlicher Zugriff insbesondere auf fachspezifische Informationen.
Es entsteht eine „now or never“-Mentalität, bei Verzicht auf schwer erreichbare
Information. Die Trennung zwischen Recherche und Beschaffung existiert nicht
mehr. Wissenschaftler in allen Fächern nutzen sowohl gedruckte wie elektronische
Quellen, wenn auch letztere für die Zukunft als deutlich wichtiger angesehen werden.
Fachportale könnten helfen, insbesondere wenn sie auf einer Kooperation zwischen
Bibliotheken und Fachwissenschaftlern beruhen, jedoch stehen die Wissenschaftler
einer inhaltlichen Gewichtung durch Nicht-Fachleute misstrauisch gegenüber.
„Tätigkeiten, die inhaltliche Bewertung von Informationen implizieren, behalten
sich die Wissenschaftler vor.“19 Personalisierte Dienste (Profile) werden gewünscht.
Die mangelnde Informationskompetenz wird auch auf Seiten der Wissenschaftler
konstatiert.
In den Jahren 2000 bis 2004 wurden verschiedene Nutzungsuntersuchungen
im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF)
durchgeführt.20 Nutzer recherchierten demnach Information mit höchstens ein
oder zwei Suchbegriffen, sahen sich maximal zwei Seiten der Ergebnisanzeige
an, begannen sehr schnell eine neue Suche, ohne die erste Rechercheanfrage für
eine Verfeinerung zu nutzen, verwendeten weder Boole’sche Operatoren noch
Trunkierungen, verstanden die Ergebnispräsentation im Ranking oft nicht.
Vorzugsweise bedienten sie sich dabei der Suchmaschinen, danach eigener Linklisten
und dann erst der Themenportale bzw. der Fachdatenbanken. Zur Beschaffung
von Information werden am häufigsten Bücher und Fachzeitschriften verwendet,
dicht gefolgt von Suchmaschinen. Man sucht vor allem Volltexte, sodann Abstracts
und (mit einigem Abstand) Literaturhinweise, danach Forschungs-/Projektberichte,
18 Vgl. dazu und zum Folgenden Roswitha Poll: Informationsverhalten und Informati-
onsbedarf der Wissenschaft. Teil 1 der Nutzungsanalyse des Systems der überregiona-
len Literatur- und Informationsversorgung. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und
Bibliographie, 51 (2004) 2, 59–75.
19 Ebd., 89.
20 Vgl. Beate Tröger: Nutzungsanalysen im Blick auf fachliche und interdisziplinäre
Webportale – Ergebnisse und Konsequenzen. In: B.I.T.online, 7 (2004) 1, 21–27.
188
Adressen, Infos über aktuelle Projekte u.a. „Inhaltliche Desiderate vor allem
konventioneller Fachdatenbanken sind aus Nutzersicht damit besonders einerseits
im Bereich der Volltext- und Abstract-Versorgung und andererseits im Bereich
der sog. Fakteninformationen zu sehen.“21 Gewünscht wird ein „One-Stop-Shop-
Zugriff auf alle Informationen von einem einzelnen Zugang aus.“22
Lokale Wissenschaftlerbefragungen ergaben, dass mit der Bibliothek die Begriffe
„Fachliteratur“ und „Bücher“ assoziiert werden. Das Internet ist die mit Abstand
wichtigste Informationsquelle, abgesehen von Kollegenkontakten, während die
UB-Homepage und die Fachdatenbanken mit Abstand folgen. Die Bibliothek soll
– gleichrangig mit klassischen Aufgaben – zum Dienstleister für Internetangebote
und Zentrum für die Schulung Studierender in der Literatur-/Informationssuche
werden. Prioritäten für die Zukunft sind (Dortmunder Erhebung 2004):23
– die Erschließung wissenschaftlich relevanter Internetquellen
– die Schulung Studierender in der Informations- und Literatursuche
– der Ausbau des Printbestandes
– der Aufbau einer Suchmaschine für wissenschaftlich relevante Informationen
Man erwartet eine aktive Informationspolitik von der Bibliothek (Freiburg
199624, Konstanz 200025), die stärkere Betonung der elektronischen Medien und
Dienstleistungen. Ingo Mörth betrachtet die Bibliotheken der Zukunft treffend als
„Wissensspeicher, Suchmaschinen und Orte des Lernens“.26 Mit der Digitalisierung
21 Ebd., S. 24.
22 Ebd., S. 25.
23 Vgl. Ursula Georgy, Ute Engelkenmeier: Imageanalyse einer Universitätsbibliothek als
Basis zur Kundenbindung. In: Daniela Lülfi ng, Irmgard Siebert (Hg.): 94. Deutscher
Bibliothekartag in Düsseldorf 2005. „Geld ist rund und rollt weg, aber Bildung bleibt“.
Frankfurt am Main 2006 (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie; Sonder-
heft 89), 61–77.
24 Vgl. Wilfried Sühl-Strohmenger: Die Erwartungen von Wissenschaftler(innen) an In-
formationsdienstleistungen und Informationsmanagement einer Universitätsbibliothek.
In: Bibliotheksdienst, 30 (1996) 1, 23–46.
25 Siehe Oliver Kohl: Befragungen in Bibliotheken – Das Beispiel einer Befragung von
Lehrenden an der Bibliothek der Universität Konstanz. In: Bibliothek. Forschung
und Praxis, 24 (2000) 1, 87–92, URL: http://www.ub.uni-konstanz.de/kops/volltex-
te/1999/63/.
26 Ingo Mörth: Wissensspeicher, Suchmaschinen und Orte des Lernens. Zur Zukunft der
Bibliotheken im Bildungssystem. In: 28. Österreichischer Bibliothekartag 2004. Ge-
neralthema: Bibliotheken – Fundament der Bildung. Tagungsband/21.–25. September,
Linz, hg. von Christian Enichlmayr. Linz 2005 (= Schriftenreihe der Oberösterreichi-
schen Landesbibliothek), 15–26.
189
der eigenen Bestände und dem Nachweis in OPACs, dem Zusammenschluss zu
elektronischen Bibliotheksverbünden mit der Perspektive eines „World Catalogue“,
der teilweisen Umstellung auf rein digitale Informationsträger (e-Journal, e-Book)
haben sich die wissenschaftlichen Bibliotheken zu einem Knotenpunkt im virtuellen
Netzwerk des Wissens entwickelt. Dadurch wandelt sich aber auch ihr Bildungsauftrag
und ihre Rolle im Bildungssystem. „Nicht mehr die optimale Bestandspflege, die
Vermittlung dieses Bestandes an die Leserschaft und die Schaffung einer möglichst
guten Rezeptionsqualität vor Ort stehen im Mittelpunkt, sondern die Unterstützung
der Nutzer in der Auswahl und Verarbeitung der elektronischen Informationsfülle.
Bibliotheken bekommen einen wesentlichen zusätzlichen Stellenwert: Navigator im
Wissensozean und Lehrerin der notwendigen Informationskompetenzen.“27
Die seit dem Jahrtausendwechsel von verschiedenen Hochschulbibliotheken in
Deutschland, Österreich und der Schweiz durchgeführten Nutzerbefragungen richteten
sich zwar häufig primär an ihre Hauptnutzergruppe – die Studierenden –, bezogen
darüber hinaus aber auch die Wissenschaftler und die sonstigen Nutzergruppen
mit ein: Nordrhein-Westfalen 2001 (alle Hochschulbibliotheken)28, ETH Zürich
(1998), 200329, Österreich-Befragung 2003 (10 Zentral-Hochschulbibliotheken)30,
27 Ebd., S. 21
28 Vgl. Robert Follmer, Stefan Guschker, Sebastian Mundt: „Alles, was man zum Lernen
braucht...“. Übergreifende Ergebnisse der Benutzerbefragung in den nordrhein-westfä-
lischen Universitätsbibliotheken 2001. In: ProLibris, 1 (2002), 20–25.
29 Vgl. Wolfram Neubauer, Alice Keller: Dienstleistungsangebote von Bibliotheken in
elektronischer Form. Eine Benutzungsstudie der ETH-Bibliothek. In: Nachrichten für
Dokumentation, 50 (1999), 407–412; Wolfram Neubauer, Annette Trinkler, Margit
Unser: „Alles in allem: die beste Bibliothek, die ich kenne“ – Nutzerbefragung an der
ETH-Bibliothek 2003. Zürich 2005, URL: http://e-collection.ethbib.ethz.ch/show?typ
e=bericht&nr=413.
30 Siehe dazu Bruno Bauer: Die elektronische Bibliothek auf dem Prüfstand ihrer Kunden.
Konzeption und Methodik der gemeinsamen Online-Benutzerbefragung 2003 an zehn
österreichischen Universitäts- und Zentralbibliotheken. In: Bibliotheksdienst, 38 (2004),
595–610; Bruno Bauer et al.: Wie beurteilen Nutzer unser elektronisches Medien- und
Dienstleistungsangebot? Ausgewählte Ergebnisse der gemeinsamen Online-Nutzerbe-
fragung 2003 an zehn österreichischen Universitäts- und Zentralbibliotheken.
In: 28. Österreichischer Bibliothekartag 2004, a.a.O., S. 151–189.
190
Mannheim 200331, Augsburg 200332, Eichstätt-Ingolstadt 200333, Graz 2003, 200434,
StUB Bern 200435, Dortmund 2004/0536, Göttingen 200437, Stuttgart 200438,
Düsseldorf 200539, Freiburg 2005/0640.
Zwar fragen die Bibliotheken kaum nach den Zukunftsvorstellungen, die die Nutzer
mit der Bibliothek verbinden. Die Präferenzen der aktuellen Nutzung veranschaulichen
dennoch implizit, welche Schwerpunkte von der Bibliothek auch in der weiteren
Zukunft gesetzt werden sollten, um dem Nutzerbedarf zu entsprechen.
Die Analyse der berücksichtigten Nutzerbefragungen ergibt – ungeachtet
der jeweils unterschiedlichen Erhebungsmethoden –, dass Fachbücher und
Zeitschriften, die Bibliothekshomepage und der lokale Online-Katalog, das
Internet, die Informationsrecherche und die Ausleihe die am stärksten genutzten
Bibliotheksdienstleistungen sind. Das Buch ist weiterhin Primärmedium. Danach
folgen die Arbeit in den Lesesälen, die Nachfrage nach gedruckten Beständen
31 Vgl. Marek Fuchs: Ergebnisse der Benutzerbefragung 2003 der UB Mannheim :
Methodische Anlage der Untersuchung. Mannheim 2003, URL: www.bib.uni-mann-
heim.de/aktuelles/befragung/befragung.html.
32 Vgl. dazu Ulrich Hohoff : Eine Nutzerbefragung und ihre Folgen – Anmerkungen aus
der Universitätsbibliothek Augsburg. In: Bibliotheksforum Bayern, 34 (2004) 1, 63–69.
33 Vgl. Maria Löffl er, Marek Fuchs: „Und, was sagen Sie dazu?“. Die Online-Benutzerbe-
fragung der Universitätsbibliothek Eichstätt-Ingolstadt: Methodik und Ergebnisse. In:
Bibliotheksforum Bayern, 31 (2003), 3, 238–252.
34 Siehe dazu Gerhard Reichmann: Benutzerzufriedenheitsstudie für die UB Graz. In:
Mitteilungen der VÖB, 56 (2003) 3–4, 34–48; Gerhard Reichmann: Benutzerforschung
mit beschränkten Ressourcen. In: Mitteilungen der VÖB, 57 (2004) 2, 41–52.
35 Vgl. Christian Lüthi: Die StUB im Urteil ihrer Benutzerinnen und Benutzer, in:
LIBERNENSIS, (2004) 2, 12f. [Kurzbericht].
36 Siehe Ursula Georgy, Ute Engelkenmeier: Imageanalyse einer Universitätsbibliothek
als Basis zur Kundenbindung. In: 94. Deutscher Bibliothekartag in Düsseldorf 2005,
a.a.O., 61–77.
37 Vgl. Klaus Ceynowa et al.: „Ich bin eigentlich rundum zufrieden.“ Postalische Nutzer-
befragung an der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. In:
Bibliothek. Forschung und Praxis, 28 (2004) 1, 85–98.
38 Siehe Robert Scheuble: Benutzerbefragung an der WLB. Methode und Einzelergeb-
nisse. In: Bibliotheksdienst, 38 (2004) 4, 461–470.
39 Siehe Joachim Kreische: Nutzungsanalysen der hybriden Bibliothek. In: B.I.T.online,
9 (2006) 1, 17–25.
40 Vgl. Wilfried Sühl-Strohmenger: Nutzerbefragungen im Freiburger Bibliothekssystem.
In: EUCOR-Bibliotheksinformationen, (2006) 27, 15–19, URL: http://www.ub.uni-
freiburg.de/eucor/infos/.
191
(Lehrbücher), nach Auskunfts- und Informationsservice sowie nach leistungsfähigen
Kopiergeräten.
Am stärksten gewünscht sind, mit Blick auf die elektronische Bibliothek, demnach
der Ausbau des elektronischen Medien- und Dienstleistungsangebots, eine
beschleunigte Dokumentlieferung, mehr Informationsmarketing (e-Journals,
Datenbanken, Online-Fernleihe etc. sind vielfach unbekannt), die Realisierung
verschiedener Nutzungsmöglichkeiten im Kontext der Hybridbibliothek und der
Direktzugang zu elektronischen Volltexten. Am stärksten gefragt sind, mit Blick auf
die „reale“ Bibliothek, erweiterte Öffnungszeiten, der Ausbau aktueller gedruckter
Bestände, der Auskunfts- und Informationsservice, bessere d.h. bedarfsgerechte
Lern-/Arbeitsbedingungen sowie leistungsfähige, funktionierende Kopierer und
eine gute Auswahl von Lehrbüchern.
5. SCHLUSSFOLGERUNGEN
Es gibt im Jahr 2015 keine Bibliothek des Typs „one size fits it all“, sondern jede
wird ihren lokalen Bedarf reflektieren. Einige werden sich den Platz mit anderen
lokalen (auch kommerziellen) Dienstleistern teilen, andere werden zur virtuellen
Bibliothek. Die Bibliothek der Zukunft wird es mit aktiven Nutzern zu tun
haben, die als Partner und Teilhaber am Prozess der Informationsproduktion und
der Informationsaneignung verstanden werden müssen (Stichwort: Web 2.0).
Gleichzeitig wird die Bibliothek zur „Teaching Library“, da die Nutzerschaft
angesichts exponentiell zunehmenden Informationsmengen der zur bedarfs-
gerechten Bewältigung dieser Informationsvielfalt nötigen Informations- und
Medienkompetenzen noch mehr bedarf als schon heute. Das Medium Buch
bleibt, wird aber ergänzt durch digital(isiert)e Medien, der Langzeitarchivierung
dieser Medien kommt wachsende Bedeutung zu. Die Bibliothek der Zukunft
sollte eine Überforderung der Innovationsfähigkeit unserer Nutzer vermeiden.
Sie bietet ein differenziertes Informationsangebot nach Bedarf der Zielgruppen
und ist ein attraktiver Ort des Lernens und Arbeitens mit konventioneller
und digitaler Information. Sie eröffnet den Zugang zur Information direkt über
eine Suchmaschine und bemüht sich um die Erschließung auch der Internet-
ressourcen. Die Bibliothek der Zukunft versteht die Vermittlung von Informations-
kompetenz als eine Kernaufgabe.
192
KÖNNEN BIBLIOTHEKEN EINEN BEITRAG ZUR ÜBERWINDUNG DER DIGITALEN SPALTUNG DER GESELLSCHAFT LEISTEN?
HEIMO GRUBER
Der Begriff des Digital Divide beschreibt die unterschiedlichen Möglichkeiten in
Bezug auf den Zugang, die Nutzung und den Umgang mit Informations- und
Kommunikationstechnologien (IKT), insbesondere dem Internet. Bei der Bewertung
des Digital Divide bieten sich drei Bestimmungsebenen an:
– Global (Entwickelte Welt versus Entwicklungsländer)
– National (Differenz zwischen Information Rich und Information Poor innerhalb
der einzelnen Gesellschaften)
– Nutzungskluft (trotz vorhandenen Zugangs sorgen unterschiedliche Medien-
kompetenz und inhaltliche Barrieren für Trennungen)
Bibliotheken müssen den ungehinderten Zugang zur Information garantieren
und sind herausgefordert, einen öffentlichen und möglichst kostenfreien Zugang
zum Internet bereitzustellen. Die entsprechenden Prinzipien sind in zwei
programmatischen Dokumenten der IFLA festgelegt:
IFLA Internet-Manifest http://www.ifla.org/III/misc/im-g.htm (2002) und
Alexandria Manifest über Bibliotheken: Die Informationsgesellschaft in Aktion http://
www.ifla.org/III/wsis/AlexandriaManifesto-de.html (2005).
Es ist kein Zufall, dass das Alexandria Manifest in zeitlicher Nähe zum Weltgipfel zur
Informationsgesellschaft in Tunis verabschiedet wurde und sich auch darauf bezieht.
Der World Summit on the Information Society (WSIS) wurde Ende der 1990er Jahre
von der UNO initiiert und ist ein Versuch, die Debatte um die Entwicklung der
Informationsgesellschaft und die Bedeutung der IKT für die Entwicklungsländer
global zu führen.
Der WSIS-Prozess wird von drei Gruppen getragen:
a) Regierungen des Nordens und Südens
b) Wirtschaftszweige des IKT-Sektors
c) Zivilgesellschaftliche Organisationen (NGOs).
Bisher fanden zwei große Weltgipfel in Genf 2003 und Tunis 2005 statt. Die dabei
verabschiedeten Dokumente http://www.itu.int/wsis/outcome/booklet/index.html
räumen den Bibliotheken und Bibliothekaren einen wichtigen Stellenwert beim
Projekt Building an Information Society ein. Nach diesen hehren Zielen soll bis 2015
die Hälfte der Weltbevölkerung online sein.
193
Die Entwicklungsländer haben einen Digitalen Solidaritätsfonds für die Dritte Welt
gefordert, der auf dem Prinzip der Freiwilligkeit akzeptiert wurde. Mittlerweile
wurde dieser Fonds tatsächlich geschaffen: Ein Prozent des Gewinnes, den IKT-
Unternehmen aus Aufträgen des öffentlichen Sektors generieren, soll an den Fonds
überwiesen werden. Der WSIS-Prozess ist nicht zuletzt ein Tauziehen um die
Kontrolle und Verwaltung des Internet, die künftig im Internet Governance Forum
diskutiert werden soll.
16,9% der gesamten Weltbevölkerung (1,114 Milliarden Menschen) haben
Zugang zum Internet. (Quelle: www.internetworldstats.com) Die höchste
Durchdringungsrate erreicht Nordamerika mit 69,7%, während der afrikanische
Kontinent einen Versorgungsgrad von nur 3,6% aufweist. Die Nord-Süd-Kluft
des weltweiten Digital Divide zeigt sich hier besonders drastisch: Mit einem
Anteil von 5,1% der Erdbevölkerung stellt Nordamerika 20,9% der globalen
Internet-Nutzer, das bevölkerungsreichere Afrika (14,2% der Weltpopulation)
erzielt einen Anteil von 3%. Obwohl in Asien nur 10,7% der Menschen online
sind, stellt dieser Kontinent die höchste absolute Zahl an Internet-User:
398,7 Millionen.
Österreich weist im europäischen Vergleich eine sehr hohe Internet-Dichte
auf. (Quelle: http://medienforschung.orf.at/international.htm) Bereits 67% der
Österreicher ab 14 Jahren haben grundsätzlich Zugang zum Internet, 62% sind
aktive Internet-User.
Am weitesten verbreitet ist das Internet in den nordischen Ländern, allen voran Island
mit einem User-Anteil von 88%. Es folgen Finnland, Dänemark und Norwegen, wo
mehr als drei Viertel der Bevölkerung online sind. Eine Durchdringungsrate von über
70% wird darüber hinaus auch in Schweden, in der Schweiz, in den Niederlanden
und in Luxemburg erreicht, während Länder wie Großbritannien, Frankreich und
Deutschland erst hinter Österreich rangieren.
Allerdings zeigt die Verteilung innerhalb der österreichischen Gesellschaft, dass
dieser Nutzen nicht allen beschieden ist. Nach wie vor verlaufen die Trennlinien
entlang von Alter, Geschlecht, Bildung und Einkommen. Nach den statistischen
Zahlen des Austrian Internet Monitor (http://www.integral.co.at/dImages/AIM-
C_4Quartal_2006.pdf ) benützen 71% der Männer, aber nur 54% der Frauen das
Internet. Innerhalb der Altersgruppe der 14–19-Jährigen sind 90% online, dagegen
bloß 21% der über 60-Jährigen. Hohe Bildungsabschlüsse und hohe Einkommen sind
in Gruppen mit großem Nutzungsgrad überrepräsentiert, während für Benachteiligte
das Gegenteil gilt.
194
Dass die Möglichkeit eines öffentlichen Internetzuganges in österreichischen
Bibliotheken im öffentlichen Bewusstsein nicht sehr entwickelt zu sein scheint, zeigt
der Umstand, dass im Austrian Internet Monitor bei der Erhebung der Zugangsorte
die Bibliotheken nicht als eigenständige Größe geführt werden.
Hingegen demonstrierte in den USA eine Studie der Gates Foundation und nationaler
Bürgerrechtsorganisationen, dass dort die Bibliotheken einen wichtigen Beitrag zur
Schließung der digitalen Teilung leisten: http://www.digitale-teilung.de/content/
news/.
Sogar 60% der amerikanischen Offliner sind die Bibliotheken als öffentliche Zugangs-
orte bekannt. Während Afro-Amerikaner und Hispano-Amerikaner hinter den
Nutzungsraten der weißen Bevölkerung zurückliegen, benutzen diese beiden Gruppen
insgesamt deutlich häufiger Bibliothekscomputer als ihre weißen Mitbürger.
Für Österreich gibt es keine empirische Untersuchung über die Benutzerstruktur
bei Internetzugängen in Bibliotheken. Es existiert aber eine materialreiche Studie,
die mit der Auswertung einer breiten Erhebung in den Wiener Internet-Cafes
dem Zusammenhang von Digital Divide und öffentlichen Internetzugängen
nachgespürt hat.1 Lachmayr kommt dabei zum Ergebnis, dass die Benutzer der
Internet-Cafes überwiegend Menschen sind, die privat über keinen Internetzugang
verfügen, trotzdem aber auf Grund ihrer Medienkompetenz nicht zu den von
Digital Divide betroffenen Gruppen zählen. Aus beobachtender Praxis kann für
die öffentlichen Bibliotheken ein ähnlicher Befund erstellt werden. Auch zu den
dortigen Internetzugängen kommen in der Mehrzahl Menschen, die zu Hause
keinen Anschluss vorfinden, aber die Technik beherrschen und daher nicht zu den
Information Poor gezählt werden können.
Und das führt zum zentralen Punkt unserer Fragestellung: Können Bibliotheken
überhaupt einen Beitrag zur Überwindung von Digital Divide leisten?
Dabei geht es nicht nur um den Zugang und die Vernetzung, sondern vor allem
um das Know How und das Nutzungsverhalten, sowie die Verhinderung des Second
Level Digital Divide: Man hat zwar Zugang, kann ihn aber nicht adäquat nutzen
– mit den fatalen Folgen, in einer zunehmend wissenszentrierten Ökonomie, in
der Information zum wichtigsten Faktor wird, zu unterliegen. Die Funktion der
Bibliotheken als Anbieter öffentlichen Zugangs kann nicht oft genug betont
werden – vor allem, weil die Bilanz nach wie vor eine dürftige Sprache spricht. So
1 Norbert Lachmayr: Digital Divide und öffentliche Internetzugänge: Einflusspotential
kommerzieller Internetpools in Wien. [Wien Diss.] 2002.
195
weist die Statistik des Büchereiverbandes Österreichs für 2005 (Quelle: http://www.
publikationen.bvoe.at/perspektiven/bp3_06/s36-42.pdf ) in 1.563 österreichischen
öffentlichen Bibliotheken insgesamt nur 860 Internet-PCs aus.
Offliner benennen als entscheidende Faktoren neben hohen Kosten den fehlenden
Nutzen.2 Es kann daher nur an Interessen angeknüpft werden. Was ein wichtiger
Inhalt ist, stellt sich für verschiedene Zielgruppen unterschiedlich dar. Entscheidend
für die Relevanz der Inhalte ist deren Bedeutung für die persönliche Lebensführung
des potentiellen Nutzers. Wenn das Internet Informationen bereitstellt, die zur
Verbesserung des individuellen beruflichen oder privaten Lebensbereiches dienen,
ist der Anreiz, sich mit dem neuen Medium zu beschäftigen, ausreichend groß, um
auch bisherige Nichtnutzer zu überzeugen.
Bibliotheken müssen sich in stärkerem Maß zu Lernorten entwickeln. Da dem
vielfach die Personalsituation entgegensteht (zu knappe Ressourcen, manchmal
mangelnde Kompetenzen), sind Kooperationen (etwa mit Schule, Einrichtungen
der Erwachsenenbildung, AMS, Senioreninitiativen u.ä.) umso wichtiger. Ebenso
werden Schulung und Weiterbildung von Bibliothekaren von entscheidender
Bedeutung sein.
Auch für das Zusammenwirken von öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken
eröffnet sich hier ein weites Feld: Informationskompetenz und soziale Kompetenz
können Synergieeffekte erzielen und wechselseitiges Lernen fördern.
Nicht zuletzt müssen sich Bibliotheken selbst verändern, um zu verlässlichen
Navigatoren der Informationsbeschaffung zu werden: Ihr Auftritt im Netz erfordert
eine entsprechende Architektur, um das Gewünschte systematisch suchen zu
können.
2 Mechthild Winkelmann: Auf den Inhalt kommt es an? Wie und warum [nicht] Bürger
ins Netz gehen. In: Digitale Teilung – Digitale Integration. Perspektiven der Internet-
nutzung, hg. von Gernot Gehrke. München 2004, 53–66.
196
ÖFFENTLICH ZUGÄNGLICHE BIBLIOTHEKEN AN UNIVERSITÄT UND HOCHSCHULE?DAS KONZEPT DER PRIMÄREN NUTZER-GRUPPE UND SEINE FOLGEN FÜR ANDERE BENUTZERGRUPPEN
ULRICH HOHOFF
Unser Thema, das wegen neuerer Entwicklungen ja wieder Aktualität erlangt,
ist in Deutschland eigentlich schon lange im Bewusstsein der verantwortlichen
Bibliothekare. Planungsgruppen und Verbände haben sich darüber immer wieder
geäußert. Ich möchte eingangs drei Beispiele aus drei Jahrzehnten zitieren.
UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEK: FÜR ALLE ODER NUR FÜR UNIVERSITÄTSMITGLIEDER?
Das erste Beispiel führt zurück in die Zeit nach 1968, in eine Phase des
bildungspolitischen Aufbruchs und der Neugründung vieler Universitäten. Eine
Arbeitsgruppe der Deutschen Bibliothekskonferenz hat damals – in einem Projekt
des Deutschen Büchereiverbands und der Berliner Arbeitsstelle für das Bücherwesen
(alle drei Institutionen sind mittlerweile Geschichte) – den berühmt-berüchtigten
„Bibliotheksplan 1973“ geschrieben. Er wurde publiziert – mit dem Untertitel
„Entwurf eines umfassenden Bibliotheksnetzes für die Bundesrepublik Deutschland“
– und sofort heftig kontrovers diskutiert.1
Die Arbeitsgruppe hatte erstmals versucht, die Aufgaben verschiedener Bibliotheks-
typen und ihrer sehr unterschiedlichen Träger (Kommune, Bundesland, Bund,
sonstige öffentliche Einrichtung, Stiftung) aufeinander abzustimmen. Ihr neuer
Planungsansatz ging davon aus, dass jeder Bibliothekstyp seinen spezifischen
Beitrag zur künftigen Gemeinschaftsaufgabe Bildung leisten solle, von der
öffentlichen Bücherei über die Stadtbibliothek, die Universitätsbibliothek und die
Landesbibliothek bis hin zur Deutschen Bibliothek.
1 Bibliotheksplan 1973. Entwurf eines umfassenden Bibliotheksnetzes für die Bundesre-
publik Deutschland. Projektleitung: Deutscher Büchereiverband e.V. und Arbeitsstelle
für das Büchereiwesen, Berlin. Berlin: Deutsche. Bibliothekskonferenz 1973. Auf
169–172 sind die Namen von nicht weniger als 44 Mitarbeitern an der Publikation
aufgeführt (Anlage 14).
197
Die Bildungseuphorie war damals groß, die Ansprüche, welche dieser erste
Masterplan für die deutschen Bibliotheken erfüllen sollte ebenso. Bibliotheken
sollten als Akteure im Bildungsprozess zu Gunsten des Bürgers verankert werden
– ein Versuch, der in Teilen vor drei Jahren in dem Konzept „Bibliothek 2007“
nochmals aufgegriffen wurde. Ich zitiere einige Ziele des „Bibliotheksplans
1973“: Die Vernetzung der Bibliothekslandschaft diene unter anderem dazu, „das
noch vorhandene Bildungsgefälle abzubauen, überall in Stadt und Land gleiche
Bildungschancen und Bildungsmöglichkeiten zu gewährleisten“ sowie „eine freie
politische Meinungsbildung für alle Bürger“ zu ermöglichen. Ein weiteres Zitat:
„Gleichzeitig vermitteln die Bibliotheken aktiv und kontaktfördernd Kenntnisse
über die gesellschaftlichen Zusammenhänge und ihre Wandlungen und dienen
so der Integration des Einzelnen in die Gesellschaft.“ Die berühmt gewordene
Zusammenfassung der Ziele lautet: Es sei notwendig, dass „Literatur aller Art
[…] und Informationsmittel für jedermann an jedem Ort erreichbar sind“.2 Das
bezog sich nicht nur auf die nächstgelegene kommunale Bücherei, es sollte auch für
Universitätsbibliotheken, Landesbibliotheken und für Bibliotheken von nationaler
Bedeutung gelten. Jede Universitätsbibliothek sollte jedem bildungshungrigen
Interessenten offen stehen, also auch, wie die Formel damals hieß, eine „Bibliothek
für alle“ sein.
Das zweite Beispiel ist 20 Jahre jünger. Die Bundesvereinigung deutscher
Bibliotheks-verbände (BDB) schränkte diesen Grundsatz zwar in ihrem Grundsatz-
papier „Bibliotheken 1993“ ein, verteidigte ihn aber noch mit wünschenswerter
Deutlichkeit. Er gilt auf mehreren Ebenen. Erstens heißt es ganz allgemein:
„Bibliotheksdienste müssen jedermann ohne besondere Erschwernisse zugänglich
sein“. Zweitens liest man über die Hochschulbibliotheken, diese seien „primär“
für die eigene Hochschule da und – ein entscheidender Zusatz – „fungieren als
wissenschaftliche Allgemeinbibliotheken“. Drittens hielt die BDB fest, die Aufgabe
der Universitätsbibliotheken sei die Literatur- und Informationsversorgung „inner-
und außerhalb der Universitäten“.3
Das dritte Beispiel ist im Kontext des Weltkongresses der International Federation of
Library Associations (IFLA) zu sehen, der 2003 in Deutschland stattfand. Zu diesem
Anlass erschien eine gut lesbare Bestandsaufnahme des deutschen Bibliothekswesens,
verfasst von Jürgen Seefeldt und Ludger Syré im Auftrag der BDB. Die Autoren
2 Alle Zitate a.a.O., 10.
3 Nachweis: Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheksverbände: Bibliotheken ’93. Struk-
turen Aufgaben – Positionen. Realisation: Hans-Jürgen Kuhlmeyer, Simone Rennert.
Göttingen, Berlin 1994. Zitate auf 6, 41 und 42. Auf 181/182 sind die Namen der 38
Mitarbeiter aufgeführt.
198
verweisen mehrmals auf die Bedeutung der Bundesländer als Träger der Hochschul-
und Landesbibliotheken. Über die Hochschulbibliotheken heißt es im Abschnitt
über „Universitäten und andere Hochschulen“ zunächst, deren Bibliotheken seien
„in erster Linie“ für Hochschullehrer und Studierende da. Es folgt immerhin der
Nachsatz: „Sie haben sich heute aber auch der Bevölkerung geöffnet“. Etwas später,
bei den Aufgaben der rd. 100 Universitätsbibliotheken in Deutschland, wird dann
ausgeführt: „Alle Universitätsbibliotheken können aber auch für wissenschaftliche
Zwecke von Nicht-Hochschulangehörigen benutzt werden“.4
Ein Vergleich der drei Positionen bibliothekarischer Spitzenorganisationen
zu Universitätsbibliotheken zwischen 1973 und 2003 zeigt, dass Aussagen zur
Literaturversorgung der wissenschaftlich Interessierten, die nicht zur Universität
gehören, heute deutlich defensiver formuliert werden als 1973. Der Beitrag der
Universitätsbibliotheken zur Verbesserung der allgemeinen Bildung von damals
ist als Ansatz nicht mehr aktuell. Man unterscheidet stattdessen zwei Gruppen:
die Mitglieder der eigenen Universität und die sonstigen Benutzer, welche halt
so mitschwimmen im Strom der Leser, ohne dass die UB sich näher für sie
interessieren müsse. Der diffamierende Ausdruck „Nicht-Hochschulangehöriger“
zur Kennzeichnung dieser Benutzergruppe spricht für sich.
Aus heutiger Sicht waren die Ziele des „Bibliotheksplans 1973“ nicht realistisch. Aber
man sollte oder muss auch sehen, dass die Planer von damals für das Konzept einer
öffentlichen Universitätsbibliothek einen gewaltigen Zuwachs an Erwerbungsmitteln
und an Mitarbeitern mitgeplant und eingefordert hatten.
NEUE KONZENTRATION AUF DIE „PRIMÄRE NUTZERGRUPPE“
Universitätsbibliotheken sind institutionsgebunden. Ihre Hauptaufgabe war immer
die Arbeit für die eigene Universität. Das Umfeld Universität, in dem sie sich
bewegen, hat sich inzwischen deutlich verändert. Fast alle größeren Veränderungen
der Universitäten seit den Neunziger Jahren wirkten so, dass die Universitätsbibliothek
zwar stärker in den Universitätsbetrieb eingebunden wurde als früher, zugleich aber
auch stärker von ihr abhängig wurde. Ich nenne aus meiner Berufserfahrung in
Bayern heraus folgende Faktoren:
4 Jürgen Seefeldt, Ludger Syré: Portale zu Vergangenheit und Zukunft – Bibliotheken
in Deutschland. Im Auftrag der Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheksverbände
herausgegeben. Mit einem einführenden Essay sowie einem Nachwort von Georg
Ruppelt. Hildesheim, Zürich, New York 2003. Zitate auf 31 und 45.
199
a) Verfügbare Mittel: Die Erwerbungsmittel stagnierten. Die Kommunikation mit
den Dozenten der Universität über deren laufenden Bedarf ist deutlich intensiver
geworden. Auch waren Titelreduzierungen und umfangreiche Abbestellaktionen
von Periodika zu besprechen. Titel, die man früher für den künftigen Bedarf, zur
Abrundung eines Faches, aus fachübergreifenden Überlegungen oder für Benutzer
aus Stadt und der Region gekauft hatte, wurden nicht mehr bestellt. Selbst die
Konsortialverträge sind, nach der ersten Euphorie über umfangreiche Verlagspakete,
heute strikt vom lokalen Bedarf jeder Bibliothek bestimmt.
b) Prof ilierung der Universität: Gleichzeitig mit dem Mittelrückgang begannen
die Universitäten, ihr Profil zu schärfen. Sie mussten nun erstmals Studiengänge
mehrerer Universitäten im Bundesland aufeinander abstimmen. Einige Fächer
brachen weg, andere orientierten sich neu, einige Fächer wurden auf die Zuarbeit
zu Bachelor-Studiengängen reduziert, andere starteten Master-Studiengänge.
Es entstanden vermehrt fakultäts- und universitätsübergreifende Studiengänge.
Neue Forschungsgebiete, neue Elite-Studiengänge und neue übergreifende
Kompetenzzentren für Profilschwerpunkte stecken in den Anfängen. In den
meisten dieser Fälle existiert hier leider keine gesonderte Finanzierung für den
Bibliotheksbedarf. Das reduziert die Berücksichtigung der Interessen von
Benutzern außerhalb der Universität erheblich. Oft sind nur ad personam zugesagte
Berufungsmittel eines Professors dafür einsetzbar.
c) Die Zahl der Bibliotheksmitarbeiter nimmt ab: Parallel zu den erwähnten
Veränderungen laufen Bemühungen, die Anzahl der Staatsdiener zu reduzieren, um
nicht später von Pensionskosten überrollt zu werden. Als zentrale Einrichtungen sind
die Universitätsbibliotheken in Stelleneinsparprozesse beim nicht-wissenschaftlichen
Personal einbezogen und müssen teilweise Leistungen abbauen.
d) Grundausbildung: Wenn die Universitätsbibliotheken noch stärker in Schulung
und Unterricht für die Studierenden (Stichwort Informationskompetenz) einsteigen
sollen, wird dringend zusätzliches Personal benötigt, vor allem für Übungen und
deren Besprechung, das aber nicht in Sicht ist.
e) Zwei weitere Entwicklungen werden die Bindung der Universitätsbibliothek
an inneruniversitäre Prozesse – und damit ihre Bindung an Leistungen für die
primäre Zielgruppe der Universitätsangehörigen – weiter verstärken: Erstens
kommen in den großen Bundesländern ab Herbst 2006 bzw. Sommersemester
2007 Studienbeiträge (auch als „Studiengebühren“ bezeichnet) für alle Studierenden,
in der Regel € 1.000,-- pro Jahr, welche die Universität für die Verbesserung der
Lehre einsetzen muss. Das ist einerseits eine Erleichterung, weil sich daraus
Erwerbungen, Lizenzen, verlängerte Öffnungszeiten und anderes finanzieren
lassen. Andererseits dürfte es die Anspruchshaltung der Studierenden gegenüber
der Dienstleistungseinrichtung UB verstärken (und die Haltung der Dozenten,
dieser entgegenzukommen). Ich hoffe, wir werden nicht gezwungen sein, eines
200
Tages z.B. die wichtigsten zwei Gesetzessammlungen jedem angehenden Juristen
als Lehrbuch der Universitätsbibliothek auszuhändigen. Zweitens kommt auch in
Bayern die Budgetierung, und ein besseres Finanzcontrolling der Universitäten ist
in Vorbereitung. Die Professoren werden dann die Leistung der Bibliothek, die
als Vorkostenstelle prozentual bei ihren Budgets mit veranschlagt wird, stärker am
Nutzen für sie selbst und ihre Studenten bemessen.
Universitätsangehörige sind heute stärker „primäre Zielgruppe“ einer Universitäts-
bibliothek als früher. Ich nenne drei Beispiele, um zu zeigen, dass der Zugriff auf
Ressourcen der Universitätsbibliothek durch andere Benutzer sich verschlechtert.
a) Zugriff auf lizenzierte Netzdatenbanken: Ein Gutachten des Vereins Deutsches
Forschungsnetz (DFN), der das Wissenschaftsnetz in Deutschland betreibt, von
2005 sieht ernste Probleme beim Netzzugang durch nicht-universitäre Benutzer.
Die Rechteverwerter von Datenbanken verlangen, dass der Zugriff auf Datenbanken
und elektronische Zeitschriften soweit wie möglich von den Universitätsräumen
aus stattfindet. Universitätsmitglieder haben zusätzlich die Möglichkeit, sich von
außerhalb, z.B. von zuhause, über das Rechenzentrum wie ein Benutzer in den
Bibliotheksräumen anzumelden, nicht-universitäre Benutzer haben dieses Recht
nicht. Wir können diese missliche Situation leider derzeit nicht ändern.
b) Gebühren: Die Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf muss seit 2005 von
Benutzern, die nicht Universitätsmitglieder sind, eine Jahresgebühr verlangen, wie sie
in öffentlichen Bibliotheken für alle Benutzer häufig vorkommt. Die Begründung
war, dass Mitglieder zusätzliche Leistungen erhielten, die zu Universitätszwecken
aufgebaut worden seien. Weitere Bibliotheken werden folgen. Die eingenommenen
Mittel stehen bisher übrigens der Bibliothek nicht für Investitionen zur Verfügung. An
der Staatsbibliothek zu Berlin ist jetzt die Benutzung eines Lesesaals kostenpflichtig.
Der Benutzer muss wie für die Ausleihe eine Monatskarte (€ 10,--) oder eine
Jahreskarte (€ 26,--) erwerben.
c) Eingeschränkte Ausleihe: An Universitätsbibliotheken können manchmal Schüler nicht
ausleihen. Lehrbücher aus Lehrbuchsammlungen sind für Studenten reserviert. Ein
Ortsleser kann nicht entleihen. Wenn nur ganz wenige Exemplare vorhanden sind, ist das
sicher sinnvoll. Bei höheren Exemplarzahlen müsste man eine Öffnung diskutieren.
d) Die Nutzung durch Externe wird nicht evaluiert: Im „Bibliotheksindex“, der seit
einigen Jahren auch für Universitätsbibliotheken in Deutschland erstellt wird (auch
österreichische Bibliotheken sind Teilnehmer) spielt für viele Leistungsindikatoren
die Größe der Zielgruppe, für die man arbeitet, eine wesentliche Rolle. Als „primäre
Nutzergruppe“ für eine UB wurden schlichtweg die Universitätsmitglieder definiert.
Damit gelten die nicht-universitären Benutzer als zu vernachlässigende Größe.
Leistungen für sie gehen nicht in die Bewertung der Bibliotheken ein, was deren
Leistung nicht korrekt wiedergibt.
201
Nun könnte man einwerfen: Sollten UBs in dieser schwierigen Lage nicht froh sein,
dass andere Benutzergruppen nicht zusätzlich Arbeit verursachen? Weshalb sollten
sie sich auch noch um externe Nutzer kümmern?
EINGESCHRÄNKTER SERVICE FÜR EXTERNE BENUTZER ALS STRATEGIE?
Es ist wichtig, sich darüber klar zu werden, um welche Benutzer es sich bei den
Externen handelt, deren Zugang zu Informationen in der Universitätsbibliothek
eingeschränkt wird:
– Oberstufenschüler
– Absolventen der eigenen Universität
– Absolventen und Dozenten anderer Universitäten
– Behördenmitarbeiter mit akademischem Hintergrund
– Firmenmitarbeiter und Freiberufler
– weitere akademisch interessierte Benutzer.
Für ihren Bedarf existiert kein Erwerbungs- oder Lizenzetat. Es gibt keinen
Bestand, der ihren Bedarf gezielt abdeckte. Sie sind nur geduldete Mitbenutzer des
Bibliotheksgutes für die Universitätsmitglieder.
Lenken wir den Blick auf die Bildungsbiographie eines Lesers der Universitätsbibliothek,
dann sehen wir, dass er mehrmals seinen Status als Benutzer wechseln kann.
Als Schüler Oberstufe Gymnasium nicht universitär
Als Student primäre Nutzergruppe
Als Promovend nicht universitär
Als Berufstätiger nicht universitär
Als Lehrbeauftragter/Assistent primäre Nutzergruppe
Als Privatmann, alumnus, Gasthörer nicht universitär
Als Privatdozent/Professor primäre Nutzergruppe
Als Rentner/Pensionär nicht universitär
Im Extremfall kann ein Leser im Lauf seines Lebens jeder der acht Benutzergruppen
an der Universitätsbibliothek zugeordnet werden. Der sechsmalige Statuswechsel
zwischen Nicht-Mitgliedschaft und Mitgliedschaft, zwischen dem Status als
gewollter Benutzer und als nur geduldeter Benutzer verursacht der Bibliothek und
dem Leser jedes Mal Arbeit. Es ist kaum nachvollziehbar, dass diese Wechsel sinnvoll
sein sollen. Denn der Leser arbeitet jedes Mal wissenschaftlich und benötigt jedes
Mal Informationen aus der Universitätsbibliothek.
202
EINE BESSERE STRATEGIE: INTEGRATION EXTERNER BENUTZER
Auch die Bibliotheken müssen sich von Zeit zu Zeit fragen, ob sie die richtigen
Dinge tun, ob ihre Handlungsstrategie richtig ist. Wer die richtigen Schritte tun
will, muss zuerst die Richtung kennen, in die er geht. Dazu gehört es, zu wissen, für
welche Zielgruppe(n) man arbeitet. Werfen wir einen Blick in Hochschulgesetze
oder Benutzungsordnungen von Universitätsbibliotheken, dann findet sich dort etwa
eine Formulierung, wonach an Universitäten der Bedarf von Lehre und Forschung
im Vordergrund stehe. Eine Schlechterstellung des externen Nutzers, der nicht
Universitätsmitglied ist, findet sich dort nicht. In der Benützungsordnung der
Bayerischen Staatlichen Bibliotheken, die auch für die Universitätsbibliotheken
gilt, liest man z.B. über deren „Aufgaben“, sie dienten „als öffentliche Bibliotheken
wissenschaftlichen Zwecken sowie der beruflichen Arbeit und Fortbildung“
(ABOB 1993, unverändert in der aktuellen Version 2001, § 2). Jeder Bürger, der
Werke aus ihrem Angebot zu einem dieser Zwecke benötigt, hat das Recht, diese
zu benutzen (§ 4).5 Die Rahmenbenutzungsordnung für Sachsen (1997) hat die
Zweckbestimmung der Universitätsbibliotheken als „öffentliche Bibliotheken“
übernommen,6 die Benutzungsordnung für Sachsen-Anhalt (1995) gebraucht
diese Formulierung ebenfalls.7 Nicht von Interessen der Universität, sondern
von dem Interesse des Bürgers, mit Material aus der Bibliothek zu arbeiten,
gehen die Benutzungsordnungen aus. Ihr Ansatzpunkt ist die Bibliothek als
Dienstleistungseinrichtung für den Bürger. Wenn das wissenschaftliche Interesse
als Benutzungszweck für die Universitätsbibliothek ausschlaggebend ist, dann fehlt
ihr eigentlich schon die Grundlage, um Benutzergruppen erster und zweiter Klasse
bilden zu können.
Dieser Abschnitt trägt die Überschrift „Eine bessere Strategie“, weil sich aus dieser
Lage ein verändertes Vorgehen ableiten lässt. Die Universitätsbibliotheken sind
sich seit Jahren darin einig, dass sie sich am Informationsbedarf ihrer Kundschaft
orientieren sollten. Umso mehr erstaunt es, dass die nicht zur Universität gehörenden
Benutzer als Zielgruppe(n) bisher nicht recht entdeckt worden sind (mit Ausnahme
der Schüler der Oberstufe), die Universitätsbibliotheken ihren Informationsbedarf
5 Allgemeine Benützungsordnung der Bayerischen Staatlichen Bibliotheken (ABOB);
Lansky/Kesper: Bibliotheksrechtliche Vorschriften, Frankfurt am Main 2005, No. 1332
(Fassung 2001), § 2 und § 4. Online-Version unter: URL: http://www.bibliothek.uni-
augsburg.de/bibliothek/recht/abob/.
6 Allgemeine Rahmenbenutzungsordnung für die Staatlichen Bibliotheken im Freistaat
Sachsen (ARBOS); Lansky/Kesper, a.a.O., No.1389a, § 2.
7 Musterbenutzungsordnung für die Landes- und Hochschulbibliotheken des Landes
Sachsen-Anhalt; Lansky/Kesper, a.a.O., No.1390, § 2.
203
nicht näher untersucht haben. Das ist ein Versäumnis, denn diese Zielgruppe macht
zwischen 15 und 25 % der regelmäßigen Benutzer einer Universitätsbibliothek aus.
Sie umfasst an jeder Universität mehrere Tausend Leser.
Die bessere Strategie heißt also Integration: nicht-universitäre Benutzer integrieren
und sie als gleichberechtigt ansehen. Das könnte zunächst dazu führen, dass eine
Universitätsleitung der Strategie ablehnend gegenübersteht. Doch in diesem Fall
kann die Universitätsbibliothek argumentieren, dass ein guter Service für diese
Benutzergruppen in mehrfacher Hinsicht der Universität selbst Nutzen bringt, ein
Rückbau der Dienstleistungen für Externe sich also negativ auswirken würde.
Folgende Argumente gegen eine Abwendung von den externen Benutzern sind
stichhaltig:
Erstens der Hinweis auf die rechtlichen Grundlagen (Gesetz, Benutzungsordnung).
Geschäftsgrundlage für die Benutzung der Universitätsbibliothek ist demnach das
wissenschaftliche Interesse des Bürgers (der meistens zugleich Steuerzahler ist), nicht
aber ein inneruniversitäres Interesse.
Zweitens die Verbindung dieser externen Benutzer zur Universität. Unter ihnen findet
sich der größte Teil des akademischen Nachwuchses (die Schüler der Oberstufe),
außerdem gerade jene Absolventen der Universität (alumni), welche diese durch
Angebote stärker an sich binden sollte.
In diesen Zusammenhang gehört auch, dass die Universität ja beansprucht,
Wissenschaftler für den Arbeitsmarkt ihres Einzugsgebiets auszubilden. Absolventen
der Universität sind häufig Arbeitgeber der fertig Studierten und häufig selbst in
der Region wissenschaftlich tätig. Die Universität darf diesen Menschen, welche
sie als Abnehmer der ausgebildeten Studenten dringend braucht, den Zugang zu
wissenschaftlicher Literatur und zu Informationen nicht erschweren.
Drittens finden sich unter den externen Benutzern viele Wissenschaftler,
Behördenmitarbeiter, Lehrer und sonstige wirtschaftlich-gesellschaftlich-
kulturell engagierte Bürger. Sie sind Multiplikatoren. Von ihrem Eindruck hängt
der gute (oder schlechte) Ruf der Universität in Stadt und Region auch ab. Um
diese wissenschaftsfreundlichen Kreise sollte die Universität sich bemühen,
statt sie abzuschrecken. Die genannten drei Argumente lassen sich zu einer
Formel zusammenfassen: Im eigenen Interesse sollte die Universität externe
Bibliotheksbenutzer nicht schlechter stellen als die Universitätsmitglieder.
Viertens gilt das Prinzip von Leistung und Gegenleistung. Im Bereich der Fernleihe
wiederholen Bibliothekare in ihrer Universität immer wieder den Hinweis, dass in
der Literaturversorgung von Universitätsbibliotheken überörtliche Leistung und
Gegenleistung einander bedingen. Wer wenig für die Fernleihe herausgibt, der
bekommt auch wenige Fernleihwünsche seiner Benutzer erfüllt. Analog gilt das für
den Umgang mit nicht-universitären Benutzergruppen. Die Universität sollte sie als
204
Freunde der Wissenschaft, als Helfer, als potentielle Schenker, Spender, Förderer und
Stifter für die Universität sehen, kurz: Sie sollte sie umwerben statt brüskieren.
Wenn es gelänge, mit Argumenten dieser Art an unseren Universitäten Gehör zu
finden und Einsicht einsichtig zu machen, dann könnten die Bibliothekare hoffen, dass
Benutzer, die nicht Universitätsmitglieder sind, als Zielgruppe mehr Anerkennung
finden. Sie sind zum großen Teil Steuerzahler, die unsere Arbeit finanzieren und
sie sind gerade die an Wissenschaft interessierten Bürger. Universitätsbibliotheken,
die Dienstleistungen für nicht-universitäre Benutzer erbringen, können sogar eine
Botschafterfunktion für ihre Universität übernehmen. Es gibt Universitätsleitungen,
denen klar ist, welches Potential hier zu heben wäre und im Interesse der Universität
bei der Informationssuche Unterstützung verdient, aber es sind wenige.
Ein breit angelegter Zugang zu wissenschaftlichen Informationen ist für wissen-
schaftlich Arbeitende und für Teile der Gesellschaft insgesamt notwendig. Dieser
breite Zugang ermöglicht es dem Bürger, Wissenschaft kennenzulernen, ihre
Notwendigkeit zu verstehen und den notwendigen Aufwand dafür zu akzeptieren.
Er ist auch eine Voraussetzung dafür, dass sich das Image der Universitätsbibliothek
in der Öffentlichkeit weiter verbessern kann. Sie gilt noch zu sehr als Hort der
Wissenschaft und zu wenig als Serviceeinrichtung für alle wissenschaftlich
Arbeitenden.
Universitätsbibliotheken sollten sich den Literatur- und Informationsbedarf der
nicht-universitären Benutzer genau ansehen, um besser auf ihn eingehen zu können.
Wenn sie sich hier stärker öffnen und bewusst Dienstleistungen für Benutzergruppen
außerhalb der Mitgliedschaft der Universität entwickeln und anbieten, können
sie für ihre Ausstrahlung in die Öffentlichkeit und für ihr universitäres Umfeld
auch etwas erreichen. Auf dem Weg zu diesem verbesserten Selbstverständnis
können Bibliotheksgremien und Bibliotheksverbände die Universitätsbibliotheken
unterstützen und dadurch deren Einbindung in die Gesellschaft verbessern helfen.
205
WAS GEHT BIBLIOTHEKEN DIE„DIGITALE SPALTUNG“ AN?
ROMAN HUMMEL
„Digital Divide“ hat mehrere Facetten. Die Verwendung dieses Begriffes ist daher
nicht selten mehrdeutig und hat dazu noch häufig einen fatalistisch-pessimistischen
Beigeschmack – wohl auch als Reaktion auf Marketingstrategien, die vorgeben,
soziale Integration und Partizipation fänden durch ein paar Mausklicks ihre
Vollendung. Die „digitale Kluft“ muss teilweise sogar als Marketingargument der
Kommunikationsindustrie herhalten: Chancenungleichheiten auf dem Bildungssektor
wie auch auf dem Arbeitsmarkt sind dieser Auffassung zufolge vorrangig einer
noch nicht optimal ausgebauten technischen Infrastruktur bzw. einer mangelhaften
Endgeräteversorgung der Nutzer geschuldet.1 Die technophile Euphorie wie ihr
Gegenteil ignorieren aber die soziale Gestaltung – und auch Gestaltbarkeit – von
Innovationen. In einem Beitrag, der sich wesentlich an Personen richtet, die mit der
Redistribution von Information im Zusammenhang mit Bibliotheken und Archiven
beschäftigt sind, soll daher von jenen Elementen der „digitalen Spaltung“ gesprochen
werden, die zumindest prinzipiell beeinflusst werden können.
Wir vernachlässigen daher hier technologisch-ökonomische Aspekte der
Ungleichverteilung in der Infrastruktur (die vor allem in der Kluft zwischen
industrialisierten und „Dritte-Welt“-Regionen eine wesentliche Rolle spielen).
Ebenso bleiben kulturspezifische Unterschiede bei der Informationsübertragung
ausgeklammert (wie zum Beispiel die Beherrschung des lateinischen Alphabets
oder hinreichende Englischkenntnisse), die bei der sinnvollen Nutzung digital
bereitgestellter Informationen Barrieren darstellen können. Statt dessen soll der
Blick auf einige soziologische Faktoren der „Digital Divide“ gelenkt werden.
INTERESSENSASPEKTE UND MEDIENKOMPETENZ
Die Sozialisation, das heißt das Lernen des jeweils „richtigen“ Verhaltens in Familie,
Peergroups, Ausbildungsinstitutionen und am Arbeitsplatz, erfolgt bekanntlich
in unterschiedlichen Milieus und zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich.
Während für die einen möglicherweise Ordnung, Bewährtes und die „Heile Welt“
die Markierungen sind, wonach sich das Leben ausrichtet, sind dies für andere etwa
1 Vgl. dazu den Überblick bei Klaus Beck: Computervermittelte Kommunikation im
Internet. München 2006, 244–253.
206
Risikobereitschaft, Streben nach Selbstverwirklichung und Affinität zu sozialen
und technischen Innovationen. Dazu kommen noch die auf Grund von Bildung
und Einkommen in unterschiedlichem Ausmaß bestehenden Möglichkeiten,
den als erstrebenswert erachteten Lebensstil zu realisieren. Grundsätzlich besteht
aber zwischen Milieu und Selbstverständnis bzw. zwischen sozialer Position und
Disposition eine „Art ontologischer Komplizenschaft“,2 d.h. man wendet sich
nur jenen Lebensformen zu, strebt nur jene an, für die man sich selbst geeignet
erachtet. Das gilt auch für die Ausprägung des Geschmacks, die Wertschätzung von
Kulturgütern und führt damit zu unterschiedlichen Motivationslagen hinsichtlich
der Akzeptanz von Informationskanälen.
Das lässt sich beispielsweise an den für den ORF3 durchgeführten Sinus-Studien gut
zeigen: Die in diesem Zusammenhang Interviewten werden einerseits nach klassischen
soziodemographischen Merkmalen wie formale Bildung, Beruf, Einkommen geordnet.
Andererseits werden sie auf Grund bekundeter Werthaltungen und Einstellungen
in bestimmte Milieus gegliedert. Diese Matrix kann dann mit den verschiedenen
abgefragten Arten von Medienaktivitäten oder Konsum korreliert werden.
Wenn man diese nicht sehr detailliert veröffentlichten Daten nochmals sehr vergröbert
mit der hier diskutierten Frage in Beziehung setzt, kommt man bereits zu interessanten
Aussagen über soziale Spaltungen in der Medien- und Wissensverwendung, die
allerdings sowohl digital wie analog sind: „Ober- und Mittelschicht“ haben gegenüber
der „Unterschicht“ eine doppelt so große Nutzung sowohl des Internet wie auch von
Büchern. Das dokumentierte Interesse an „Geschichte und Zeitgeschehen“ ist in
der Sozialpyramide „oben“ zweieinhalb mal größer als „unten“. Die „Modernen“
wiederum haben eine rund viermal größere Bereitschaft, das Internet zu nutzen, ein
rund doppelt so großes Interesse an „Geschichte und Zeitgeschehen“ aber auch ein
etwas größeres Faible für Bücher als die „Traditionellen“.
Das bloße Vorhandensein neuer Kommunikationsinfrastrukturen (worin sie auch
immer bestehen mögen) führt von sich aus weder dazu, dass etwa kleine Kinder
massenhaft in populärwissenschaftlichen Datenbanken recherchieren und schon gar
nicht, dass sie dies auf Grund von philantropischen Unternehmensselbstverständnissen
kostenlos dürften, wie dies zu Zeiten des „Internet-Hypes“ prognostiziert wurde.4
2 Pierre Bourdieu: Der Tote packt den Lebenden. Schriften zu Politik & Kultur 2. Ham-
burg 1997, 29.
3 ORF Medienforschung: Die Sinus-Milieus im Teletest, URL: http://mediaresearch.
orf.at/index2.htm?fernsehen/fernsehen_sinus.htm (18.9.2006).
4 Nicholas Negroponte: Total digital. Die Welt zwischen 0 und 1 oder Die Zukunft der
Kommunikation. München 1995, 13.
207
Derartige Fehleinschätzungen der Wirkungen von Medientechnologien wiederholen
sich immer wieder: Auch dem Telegraphen war 1850 im französischen Parlament
unterstellt worden, er bewirke eine moralische „Umwälzung zu Gunsten der
Wahrheit“, weil nun alle Informationen allen zur Verfügung stünden.5
Behauptungen, das Web würde grundsätzlich zu rationalem Auswahlverhalten
in Bezug auf angebotene Informationen führen und jeder werde sein eigenes
„Kommunikationsmanagement“ betreiben,6 hatten niemals empirische Grundlagen.
Zuwendung zu bestimmten Distributionskanälen – vom Web über das Fernsehen
bis zu Bibliotheken – sowie auch zu bestimmten inhaltlichen Genres ist hochgradig
von Gewohnheiten und Routinen bestimmt.7 Dies führt nicht selten zu einem als
„rationale Ignoranz“ bezeichneten Verhalten, 8 innerhalb dessen Informationen von
den potentiellen Nutzern nicht nach ihrer Brauchbarkeit für die eigene Orientierung,
sondern nach dem für sie notwendigen Such- und Verstehensaufwand beurteilt
werden. Dies gilt aber in gleicher Weise für analoge wie digitale Medien.
Je größer das prinzipiell zugängliche Informationsangebot ist, um so schwieriger wird
jedenfalls die Selektion. Auch für Alltagsfragestellungen, wie etwa die Suche nach
einem Kochrezept, gilt: Je mehr Wissen über einen Bereich besteht, um so leichter
lassen sich zusätzliche Informationen finden und bewerten (sonst sitzt man am
Ende noch der albernen Scherzfrage auf, wie lange man ein Ei kochen muss, bis es
weich ist). Es bedarf also eines Operationalisierungsprozesses und der Erstellung von
Relevanz- und Gültigkeitskriterien. Hier, so kann unterstellt werden, erfolgen auch
kontinuierliche soziale Lernprozesse, wie aus dem nahezu gänzlichen Verschwinden
von E-Mail-Kettenbriefen (welche gutgläubig Geldüberweisungen von Bill Gates,
kostenlose Mobiltelefone usw. bei Weiterleitung versprachen) gefolgert werden kann.
Andere Falschmeldungen werden gerade auch durch Webpublikationen richtig
gestellt.9 Zusätzlich braucht es Medienkompetenz, die beim Web zweifellos eine
größere Rolle spielt als bei der Kanalwahl von Fernsehprogrammen.10
5 Patrice Flichy: Tele. Geschichte der modernen Kommunikation. Frankfurt, New York 1994, 24.
6 Vgl. Die Internet-Ökonomie. Strategien für die digitale Wirtschaft hg. von Axel
Zerdick, Arnold Picot, Klaus Schrape et al. Berlin, Heidelberg, New York 1999, 220.
7 Vgl. Uwe Hasebrink: Vom aktiven zum überforderten Publikum? Überlegungen zur
Mediennutzung in der Informationsgesellschaft. In: Orientierung in der Informations-
gesellschaft, hg. von Walter A. Mahle. Konstanz 2000, 120 (= AKM-Studien; Bd. 43).
8 Marie-Luise Kiefer: Das überforderte Individuum als Nutzer der Informationsgesell-
schaft, ebd., 108.
9 Vgl. Urban Legend Reference Pages, URL: http://www.snopes.com/ (28.2.2007).
10 Nicola Döring: Sozialpsychologie des Internet. Die Bedeutung des Internet für Kom-
munikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen. Göttingen, Bern,
208
UND DIE BIBLIOTHEKEN?
Zusammenfassend lässt sich daher feststellen, dass weder rein ökonomische
Theorieansätze – „jeder, der nur will, kann sich im Supermarkt der Wissensgesellschaft
bedienen“11 – noch auch technikzentrierte Erklärungsmodelle – „Informationszugang
ist allein eine Frage der Infrastruktur“12 – die durchschnittliche Nutzung interaktiver
Medien korrekt beschreiben können. Ebenso wenig besteht aber Anlass für eine
„Cultural Myopia“.13 Die Digitalisierung bewirkt als solche keine gesellschaftlichen
Spaltungen, sie macht diese aber gerade während ihrer Verbreitungsphase sichtbar.
Für Bibliotheken lassen sich aus diesen Ausführungen folgende Schlussfolgerungen
ziehen:
1) Da die Nutzung von Informationskanälen wesentlich sozialisationsgeprägt ist,
ist der Kontakt zwischen Heranwachsenden und Bibliotheken für die weitere
Nutzung essentiell. Was immer die Kontaktchancen erhöht kann milieubedingte
Spaltungen im Informationszugang verringern.
2) Die Vermittlung von Medienkompetenz im Sinne der Kenntnis effizienter
Suchstrategien wird z.B. von Bibliotheken, von Bildungseinrichtungen wie Schulen
oder Universitäten betrieben. Allgemeine Gemeinde- und Landesbibliotheken
hindert vermutlich Ressourcenknappheit, diese Aufgabe zu übernehmen.
Könnten sie dies aber, würde dies jedenfalls analoge wie digitale Spaltung im
Informationszugang reduzieren.
3) Da die Digitalisierung die Integration bisher vorhandener Speichermöglichkeiten
und Verbreitungswege mit sich gebracht hat, müssen sich Bibliotheken
fragen, inwieweit sie selbst eine Spaltung in analoge und digitale Medien
aufrechterhalten. Die (einstweilen noch utopische) Idealform wäre, nicht nur
Bücher oder Zeitungsausgaben vergangener Jahre bereit zu stellen, sondern
auch Rundfunksendungen, CDs oder sogar gespeicherte Websites, um so eine
generelle „Informationsbrokerfunktion“14 erfüllen zu können.
Toronto, Seattle 2003, 138.
11 Vgl. kritisch dazu: Roman Brandtweiner: Diff erenzierung und elektronischer Vertrieb
digitaler Informationsgüter. Düsseldorf 2000, 40; sowie Frank Hartmann: Globale
Medienkultur. Technik, Geschichte, Th eorien. Wien 2006, 209.
12 Vgl. Rainer Fischbach: Mythos Netz. Kommunikation jenseits von Raum und Zeit?
Zürich 2005, 116.
13 Th eories of the New Media, hg. von John Th ornton Caldwell. A Historical Perspective.
London 2000, 14.
14 Veronika Oechtering: Reorganisation wissenschaftlicher Kommunikation – die Verän-
derung des Bibliothekswesens. In: Informationsgesellschaft – Medien – Demokratie,
hg. von Edelgard Bulmahn, Kurt van Haaren et al. Marburg 1996, 431.
209
4) Unter der Voraussetzung, dass Bibliotheken als Institutionen zu begreifen sind,
die nicht nur Informationen aufbewahren, sondern diese Informationen auch
einer möglichst großen Zahl von Personen nutzbar machen sollen, fällt ihnen
auch eine wesentliche Rolle dabei zu, die gesellschaftliche Kluft in der Nutzung
relevanten Orientierungswissens zu verringern. Das bedeutet auch, die Akzeptanz
des Bibliotheksangebotes – auch durch entsprechende Öffentlichkeitsarbeit – zu
erhöhen.
Digital (wie analog) Divide ist daher – salopp formuliert – ein Arbeitsauftrag für
Bibliotheken und die für sie Verantwortlichen.
TECHNIK
211
WIE KÖNNEN SICH BIBLIOTHEKEN GEGENÜBER WISSENSCHAFTSSUCH-MASCHINEN POSITIONIEREN?
DIRK LEWANDOWSKI
EINLEITUNG
Dieser Aufsatz beschreibt die Probleme bei der Erschließung des wissenschaft-
lichen Web (Academic Invisible Web), zeigt Beispiele kommerzieller Wissenschafts-
suchmaschinen unter der Leitfrage, was Bibliotheken von diesen lernen können
und stellt schließlich Vor- und Nachteile der Wissenschaftssuchmaschinen denen
der bisherigen Bibliotheksangebote gegenüber. Daraus werden Empfehlungen
abgeleitet, wie sich Bibliotheken mit umfassenden Suchlösungen gegenüber den
Wissenschaftssuchmaschinen positionieren können.
DAS ACADEMIC WEB
Wenn es um die zukünftigen Aufgaben der Bibliotheken bei der Erschließung von
Literatur bzw. allgemeiner: von wissenschaftlichen Inhalten geht, so ist neben dem
klassischen Printbereich an Web-Inhalte zu denken, und zwar an den gesamten Bereich
des sog. Academic Web.1 Hier ist zu unterscheiden zwischen den für die allgemeinen
Suchmaschinen zugänglichen Inhalten im Oberflächen-Web (Surface Web) und den
für die Suchmaschinen verborgenen Inhalten im Invisible Web. Lewandowski und
Mayr führen für diesen speziellen Bereich, der den Großteil des Academic Web
ausmacht und zu dem auch die von Bibliotheken lizenzierten Datenbanken gehören,
den Begriff Academic Invisible Web (AIW) ein.2 Seine Erschließung kann als eine der
größten Herausforderungen für zukünftige Bibliotheksangebote gelten.
Um ein besseres Bild von der Bedeutung und der Komplexität dieser Aufgabe zu
bekommen, lohnt ein Blick auf die Größe des AIW. Lewandowski und Mayr3 zeigen
anhand von bisherigen Hochrechungen und eigenen Berechnungen, dass das gesamte
Invisible Web (also inklusive des nicht-wissenschaftlichen Teils) zwar wesentlich
kleiner ist als die in der bekannten Untersuchung von Bergman geschätzten 550
1 Dirk Lewandowski, Philipp Mayr: Exploring the Academic Invisible Web. In: Library Hi
Tech, 24 (2006) 4, 529–539.
2 Ebd.
3 Ebd.
212
Milliarden Dokumente4, aber doch höher liegen dürfte als die für die Gesamtheit
der im Gale Directory of Databases geführten Datenbanken berechneten 18,92
Milliarden Dokumente.5 Damit zeigt sich, dass das AIW in einem Größenbereich
liegt, der dem der Datenbestände der größten Suchmaschinen des Oberflächen-Web
entspricht. Bei diesem Umfang wird deutlich, dass für eine umfassende Suchlösung
nur eine Zusammenarbeit zwischen kommerziellen Suchmaschinen, Bibliotheken
sowie Verlagen und Datenbankanbietern zielführend ist.6
ÜBERBLICK WISSENSCHAFTSSUCHMASCHINEN
Schon die bereits bisher bestehenden Wissenschaftssuchmaschinen gehen beim
Aufbau ihrer Indizes weit über die bekannten Bibliotheksangebote hinaus. Sie
enthalten (je nach Ausrichtung) Bücher, Aufsätze, Graue Literatur aus dem
Web, Reports, Manuskripte, Zeitschriften, Inhalte aus Repositories, Inhalte aus
Datenbanken sowie manchmal auch Forschungsdaten. Diese Auflistung zeigt,
dass die Kataloge der Bibliotheken deutlich erweitert werden müssen, um mit
den Wissenschaftssuchmaschinen konkurrieren zu können. Dazu müssen alle
Rechercheangebote einer Bibliothek auch über einen einzigen Zugang recherchierbar
sein.7 Es ist für die an umfassende Web-Suchangebote gewöhnten Nutzer heute
nicht mehr verständlich, dass eine erfolgreiche Bibliotheksrecherche über mehrere
Rechercheeinstiege erfolgen muss; die Konsequenz ist die Hinwendung zu Web-
Suchmaschinen bzw. zu von diesen bereitgestellten Spezialsuchmaschinen.
Die bekannteste dieser Spezialsuchmaschinen für wissenschaftliche Inhalte dürfte
Google Scholar8 sein. Dabei handelt es sich um eine Suchmaschine für Aufsätze
und Bücher aller Fächer, wobei wenn möglich ein direkter Link auf den (kostenlosen
oder kostenpflichtigen) Volltext angegeben wird. Die Quellen von Google Scholar
sind neben dem freien Web Angebote von Partnerverlagen und Open-Access-
4 Michael Bergmann: Th e Deep Web: Surfacing Hidden Value. In: Journal of Electronic
Publishing, 7 (2001) 1.
5 Martha E. Williams: Th e State of Databases Today: 2005. In: Gale Directory of Data-
bases. Vol. 2. Detroit, Mich. 2005, XV–XXV.
6 Dirk Lewandowski, Philipp Mayr: Exploring the Academic Invisible Web, a.a.O.
7 Dirk Lewandowski: Suchmaschinen als Konkurrenten der Bibliothekskataloge: Wie
Bibliotheken ihre Angebote durch Suchmaschinentechnologie attraktiver und durch
Öff nung für die allgemeinen Suchmaschinen populärer machen können. In: Zeitschrift
für Bibliothekswesen und Bibliographie, 53 (2006) 2, 71–78.
8 URL: http://scholar.google.de (24.2.2007)
213
Archive. Die Inhalte werden per Crawling9 gesammelt und im Volltext erschlossen.
Die Volltexterschließung erlaubt zwar eine direkte Suche in den Texten, eventuell
in den Originalquellen (Verlagsangebote, Open-Access-Archive) vorhandene
Schlagwörter, Systemstellen usw. werden jedoch nicht übernommen, was die
Recherche erschwert.
Zusätzlich zu den Volltexten werden Zitationen ausgewertet, so dass auf der einen
Seite Informationsflüsse nachvollzogen werden können, auf der anderen Seite im
Ranking eine Bewertung nach Popularität erfolgen kann. Bei Google Scholar besteht
zwar ein gewisser Anspruch auf Vollständigkeit, eine Angabe der indexierten Quellen
und über die Vollständigkeit der Indexierung wird jedoch nicht gemacht.10 Einen guten
Überblick über die Vor- und Nachteile von Google Scholar gibt Peter Jacsó.11
In Konkurrenz zu Google Scholar wird auch von Microsoft unter dem Namen
Windows Live Academic12 eine Wissenschaftssuchmaschine angeboten, die sich
allerdings auf nur einige Fachbereiche und die Inhalte von Verlagen beschränkt.
Ebenso ist keine Zitationsanalyse vorhanden. Insgesamt ist das Angebot noch in
einem frühen Entwicklungsstadium, sollte jedoch weiter beobachtet werden.
Weitere Suchmaschinen für wissenschaftliche Inhalte sind
Scirus13:
Diese Suchmaschine deckt neben dem Academic Surface Web (ohne Beschränkung
auf Literatur) auch Teile des Academic Invisible Web ab. Neben Repositories sind
hier vor allem die Inhalte von Elsevier, dem Betreiber dieser Suchmaschine, zu
nennen.
9 Zur den Besonderheiten und Problemen des Crawling siehe: Dirk Lewandowski: Web
Information Retrieval. Technologien zur Informationssuche im Internet. Frankfurt am
Main 2005, 48–50.
10 Zu dieser Problematik vgl. Dirk Lewandowski: Google Scholar – Aufbau und strate-
gische Ausrichtung des Angebots sowie Auswirkung auf andere Angebote im Bereich
der wissenschaftlichen Suchmaschinen, URL: http://www.durchdenken.de/lewandow-
ski/doc/Expertise_Google-Scholar.pdf (25.2.2007) und Philipp Mayr, Ann-Kathrin
Walter: Abdeckung und Aktualität des Suchdienstes Google Scholar. In: Information
Wissenschaft und Praxis, 57 (2006) 3, 133–140.
11 Peter Jacsó: Google Scholar: Th e pros and cons. In: Online Information Review, 29
(2005) 3, 208-214.
12 URL: http://academic.live.com (24.2.2007); siehe: Konstanze Söllner: Google Scholar
und Windows Live Academic Search – aktuelle Entwicklungen bei wissenschaftlichen
Suchmaschinen. In: Bibliotheksdienst, 40 (2006) 7, 828–837.
13 URL: http://www.scirus.com (24.2.2007).
214
Forschungsportal.net:
Diese Suchmaschine deckt die Websites der in Deutschlang öffentlich geförderten
Forschungseinrichtungen sowie die Online-Dissertationen der Deutschen
Nationalbibliothek ab. Allerdings leidet dieses Angebot bedauerlicherweise an
gravierenden Mängeln im Ranking und der Aufbereitung der Treffer.
Nicht vergessen werden sollten bei der Diskussion um die Wissenschaftssuchmaschinen
auch die großen interdisziplinären Literaturdatenbanken (wie Web of Science und
Scopus) und die Datenbanken der großen Verlage (wie Springerlink und Science
Direct).
Zwar nicht direkt auf wissenschaftliche Inhalte ausgerichtet, aber doch für eine
wissenschaftliche Recherche von zunehmender Bedeutung sind die Suchmaschinen für
Buch-Inhalte. Auch hier ist an prominentester Stelle das Angebot von Google (Google
Buchsuche14) zu nennen. Es dürfte sich hierbei um das größte Digitalisierungsprojekt
weltweit handeln. Alle Bücher sind (soweit sie durch OCR korrekt erfasst werden
konnten) im Volltext durchsuchbar; bei gemeinfreien Werken ist auch ein Download
als PDF möglich. Eine weitere Erschließung findet allerdings nicht statt.
In eine ähnliche Richtung wie Google geht auch die „Open Content Alliance“15, die
allerdings in rechtlicher Hinsicht einen anderen Weg einschlägt: Hier werden nur
freie Werke digitalisiert; geschützte Werke werden nur nach expliziter Genehmigung
durch den Rechteinhaber erfasst. Die Digitalisate sind dann für jedermann zugänglich
und dürfen weiterverarbeitet und -verbreitet werden. Kooperationspartner bei diesem
Projekt sind unter anderem das Web Archive, Yahoo und MSN. Auch dieses Projekt
befindet sich noch in einer frühen Phase und kann keine vergleichbare Anzahl
digitalisierter Bücher vorweisen wie die Buchsuche von Google.
Seit langem Vorreiter bei der Suche nach Büchern und deren Inhalten ist das Online-
Versandhaus Amazon. Im Idealfall finden sich dort umfassende Informationen
zum Titel: Bibliographische Angaben, klassifikatorische Angaben, Schlagwörter,
Klappentext, Besprechungen („Redaktion“ & Kunden), Hinweise auf ähnliche
Bücher (aufgrund des Kaufverhaltens bzw. aufgrund des Browsingverhaltens),
wichtige Mehrwortausdrücke aus dem Text, Zitationen, von Kunden vergebene
Tags, von Kunden erstellte Themenlisten, beschränkt zugänglicher Volltext („Search
Inside“), „Upgrade“: zusätzlich zum gedruckten Buch die elektronische Version mit
der Möglichkeit der Bearbeitung.16
14 URL: http://books.google.de (24.2.2007).
15 URL: http://www.opencontentalliance.org (24.2.2007).
16 Vgl. Dirk Lewandowski: Suchmaschinen als Konkurrenten der Bibliothekskataloge, a.a.O.
215
Zwei neuere Dienste kommerzieller Suchmaschinen zeigen, dass sich die von
den Suchmaschinen entwickelten Technologien problemlos auf weitere Bereiche
übertragen lassen: Das Google News Archive17 bindet Inhalte aus den Datenbanken
kommerzieller Anbieter ein; Yahoo Search Subscriptions18 verfährt ähnlich mit
Inhalten aus Quellen wie Factiva, Forrester und Lexis-Nexis. Für die Zukunft
sind weitere Hybrid-Angebote zu erwarten, die kostenlose mit kostenpflichtigen
Angeboten kombinieren.
Die angeführten Beispiele vermitteln einen Eindruck davon, welche Ansätze von den
kommerziellen Anbietern verfolgt werden. Diese gehen weit über das bisher von den
Bibliotheken angebotene hinaus, bisher fehlt jedoch eine umfassende Suchlösung, die
sowohl den bibliothekarischen Ansprüchen als auch denen der Nutzer gerecht wird.
CHANCEN UND HERAUSFORDERUNGEN FÜR BIBLIOTHEKEN
Festzuhalten ist, dass kommerzielle Suchmaschinen auf der einen Seite in immer
mehr Suchbereiche der Bibliotheken vordringen und auf der anderen Seite einen
weit umfassenderen Ansatz verfolgen als die Bibliotheken.
Die Vorteile der kommerziellen Wissenschaftssuchmaschinen sind auf den Ebenen
der Inhalte, der Erschließung und der Suche zu sehen:
Inhalte: Der (zumindest tendenzielle) Ansatz der Wissenschaftssuchmaschinen
ist es, alle Aufsätze und alle Bücher zu erschließen, dazu kommen noch andere
Inhalte des Academic Web.
Erschließung: Die Inhalte werden im Volltext erschlossen (bzw. wenigstens
Ausschnitte davon) und teils mit Rezensionen und tags angereichert.
Empfehlungssysteme kommen zum Einsatz.
Suche: Die Suche ist schnell und ist einfach zu bedienen. Die Suchinterfaces
orientieren sich an den allgemeinen Web-Suchmaschinen.
Auf der anderen Seite stehen gravierende Nachteile der Wissenschaftssuchmaschinen
auf den Ebenen der Quellen, der Erschließung und der Communities:
Quellen: Die Quellenlage ist oft unklar, außerdem ist meist nicht bekannt, ob die
entsprechenden Quellen auch vollständig und aktuell erschlossen werden.
Erschließung: Es finden sich oft hohe Fehlerraten, beispielsweise bei
Autorennamen und Zeitschriftentiteln, wenn eine automatische Extraktion der
Informationen erfolgt. Eine bibliothekarische Erschließung mittels Klassifikation,
Schlagwörtern usw. erfolgt nicht.
17 URL: http://news.google.com/archivesearch (24.2.2007).
18 URL: http://search.yahoo.com/subscriptions (24.2.2007).
216
Communities: Werden Community-Aspekte ausgenutzt, so wird stets nur eine
Nutzergruppe gebildet, die aus allen Nutzern des Systems besteht. Spezielle
Belange der Wissenschaftler werden dadurch ignoriert.
Betrachtet man die neueren Bibliotheksangebote, die sich eher als Wissenschafts-
suchmaschinen verstehen,19 so zeigt sich, dass Bibliotheken bisher nur Nachahmer
sind, nicht aber Vorreiter. Die wichtigsten bibliothekarischen Angebote im
deutschsprachigen Raum sind:
BASE20 mit einem Teilbestand des OPAC der UB Bielefeld und einer umfang-
reichen Sammlung von Open-Access-Quellen.
Die HBZ-Suchmaschine21, welche einen OPAC auf Basis von Suchmaschinen-
technologie darstellt.
Vascoda22 mit einem Meta-Ansatz zur einheitlichen Recherche in Fachdatenbanken
und Bibliothekskatalogen, der schrittweise auf Suchmaschinentechnologie
umgestellt werden soll.
Dandelon.com mit einer Anreicherung von Katalogdaten durch Inhalts-
verzeichnisse und einer umfangreichen automatischen Indexierung inklusive
Thesaurusanreicherung.
Sollen bibliothekarische Suchmaschinen vor den Nutzern bestehen, so müssen sie
die Stärken der kommerziellen Wissenschaftssuchmaschinen mit den gewachsenen
Stärken der Bibliotheken verbinden.
BIBLIOTHEKEN ALS INNOVATOREN
Bei der Gestaltung von benutzerorientierten Wissenschaftssuchmaschinen bieten
sich für Bibliotheken drei Ebenen an. Zuerst ist die technische Ebene zu nennen.
Hier erfolgt zurzeit eine Ablösung der alten Datenbank-Technologie der OPACs
durch Suchmaschinentechnologie. Die Hersteller von Bibliothekssystemen sollten
diesen Schritt schnellstmöglich vollziehen, da ihre konventionellen Lösungen nicht
mehr zeitgemäß sind. Eine eigene Technologieentwicklung durch Bibliotheken ist
zwar aussichtslos, wenn sich bibliothekarische Initiativen allerdings mit starken
Partnern zusammentun (wie dies teils schon geschehen ist), können sie sich aktiv in
die Technologieentwicklung einbringen, um zu optimalen Resultaten zu gelangen.
19 Siehe auch Dirk Lewandowski: Suchmaschinen als Konkurrenten der Bibliothekskata-
loge, a.a.O.
20 URL: http://base.ub.uni-bielefeld.de (24.2.2007).
21 URL: http://suchen.hbz-nrw.de (24.2.2007).
22 URL: http://www.vascoda.de (24.2.2007).
217
Auf der Benutzerebene können sich Bibliotheken bei der Entwicklung
von Informationssystemen einbringen, indem sie sich konsequent an den
Nutzerbedürfnissen orientieren und entsprechende benutzerführende Systeme
entwickeln. Hier können sie auch Vorreiter für andere Bereiche sein.
Auf der Ebene der Erschließung sollten Bibliotheken ihre Stärken in die zukunfts-
orientierten Anwendungen „hinüberretten“. Gerade die kommerziellen Angebote
zeigen, dass eine bibliothekarische Erschließung dringend gebraucht wird und sich
aus ihrem Fehlen große Schwächen im Gesamtsystem ergeben.
Abschließend kann gesagt werden, dass bibliothekarische Angebote die Stärken der
kommerziellen Dienste adaptieren und durch bibliothekarische Stärken erweitern
sollten. So können Lösungen entstehen, die nicht nur die Nutzer von einem
dauerhaften Wechsel zu den kommerziellen Wissenschaftssuchmaschinen oder gar
den allgemeinen Web-Suchmaschinen abhalten, sondern ihnen ein einzigartiges
„user experience“ bieten, das sie an ihre Bibliothek bindet.
218
NATÜRLICHSPRACHIGE ABFRAGE UND 3-D-VISUALISIERUNG VON WISSENSZUSAMMENHÄNGEN
ARND FREDERICHS
Eine der größten Herausforderungen für alle technischen Anwendungen ist die
sogenannte Mensch–Maschine-Schnittstelle, also der Problemkreis, wie der bedie-
nende Mensch mit der zu bedienenden Technik kommunizieren kann. Waren die
Benutzungsschnittstellen bis Ende der Achtziger Jahre vor allem durch die Notwen-
digkeit des Benutzers geprägt, sich an die Erfordernisse der Maschine anzupassen,
so wurde mit Durchsetzung grafischer Benutzungsoberflächen zunehmend versucht,
die Bedienbarkeit so zu gestalten, dass ein Mensch auch ohne größere Einarbeitung
in die Lage versetzt werden sollte, seine Befehle der Technik – letztlich also dem
Computer – zu übermitteln. Trotz aller Fortschritte auf diesem Gebiet blieb immer
die Anforderung, der Mensch solle auf die ihm natürlichste Art und Weise kommu-
nizieren können, mit menschlicher Sprache. Diese Anforderung gilt gerade auch für
das Retrieval von Informationen: Warum ist es nötig, die Nutzung von Booleschen
Operatoren zu erlernen, nur um eine Suchanfrage stellen zu können?
Ein anderes Thema ist die Frage nach der Visualisierung von Wissenszusammen-
hängen, die sich der Herausforderung stellt, in einem geradezu uferlos sich aus-
weitenden Informationsangebot weiterhin den Überblick behalten und relevante
Informationen schnellstmöglich finden zu können.
Beide Aspekte wurden von Bill Gates prägnant einfach auf den Punkt gebracht:
„Man sollte die Frage ,warum ist der Himmel blau?‘ eintippen können und darauf
eine Antwort erhalten. […] Das ist eine der großen Aufgaben der Informatik. […]
Ein anderes Marathon-Projekt: Die Suche nach besseren Benutzerschnittstellen. Es
scheint intuitiv richtig zu sein, dass dreidimensionale Oberflächen Bildschirmmate-
rial klarer präsentieren könnten, so Gates. Microsoft habe an dem Problem seit zehn
Jahren gearbeitet. ,Und wie viele Prototypen wir da gebaut haben. Alle wurden sie
durch Usability-Tests geschickt. Und keiner funktionierte.‘“1
Die Brockhaus Duden Neue Medien GmbH hat sich in einem vom Bundesmini-
sterium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Forschungsprojekt die-
sen Anforderungen gestellt und in Kooperation mit namhaften wissenschaftlichen
1 Interview mit Bill Gates: Gates: IT wird völlig unterschätzt, Technology Review vom
5.3.2004, URL: http://www.heise.de/tr/aktuell/meldung/print/45276.
219
Partnern2 Lösungen entwickelt, die letztlich in der Brockhaus Enzyklopädie digital
Anwendung finden konnten. Im folgenden wird versucht, die Ergebnisse dieses
Projekts darzustellen.
DIE NATÜRLICHSPRACHIGE SUCHHILFE
Bei der Informationsrecherche hat sich die Nutzung von Suchmaschinen längst
etabliert und jeder, der wenigstens gelegentlich Suchanfragen formuliert, hat sich an
typische Erfordernisse gewöhnt. So werden Suchen quasi automatisch lemmatisiert
und um Stoppworte eliminiert vorgenommen, kaum jemand käme auf die Idee nach
der „Höhe des Bundestages“ zu suchen. Stattdessen wird eine UND-verknüpfte
Suchanfrage nach „Höhe“ und „Bundestag“ ausgeführt. Zudem ist klar, dass Suchen
dann besonders erfolgreich sind, wenn ein eher seltener, eindeutiger Begriff gefunden
werden soll.
In der Realität herrschen solche Idealbedingungen selten vor, so dass der Suchende
gezwungen ist, seine Suchanfragen mehrmals zu modifizieren, um sich dem ge-
wünschten Suchergebnis anzunähern. Wirklich problematisch wird es, wenn der
eigentlich gesuchte Begriff überhaupt nicht bekannt ist, da in so einem Fall die
einfache Indexsuche ausscheidet.
Mit der natürlichsprachigen Suchhilfe der Brockhaus Enzyklopädie digital wird dem
Anwender nun ein Werkzeug an die Hand gegeben, das genau diese Problemkreise
löst. Wer wissen möchte, wer der Sage nach den Menschen das Feuer brachte, kann
diese Frage unmittelbar an die Enzyklopädie richten und erhält nach kurzer Fragen-
analyse als Ergebnis eine Suchergebnisliste, deren erster Eintrag mit 95% Relevanz
der Artikel „Prometheus“ ist (s. Bild 1).
Andere Beispiele funktionieren entsprechend: Warum ist der Himmel blau? (Artikel
„Himmelsblau“), Bei welcher Temperatur des Körpers erfriert ein Mensch? (Artikel
„Kältetod“), Welche Säugetiere können fliegen? (Artikel „Flugsäuger“) oder: Welches
ist der höchste Berg der Erde? (Tabelle „Die höchsten Berge der Erde“).
2 Beteiligte Partner (in alphabetischer Reihenfolge): Bibliographisches Institut & F.A.
Brockhaus AG/Brockhaus Duden Neue Medien GmbH, Mannheim; Institut der Ge-
sellschaft zur Förderung der Angewandten Informationsforschung e.V. (IAI), Saarbrük-
ken; Intelligent Views (i-views), Darmstadt; interActive Systems GmbH (iAS), Marburg;
Joanneum Research ( JR), Graz; Krieger, Zander & Partner GmbH, München; MediaSu-
pervision Software Consulting GmbH (MSSC), Eppelheim bei Heidelberg.
220
Selbstverständlich hat auch dieses System Grenzen: „Wie heißt meine Großmutter?“
kann von der natürlichsprachigen Suchhilfe genauso wenig beantwortet werden wie
die Frage, ob es im Universum extraterrestrische Intelligenz gibt. Und nicht zuletzt
muss man auch berücksichtigen, dass auch das umfassendste Nachschlagewerk in-
haltliche Grenzen besitzt. Dennoch wird der Suchende auch in solchen Fällen nicht
im Stich gelassen, das Dialogmodul gibt Hinweise, wie die Suche präzisiert werden
kann und man bekommt Gelegenheit, eine verfeinernde Nachfrage einzugeben, um
doch noch sinnvoll weiterzukommen (s. Abb. 2).
221
Wie funktioniert das Ganze? „Die von uns erarbeitete Lösung fußt letztlich auf
einer differenzierten Fragetypologie, auf einer morphosyntaktischen Analyse sowohl
der Sucheingabe als auch der durchsuchten Texte und einer darauf aufbauenden
Strategie von differenzierten Suchvorgängen – z. B. werden bei einer als Personen-
frage identifizierten Eingabe andere Suchvorgänge durchgeführt und die Ergebnisse
anders bewertet als bei einer Ursachenfrage. Eine zentrale Rolle spielt die Relevanz-
bewertung der Suchmaschine, die für diesen Einsatzzweck und die verwendeten
Substanzen entwickelt und optimiert worden ist.“3
Weitere Informationen und Einsatzmöglichkeiten können gerne bei der Brockhaus
Duden Neue Medien GmbH in Mannheim angefragt werden.
DER 3-D-WISSENSRAUM
Wer sich mit lexikalischen Inhalten befasst, stellt sehr bald fest, dass die Mög-
lichkeiten, Artikel in Beziehung zueinander zu setzen, allein durch das klassische
Verweissystem schnell an Grenzen stoßen. Insbesondere der Wunsch, bereits beim
Verweis weitere Informationen so zu verankern, dass auf einen Blick erkennbar wird,
auf welche Art von Artikel verwiesen wird. Darüber hinaus soll nicht nur auf Artikel
verwiesen werden, die inhaltlich in irgendeiner Beziehung zum Ausgangsartikel ste-
hen, es sollte auch möglich sein, sachsystematische Verbindungen herzustellen, die es
erlauben, strukturiert die Recherche zu vertiefen. Aus solchen Anforderungen ergibt
sich einerseits die Notwendigkeit einer grafischen Visualisierung, andererseits sind
zweidimensionale Darstellungen schnell überfrachtet und würden dem Anspruch
nach Veranschaulichung nicht mehr gerecht. Die für die Brockhaus Enzyklopädie
digital realisierte Lösung sieht daher ein dreidimensionales Gebilde vor:
3 Christoph Rösener: Die Stecknadel im Heuhaufen. Natürlichsprachlicher Zugang zu
Volltextdatenbanken. Frankfurt am Main 2005.
222
Die im Raum befindliche Scheibe ist in Segmente unterteilt, die farblich differen-
ziert Themen wie Politik, Geschichte oder Geografie repräsentieren. Auf der Scheibe
stehen unterschiedlich ausgeformte Gebilde für Personenartikel, Sachartikel, geogra-
fische Artikel oder Schlüsselartikel. Die Größe der Gebilde steht für den Umfang des
repräsentierten Artikels, die Nähe zum im Zentrum der Scheibe stehenden Begriff
wiederum für die berechnete inhaltliche Nähe des Verweises zum gerade aktiven
Lemma. Somit kann sehr schnell erfasst werden, ob das Verfolgen eines Verweises
für die eigene Informationsrecherche vielversprechend ist oder nicht.
„Horizontal wurde eine assoziative Bezugsstruktur errechnet, letztlich also nichts
anderes als ein Dokumentcluster von Lexikonartikeln, bei denen verschiedene Merk-
male bzgl. Ihrer Relevanz zueinander gemessen werden. […] Orthogonal zu diesen
assoziativen Verbindungen, sozusagen in der Vertikalen, sind an vielen Artikelfi-
guren sachsystematische Verbindungen geknüpft. Im vorliegenden Beispiel öffnet
ein Rechtsklick auf die Figur ,Hellpach‘ ein Kontextmenü, welches die Person als
deutschen Psychologen ausweist und gleichzeitig die Verbindung zu weiteren Ein-
trägen des gleichen Typs anbietet.“4
4 Bernd Kreißig: Der neue Brockhaus: Einsatz von Sprachtechnologie und Wissensnetz.
In: Information Wissenschaft & Praxis, 57 (2006) 6–7, 343–346.
223
Somit ist eine effektive und zielführende Recherche genauso möglich wie die schnelle
Übersicht auch über komplexere Themen.
Insgesamt präsentiert sich mit diesen Hilfsmitteln die Brockhaus Enzyklopädie
digital nicht nur als eines der innovativsten deutschsprachigen Nachschlagewerke,
sie beweist auch, dass zu Problemstellungen, an denen sich sogar die Größten der
Softwareindustrie die Zähne ausgebissen haben, pragmatische Lösungen angeboten
werden können.
224
DAS PROJEKT MEDIOVIS – VISUELLE EXPLORATION DIGITALER BIBLIOTHEKEN
HARALD REITERER, HANS-CHRISTIAN JETTER
EINLEITUNG UND MOTIVATION
Ziel des Forschungsprojektes MedioVis, das in enger Kooperation mit der Bibliothek
der Universität Konstanz durchgeführt wird, ist die Realisierung einer innovativen
visuellen Benutzungsschnittstelle zur analytischen Suche und zum interessengeleiteten
Stöbern im Katalog der Konstanzer „Mediothek“. Deren elektronische und
multimediale Titel (z.B. Videoaufzeichnungen, DVD, Tonträger, CD-ROM) sind
ein bedeutsamer Bestandteil des Serviceangebots der Bibliothek der Universität
Konstanz, der gerade in dem Bereich der Theater-, Film- und Medienwissenschaften,
aber auch in der Fremdsprachenausbildung oder zu Unterhaltungszwecken intensiv
von Studenten, Lehrpersonen und Wissenschaftlern genutzt wird.
MedioVis leistet dabei einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung und
Erweiterung der nutzerorientierten Dienstleistungen, indem dem Bibliotheksnutzer
nicht nur ein effizientes Suchen, sondern auch ein interessengeleitetes Stöbern im
Katalog mittels spezieller Visualisierungen und neuartigen Interaktionskonzepten
ermöglicht wird. Dabei wird er von der ersten Eingrenzung des Katalogs bis zur
Selektion des gewünschten Titels begleitet, wobei zur Entscheidungsunterstützung
eine Anreicherung mit ergänzenden Metadaten aus dem World Wide Web
stattfindet. Das Projekt wird dabei von der Deutschen Forschungsgemeinschaft
(DFG) im Förderprogramm für Wissenschaftliche Literaturversorgungs- und
Informationssysteme gefördert, um somit die Schaffung eines für andere Bibliotheken
frei verfügbaren und nachnutzbaren Systems zu unterstützen und dieses unter
Realbedingungen zu testen. Zu diesem Zweck wird MedioVis von der UB Konstanz
seit dem Sommer 2004 im operativen Testbetrieb auf Arbeitsplätzen innerhalb der
Mediothek angeboten.
Die Motivation für das Projekt MedioVis erwuchs aus Gesprächen mit Benutzern
und deren Beobachtung bei der Verwendung des traditionellen bibliographischen
Webkatalogs bzw. OPACs „KOALA“, der gerade für die Domäne „Film“ in den
Augen der Befragten nur wenig geeignet war. Als Hauptproblem erwies sich dabei,
dass die Entscheidungsunterstützung bei der Filmrecherche für den Benutzer durch
einen traditionellen bibliographischen Katalog nur unzureichend ist. Ein Großteil
entscheidungsrelevanter Informationen über Filme ist in den Metadaten-Standards
225
aus dem Bibliothekswesen nicht berücksichtigt, weshalb der Benutzer dazu gezwungen
ist, eine eigenhändige Recherche in verschiedensten verstreuten Informationsquellen
aus dem World Wide Web durchzuführen (z.B. Filmdatenbanken wie die „Internet
Movie Database“ oder Kataloge von E-Commerce Anbietern wie Amazon).
Besondere Relevanz erhalten diese externen Daten, da im Falle der Mediothek
vonseiten der Bibliothek keine inhaltliche Erschließung oder Verschlagwortung
multimedialer Titel vorgenommen wird. Auch eine inhalts- oder handlungsbezogene
Suche über die Zuordnung von Titeln zu Fachgebieten ist nicht durchführbar, da diese
Zuordnung zu unspezifisch ist. So umfasst das Fachgebiet „Theater/Tanz/Film/Funk/
Fernsehen“ fast alle vorhandenen Videoaufzeichnungen und DVDs, unabhängig von
deren Inhalt, Handlung oder Genre. Im Endeffekt ist so allenfalls eine am Filmtitel
oder an Personennamen orientierte Suche möglich. MedioVis verfolgt daher das
Ziel, den traditionellen bibliographischen Katalog mit umfassenden textuellen und
multimedialen Metadaten wie Inhaltsangaben, Postern, Porträts, Videosequenzen
oder Biograpfien anzureichern. Diese Metadaten werden dabei durch automatisierte
Importfunktionen gemeinsam mit den bibliographischen Katalogdaten im eigenen
MedioVis Media Warehouse abgelegt oder dort als Hyperlinks hinterlegt. Der
so entstehende heterogene Informationsraum bzw. multimediale Katalog bleibt
dabei trotz seiner Komplexität durch die visuellen Werkzeuge und die zoombare
Benutzungsschnittstelle von MedioVis für den Benutzer beherrschbar.
DIE MEDIOVIS BENUTZUNGSSCHNITTSTELLE
Die Gestaltung der Benutzungsschnittstelle erfolgte speziell unter dem Gesichtspunkt
der Benutzerfreundlichkeit bzw. Gebrauchstauglichkeit („Usability“) und wurde
dahingehend gegenüber den traditionellen webbasierten Kataloganwendungen in
Bibliotheken optimiert. So werden bei Suchanwendungen für Online-Kataloge
bislang typischerweise statische Listendarstellungen von Suchtreffern eingesetzt,
obwohl interaktive Tabellen die Inhalte benutzergerechter aufbereiten und flexibler
auf das Informationsbedürfnis des Benutzers eingehen können.1 Weiterhin werden die
gefundenen Inhalte, zugehörige Volltexte oder optionale Zusatzinformationen (falls
überhaupt vorhanden) oftmals in räumlich weit entfernten Bildschirmbereichen, in
überlappenden Fenstern oder auf isolierten Webseiten angeboten, weshalb der visuelle
Kontext und der Bezug zur Treffermenge verloren geht (siehe Abbildung 1).
1 Jens Gerken: Evaluation eines Metadaten-Browsers: Liste vs. Leveltable. [Bachelorar-
beit] Konstanz 2004.
226
Abb. 1: Der Webkatalog bzw. OPAC „Koala“ der UB Konstanz
zu Beginn des Projektes MedioVis (2003).
Mit dieser Gestaltung geht eine Vielzahl kognitiv belastender Wechsel der
Modalität und des Layouts während der Arbeit des Benutzers einher, die er
durch eine kontinuierliche Vergegenwärtigung seiner Navigationswege und -ziele
kompensieren muss. Diese mentale Belastung beeinträchtigt die Effektivität,
Effizienz und die Benutzerzufriedenheit, die als die zentralen Leitkriterien für
die Gebrauchstauglichkeit gelten.2 Insbesondere wenn vom Benutzer verschiedene
ergänzende Informationsquellen aus dem Web herangezogen werden müssen, ist
er gezwungen, die Informationen eigenhändig aufzufinden und im Gedächtnis, in
Notizen oder in manuell erstellten Dokumenten zusammenzuführen. Dabei gehen
diese an sich integrierbaren Tätigkeiten zu Lasten des Benutzers, dessen Zeit und
dessen kognitiver Beanspruchung. Auch die Handhabung der dazu notwendigen
gleichzeitig geöffneten Webseiten führt zu einer Belastung, die der primären
Benutzeraufgabe, nämlich der Suche, Recherche und Entscheidungsfindung,
abträglich ist.
2 Siehe DIN EN ISO 9241-11: „Anforderungen an die Gebrauchstauglichkeit“.
227
MedioVis setzt dagegen auf innovative Konzepte der interaktiven Visualisierung
und der direkt-manipulativen Interaktion mit dem Informationsraum. Zentraler
Bestandteil ist dabei die zoombare Tabellenvisualisierung namens „HyperGrid“,
die das visuelle Eintauchen in die Tiefe des Informationsraums erlaubt.3 Der Name
„HyperGrid“ setzt sich dabei aus den zwei Schlüsselkonzepten zusammen: „Hyper“
steht für die Fähigkeit untereinander verwobene Hypertext- oder Hypermedia-
Inhalte in verschiedenen Modalitäten darzustellen. „Grid“ steht für die klare zwei-
dimensionale Gitterstruktur, die dabei zur interaktiven Visualisierung und als
Ordnungsrahmen verwendet wird.
Abb. 2: HyperGrid in der MedioVis Benutzerschnittstelle.
Die HyperGrid ermöglicht dabei die kompakte Präsentation umfangreicher
Informationsräume in Tabellenform mit Attributen verschiedenster Datentypen
3 Hans-Christian Jetter et al.: HyperGrid – Accessing Complex Information Spaces.
In: People and Computers XIX - Th e Bigger Picture. Proceedings of HCI 2005, hg.
von Tom McEwan, Jan Gulliksen und David Benyon. Goldaming 2006, 349–364.
Harald Reiterer et al.: Zoomtechniken zur Exploration komplexer Informationsräume
am Beispiel HyperGrid. In: Mensch und Computer 2005 – Kunst und Wissenschaft.
Grenzüberschreitung der interaktiven ART, hg. von Christian Stary. München, Wien
2005, 143–153.
228
und Modalitäten in variablen Detailgraden. Dazu vereinigt die HyperGrid die
vertrauten Konzepte von Webbrowser und Tabelle, um eine analytische Sichtweise
auf den Informationsraum (z.B. durch Filterung, Sortierung und Vergleiche in der
Tabelle) mit einer interessengeleiteten, browsing-orientierten Vorgehensweise (z.B.
Stöbern in einem reichhaltigen Angebot an Metadaten durch Zooming in einzelne
Tabellenzellen) funktional und visuell zu kombinieren. In der HyperGrid werden dazu
die einzelnen Objekte des Interesses, nämlich die Filme, in den Zeilen angeordnet. Die
Spalten repräsentieren inhaltlich unterschiedliche Sichten auf diese Objekte (Aspects
of Interest, AOI). Abbildung 2 zeigt die HyperGrid mit Filmen aus der Mediothek,
die aufgrund einer Stichwortsuche nach dem Regisseur „Spielberg“ als Suchergebnis
dargestellt wurden. Als inhaltliche Sichten auf die Filme sind den Spalten die drei AOI
„Titel“, „Beschreibung“ und „Exemplar“ zugeordnet, wobei unter „Titel“ Informationen
über den Film „an sich“, unter „Beschreibung“ nähere Informationen zu Personen,
Inhalt und Handlung und unter „Exemplar“ Informationen zum Medientyp, zum
Standort und zur Verfügbarkeit zusammengefasst sind.
Wie in Abbildung 2 deutlich wird, führt diese Art der Zuordnung in Kombination
mit der Zoomfunktion zu einem neuen Verständnis von der Tabellenzelle, die hier
nicht mehr nur statischer Informationsträger eines einzelnen Werts eines Datentyps
ist, sondern zum Ausgangspunkt für eine weitere gerichtete Exploration des
Informationsraums und zu einem dynamischen Präsentations- und Interaktionsbereich
wird. Die Zelle erhält die Rolle eines „Fensters“ in den Informationsraum, dessen
inhaltliche Ausrichtung durch dessen Position in der HyperGrid definiert ist. Die
„Größe“ dieses Fensters bzw. der Grad des Interesses (Degree of Interest, DOI) an
den dort verfügbaren Inhalten werden dabei vom Benutzer durch Klicken mit der
Maus kontrolliert. Der DOI ist für jede Zelle individuell wählbar, wobei sich die
Zellgröße im Sinne eines Zooms durch einen animierten Effekt vergrößert oder
verkleinert und sich an die individuelle Interessenlage des Benutzers und an den
Umfang der darzustellenden Information anpasst. So können durch Zoomen in die
Zellen der Trefferdarstellung nicht nur einzelne Metadatenattribute, DVD-Cover
oder Videostreams (siehe Abbildung 2, Trailer des Filmes „Catch me if you can“),
sondern auch die Biographien der beteiligten Schauspieler, deren Porträtaufnahmen,
zugehörige PDF-Dateien oder die Darstellung des Geburtsortes als Satellitenbild
oder auf der Weltkarte eingeblendet werden. Dieser sanfte Übergang der Zellen von
wenigen abstrakten Metadaten über detaillierte multimediale Metadaten bis hin zur
bildschirmfüllenden Volltextdarstellung wird als semantischer Zoom bezeichnet.
Dabei können die dargestellten Inhalte über Hyperlinks zu beliebigen weiteren
externen Informationsquellen führen, z.B. zu Online-Enzyklopädien wie Wikipedia
oder ähnlichen Online-Datenbanken. Somit sind ausgehend von der Trefferdarstellung
229
im Katalog auch „Ausflüge” zur weiteren Recherche und Beurteilung des Treffers
ins World Wide Web möglich, bei denen der Ausgangspunkt des Browsings durch
die Position und den Kontext, in dem sich das Browserfenster in der HyperGrid
befindet, als Orientierungspunkt erhalten bleibt. MedioVis schließt damit für den
Benutzer die Lücke zwischen der Suche im Angebot bibliographischer Kataloge und
den reichhaltigen Metadaten aus externen Webressourcen (z.B. Online Datenbanken,
aktive Online-Communities oder Webservices wie Google Maps), wobei durch die
HyperGrid als übergeordnete Struktur die Orientierung, Navigation und Interaktion
zwischen beiden Welten erheblich vereinfacht wird.
Dabei ermöglichen gerade die tabellenspezifischen Interaktionen wie Sortierung
und Filterung die analytische Bewertung und Handhabung von Treffern in der
HyperGrid. Die individuellen Zustände der Zellen bzw. Browserfenster bleiben auch
bei der Änderung der Sortierung erhalten, welche durch Klick auf den entsprechenden
Spaltenkopf ausgelöst wird. Als Sortierkriterium dient dabei das erste Attribut
innerhalb der Zellen, also das mit der höchsten Relevanz für den jeweiligen AOI (in
Abbildung 2 also „Titel“, „Beschreibung“ und „Exemplar“). Die benutzer-adaptive
Spalte (Abbildung 2, rechte Spalte) bietet zusätzlich die Möglichkeit ein beliebiges
Attribut aus der Tiefe des Informationsraums direkt zur Ansicht und zur Sortierung
an die Oberfläche zu holen. Als analytisches Werkzeug stehen weiterhin für jede
Spalte Eingabefelder als Tabellenfilter bereit (Abbildung 2, erste Zeile in der Tabelle),
die die Ergebnismenge anhand der dort eingegebenen Schlüsselworte filtern. Es
werden nur die Einträge dargestellt, die dem dort formulierten Filterkriterium (bzw.
mehreren und verknüpften Filterkriterien) entsprechen. Wird beispielsweise unter
„Exemplar“ das Schlüsselwort „DVD“ eingegeben und unter „Jahr“ „199“, reduziert
sich die Darstellung auf die Filme, die als DVD vorliegen und die in den 90er Jahren
veröffentlicht wurden. Somit kann die HyperGrid auch die analytische Sichtweise
auf den Datenraum durch eine filter- und sortierbare Tabellenstruktur mit einer
interessengeleiteten, browsing-orientierten Vorgehensweise funktional und visuell
kombinieren.
230
Abb. 3: HyperGrid und Scatter Plot in der MedioVis Benutzerschnittstelle
In MedioVis spielt der Zoom auch in einem Punktdiagramm namens „Scatter Plot“
unterhalb der HyperGrid eine zentrale Rolle (Abbildung 3). Diese Visualisierung
basiert auf der Idee des „FilmFinders“4 und positioniert die gefundenen Filme
entsprechend ihrer Attribute in einem kartesischen Koordinatensystem. Sie bietet
einen Gesamtüberblick über die Treffermenge und kann gleichzeitig als visueller
Filter genutzt werden. Quantitative Attribute wie z.B. das Jahr oder die Häufigkeit
der Ausleihe können dabei genauso verwendet werden wie nominale Daten (z.B.
Land, Sprache oder Titel). Der Benutzer kann so durch die richtige Auswahl der
Achsenbelegung und durch Zooming in bestimmte Ausschnitte des Punktdiagramms
Titel mit besonderen Eigenschaften (z.B. häufig entliehene Filme der 1980er) gezielt
heranholen und herausfiltern.
In MedioVis sind das Punktdiagramm und die HyperGrid dabei gleichberechtigte
und synchro nisierte Sichten auf die Treffermenge. So werden beim Zooming im
Punktdiagramm auch in der HyperGrid nur noch die Filme angezeigt, die sich im
4 Christopher Ahlberg und Ben Shneiderman: Visual information seeking using the
FilmFinder. In: Proceedings of the SIGCHI conference on Human factors in comput-
ing systems, hg. von Beth Adelson, Susan T. Dumais und Judith S. Olson. Boston 1994,
433–434.
231
gerade sichtbaren Ausschnitt des Diagramms befinden. Umgekehrt kann der Benutzer
durch Eingaben in den Tabellenfilter innerhalb der HyperGrid auch Filme aus dem
Diagramm ausblenden. Beide Visualisierungen können so je nach Fragestellung
des Benutzers ergänzend genutzt werden, um selbst komplexe Filterkriterien durch
direkt-manipulative Interaktion ohne aufwändige Eingabemasken zu formulieren.
Wurde so die Treffermenge ausreichend eingeschränkt, können die relevanten Filme
zur weiteren Verarbeitung oder Bestellung in eine Art elektronischen Warenkorb
abgelegt werden, der auch Funktionen zum Speichern, Drucken oder Versenden der
Rechercheergebnisse erlaubt.
EVALUATION VON MEDIOVIS
Eine Bewertung der MedioVis Benutzungsschnittstelle erfolgte in der AG Mensch-
Computer Interaktion innerhalb einer vergleichenden Studie, die die objektive
Effizienz und die subjektive Benutzerwahrnehmung von MedioVis mit denen
der bisherigen Kataloganwendung ”KOALA“ in einem kontrollierten Experiment
mit 24 Testpersonen verglichen hat. Die Ergebnisse der Studie bescheinigten
MedioVis eine statistisch hoch signifikante Überlegenheit in den durchschnittlichen
Bearbeitungszeiten.5 Die Benutzer erfüllten dabei die gestellten Suchaufgaben im
Schnitt in der Hälfte der Zeit, die sie mit „KOALA“ benötigten. Eine signifikante
Überlegenheit konnte auch bei der subjektiven Beurteilung von MedioVis durch
die Benutzer mit den standardisierten Fragebögen „Software Usability Scale“ zur
Messung der subjektiven Gebrauchstauglichkeit und „AttrakDiff“ zur Messung der
subjektiven Gebrauchstauglichkeit und Attraktivität festgestellt werden. 6
5 Christian Grün et al.: MedioVis – A User-Centred Library Metadata Browser. In: Pro-
ceedings of the 9th European Conference, ECDL, Research and Advanced Technology
for Digital Libraries, hg. von Andreas Rauber, Stavros Christodoulakis, A Min Tjoa.
Berlin, Heidelberg, New York 2005, 174–185.
6 John Brooke: SUS: A ,quick and dirty‘ usability scale. In: Usability Evaluation in
Industry, hg. von Patrick W. Jordan. London, Bristol 1996, 189–194. Marc Hassenzahl
et al.: Ein Fragebogen zur Messung wahrgenommener hedonischer und pragmatischer
Qualität. In: Mensch und Computer 2003 – Interaktion in Bewegung, hg. von Jürgen
Ziegler und Gerd Szwillus. Wiesbaden 2003, 187–196, URL: http://hci.uni-konstanz.
de/MedioVis (27.2.2007).
232
ZUSAMMENFASSUNG
Um sich einen tiefergehenden Eindruck von MedioVis zu verschaffen und um
Neuigkeiten über das Projekt zu erfahren, sei hier auf die Projekt-Website
verwiesen. Neben einem vertonten Demonstrationsvideo, das die wesentlichen
Komponenten und die Benutzungsoberfläche erläutert, sind dort auch alle bisherigen
Veröffentlichungen und eine Demonstrationsversion zugänglich. Der bisherige Erfolg
des Projektes in Bezug auf die Evaluation mit Bibliotheksbenutzern bestätigt die in
MedioVis realisierten Konzepte zur Unterstützung der analytischen Suche und des
interessengeleitete Stöberns in multimedial angereicherten Katalogdaten. Das Potential
der visuellen Präsentation von Inhalten und direkt-manipulativer Navigation durch
den Informationsraum mittels zoombasierten Interaktionstechniken (HyperGrid,
Punktdiagramm) wird sichtbar und erscheint dabei noch längst nicht ausgeschöpft.
Das MedioVis-Projekt und dessen Zielsetzung, die MedioVis-Technologie zur
Nachnutzung frei zur Verfügung zu stellen, kann dabei als Ausgangsbasis und als
Anregung für eine neue Generation gebrauchstauglicherer visueller Katalogsysteme
für digitale Bibliotheken und für multimediale Sammlungen dienen.
233
MULTILINGUALITÄT UND LOKALISIERUNG ZUR WISSENSERKUNDUNGODER VOM NUTZEN SEMANTISCHER NETZE FÜR DAS INFORMATION RETRIEVAL
WINFRIED GÖDERT
FRAU DR. INGETRAUT DAHLBERG ZUM 20. FEBRUAR 2007
1. AUSGANGSLAGE
Fasst man die Entwicklung bisheriger und die Vorstellungen zukünftiger Information
Retrieval Systeme unter dem Gesichtspunkt zusammen, welche Eigenschaften sie
zur Verarbeitung von thematischen Anfragen haben bzw. haben sollen, so lassen sich
folgende Generationen von Retrieval-Paradigmen angeben:
MATCHING VON WÖRTERNHiermit ist der gegenwärtige technische Mindeststandard beschrieben, über den alle
Retrievalsysteme, OPACs oder Suchmaschinen verfügen. Dieser Standard reicht
aber weder aus, um Null-Treffer-Mengen zu vermeiden, noch um differenzierte
thematische Recherchen durchzuführen oder gar Interessen zu berücksichtigen, die
mit Wissenserkundung beschrieben werden.
BEGRIFFLICHES SUCHENBegriffliches Suchen versucht, die Wortsuche auf das thematisch Gemeinte zu
erstrecken, Mehrdeutigkeiten zu vermeiden und insbesondere Null-Treffer-
Ergebnisse zu vermeiden. Hierzu werden vorab definierte Synonymie-Relationen
aus Normdateien in den Rechercheablauf einbezogen. Neuere Studien haben gezeigt,
dass nunmehr auch die Zahl der OPACs steigt, in denen derartige Möglichkeiten
angeboten werden.1
1 Jessica Hubrich: Die Schlagwortrecherche in deutschsprachigen OPACs: Typen der
Schlagwortsuche und der Einsatz der Schlagwortnormdatei (SWD) dargelegt un-
ter Rückgriff auf eine empirische Untersuchung. In: Bibliotheksdienst, 39 (2005) 5,
626–653.
234
BERÜCKSICHTIGUNG UND EXPLORATION DES BEGRIFFLICHEN UMFELDES EINES SUCHBEGRIFFSIdealerweise besteht das Ziel, das semantische Umfeld eines Suchbegriffs
benutzergesteuert für die Bildung von Treffermengen zu berücksichtigen. Derzeit sind
zum Erreichen der Zielsetzung zwei Entwicklungslinien zu beobachten. In OPACs
oder anderen Recherchesystemen mit offenen Dokumentbeständen werden vorab
definierte a priori Beziehungen, die das semantische Umfeld eines Begriffs beschreiben,
für die Bildung der Treffermengen berücksichtigt. Ein auf die Dezimalklassifikation
gestütztes Verfahren wurde bereits im System ETHICS der ETH Zürich eingesetzt.2
In Recherchesystemen mit abgeschlossenen Dokumentbeständen kommen mit Erfolg
Kombinationen aus linguistischen und statistischen Verfahren zum Einsatz, die teil-
weise bereits Ansprüchen einer begrifflichen Exploration genügen.3
BERÜCKSICHTIGUNG UND EXPLORATION VON THEMEN Thematische Exploration bricht mit der Vorstellung, dass dem Recherchierenden
alle begrifflichen Zusammenhänge des gewünschten Themas zum Zeitpunkt
der Recherche bereits bewusst sein müssen und postuliert, dass das Aufzeigen
neuer Zusammenhänge die Ergebnismenge positiv beeinflusst. Realisierungen
setzen eine Verbindung von begrifflicher Exploration mit Berücksichtigung von
dokumentspezifischen a posteriori Relationen durch Boolesche Verknüpfungen oder
syntaktischen Operationen voraus. Aus heutiger Sicht kann kein Beispiel angegeben
werden, in dem diese Zielsetzung realisiert wäre.
Sieht man die Unterstützung von Vorgängen der Wissenserkundung als generelle
Zielsetzung für die Entwicklung von Rechercheumgebungen, so stellt sich die Frage
nach den Anforderungen an die hierfür einzusetzenden Instrumente.
2. MULTILINGUALITÄT UND LOKALISIERUNG
Multilinguale Erschließung wird gerne unter der Zielsetzung gesehen, Beziehungen
zwischen Entitäten normierten Vokabulars in verschiedenen Sprachen herzustellen
2 Vgl. für das methodische Vorgehen z.B.: Herbert Funk, Klaus Loth: Sachabfrage im
ETHICS auf der Basis der UDK. Ein OPAC. In: Wissensorganisation im Wandel:
Dezimalklassifi kation – Th esaurusfragen – Warenklassifi kation. Proc. 11. Jahrestagung
der Gesellschaft zur Klassifi kation. Frankfurt am Main 1988, 43–47.
3 Als besonders gelungenes Beispiel kann auf das sog. „Wissensnetz“ der digitalen Brock-
haus-Enzyklopädie verwiesen werden; vgl. Christoph Rösener: Die Stecknadel im Heuhau-
fen: Natürlichsprachlicher Zugang zu Volltextdatenbanken. Frankfurt am Main 2005, X,
243.
235
und so idealerweise eine Verbindung von der begrifflichen Recherche in der einen
Sprache zur Recherche in einer anderen Sprache zu schaffen (Crosswalks), ohne
dass dabei ontologische Unterschiede berücksichtigt werden.
Ein solches Verständnis muss immer dann an Grenzen stoßen, wenn in den beteiligten
Ordnungssystemen nicht nur allgemein verbindliche („universale“) Strukturen
abgebildet sind, sondern Teilbereiche sozialer Wirklichkeitskonstruktionen. Solche
spezifischen Wirklichkeitskonstruktionen, die nicht einem strikten universalen
Bezugssystem zugeordnet werden können, sollen nachfolgend als Lokalisierung
verstanden werden. Hierbei kann es sich handeln um:
– Historische Entwicklungen und Zusammenhänge
– Ethnische Themen
– Religiöse Themen
– Juristische Themen
– Nationale Organisationsformen
– Politische Strukturen
– Erziehungs- und Bildungssystem
– Alltagskulturelle Themen (Sport, Haushalt, Hobby, Brauchtum, …)
– Fauna und Flora
Besondere Aufmerksamkeit verdienen Lokalisierungsüberlegungen in multi-
lingualen Erschließungs- und Retrievalkontexten, da dort in der Regel jede Sprache
Beziehung zu einem Bezugssystem haben wird, in dem derartige spezifische
Wirklichkeitskonstruktionen vorkommen.
Zur Realisierung multilingualer Erschließung sind verschiedene Wege vorgeschlagen
worden.
Für Klassifikationen ist ein multilingualer Zugang über Erweiterungen des
Registervokabulars in mehreren Sprachen möglich, unabhängig davon, ob das System
mit seinen Benennungen selbst in eine andere Sprache übersetzt oder um Klassen
erweitert wurde, die durch den Bezugsraum der Übersetzung erforderlich oder als
wünschenswert angesehen wurden.4
Für multilinguale Thesauri werden bislang folgende Vorgehensweisen empfohlen:
1. Benutzung einer Leitsprache, die Ausgangspunkt für die begriffliche Strukturierung
ist. Die anderen Sprachen werden in Form einer Art (Quasi-) Synonymie-Relation
4 Vgl. beispielhaft die schon erwähnte Realisierung des Systems ETHICS der ETH Zürich.
236
angebunden. Die begriffliche Deckungsgleichheit zwischen den Deskriptoren kann
bei dieser Vorgehensweise nicht immer gewährleistet werden.
Im Grundsatz handelt es sich bei dieser Vorgehensweise um einen monolingualen
Thesaurus (soweit es die begriffliche Struktur betrifft) mit einem multilingualen
Zugangsvokabular.
2. Jede berücksichtigte Sprache wird für den Aufbau der Struktur gleich behandelt. Die
Deskriptoren der verschiedenen Sprachen werden nach wie vor in unterschiedlicher
begrifflicher Deckungsgleichheit aufeinander abgebildet. Zusätzlich wird versucht,
die jeweiligen Strukturen ebenfalls aufeinander zu beziehen.5
Diese Vorgehensweise setzt als Idealbild die Strukturgleichheit der zu verwendenden
Begriffe in den verschiedenen Sprachen voraus. Selbst wenn diese Erwartung
realistisch wäre – mit der Hinzunahme weiterer Sprachen wird sie immer fragwürdiger
– eine solche Vorgehensweise beraubt sich der Chance, die in den Bezugsräumen
vorhandenen Wirklichkeitskonstruktionen (Lokalisierungen) spezifisch abzubilden,
aufeinander zu beziehen und Crosswalks dazwischen herzustellen.
Im Zusammenhang mit der Erstellung der deutschen Ausgabe der Dewey Decimal
Classification wurde durch einen neuen Vorschlag Multilingualität und Lokalisierung
verbunden.6 Das Ergebnis besteht aus der Schlussfolgerung, dass eine Klassifikation
mit jeder Übersetzung in andere Sprachen eine jeweils neue Sichtweise gegenüber
den vorherigen Ausgaben eröffnet: Je mehr bei der Strukturierung des Systems
darauf geachtet wird, nur „universale“ Strukturen zu berücksichtigen, desto mehr
können bei der Gestaltung des Zugangsvokabulars oder bei Erweiterung der
Klassenstruktur Gesichtspunkte einer Lokalisierung eingebracht werden. Ergebnis
wäre ein entlokalisiertes universales Kernsystem mit einem Kranz lokalisierter
Systeme, die nicht allein Übersetzung des Kernsystems sind, sondern in ihrer
Struktur das Lokalisierungsgebiet der jeweiligen Sprache berücksichtigen (vgl. Abb.
1 und Abb. 2)
5 Vgl. z.B.: Gerhard J.A. Riesthuis: Information languages and multilingual subject ac-
cess. In: Subject retrieval in a networked environment: Proceedings of the IFLA Satel-
lite Meeting held in Dublin, Ohio, hg. von I.C. McIlwaine. München 2003, 11–17.
6 Winfried Gödert, Michael Preuss: Anforderungen an ein Klassifi kationssystem in ei-
ner globalisierten Welt. Vortrag anlässlich des DDC Workshops in Frankfurt am Main,
20. April 2005. Folien der Präsentation unter URL: http://www.ddc-deutsch.de/publi-
kationen/pdf/workshop2005-goedert-preuss.pdf.
237
Abb.1: Struktur des globalen Kernsystems mit
lokalisierten Erweiterungen und Registern
Abb.2: Die Zielprojektion: Entlokalisierte DDCoglobal mit Lokalisierungen
238
3. DAS PROJEKT CRISSCROSS
Das Projekt hat die Zielsetzung,7 ein erweitertes multilinguales und thesaurusbasiertes
Registervokabular zur Dewey–Dezimalklassifikation (DDC Deutsch) zu erstellen,
das als Recherchevokabular zu heterogen erschlossenen Dokumenten verwendet
werden kann. Dazu soll eine Verbindung zur Schlagwortnormdatei (SWD)
hergestellt werden, indem jedes Sachschlagwort der SWD eine DDC-Notation
erhält. Schließlich sollen die im Projekt MACS8 begonnenen Arbeiten fortgesetzt
werden, Links zwischen den Schlagwörtern der Schlagwortnormdatei (SWD), der
Library of Congress Subject Headings (LCSH) und Répertoire d‘autorité-matière
encyclopédique et alphabétique unifé (Rameau) herzustellen.
Damit steht das Projekt in der Tradition der zuvor charakterisierten Überlegungen
zur Erstellung multilingualer Thesauri. Denkt man an die Berücksichtigung weiterer
Sprachen, so ergibt sich ein zusätzliches Argument, über die Art der semantischen
Brücken zwischen den Begriffen nachzudenken.
4. MULTILINGUALITÄT, LOKALISIERUNG UND SEMANTISCHE NETZE
Konsequent gedachte Lokalisierung erfordert eine größere semantische Ausdrucks-
vielfalt, als sie in der Regel in den klassischen Dokumentationssprachen mit
Begrenzung auf Äquivalenzen (Synonyme, Quasi-Synonyme), Hierarchien,
Assoziationen oder genetische Zusammenhänge vorhanden ist.
Der Wunsch nach Verfeinerung und Anreicherung semantischer Relationen im normierten
Vokabular großer Normdateien wird zunehmend auch aus Retrievalsicht geäußert.9 Dieses
Interesse wird im Kontext des Semantic Web gestützt durch die Diskussion um maschinelle
Interpretation und Verwertbarkeit des Vokabulars und der Relationen. Zielsetzung ist
hierbei, geeignete Repräsentationsformen für Ontologien zu finden, um ihren semantischen
Gehalt mit anderen Web-Anwendungen verbinden zu können.
Aus dokumentationssprachlicher Sicht können semantische Netze als eine
Verallgemeinerung bisheriger Ansätze angesehen werden, indem eine stärkere
7 Vgl. zum Projekt URL: http://www.d-nb.de/wir/projekte/crisscross.htm.
8 Vgl. zum Projekt URL: http://www.d-nb.de/wir/projekte/macs.htm und https://ilmacs.
uvt.nl/pub/.
9 Douglas Tudhope, Harith Alani und Christopher Jones: Augmenting thesaurus
relationships: possibilities for retrieval. In: Journal of digital information, 1 (2001) 8,
URL: http://jodi.ecs.soton.ac.uk/Articles/v01/i08/Tudhope/.
239
Differenzierung des verwendeten Relationeninventars bei genauerer Bestimmung
des Typs und seiner formalen Eigenschaften vorgenommen wird. Primäres Ziel
ist eine Form der Wissensrepräsentation, die beispielsweise über den Weg von
Inferenzschlüssen entlang der Relationenpfade im Netz vorhandene, aber nicht
explizit ausgewiesene Beziehungen zwischen Netz-Entitäten abzuleiten gestatten.
Die Art der zu berücksichtigenden Relationen bestimmt sich dabei häufiger aus
Nutzen- und Zweckorientierungen, als dies aus klassischen Dokumentationssprachen
mit universaler Ausrichtung bekannt ist.
In der Übertragung dieser Ideen auf dokumentationssprachliche Kontexte kann ein
großes Potenzial für Gestaltung zukünftiger Retrievalumgebungen gesehen werden,
sofern entsprechend aussagekräftige Netze mit Bezug zu erschlossenen Dokumenten
zur Verfügung stehen.
Es stellt sich die Frage, ob die Erstellung derartiger Netze von Grund auf neu
geschehen sollte (naturgemäß muss dann in der Regel auch die Erschließung erneut
durchgeführt werden) oder ob nicht die Weiterentwicklung vorhandener großer
Ordnungsstrukturen mit bereits umfangreichen erschlossenen Dokumentbeständen
in geeignete Ontologiemodelle mehr Erfolg versprechende Ergebnisse liefern
könnte.
Die Prüfung dieser Frage erfordert eine genauere Kenntnis der formalen Eigenschaften
der vorhandenen Dokumentationssprachen. Interessanterweise existieren bislang
kaum quantitativ orientierte Studien zur Frage der Relationen-Zahl – sowohl
absolut als auch differenziert nach Relationstypen – oder zur Relationen-Dichte,
-Homogenität, oder -Zuverlässigkeit.
In einer Studie aus dem Jahr 200410 konnte für den Sachschlagwortbestand der
Schlagwortnormdatei (SWD) – das größte normierte deutschsprachiges Vokabular
(mit ca. 160.000 Sachschlagwörtern, 140.000 Synonymen) – ermittelt werden, dass
18% der Schlagwörter über gar keine Relation verfügten und 34 % ohne Ober-,
Unter- oder Verwandte Begriffe waren. Ein Eindruck zur Relationendichte in der
SWD vermittelt ein Vergleich mit dem Standardthesaurus Wirtschaft: Auf der
ersten Hierarchieebene befinden sich in der SWD 45% aller Schlagwörter (im
STW: 20%), auf der zweiten Ebene 27% (STW: 22%), auf der dritten Ebene 13%
(STW: 23%), auf der vierten Ebene 7% (STW: 16%) und auf der fünften Ebene
4% (STW: 10%).
10 Unveröff entlichte Studie, die im Auftrag der Deutschen Bibliothek an der FH Köln,
Institut für Informationswissenschaft durchgeführt wurde.
240
Analysen der drei genannten Normdateien lassen zusammenfassend erkennen:
1. Die Relationierung der Begriffe ist unterschiedlich umfangreich und dicht
ausgeprägt (allein wegen der Bindung an erschlossene Bestände). Für die LCSH
und für Rameau können zwar keine der SWD vergleichbaren Daten angegeben
werden11, Stichproben deuten jedoch auf vergleichbare Verhältnisse hin.
2. Die vorhandene Relationierung folgt über mehrere Stufen selten homogenen
Gesichtspunkten12 und bietet somit keinerlei Voraussetzungen für logische
Inferenzprozesse.
3. Es gibt viele Beispiele semantischer Cluster, die in jeder der drei Dateien dem
Gedanken der Lokalisierung Rechnung tragen. Bei geeigneter Strukturierung
sind so gute Voraussetzungen gegeben, das Verständnis der jeweiligen
Wirklichkeitskonstruktion sichtbar zu machen und für begriffliche Crosswalks
zwischen semantischen Strukturen zur Verfügung zu stellen. Als Beispiel denke man
etwa an die Thematik „Regierungssysteme“ und ihre begriffliche wie strukturelle
Repräsentation.13
Der Vorschlag lautet nun:
1. Benutzung einer Kern-Ontologie mit universalen Relationen.
2. Die Lokalisierung erfolgt über sprachspezifische semantische Netze, die nach
Festlegung eines geeigneten Relationeninventars aus den vorhandenen Dateien
entwickelt und an die Kernontologie angeschlossen werden.
Für die Bestimmung des Relationeninventars sind möglicherweise Anlehnungen
an bekannte Vorarbeiten zur Erstellung universaler facettierter Ordnungsstrukturen
nützlich.
11 Beide stehen nicht unmittelbar als maschinenlesbare – und damit statistisch auswertbare
– Dateien zur Verfügung.
12 Vgl. die Studie zu den LCSH: ALA / Subcommittee on Subject Relationships/Refer-
ence Structures: Final Report to the ALCTS/CCS Subject Analysis Committee. June
1997, URL: http://www.ala.org/ala/alctscontent/catalogingsection/catcommittees/sub-
jectanalysis/subjectrelations/fi nalreport.htm.
13 Vgl. die Beispiele in der zum Vortrag verwendeten Präsentation, URL: http://www.
bibliothekartag.at/bibliotag2006/Vortraege/VortraegePDF/Goedert_multilinguali-
taet_lokalisierung.pdf.
241
Derartige Netze können insbesondere die wirklichkeitskonstruierenden Teile einer
speziellen Lokalisierung durch ein eigenes Set von Relationen flexibler abbilden als
es bei der Integration in die Struktur der Systematik machbar wäre. Die Verbindung
zwischen den semantischen Netzen muss dann nicht mehr einer Philosophie
kontextfreier semantischer Übereinstimmung folgen, sondern hat „nur“ noch eine
Brückenfunktion zwischen verschiedenen Lokalisierungen. Jede der beteiligten
Dateien kann dabei autonom weiter gepflegt und entwickelt werden, ohne dass
Änderungen für den semantischen Gehalt der Verlinkungen berücksichtigt werden
müssten (vgl. Abb.3).
Abb.3 Lokalisierte semantische Netze mit Kernontologie
5. KONSEQUENZEN FÜR DAS RETRIEVAL
Ein Retrievalmodell kann für diesen Vorschlag nur in ganz groben funktionalen
Umrissen gegeben und nicht im Sinne einer Benutzersicht gegeben werden (vgl.
Abb.4). Im Vordergrund dieses Modells steht die Nutzung der verschiedenen
hinterlegten Relationsarten für Navigations- und Retrievalzwecke sowie der
bedarfsorientierte Überstieg mittels der Kernontologie aus einem lokalisierten Netz
in ein anderes. Man denke als Beispiel wieder an das Thema „Regierungssysteme“ und
seine begriffliche wie strukturelle Repräsentation. Die in der Abbildung angedeutete
Recherche nach Einzelbegriffen muss um die Möglichkeiten thematischer
Recherchen durch postkoordinierende Verknüpfungen ergänzt gedacht werden.
242
Abb.4: Vereinfachtes funktionales Retrievalmodell zur semantischen Navigation
243
DIE VIRTUELLE STEINSUPPE – KOOPERATIVES VERWALTEN VON ELEKTRONISCHEN RESSOURCEN MIT DIGILINK
PETER MAYR
DAS PROBLEM LOTSENFUNKTION
Die Bibliothek als Leuchtturm im Datenmeer? Informationskompetenz wird als
eine der Stärken von Bibliothekaren gesehen. Natürlich erwarten unsere Benutzer
diese Kompetenz nicht nur im Bereich der gedruckten Literatur, sondern auch bei
elektronischen Informationsquellen.
Nahezu jede Bibliothek bietet auf ihrer Homepage eine Sammlung ausgewählter
Links an – seien es freie Informationsressourcen oder kostenpflichtige Datenbanken.
Anfangs waren diese Listen einfache, statische HTML-Seiten. Jedoch je größer diese
Verzeichnisse wurden, desto mehr Aufwand floss in die Wartung dieser Seiten statt
in den eigentlichen Bestandsaufbau. Beispielsweise mussten die Einträge redundant
angelegt werden, um mehrere parallele Einstiegspunkte (z.B. alphabetisch und nach
Fachgruppen) zu schaffen oder Ressourcen unter mehrere Kategorien abzulegen.
Nächster Schritt – die 2. Generation – war daher die Einführung von
datenbankgestützten Linklisten. Dies erforderte anfangs zwar mehr konzeptionellen
Aufwand, dieser wurde aber durch die vereinfachte Wartung bald wett gemacht.
Durch diese Datenhaltung waren verschiedene Sichten auf die Links möglich ohne
die Einträge doppelt vorzuhalten.
Die Redundanz im eigenen Bestand war zwar jetzt minimiert, bei einem Blick über
den Tellerrand der eigenen Bibliothekshomepage wurde aber schnell sichtbar, dass
es oft große Überschneidungen mit den Linklisten anderer Bibliotheken gab.
Da die Verbundkatalogisierung konventioneller Medien schon längst bibliothekar-
ischer Alltag war, lag nahe, dieses System – zuerst in kleinem und mittleren Rahmen
– auch auf die elektronischen Ressourcen auszudehnen.
Als „dritte Generation“ etablieren sich deshalb derzeit Systeme zum kooperativen
Aufbau von Linksammlungen. Durch die Verteilung der Aufnahmetätigkeit kann so der
Aufwand für die Wartung der Seiten nochmals reduziert werden. Systeme dieser Art sind
die „Deutsche Internetbibliothek“1, „Academic Linkshare“2 und eben auch DigiLink.
1 URL: http://www.interntbibliothek.de.
2 URL: http://www.academic-linkshare.de/.
244
EIN KLEINER EXKURS ÜBER DIE STEINSUPPE
Der Titel dieses Artikels bezieht sich auf ein altes Märchen, welches in vielen
verschiedenen Variationen erzählt wird. Eine davon lautet so:
„Ein hungriger Wanderer kommt mit einem Kessel in ein armes Dorf und
verspricht, er werde aus nichts weiter als einem glänzenden Stein und Wasser eine
köstliche Suppe kochen. Mit ein wenig Kohl schmecke sie allerdings noch etwas
besser … Zuerst sind die Dorfbewohner skeptisch, doch dann bringen sie kleine
Gaben: einen Kohlkopf, ein Bündel Karotten, ein Stückchen Fleisch. Am Ende ist
der Kessel mit genügend herzhafter Suppe gefüllt, um alle satt zu machen. Und die
Moral von der Geschichte: Durch Kooperation kommen bedeutende Leistungen
zu Stande, selbst mit bescheidenen und anscheinend unbedeutenden Zutaten.“3
DigiLink ist nun so eine virtuelle Steinsuppe. Das hbz stellt – im Prinzip – nur eine
technische Plattform zur Verfügung. Das eigentliche Schmackhafte, die Inhalte
werden von den beteiligten Bibliotheken geliefert.
DIE GESCHICHTE VON DIGILINKDigiLink entstand als Zusatzmodul der Digitalen Bibliothek4, um den einzelnen
Institutionen die Möglichkeit zu geben, neben der Metasuche auch eine Linksammlung
mit kostenfreien und lizensierten Informationsressourcen anzubieten.
Im April 2004 wurde das System zum ersten Mal produktiv von einer Gruppe
Pilotanwendern eingesetzt, inzwischen nutzen öffentliche und Hochschulbibliotheken
aus Deutschland und Österreich DigiLink. Insgesamt werden über 25.000 Links in
89 lokalen Sichten verwaltet.
Dieser Datenpool enthält nicht nur freie Internetlinks, auch Verweise zu kosten-
pflichtigen Datenbanken oder eigenen CD-ROMs können mit dem System zentral
an einer Stelle gepflegt werden.
KOOPERATION IN AKTIONJede teilnehmende Bibliothek hat ihre eigene lokale DigiLink-Sicht. Diese kann im
Layout mittels CSS, eigener Kopf- und Fußzeile sowie Logos perfekt an die jeweilige
corporate identity angepasst werden.
Auch bei den Inhalten können die Struktur und die Bezeichnungen der Fachgruppen
beliebig verändert werden.
3 William W. Hargrove et.al.: Der selbst gebastelte Supercomputer, URL: http://www.
wissenschaft-online.de/spektrum/index.php?action=leseprobe&artikel_id=5994
(27.2.2006).
4 URL: http://www.digibib.net.
245
WENIGER ARBEIT DURCH VERWEISEBeim Anlegen eines neuen Links können die lokalen Administratoren festlegen, ob
der Eintrag den anderen Teilnehmern – im Linkpool – zugänglich gemacht werden
soll.
Fremde Links anderer Institutionen können als Verweise eingebunden werden,
in diesem Fall bleiben die Schreibrechte beim Ersteller, allerdings können lokale
Anmerkungen eingefügt werden (vgl. Abbildung 1, Bibliothek B).
Will eine Bibliothek den Eintrag prinzipiell übernehmen, aber die eingetragenen
Metadaten anpassen, so besteht die Möglichkeit eine Kopie zu erstellen (vgl.
Abbildung 1 Bibliothek C).
Damit können alle Felder der Aufnahme verändert werden, allerdings muss dieser
neue Eintrag dann auch von der nehmenden Bibliothek gewartet und aktualisiert
werden.
WENIGER ARBEIT DURCH GRUNDBESTÄNDEGerade viele kleinere Bibliotheken besitzen nicht die nötigen Personalressourcen,
um eine umfangreiche Linksammlung aufzubauen und zu warten.
Abhilfe schaffen die Grundbestände in DigiLink. Das hbz pflegt Linksammlungen,
die jeweils in Inhalt und Struktur auf öffentliche bzw. Hochschulbibliotheken
zugeschnitten sind.
Die einzelnen Institutionen können nun darauf zugreifen und ihre eigene Sicht
darauf aufbauen. Dabei können der gesamte Grundbestand oder aber nur einzelne
246
Kategorien daraus übernommen werden und natürlich kann die Sicht durch eigene
Einträge ergänzt werden.
WENIGER ARBEIT DURCH ANDERE FUNKTIONALITÄTENIn DigiLink gibt es zahlreiche weitere Funktionen, die die tägliche Arbeit erleichtern
sollen: Die Administratoren können z.B. automatisch über neue freie und/oder lizenz-
pflichtige Links im Datenpool informiert werden.
Beim Anlegen eines Eintrags hilft ein Doublettencheck, Doppeleinträge zu
vermeiden. Beim manuellen Einträgen gibt es die Option, Dublin Core und HTML-
Metatags automatisch aus der Internetseite zu extrahieren.
Auch Benutzer können Linkvorschläge machen, die über die Administrationsoberfläche
eingearbeitet oder abgelehnt werden. Zusätzlich gibt es die Möglichkeit, direkt eine
Rückmeldung zum Vorschlag zu senden.
Ein weiterer Vorteil von DigiLink sind die offenen Schnittstellen, die eigenen Daten
können als CSV exportiert und weiterverarbeitet werden, auch ein Zugriff über
OAI-PMH 2.05 ist möglich.
Ein RSS Feed informiert die Benutzer über Neueinträge am Standort.
5 Vgl. URL: http://en.wikipedia.org/wiki/OAI-PMH.
247
Ob diese dann die Links eifrig nutzen, kann über die Statistik überprüft werden.
Auswertungen nach Link- und Kategoriennutzung sowie die Erstellung von
Nulllisten6 sind möglich.
DER OBLIGATORISCHE AUSBLICK
Mit dem hbz-Werkzeugkasten7 existiert bereits der Prototyp der nächsten DigiLink-
Version. Im Werkzeugkasten werden knapp 60.000 Links zu Bibliotheken,
Antiquariaten, Verlagen etc. in aller Welt verwaltet. Auch hier kann die Oberfläche
an das eigene Layout angepasst werden.
Um eine noch stärkere Integration in den eigenen Webauftritt der Bibliotheken zu
ermöglichen, wird derzeit eine Webservice-Schnittstelle entwickelt.
6 Links und Kategorien, die im Auswertungszeitraum nie angeklickt wurden.
7 URL: http://toolbox.hbz-nrw.de.
248
DIGITALISIERUNG – EIN KÖNIGSWEG? WIE DIE ÖSTERREICHISCHE MEDIATHEK IHRE TONAUFNAHMEN DIGITALISIERT
RAINER HUBERT
Es ist absolut unvermeidlich, aber einfacher werden die Dinge dadurch nicht!
Es tut nicht weh, ist aber sehr teuer.
Es ist die Lösung, die selbst das Problem ist.
Wenn man einmal damit angefangen hat, kann man nicht mehr aufhören.
Die einleitenden Sätze meinen die Digitalisierung, die Digitalisierung und ihre
Folgen. Sie hat vieles in einen neuen Kontext, manches auf den Kopf gestellt und
insbesondere die Welt der audiovisuellen Archive völlig verändert. Dies ist auch der
Gesichtspunkt dieser Betrachtung: die audiovisuellen Medien im allgemeinen und
die Audio-Medien im besonderen – dargestellt am Beispiel der Österreichischen
Mediathek.
Dass es sinnvoll ist, das Thema an der Österreichischen Mediathek zu exemplifizieren,
gründet im Umstand, dass diese Einrichtung schon sehr früh mit der Umstellung auf
ein digitales System begonnen hat und das Thema Digitalisierung am besten in einem
solchen Gesamtkontext zu betrachten ist. Digitalisierung allein ist zuwenig – sie muss
interagieren mit einer effektiven Langzeitarchivierung, mit einer entsprechenden
Metadatenverwaltung und einer passenden Schnittstelle für die Benutzer. Die
Problemstellung Digitalisierung legt eine systemische Lösung nahe.1
Was nun also das Exempel Österreichische Mediathek betrifft, so wurde 1999/2000
geplant und entschieden; 2000 wurden Massenspeicher, Workstations und neue
Datenbank in Betrieb genommen; und 2002 lief das System bereits mit all seinen
Komponenten: Katalogdatenbank plus Spezialplayer für Tonfiles, Internetauftritt mit
Online-Katalog und Medienpräsentationen, migrationsoptimierter Massenspeicher,
Digitalisierungsstationen für verschiedene Audio-Formate und verschiedene
automatische Komponenten. Derzeit, Anfang 2007, sind bereits rund 20.000
1 Das ist ein umfangreiches Th ema, das hier nicht wirklich behandelt werden kann.
Allein schon die schiere Menge von miteinander in Relation stehenden Dateien, die
bei jeder Tonaufnahme anfallen – Tondateien verschiedener Art (Sicherheitskopien,
Benützerstücke, unter Umständen jeweils in zwei oder mehr Teilen), Metadatendateien
(die Datensätze der hierarchischen Katalogdatenbank, die Dateien mit technischen
Metadaten) – legen Automatismen und systemische Lösungen nahe.
249
Einheiten digitalisiert, wozu noch eine große Zahl von Tonaufnahmen kommt, die
bereits digital „auf die Welt gekommen“ sind.
Warum tut sich eine verhältnismäßig kleine Stelle – rund 30 Personen, allerdings
weit über eine Million Tonaufnahmen auf Trägern und in Formaten verschiedenster
Art – so etwas an? Warum eine so tiefgreifende Umstellung, die es erforderlich
machte, einen Großteil der Mitarbeiter entsprechend einzuschulen (denn „ohne
System“ geht heute hier fast nichts mehr)? Die Antwort ist eine doppelte:
Es ist bekannt, dass audiovisuelle Medien eine kurze Lebenserwartung haben – ihre
Träger werden unbrauchbar und für die unterschiedlichen Formate sind immer
schwerer Wiedergabemöglichkeiten zu finden. Wenn nichts geschieht, wird in
wenigen Jahrzehnten das meiste nicht mehr verwendbar sein. Da wir das nicht
wollen, stehen die meisten AV-Archive vor der Situation, rasch agieren zu müssen.
Sie, bzw. ihre Sammlungen, haben nur digital eine Zukunft.2 Dass die Mediathek
vergleichsweise sehr früh gestartet ist, hat mit günstigen inneren und äußeren
Umständen zu tun, aber eben auch mit der Erkenntnis, dass es jedenfalls notwendig
sein würde, diesen Schritt zu tun. Freilich haben wir es uns dadurch nicht eben leicht
gemacht – viele Wege und Lösungen, die heute vorhanden sind, gab es damals noch
nicht. Insgesamt ist der Zeitvorsprung allerdings ein Segen für die Bestände selbst:
Je früher sie ins Digitale „hinübergerettet“ werden, desto besser.
DAS MODELL DIGITALER LANGZEITBEWAHRUNGDie Mediathek hat ihre integrale systemische Lösung der Archivproblematik relativ früh
umgesetzt, allerdings waren die Grundzüge einer solchen Lösung schon länger klar:3
Angesichts der oben skizzierten Gefährdung audiovisuellen Materials erschien
rechtzeitige Kopierung des Materials die gegebene Rettungsstrategie. Dabei war
offensichtlich, dass die Kopierung ins Digitale führen musste, konkret also, dass
analoge Tonaufnahmen in Tondateien umzuwandeln waren.
Dafür gibt es zwei Gründe:
1. bei einer weiteren Kopierung, die dann eine digitale Kopierung ist, tritt kein
Qualitätsverlust ein (bei analogen Kopien: „Kopierverlust“, der mit jeder
Generation zunimmt);
2 Audrücklich ausnehmen davon möchte ich Filmarchive und ihre fi lmischen Bestän-
de. Das hier Gesagte ist nicht adäquat auf Filmmaterial anwendbar. Aus zahlreichen
Gründen steht hier immer noch die analoge Langzeitarchivierung im Vordergrund
3 Die Problemstellung wurde bereits seit Jahren diskutiert, z.B. im Rahmen der IASA,
der Internationalen Vereinigung der Schall- und AV-Archive; hier war es vor allem
Dietrich Schüller vom Phonogrammarchiv der österreichischen Akademie der Wis-
senschaften, der das Modell der Langzeitbewahrung durch Migration sehr dynamisch
vertreten hat; der Autor erinnert sich noch, dass diese Th esen zu Beginn der neunziger
Jahre im Kollegenkreis noch mit beträchtlicher Skepsis aufgenommen wurden.
250
2. dieses künftige Weiterkopieren kann automationsgestützt durchgeführt werden.
Warum aber solche Weiterkopierung, warum solche Migrationen? Weil digitale
Formate und Träger noch kürzeren Bestand haben als die analogen Audioformate
und -träger, die wir gerade verlassen.
Am Beginn stand also ein Paradoxon: nicht eine Rettung des Materials in einen
sicheren Hort, keine Rettung auf Dauer, sondern das Anstoßen eines Prozesses,
der eigentlich solange kein Ende haben darf, solange wir unsere Töne hören wollen.
Kein ewiger Träger also, weil die neuen Träger und Formate noch gefährdeter sind
als die alten – wohl aber ein ewiges, sich stets regenerierendes Archiv. Was in die
Zukunft mitgenommen wird, ist der audiovisuelle Inhalt, die jeweilige Form bleibt
wie Schlacke am Weg zurück.
Viel mehr als diese Vorstellung hatten wir nicht, als wir im Jahr 2000 ernst machten
und zusammen mit mehreren Partnerfirmen unser digitales System umsetzten.
KRITISCHE BEURTEILUNG DER LÖSUNG
DIGITALE LANGZEITARCHIVIERUNG HEUTEZunächst ist nochmals zu betonen, dass es sich dabei eben nicht um eine Lösung ein für
allemal handelt; wir müssen unsere Daten „bewegen“ wie die Pferde – und wir müssen
auch die Bestandteile des Systems selbst immer wieder auf neuesten technischen
Stand bringen. Vielleicht wird es einmal Techniken geben, die die Migrationslösung
obsolet machen, aber im Augenblick ist die digitale Langzeitarchivierung nicht
zuletzt deswegen eine aufwändige Sache. Digitales benötigt mehr Aufmerksamkeit
als die meisten analogen Bestände – vor allem aber die dauernde, ununterbrochene
Obsorge; einmal nicht aufgepasst – und alles ist weg. Kritisch ist, dass das Problem
in der Öffentlichkeit derzeit noch kaum wahrgenommen wird. Vorkehrungen, den
Kulturverlust durch Zerfall des Digitalen zu verhindern, werden organisatorisch und
finanziell nicht oder unzureichend getroffen.
Während Digitalisierung ein Modewort geworden ist, bleibt „digitale Langzeit-
archivierung“ eine Unbekannte. Für das eine lassen sich mit Mühe allenfalls Mittel
aufstellen, für das andere nicht. Projektgelder für Digitalisierung aber, die keine
Zukunftsperspektive für die Bewahrung beinhalten, sind reine Verschwendung.
Die CD-ROM mit den Projektergebnissen in der Schreibtischschublade ist ein
katastrophaler Irrweg.
251
DIGITALISIERUNG
Die eigentliche Arbeit des Digitalisierens: Hier sind wir in der täglichen Praxis immer
wieder mit folgender Auffassung konfrontiert: „Digitalisieren – das kann eh jeder“.
In gewisser Weise stimmt das sogar, so, wie heutzutage jeder photographieren kann.
Zwar wird wohl kein Knipserphotograph die Berechtigung von Berufsphotographen
und Photoarchiven bestreiten; bei der neuen Kunst des Digitalisierens ist das nicht
ganz so; Digitalisierung allerdings, so wie wir sie verstehen, ist eine ungemein
verantwortungsvolle Aufgabe. Sie muss auf höchstem professionellen Niveau
durchgeführt werden – mit besten Geräten, mit hoher Expertise und mit Aufzeichnung
verschiedenster Parameter der Digitalisierung. Dafür gibt es Vorgaben.4 Es geht
schließlich darum, neue elektronische Originale zu schaffen. Die alten Bänder und
Platten werden nicht mehr verwendbar sein, also ist die entsprechende Tondatei
unser neues Original.
SONDERSITUATION DER AV-MEDIENEin Umstand ist bei einer Diskussion der Digitalisierung unbedingt in Rechnung
zu stellen: Für unterschiedliches Kulturgut spielt Digitalisierung eine sehr
unterschiedliche Rolle – essentiell für die meisten AV-Medien, von sekundärer,
das heißt hier sich primär auf die Benützung beziehender Bedeutung z.B. für
Musealgut. Ein Museumsobjekt – wie etwa die Dampfmaschine eines Technischen
Museums – lässt sich als solche nicht „digitalisieren“, man kann digitale Abbilder
schaffen, die aber nie das Original ersetzen können. Bei AV–Medien ist das anders:
Der Kern des Audiovisuellen lässt sich mit nur geringen Verlusten in immer neue
elektronische Originale umwandeln. Ob man eine Tonaufnahme via Tonbandgerät
oder via Computer abhört, ist im Grunde egal, ob man vor ein Museumsoriginal
tritt oder bloß ein Repro in Händen hält, hingegen nicht. Daher auch die Rolle von
AV–Archiven als besonderer Propagatoren der digitalen Revolution.
ZUGÄNGLICHKEITGenerell lässt sich sagen, dass digitale Medien leichter benützbar sind als analoge.
Das ist ja ein Hauptgrund für die Digitalisierung überhaupt, wenngleich aus Sicht
der Bewahrer der Aspekt der Sicherung mindestens ebenso schwer wiegt. Klassisches
Beispiel einer Verbesserung der Zugänglichkeit wäre eine Tonbandaufnahme, deren
Benützung mühevolles Suchen durch Reversieren mit dem Band erfordert, während
4 Für Audiomedien vor allem die Arbeiten des Technical Committe der IASA, Inter-
nationale Vereinigung der Schall- und audiovisuellen Archive: Th e Safeguarding of
the Audio Heritage: Ethics, Principles and Preservation Strategy, IASA-TC 03, 2005;
Guidelines on the Production and Preservation of Digital Audio Objects, IASA TC-
04, 2004.
252
die Orientierung in einem Tonfile mittels eines Players, der das Tonsignal optisch
anzeigt, sehr bequem und rasch ist. Hinzu kommt, dass in einem System wie jenem
der Mediathek der Weg vom Treffer im Katalog per Knopfdruck zum Abspielen
der Tonaufnahme führt. – Allerdings gibt es auch Gegenbeispiele: Das Infopaket
Compact Disc – die Scheibe plus das oft sehr ausführliche Beiheft – stellt uns bei
Übernahme in ein digitales System vor erhebliche Probleme: Das „Grabben“ der Disc
selbst ist noch recht leicht, aber das Beiheft zu digitalisieren erfordert einen ganz
anders strukturierten zusätzlichen Workflow – und vor allem: Das Zusammenführen
von Tondatei und gescanntem Beiheft ist alles andere als trivial.
DIE ORGANISATION VON DIGITALISIERUNG UND DIGITALER LANGZEITARCHIVIERUNGAngesichts der Größe des Arbeitsgebietes von Digitalisierung und digitaler
Langzeitarchivierung wäre eine Arbeitsteilung zwischen den betroffenen
kulturbewahrenden Einrichtungen sehr sinnvoll.
Es ist durchaus nicht notwendig und erstrebenswert, dass jede Institution alle
Funktionalitäten in diesem Zusammenhang selbst besorgt. Vermutlich wäre das ja
auch gar nicht finanzierbar.
Wir müssen differenzieren zwischen dem
Besitz analoger Originale,
der Fähigkeit, diese professionell zu digitalisieren und
der Fähigkeit, Dateien auf Dauer zu bewahren.
Die Mediathek deckt selbst alle drei Aufgaben ab, aber das ist zu einem guten Teil
darauf zurückzuführen, dass es zur Zeit unseres Starts zum Selbermachen keine
wirklichen Alternativen gab. Für eine kleine Stelle wie die Mediathek lag es hart an
der Grenze des Leistbaren, ein digitales Gesamtsystem aufzubauen. Jetzt läuft es
und wir werden es weiterführen, aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass andere,
vor allem kleinere Stellen, sich nicht beides – Digitalisieren und Langzeitarchivieren
– aufhalsen wollen, sondern nur eine oder auch keine der beiden Aufgaben.
Sich mit beidem etwas im eigenen Haus anzufangen, ist nur sinnvoll, wenn es wirklich
um relevante Mengen an zu digitalisierendem und zu bewahrendem Material geht.
Digitalisierungsstationen und Massenspeicher wie in der Mediathek – so etwas für
bloß ein paar tausend Stunden Material hochzuziehen, wäre Geldverschwendung.
Die Voraussetzung für eine Delegierung von Aufgaben ist natürlich, dass es
ausreichend professionelle Digitalisierungsstellen und Massenspeicher gibt, an die
man sich wenden kann. Hier hat sich in den letzten Jahren sicher viel getan. Eine
Zertifizierung von verlässlichen Anbietern solcher Leistungen – „Service Provider“
– wäre wünschenswert.
253
„WARE INFORMATION“ – „CONTENT HOLDER“ UND „SERVICE PROVIDERS“Für Stellen wie die Mediathek ergibt sich derzeit eine ganz spezielle Situation:
Wir können nun unsere vorhandene Infrastruktur anderen zur Verfügung stellen.
Damit tun wir einerseits etwas für die allgemein-österreichische Kultursicherung und
andererseits erfüllen wir jene Auflagen, die uns die neoliberale Kulturpolitik stellt:
nicht nur Kultur, sondern auch „Geld zu machen“. Dass eine solche Doppelstellung
auch gewisse Probleme mit sich bringen kann, liegt dabei auf der Hand. Dennoch
können sich hier sinnvolle Kooperationen ergeben, wofür hier ein aktuelles Beispiel
angeführt sei:
Im Sommer 2006 erhielt die Österreichische Mediathek einen großen Auftrag
zur Digitalisierung von Tonaufnahmen der Österreichischen Nationalbibliothek.
Die Nationalbibliothek lagert also die Digitalisierung von Tönen an uns aus, nicht
aber die Langzeitarchivierung, denn über einen Massenspeicher verfügt sie selbst.
Eine dritte Stelle, das Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften,
kontrolliert als Konsulent, dass die Ton-Digitalisierung wirklich auf höchstem
professionellen Niveau erfolgt. Ich glaube, dass durch Zusammenarbeiten dieser Art
nur alle Beteiligten gewinnen können und unsere Ressourcen am kostensparendsten
eingesetzt werden.
254
ZUM STAND DES RECORDS MANAGEMENT IN DER SCHWEIZERISCHEN PRIVATWIRTSCHAFT. EIN SURVEY IN AUSGEWÄHLTEN SEKTOREN
JÜRG HAGMANN
Im Auftrag des Ausschusses eArchiv des Vereins schweizerischer Archivarinnen
und Archivare (VSA) haben Studierende der HTW Chur unter Anleitung von
Prof. Dr. Niklaus Stettler und der Unterstützung von PriceWaterhouseCoopers
zwischen Sommer 2005 und Frühjahr 2006 eine Umfrage über den Stand von
Records Management (RM) in der Privatwirtschaft der deutschsprachigen Schweiz
durchgeführt. Befragt wurden total 28 Firmen unterschiedlicher Betriebsgröße
(multinationale Großbetriebe sowie größere KMU’s) aus den Branchen Chemie/
Pharma, Finanz- und Elektrizitätswirtschaft. Primäre Zielsetzung der Umfrage ist
die Sensibilisierung von Verantwortlichen aller Stufen für das Thema RM. Sofern
in den einzelnen Organisationen noch keine expliziten RM-Programme bestehen
oder initiiert worden sind, geht es darum, die Akteure, die für die Aufbewahrung
von gesetzlich relevanten Unterlagen zuständig sind, zu erreichen und sie mit dem
Konzept des RM – basierend auf der ISO Norm 15489 – bekannt zu machen.
Zur Erhebung wurden fragebogenunterstützte Experteninterviews durchgeführt.
Der Fragebogen besteht aus 22 Fragen, die in acht Schwerpunkte (inhaltliche
Themenblöcke) aufgeteilt sind:
1. Erwartungen, die mit der Einführung von RM in einer Firma verbunden sind
2. Einfluss der gesetzlichen Anforderungen (Compliance)
3. Organisatorische Maßnahmen (Policies, Aufbewahrungspläne) und Verant-
wortlichkeiten
4. IT-Ausstattung. Sind die Systeme in der Lage, die Authentizität und Integrität
der Unterlagen zu garantieren?
5. Organisation der Ablage (Filing)
6. Langzeitarchivierung
7. 3–5-jährige Planungsvorhaben
8. Längerfristige Zukunftserwartungen, Trends und Nutzenaspekte
Die Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: Es besteht eine starke
Korrelation zwischen der Betriebsgröße und dem Stand von RM in den untersuchten
Firmen. Am weitesten fortgeschritten sind die RM-Programme der Großbetriebe
in der chemisch-pharmazeutischen Industrie. In KMU’s scheinen die Aktivitäten
255
noch gering zu sein und Handlungsbedarf wird kaum signalisiert. Hier ist der
Begriff und die Disziplin des RM noch weitgehend unbekannt. Insbesondere in
der Elektrizitätswirtschaft hat sich die traditionelle Art der Schriftgutverwaltung
bis heute bewährt.
Unabhängig von der Branche haben sich im wesentlichen drei Befunde bzw.
Problembereiche herauskristallisiert:
RM wird noch nicht als Supportprozess verstanden, der als Querschnittfunktion
durch alle Unternehmensbereiche hindurchgeht. Es wird nicht das ganze
Organigramm abgedeckt. RM beschränkt sich auf die wenigen bekannten und
klassischen Bereiche des Schriftguts (Finanzen, Personal u.a.m.).
Unvollständig ist die Abdeckung auch in Bezug auf die Kontrolle von Unterlagen.
In der Regel werden die offiziellen Records, die in den Kernprozessen entstehen,
gut verwaltet, hingegen entziehen sich die sogenannten inventarresistenten
Unterlagen aus Office-Systemen – insbesondere Korrespondenz mit E-Mails
– der zentralen Verwaltung durch einen Akten- und Aufbewahrungsplan
(schedule). Damit ensteht ein potentielles Compliance-Problem.
Ausbildung und interne Schulung für alle Mitarbeiter einer Firma sind nötig,
um die Thematik in den Unternehmen besser bekannt zu machen, um Risiken
in Bezug auf die Rechenschafts- und Auskunftsfähigkeit der Organisation zu
minimieren.
Nach dem Ergebnisteil werden drei Fallstudien vorgestellt: UBS, Novartis,
Elektrizitätswerke der Stadt Zürich (ewz), die im Sinne von „Best-Practice“
aufzeigen, wie RM in der Praxis umgesetzt werden kann.
Das Erfreuliche am Projekt war die Tatsache, dass eine fruchtbare Kooperation
innerhalb des oft ungleichseitigen Dreiecks Wissenschaft – Wirtschaft – Berufs-
verband entstand.
Dieses Vorgehen sollte vermehrt Schule machen, können doch damit mehrere Ziele
gleichzeitig verfolgt werden:
die Fachhochschulen bekommen Untersuchungsfelder und Kontakte zur betrieb-
lichen Praxis und können auf konkrete Weise die Managementdisziplin RM
befruchten bzw. erforschen,
die Wirtschaft erhält Inputs (awareness) und schafft potentiell neue Stellen, um
RM in den Firmen zu professionalisieren,
der Berufsverband kann neue Mitglieder werben und entsprechendes Know-how
auf einer generischen Ebene vermitteln.
256
Für die Ergebnisse der einzelnen Themenblöcke verweise ich auf den integralen
Synthesebericht,1 der im Internet als Volltext zur Verfügung steht.
Im Folgenden sollen nur noch ein paar wichtige Aspekte aus Themenblock drei
erörtert werden: organisatorische Maßnahmen und Verantwortlichkeiten.
Die Fragen 5 und 6 ergründeten die Verantwortlichkeiten für RM in der Organisation
und ihre Positionierung in der Hierarchie. Generell gilt: Je höher in der Hierarchie
die RM-Funktion angesiedelt ist, desto höher ist der Stellenwert und das Bewusstsein
für RM in der Organisation. In Ergänzung zum Bericht muß jedoch an dieser
Stelle eine differenziertere Betrachtung angestellt werden. Was der Bericht nicht
differenziert (bzw. der Fragebogen nicht ergründet), ist die Ebene der Umsetzung
von RM (Prozessverantwortung) in der Organisation. In der Praxis haben sich
nämlich zwei Modelle herauskristallisiert:
Modell 1: Geteilte Verantwortung (strategisch und operativ)
Dieses Modell dürfte nur in größeren Unternehmen (Konzern) zur Anwendung
kommen. Eine von der Geschäftsleitung eingesetzte Fachstelle steuert, koordiniert
und harmonisiert sämtliche RM-Aktivitäten auf der globalen strategischen Ebene
und ist primär verantwortlich für das normative Rahmenwerk (Legislative mit
Weisungsbefugnis), entwickelt aber auch Services, die der operativen Ebene bei
der Umsetzung der RM-Programme dienen. Auf der operativen Ebene sind die
einzelnen Geschäftseinheiten verantwortlich für die Umsetzung der lokalen RM-
Programme. Dieses Modell ist noch wenig verbreitet, da primär die Probleme dort
gelöst werden, wo die Records täglich anfallen – im Business. Die Fallstudie der
Firma Novartis (Bericht S. 39ff ) zeigt jedoch, dass für international tätige Konzerne
dies der einzige Weg sein dürfte, um alle Aktivitäten im Sinne einer einheitlichen
Policy konzernweit und effektiv zu steuern und zu koordinieren. Neben Novartis
hält sich auch die SwissRe an dieses Modell und auch die UBS hat entsprechende
Maßnahmen in diese Richtung eingeleitet (Bericht S. 38).
Modell 2: Einheitliche Verantwortung (operativ)
Die RM-Funktion ist neben der Herausgabe von Weisungen direkt zuständig für die
Umsetzung des RM-Programms; d.h. sie erstellt die Inventare, die Aufbewahrungspläne,
organisiert die Ablage sowie die Vernichtung. Die Ergebnisse in der Grafik auf S. 18
(Frage 6) des Berichts beziehen sich primär auf dieses Modell.
Generell gibt es bei dieser Frage keine eindeutigen Positionierungen. Am meisten
ist die RM-Funktion in einer Stabsstelle in der Logistik (Dienste, Archiv) oder in
1 Ausschuss eArchiv des VSA und HTW Chur, Fachbereich Informationswissen-
schaft (Hg.): Records Management Survey Schweiz in ausgewählten Sektoren der
Privatwirtschaft (2005/2006) Synthesebericht, Chur Sept. 2006 (Autoren: Niklaus
Stettler, Jürg Hagmann, Gerhard Emch, Anna Fridrich, Joseph Wandeler); download
unter URL: http://www.vsa-aas.org/Projekt_RM_Survey.294.0.html ( Jänner 2007). Im
folgenden zitiert im fortlaufenden Text mit Bericht und Seitenangabe.
257
„anderen Bereichen” (IT) angesiedelt. Branchenspezifisch ist interessant, dass in der
Pharmabranche RM noch öfters in der Forschung & Entwicklung aufgehängt ist
und in der Elektrizitätswirtschaft im Finanzbereich, d.h. in Kernprozessen. Dies
deutet auf die Nähe der RM-Funktion zum operativen Geschäft.
UNTERSCHIEDE ZWISCHEN DEM ÖFFENTLICHEN UND PRIVATEN SEKTOR
Der Bericht hat schließlich indirekt deutlich gemacht, dass es ein paar signifikante
Unterschiede zwischen dem öffentlichen und privaten Sektor gibt, die hier z.T. als
Thesen formuliert werden.
RELEVANZ DER ORGANISATORISCHEN EINBETTUNG UND POSITIONIERUNG DER RM-FUNKTION IN DER ORGANISATION:
Während im öffentlichen Sektor in der Regel ein zwingender Auftrag vom
Gesetz her besteht und daraus eine entsprechende (stufengerechte) Funktion mit
den nötigen Kompetenzen abgeleitet wird, muss sich in der Privatwirtschaft die
Funktion RM ihre Position in der Organisation meist erst erkämpfen. Wenn sie
dann mal geschaffen ist, geht es um die Einbettung in der Unternehmenshierarchie.
Hier gilt: je höher, desto besser der Stellenwert von RM und desto größer die
Budgets. Allerdings kann eine gute Positionierung den Durchsetzungserfolg eines
RM-Programms noch nicht garantieren, aber es ist eine wichtige Voraussetzung.
Während das Topmanagement in der Regel die Legitimation von RM ohne
Vorbehalte einsieht (compliance!), hapert es beim Middle-Management, da diese
Stufe primär am Erfolg ihrer Kernprozesse gemessen wird und nicht an der
Qualität des Informations- und Records-Managements.
ANFORDERUNGEN AN DIE AUFBEWAHRUNG: Während im öffentlichen Sektor die Aufbewahrungsanforderungen durch
die jeweiligen Archivgesetze und -verordnungen (Kantone und Bund) inkl.
dauernde Aufbewahrung (Auftrag zur Überlieferungsbildung) definiert sind
(z.B. mittels Registraturplänen), betrifft dies im privaten Sektor nur bestimmte
Arten von Unterlagen, die als Akten einer gesetzlichen Aufbewahrungsfrist
unterliegen (v.a. Geschäftsbücher, Steuerakten). Selbst diese Unterlagen
werden oft nicht systematisch in Aufbewahrungsplänen (retention schedules)
dokumentiert, obwohl sie mehr oder weniger sachgemäß aufbewahrt werden.
Groß wird jedoch die Unsicherheit bei Unterlagen außerhalb der gesetzlichen
Aufbewahrungsanforderungen, die jedoch für das betriebliche Know-how relevant
sind. Hier wird meist nach Gutdünken und unkoordiniert aufbewahrt. Zusätzliche
Komplexität erwächst denjenigen Unternehmen, die neben den nationalen
258
Aufbewahrungsanforderungen auch noch internationalen Regeln nachkommen
müssen (z.B. Sarbanes-Oxley). Hier haben es öffentliche Einrichtungen einfacher,
sie müssen nur den nationalen Gesetzen und Verordnungen Folge leisten.
HETEROGENITÄT UND DYNAMIK DER PROZESSE: Es wäre zu untersuchen, inwiefern in der öffentlichen Verwaltung eine ebenso
heterogene und dynamische Landschaft von Geschäftprozessen innerhalb einer
Organisation zu managen ist wie in der Privatwirtschaft. In der Regel dürfte ein
von der Dynamik der Marktwirtschaft getriebenes Unternehmen einer höheren
Beschleunigung des Change Management unterworfen sein als der öffentliche
Sektor, was eine dauernde Änderung und Anpassung der Prozesse und folglich
auch der daraus hervorgehenden Unterlagen bedingt.
Mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede gibt ist in den Bereichen RM-Projektmanage-
ment sowie in der technischen Implementierung von Lösungen, wenn sie nicht
allzu (branchen-) spezifisch sind, also etwa auf der Ebene der Langzeitarchivierung
oder E-Mail-Archivierung. Auch in der Formatfrage kämpfen alle mit derselben
Problematik, unabhängig vom Sektor. Was PriceWaterhouseCoopers (PWC) vor
zwei Jahren als Empfehlung für RM-Projekte im öffentlichen Sektor abgegeben
hat, lässt sich genauso gut auf den privaten Sektor übertragen2:
– RM auf Ebene Gesamtverwaltung bzw. Gesamtunternehmen behandeln.
– Genug Zeit in konzeptionelle Vorarbeiten investieren.
– Strategische und organisatorische Grundlagen schaffen.
- Lösung auf längerfristigen Zeitraum zuschneiden.
– Es gibt keine Wunderlösung! Individuelle Zielsetzungen und Nutzenerwartungen
formulieren.
– Genaue Nutzenanalyse durchführen.
– Solide ausgereifte Technologie wählen.
– Vernünftiger Grad der Automatisierung wählen.
– Großes Augenmerk auf Kommunikation und Change Management legen.
– Etappiertes Vorgehen wählen, gegliedert nach einzelnen Realisierungs-
schritten.
– Realistisch den Aufwand abschätzen.
– Vom Erfahrungsschatz anderer profitieren.
2 Th omas Reitze, Tilman Braun, Michael Bischof: Elektronische Verwaltung von Akten
und Geschäftsprozessen. Studie zum aktuellen Stand des Records Management im
öff entlichen Sektor. Bern 2004, 21.
259
Zum Schluss sei noch erwähnt, dass aus meiner Sicht das Thema ‚Records
Management‘ in der Bibliothekswelt noch nicht groß Einzug gehalten hat, obwohl
v.a. in den größeren Einrichtungen die Akten des Hauses auch professionell verwaltet
werden müssen. Als lobendes Beispiel sei hier die Bibliotheque Nationale de France
(BNF) erwähnt, die seit drei Jahren ein eigenes Records Management betreibt3, das
sogar die E-Mail-Archivierung einbezieht.
3 Vgl. URL: http://jhagmann.twoday.net/stories/2856638/ und http://www.bnf.fr/pa-
ges/collections/coll_archives.htm (8.1.2007).
260
DAS eLEARNING-PROJEKT „EINFÜHRUNG IN DIE BENUTZUNG DER UNIVERSITÄTS-BIBLIOTHEK BODENKULTUR“
MARKUS HEINDL
ABSTRACT:
Im Januar 2006 ging das eLearning-Projekt „Einführung in die Benutzung der
Universitätsbibliothek Bodenkultur“ online.1
Die derzeitig vorhandenen zehn Lernmodule bieten Leitfäden zu den verschiedenen
Services der Bibliothek, es kommt aber natürlich auch der interaktive Charakter
des eLearning in Form von Selbsttests bzw. Übungsaufgaben in den Lernmodulen
zum Tragen.
Zusätzlich wurden ein Diskussionsforum und ein wöchentlich stattfindender
„Bibliotheks-Chat“ in die Lerneinheit integriert, um den Benutzern auch virtuell
die Möglichkeit des direkten Kontakts mit den Bibliothekaren zu geben.
DIE UNIVERSITÄT FÜR BODENKULTUR WIEN
Die Universität für Bodenkultur2 umfasst die Lehre und Forschung in Fächern,
deren Grundlage die für das menschliche Leben vorausgesetzten und erneuerbaren
Ressourcen sind. Schwerpunkte sind unter anderem Land- und Forstwirtschaft,
Lebensmittel- und Biotechnologie, Raumplanung und Landschaftsgestaltung,
Kulturtechnik, Wasserwirtschaft und Management von Naturgefahren.
SCHULUNGEN AN DER UB BODENKULTUR WIEN
Schon seit 1996 ist die Universitätsbibliothek Bodenkultur3 mit der Vorlesung
„Einführung in die Suche nach wissenschaftlicher Literatur“ in der Lehre vertreten. Mit
Beginn des Wintersemesters 2006 wurde eine Blended Learning Lehrveranstaltung
unter dem Titel „Einführung in die Benutzung der Universitätsbibliothek
Bodenkultur“ in den Studienplänen der Universität für Bodenkultur zugelassen.
Zusätzlich werden diverse Schulungen angeboten. Für Erstsemestrige gibt es im
1 Siehe URL: https://moodle.boku.ac.at/course/category.php?id=33.
2 Siehe URL: http://www.boku.ac.at/.
3 Siehe URL: http://www.boku.ac.at/bib.html.
261
Rahmen von Tutorien allgemeine Führungen durch die Bibliothek, für Interessierte
werden weitere, intensive Führungen angeboten. Für einige Studienrichtungen
werden Seminare über spezielle Fertigkeiten wie z.B. die Suche im Online-Katalog
oder in Datenbanken abgehalten. Da der Anteil der ausländischen Studenten an
der Universität für Bodenkultur ca. 15% beträgt4, darunter viele mit nicht-deutscher
Muttersprache, werden diverse Kurse in englischer Sprache angeboten. Für das
wissenschaftliche Personal führt die UB Bodenkultur auch Vorort-Schulungen an
den jeweiligen Instituten durch.
ZEITLICHER VERLAUF DER ENTWICKLUNG DER eLEARNING-LERNEINHEITEN DER UB BODENKULTUR
Mit Beginn des Wintersemesters 2005 nahm eine neue universitätsweite eLearning–
Plattform an der BOKU ihren Betrieb auf: die Plattform „BOKUlearn“5. Die
Lernplattform basiert auf dem Open-Source Learning-Management-System (LMS)
Moodle6.
Im November 2005 wurde das eLearning-Projekt der Universitätsbibliothek durch
die Gründung einer Arbeitsgruppe ins Leben gerufen.
Im Zeitraum von November 2005 bis Jänner 2006 erfolgte die Sammlung/
Überarbeitung/Erstellung von Materialien, welche in den eLearning-Lerneinheiten
verwendet werden sollten. Parallel dazu verlief die Erstellung des Grundgerüstes des
Kurses auf der eingesetzten eLearning-Plattform.
Im Januar 2006 konnte die Freischaltung der ersten Online-Lernmodule der UB in
deutscher Sprache erfolgen.
Im Zeitraum von Januar bis März 2006 erfolgte die Erarbeitung von englischen
Materialien und parallel hierzu wiederum der Aufbau der englischen Version der
Lerneinheit, so dass dann im März 2006 auch diese unter dem Titel „Introduction to
the services and facilities of the university library“ für die Öffentlichkeit freigegeben
werden konnte.
Somit waren die Grundsteine für die Lerneinheiten in beiden Sprachen gesetzt.
Natürlich erfolgte und erfolgt weiterhin eine laufende Aktualisierung der verwendeten
Materialien.
4 Universität für Bodenkultur (Hrsg.): Wissensbilanz : Wissen schaff t Verantwortung.
Wien 2005.
5 Siehe URL: http://e-learning.boku.ac.at/.
6 Siehe URL: http://www.moodle.org.
262
Seit dem Wintersemester 2006 werden die erstellten Lernmodule als Grundlage für
die Abhaltung einer Blended Learning Lehrveranstaltung7 verwendet.
DIE VERWENDETEN eLEARNING-LERNINHALTE
Hierzu ist gleich zu Beginn anzumerken, dass es sich bei eLearning natürlich nicht
einzig und allein um eine Sammlung von Dokumenten handeln kann und soll.
Natürlich führt an der Vermittlung von Informationen über die Services der Bibliothek
durch Leitfäden und Informationsblätter kein Weg vorbei. Zusätzlich hierzu wurde
aber auch weiterführendes Material zur Vermittlung von Informationskompetenz
(z.B. zum Thema Copyright) erstellt und in die Lerneinheit mit eingebunden.
Weiters erfolgt die Angabe der Lernziele zu den einzelnen Modulen bzw. auch
eine Zielgruppeneinteilung. Überdies werden weiterführende Links zum jeweiligen
Themenbereich angeboten.
Um die Interaktivität des eLearning effektiv in Verwendung zu bringen, wurden
Selbsttests erstellt, welche von den Benutzern ausgefüllt und online abgegeben werden
können. Sie erhalten sofort nach Abgabe eines Tests die individuelle Rückmeldung
zu ihrem Testergebnis.
Die verwendeten Fragetypen umfassen: Multiple-Choice-Fragen, Fragen mit
Freitextantworten, Zuordnungsaufgaben und Fragen mit Auswahlmöglichkeit der
Antworten.
Zusätzlich zum Abschluss eines Moduls wird dann noch ein Aufgabenblatt zur
Verfügung gestellt, auf welchem einige Beispiele zur Anwendung des im Modul
erworbenen Wissens angeführt sind.
Für die Kommunikation/Interaktion mit der Bibliothek wurde ein Diskussionsforum
eingerichtet, in dem die Benutzer sowohl mit den Bibliothekaren als auch natürlich
untereinander kommunizieren können, wenn sie Probleme bei bzw. Fragen zur
Benutzung der verschiedenen Services der Bibliothek haben.
Funktionalitäten, welche Schreibrechte in der eLearning-Plattform voraussetzen
(z.B. die aktive Teilnahme am Diskussionsforum), sind nur für Angehörige der
Universität für Bodenkultur nach einem Login benutzbar.
Zusätzlich zu den pro Modul zur Verfügung gestellten Materialien wurde auch ein
„Materialien-Pool“ auf der eLearning-Plattform geschaffen, über welchen direkt alle
zum Einsatz kommenden Unterlagen kumuliert heruntergeladen werden können.
Die bereits in die eLearning-Plattform „BOKUlearn“ integrierte Kalenderfunktion
erlaubt es auch, den Benutzern Ankündigungen/Termine der Bibliothek direkt zur
Verfügung zu stellen.
7 Siehe URL: https://blis.boku.ac.at/zope/tpp/lv/lva_html?num=180001&sem=2007S.
263
Überdies gibt es ein Nachrichtenforum, in welchem die neuesten Nachrichten
der Universitätsbibliothek zu finden sind. Dieses Nachrichtenforum ist in Form
eines RSS-Feeds8 durch die Benutzer abonnierbar bzw. werden neu eingetragene
Informationen direkt an subskribierte Benutzer per E-Mail weitergeleitet, so dass
diese immer mit den neuesten Informationen der Bibliothek „just in time“ versorgt
sind.
SINN UND ZWECK DER LERNEINHEITEN
Die eLearning-Plattform ist erstens als Orientierungshilfe für neue Bibliotheks-
benutzer zu empfehlen. Sie werden an die verschiedenen Services der Bibliothek
und an die Grundlagen der Literaturrecherche herangeführt. Dieser Bereich wird
vorrangig durch das erste Modul „Allgemeines“ abgedeckt.
Als unumgänglich und für die wissenschaftliche Ausbildung grundlegend sehen wir
die studiumsbegleitende Vermittlung von Informationskompetenz, welche durch die
zusätzlichen Themenbereiche wie z.B. Copyright oder Literatursuche im Internet
auf der Plattform erfolgen soll.
Weiters werden die eLearning-Lerneinheiten der Bibliothek bei Führungen,
Einführungskursen und Schulungen zur Begleitung bzw.Vertiefung und Erweiterung
verwendet. Hierbei ist besonders hervorzuheben, dass ein lesender Zugriff auf die
verfügbaren Dokumente und Lerninhalte für jeden möglich ist. Die eLearning-
Lerneinheiten der Bibliothek erlauben somit auch „Gästen“ Zugang zu den
angebotenen virtuellen Kursen. Um an einer Diskussion aktiv teilnehmen bzw. den
Chat nutzen zu können, sind allerdings Schreibrechte auf der Plattform notwendig,
welche ausschließlich Universitätsangehörigen nach Login zur Verfügung stehen.
Der eingerichtete „Bibliotheks-Chat“ bzw. das Diskussionsforum erlauben eine
direkte synchrone bzw. asynchrone Möglichkeit der Kommunikation mit der
Bibliothek („Ask a librarian“).
Durch die zur Verfügung gestellten interaktiven Materialien bzw. Funktionalitäten
der Plattform (Testmodul, Übungsaufgaben) besteht natürlich die Möglichkeit
des selbstgesteuerten Lernens für die Benutzer. Das Lerntempo bzw. auch die
Lerninhalte können frei gewählt werden.
Ein weiterer großer Vorteil des Einsatzes der eLearning-Plattform ist die zeitliche
bzw. örtliche Unabhängigkeit des Lernenden. Die Plattform ist rund um die Uhr
über das Internet weltweit erreichbar.
Durch die universitätsweite Verwendung der eLearning-Plattform „BOKUlearn“
sieht sich die Universitätsbibliothek nach Implementierung ihrer Lerneinheiten in
einem äußerst wichtigen Bereich der Lehre vertreten. Die Integration der Online-
8 Siehe URL: https://moodle.boku.ac.at/rss/fi le.php/162/3/forum/593/rss.xml.
264
Lerneinheiten war ein weiterer wichtiger Schritt für die Bibliothek, in einem
innovativen Setting als „Teaching Library“ tätig zu werden.
WIE WIRD DIESES NEUE SERVICE DER UB BODENKULTUR ANGENOMMEN?
Die deutsche Lerneinheit verzeichnete bisher ca. 18.000 und die englische Version
ca. 3.000 Aktionen. Vorrangig werden die zur Verfügung gestellten Dokumente und
Leitfäden geöffnet bzw. heruntergeladen. Das Nachrichtenforum der Bibliothek
erfreut sich ebenso sehr großer Beliebtheit, wie an der Zugriffsstatistik zu bemerken
ist (auch durch Zugriff über den abonnierten RSS-Feed).
Die eLearning-Lerneinheit der UB Bodenkultur wird allerdings nicht nur von
innerhalb der Universität sehr positiv aufgenommen. Es gab auch schon umfangreiches
positives Feedback von „Universitätsfremden“:
So wurden die Onlinekurse z.B. durch das Institut für Bibliotheks- und
Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin begutachtet und
äußerst positiv bewertet.
Überdies erfolgte auf Anfrage des European Observatory on Information Literacy
Policies and Research eine Aufnahme der Kurse in das EnIL (European Network
on Information Literacy)9.
Weiters wurde das Projekt bereits bei mehreren bibliothekarischen Kongressen bzw.
Veranstaltungen vorgestellt, unter anderem auch beim 3. Treffen der Österreichischen
MedizinbibliothekarInnen in Wien.
Das Ergebnis der Bewertung der im Wintersemester abgehaltenen Blended Learning
Lehrveranstaltung ist ebenfalls äußerst positiv ausgefallen und bestärkt natürlich die
Bestrebungen der Bibliothek, verstärkt als „Teaching Library“ aufzutreten.
ZUKÜNFTIGE ENTWICKLUNG
Ein ganz essenzieller und selbstverständlicher Punkt für die zukünftige Entwicklung
ist die laufende Aktualisierung der bereits vorhandenen Lerninhalte. Weiters sollen
evtl. noch fehlende Lerninhalte bzw. zusätzliche Materialien erstellt und in die
einzelnen Module miteingebunden werden. Ein extrem wichtiges Anliegen ist
natürlich die Bekanntmachung der Lerneinheiten der Bibliothek sowohl innerhalb
der Universität (im Rahmen von Benutzerschulungen, Benutzerneuaufnahmen,
Führungen durch die Bibliothek und Informationsveranstaltungen) als auch
außerhalb.
9 Siehe URL: http://www.ceris.cnr.it/Basili/EnIL/gateway/root_Austria.htm.
265
Eine Bestrebung der Bibliothek, welche bereits umgesetzt werden konnte, ist die
Verwendung der erstellten Lerneinheiten im Rahmen einer im Studienplan der
BOKU verankerten Lehrveranstaltung. Diese Blended Learning Lehrveranstaltung
ist seit dem Wintersemester 2006 in den Studienplänen der Universität für
Bodenkultur als Wahlfach zugelassen.
Da die eLearning-Plattform noch viele weitere Funktionalitäten bietet, welche
zur Zeit noch nicht von der Bibliothek eingesetzt werden, ist hier noch einiges an
Potenzial zur Weiterentwicklung vorhanden. So könnten z.B. die Prüfungen der
Teilnehmer der Blended Learning Lehrveranstaltung online über Lernplattform
abgehalten werden.
Überdies ist angedacht, einen Bereich „FAQ“ (Frequently Asked Questions) mit den
von Benutzern am häufigsten gestellten Fragen in die Lerneinheit zu integrieren.
266
VIRTUELLE AUSKUNFTSDIENSTE SIND IM KOMMEN!
STEFAN WINKLER, JAN STEINBERG
EINLEITUNG
Bibliothekarische Dienstleistungen werden mittlerweile wie selbstverständlich
auch außerhalb der Bibliotheken am Wissenschaftsarbeitsplatz, von zu Hause, im
Fernstudium, oder gar mobil, oft auch jenseits der Öffnungszeiten der Einrichtungen,
genutzt. Dadurch entstehen neue Informations- und Beratungsbedürfnisse, denen
mit entsprechenden Angeboten, sog. Virtual Reference Services oder Virtuellen
Auskunftsdiensten begegnet werden kann. Tausende Bibliotheken weltweit haben sich
daher in den letzten Jahren entschlossen, zusätzlich zu ihren Informationsschaltern
elektronische Auskunftsdienste über Chat, E-Mail oder das Web anzubieten.
Im deutschsprachigen Raum ist dieser Bedarf erkannt und vom Bibliotheksservice-
Zentrum Baden-Württemberg (BSZ)1 aufgegriffen worden. In enger Kooperation
mit der Arbeitsgruppe „Virtuelle Auskunft im SWB“2 wurde der maßgeschneiderte
E-Mail-Anfrage- und Weiterleitungsdienst InfoDesk entwickelt.3 Mit der
Universitätsbibliothek Konstanz, der Bibliothek der HTWG Konstanz, sowie der
1 Das BSZ ist eine Infrastruktureinrichtung für Wissenschaftliche Bibliotheken mit
einem breiten Dienstleistungsspektrum. Kernaufgabe ist der Betrieb des Online-Ka-
talogs des Südwestdeutschen Bibliotheksverbundes Baden-Württemberg, Saarland,
Sachsen (vgl. URL: http://www2.bsz-bw.de )
2 Teilnehmer der AG Virtuelle Auskunft waren in der Pilotphase im Jahr 2005 die
Universitätsbibliotheken Konstanz, Mannheim, Heidelberg, Stuttgart, Freiburg
und die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden.
Mittlerweile hat sich der Kreis erweitert, so dass Bayerische Universitätsbibliotheken
(Bamberg, Regensburg, Würzburg) ebenso teilnehmen, wie Vertreter der Deutschen
Internetbibliothek.
3 Im Jahr 2004 führte das BSZ für die Arbeitsgruppe „Virtuelle Auskunft im SWB“ eine
dreimonatige Vorstudie durch, die eine Bedarfsanalyse und eine Marktstudie zu bereits
bestehenden Angeboten für kommerzielle und nichtkommerzielle Auskunfts-Software
beinhaltete. Die AG empfahl aufgrund der Ergebnisse eine Eigenentwicklung auf der
Basis von Open Source Software. Im April 2005 wurde ein erster Prototyp von Info-
Desk vorgestellt, der dann schrittweise mit zahlreichen Anpassungen, Erweiterungen
und Detailverbesserungen versehen wurde. Mehr Hintergrundinformationen fi nden
sich auf der Projekt-Homepage, URL: http://www2.bsz-bw.de/cms/entwickl/virtausk/
index_html.
267
Saarländischen Universitäts- und Landesbibliothek startete InfoDesk im März 2006
in den Regelbetrieb.
Nach einer kurzen Beschreibung der Grundfunktionen von Virtuellen Auskunfts-
diensten wird im Folgenden dargelegt, mit welcher Technologie InfoDesk arbeitet,
wie der Geschäftsgang im Alltag des Auskunftsbibliothekars aussieht und welche
besonderen Features InfoDesk auszeichnen. Im Anschluss daran wird beschrieben,
wie eine Bibliothek, die sich für InfoDesk interessiert, das System testen und auf ihre
jeweiligen Organisationserfordernisse anpassen kann. Erste Erfahrungen aus dem
Regelbetrieb werden vorgestellt. Am Ende wird ein Ausblick auf die anstehenden
Nutzungsausweitungen gegeben, sowie das partizipative Entwicklungsmodell
beschrieben, das den Bibliotheken erlaubt, die technische Weiterentwicklung
maßgeblich zu beeinflussen.
GRUNDFUNKTIONEN EINER VIRTUELLEN AUSKUNFT
Bei virtuellen Auskunftsdiensten geht es um die elektronische Vermittlung
von Informationskompetenz, Entgegennahme von Kritik und Anregungen,
Bearbeitung von Anschaffungsvorschlägen, technische Hilfestellung, Lösung von
Zugangsproblemen zu Informationssystemen und um die rasche Beantwortung von
Fragen rund um die Literaturbeschaffung.
Anders als bei der Bearbeitung mit herkömmlichen E-Mail Clients werden
bei Virtuellen Auskunftsdiensten Fragen in einem Netzwerk kooperierender
Einrichtungen bearbeitet. Über die Organisationsgrenzen der einzelnen Bibliotheken
oder Teilbibliotheken hinaus können Fragen weitergeleitet, beantwortet, archiviert,
durchsucht und statistisch ausgewertet werden.
Bei E-Mail- und Weiterleitungsdiensten werden die Fragen in der Regel über
Webformulare (vgl. Abb.1) entgegen genommen und in einer Datenbank abgelegt.
Dem Kunden wird sodann in einer automatisch erzeugten E-Mail zunächst
der Eingang der Frage bestätigt. Kurz darauf sehen Bibliotheksmitarbeiter die
neu eingegangene Frage und beantworten diese entweder direkt oder leiten sie
an zuständiges Personal weiter. Sobald die Frage abschließend bearbeitet wurde,
erhält der Kunde eine – ebenfalls automatisch generierte – zweite E-Mail mit der
Antwort.
268
Abb.1: Anfrageformular von InfoDesk bei der Bibliothek der Universität Konstanz
In Ergänzung zu dieser Bearbeitungsfunktionalität stehen Virtuellen Auskunfts-
systemen diverse Auswertefunktionen zur Verfügung. Auf einen Blick ist ersichtlich,
welche Fragen noch nicht abschließend beantwortet wurden, oder welche Person
für welche Frage zuständig ist. Zusätzlich können oft Statistiken erstellt oder
häufig wiederkehrende Fragen nach redaktioneller Bearbeitung in eine Wissenbasis
überführt werden, in der sie wiederum den Kunden zur Verfügung stehen.
Nicht zuletzt wird mit Virtuellen Auskunftsdiensten – ähnlich wie bei CRM-
Systemen4 – der Aufbau von langfristigen Kundenbeziehungen angestrebt.
TECHNOLOGIE VON INFODESK
Die o.g. Grundfunktionen einer Virtuellen Auskunft werden auch durch den
E-Mail-Anfrage- und Weiterleitungsdienst InfoDesk abgedeckt. InfoDesk basiert
auf der Freien Software Scarab5, die mit einer OpenBSD/Apache-ähnlichen Lizenz
verbreitet wird.6 InfoDesk unterstützt Mehrsprachigkeit, verschiedene Datenbank-
4 CRM = Customer Relationship Management bzw. Kundenbeziehungsmanagement.
5 URL: http://scarab.tigris.org/.
6 Im Gegensatz zu einer kommerziellen Software besteht bei Freier Software die Mög-
lichkeit, das Produkt jederzeit abzuändern, sprich auf die eigenen Bedürfnisse anzupas-
sen oder um neue Features zu erweitern. Dass für Freie Software keine Lizenzkosten
pro Auskunftsarbeitsplatz anfallen, ist ein zusätzlicher, nicht unwichtiger Begleitef-
269
Backends und besitzt eine XML-Schnittstelle für den Daten-Import/-Export.
Aufgrund seiner Implementierung in Java beruht InfoDesk auf einer zeitgemäßen,
objektorientierten Programmiersprache.7 All diese Aspekte gemeinsam bilden eine
solide technische Grundlage für zukünftige Erweiterungen bzw. Anpassungen an
bibliothekarische und kundenorientierte Erfordernisse.
Im Folgenden werden einige der InfoDesk-Features, wie der modulare Aufbau, das
Rollen- und Rechtemodell, die Suchfunktionalität sowie die Statistikfunktionen
ausführlicher beschrieben.
MODULARER AUFBAU
InfoDesk bildet Bibliotheken und Konsortien in Modulhierarchien ab. Ein
Konsortium besteht z.B. aus mehreren Bibliotheksmodulen, die wiederum
verschiedene Auskunftsmodule und ein Modul für eine lokale Wissenbasis
besitzen können. Module können also einem Elternmodul zugeordnet bzw. um
Kindmodule erweitert werden. Ein Modul besitzt mindestens einen Container zur
Aufbewahrung von Inhalten, verfügt über dazu passende Eingabeformulare und hat
eine eigenständige Nutzerverwaltung.
ROLLEN UND RECHTE
Jeder Benutzer erhält mit dem Einloggen in die Anwendung für seine Module (z.B.
Virtuelle Auskunft oder Wissensbasis) eine Rolle, die vorher vom Administrator
zugewiesen wurde. An diese Rollen, beispielsweise die Rolle des „Bibliothekars“
oder des „Redakteurs“, sind Rechte gebunden, mit denen u.a. erlaubt wird, Fragen
zu sehen, zu bearbeiten oder zu verschieben, Module nach Fragen zu durchsuchen,
Benutzer einzurichten, usw. Mittlerweile wurde auch die Rolle des „LocalAdmins“
eingeführt, mit der die Nutzerverwaltung für die Module einer Bibliothek durch
lokale Administratoren übernommen werden kann. Zu ihr gehören das Einrichten
neuer Nutzeraccounts, die Passwortverwaltung, die Vergabe der Rollen sowie die
Pflege der Einträge für das Bibliotheksprofil.
fekt. Mit Scarab konnte auf einem reifen Produkt aufgesetzt werden, das bereits eine
Vielzahl der benötigten Grundfunktionen bereithielt. Seine Flexibilität und der gut
strukturierte, modulare Aufbau zeichnen Scarab gegenüber anderen, vergleichbaren
Produkten aus.
7 Dies war für die AG Virtuelle Auskunft ein wichtiges Auswahlkriterium.
270
Die Bildschirmoberfläche und die verfügbaren Funktionalitäten variieren je nach Rolle,
die dem Nutzer zugewiesen wurde. Für Nicht-Administratoren sind beispielsweise die
Optionen zu Benutzer- und Moduleinstellungen nicht sichtbar und das Freischalten
eines Artikels in der Wissensbasis ist nur den Redakteuren erlaubt.
Abb. 3: Bearbeiteransicht von InfoDesk: Liste der bei der SLUB Dresden eingegangen
Fragen in unterschiedlichen Bearbeitungszuständen
SUCHFUNKTIONALITÄTEN
Das Information Retrieval ist eine der besonderen Stärken von InfoDesk. Die
Recherche eines Auskunftsbibliothekars nach Fragen in den eigenen sowie ggf. in
Modulen anderer teilnehmender Bibliotheken wird durch das in InfoDesk integrierte
Such- und Indexierungstool Lucene8 stark erleichtert. So verfügt die Anwendung
neben Boole’schen Operatoren, Phrasensuche, Trunkierung und Maskierung auch
über eine Fuzzy Search9. Zum Schnelleinstieg existiert eine Suchbox mit zwei
jederzeit sichtbaren Eingabefeldern für die Volltext- und Frage-ID-Suche. Zusätzlich
wird eine „Einfache Suche“ und eine bis ins kleinste Detail reichende „Erweiterte
Suche“ angeboten. Jeder Bibliothekar hat darüber hinaus die Möglichkeit, individuell
8 URL: http://lucene.apache.org/.
9 Unscharfe Suche: Findet auch Begriff e, die dem Suchbegriff ähnlich sind. Als Grundlage
hierfür dient der „Levenshtein-Algorithmus“ (vgl. URL: http://www.levenshtein.de/).
271
benötigte Suchabfragen als „Persönliche Suche“ abzuspeichern (vgl. Abb. 3).
Wie an diesem Beispiel deutlich wird, verfügt InfoDesk über ein breites Spektrum
von Interaktionsmöglichkeiten, das es auch Anwendern mit sehr unterschiedlicher
Herangehensweise erlaubt, das System effizient zu bedienen.
STATISTIKEN
Es stehen jeder Bibliothek zur Auswertung ihrer Auskunftstätigkeit individuell
konfigurierbare Statistiken zur Verfügung. Es kann nach Fächern, formalen
Kategorien, Zeit (Tage, Monate, Jahr) und nach Bearbeitern ausgewertet werden.
Gruppierungen sind auch möglich, z.B. das Zusammenfassen von Physik,
Chemie und Biologie zu einer Gruppe „Naturwissenschaften“, oder verschiedene
Bearbeiter zu einer Gruppe „Frühschicht“ usw. Statistiken können zusätzlich zu
der Bildschirmausgabe als Excel-Tabelle und auch als Tab-Delimited ausgegeben
werden. Sie können einmalig abgefragt oder zur mehrmaligen Ausführung mit
Namen und Beschreibung abgespeichert werden.
Der Geschäftsgang „Virtuelle Auskunft“ mit InfoDesk
Generell hängt der Einsatz von Informationstechnologie stets eng mit den
organisatorischen Gegebenheiten der nutzenden Einrichtung zusammen. Wie
der Geschäftsgang „Virtuelle Auskunft“ mit InfoDesk aussehen soll, stimmen die
Bibliotheken in der Einführungsphase mit dem InfoDesk-Team ab (s.u.).
Im Standard-Workflow können neu eingehende Fragen entweder an eine andere
Institution weitergeleitet werden, an Personal im eigenen Haus zugewiesen oder
gleich selbst bearbeitet werden. Wurde die Frage zugewiesen, ändert sich ihr Zustand
von „Neu“ in „Zugewiesen“ und sie erscheint bei der jeweiligen Person in der Liste
der „mir zugewiesenen Fragen“. Wird die Frage gerade beantwortet, so stellt sie der
Bibliothekar erst auf „In Bearbeitung“ und am Ende auf „Bearbeitet“ (vgl. Abb. 2).
272
Abb. 2: Standard-Workflow der Anfragebearbeitung
Viele Funktionen lassen sich schon im Standard-Workflow über verschiedene Wege
erreichen. Zudem wird es auch nicht nur den einen Geschäftsgang für die Bearbeitung
von Fragen in InfoDesk geben. Der Workflow ist innerhalb von InfoDesk nicht
fest vorgeschrieben, sondern kann durchaus für jedes einzelne Modul abgewandelt
und erweitert10 werden. Er wird zusammen mit allen anderen modulspezifischen
Einstellungen über eine ausdifferenzierte Administrationsoberfläche konfiguriert.
FLEXIBLE KONFIGURATION
An InfoDesk interessierte Bibliotheken erhalten jederzeit die kostenlose
Möglichkeit, die Anwendung auf einem Demonstrationsrechner zu testen.
Basierend auf Erfahrungen aus dem Regelbetrieb wird ein Entwurf gemacht, der
den Anforderungen der testenden Einrichtung entspricht.
Typischerweise tauchen insbesondere in der Phase der Erstkonfiguration und des
Testbetriebs einer neuen Teilnehmerbibliothek einrichtungspezifische Wünsche
auf, die in aller Regel umgehend erfüllt werden können. Diese Wünsche beziehen
sich z.B. auf die für jede Einrichtung frei definierbaren Eingabefelder und deren
Beschriftungen, die Kategorien für die inhaltliche Erschließung, die Textbausteine
der E-Mails oder das Logo der Einrichtung, etc.
Eine herausragende Eigenschaft von InfoDesk ist das dynamische Verwalten
sämtlicher Feldzusammenstellungen der Module sowie die Verwendung von
Kategorieneditoren. Umkonfigurationen der Felder eines Moduls führen zu sofortigen,
automatischen Anpassungen an vielen Stellen im Programm (Such-, Eingabe-,
Statistikformulare, etc.), ohne dass weitere Eingriffe erforderlich wären. Dadurch lassen
sich viele, selbst umfangreiche Änderungswünsche der Bibliotheken schnell und ohne
Programmieraufwand oder Unterbrechung des laufenden Betriebs erfüllen.
Auf die gleiche Art und Weise werden auch die sich z.T. sehr stark unterscheidenden
Anfrageformulare der Bibliotheken ohne Aufwand über die InfoDesk-
Administrationsoberfläche zusammengestellt und über das Einfügen von einer
Zeile HTML-Code auf der betreffenden Homepage der Bibliothek eingeblendet
– diese Art der Anbindung erleichtert auch spätere dynamische Anpassungen bei
10 Eine aktuelle Erweiterung besteht in der Implementierung einer Rückantwortfunktion:
Die in Form von E-Mails eintreff enden Rückfragen zu gegebenen Antworten werden
wieder in das System importiert und mit einer Referenz auf die ursprüngliche Frage
versehen. Dieses Feature wird sich nahtlos in den jeweiligen Workfl ow einfügen.
273
den Formularfeldern und hat sich bewährt.
Wenn dann nach der Testphase von der Bibliothek ein Übergang in den Regelbetrieb
gewünscht wird, braucht das Eingabeformular nur noch für die Bibliothekskunden
frei geschaltet zu werden.
ERFAHRUNGEN AUS DEM REGELBETRIEB
Aus der einjährigen Regelbetriebserfahrung von InfoDesk kann ein sehr positives
Fazit gezogen werden: Ungeachtet der laufend stattfindenden Anpassungen und
Erweiterungen der Software wurde ein beinahe unterbrechungsfreier Betrieb
gewährleistet.11 Die Antworten kommen in aller Regel schnell – oft innerhalb
weniger Stunden – und sind ebenso wie die Anfragen von einer erfreulich hohen
Qualität. Bislang hatte der InfoDesk-Dienst auch unter keinerlei Spam zu leiden.
Die Anfragen beziehen sich nicht selten auf Spezialfälle, die nicht mit den üblichen
FAQs der Bibliotheken abgedeckt werden können, was eine schöne Bestätigung für
den Bedarf nach einem solchen Dienstleistungsangebot ist.
Die Zahl der eingehenden Fragen variiert stark in Abhängigkeit von der Größe der
betreffenden Bibliothek und der Art der Präsentation des Dienstes auf der jeweiligen
Homepage. Wird ein prominent platzierter Button „Fragen Sie uns“ auf zahlreichen
Seiten des Webauftritts eingeblendet, ist mit sehr viel mehr Anfragen zu rechnen,
als wenn der Zugang zum Frageformular nur einmal in einer untergeordneten Seite
auftaucht. Die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek
Dresden verzeichnete von Beginn an über 40 Fragen pro Woche, mit leicht
zunehmender Tendenz. Der Schwerpunkt der eingehenden Fragen lag hier, wie bei
anderen Bibliotheken auch, eindeutig bei formalen Fragen (z.B. zu den Themen
Bibliotheksbenutzung und Literaturbeschaffung).
Nutzungsausweitung und Deutsche Internetbibliothek
Der kontinuierliche Ausbau der Anzahl der nutzenden Einrichtungen ist ein
wichtiges Projektziel. Zwölf wissenschaftliche Bibliotheken setzen InfoDesk derzeit
im Regelbetrieb ein. Bundesweit haben sich zahlreiche weitere Bibliotheken für
InfoDesk interessiert und evaluieren den Dienst mit Testaccounts.
Mitte 2007 ist u.a. auch die Migration der Deutschen Internetbibliothek12 auf
die InfoDesk-Plattform geplant. Die Deutsche Internetbibliothek betreibt einen
E-Mail-Auskunftsdienst für inhaltliche Fragen sowie eine kooperativ gepflegte
11 Einzige Ausnahme: Nach dem europaweiten Stromausfall Anfang November 2006 war
auch InfoDesk für mehrere Stunden nicht zu erreichen.
12 URL: http://deutscheinternetbibliothek.de.
274
Linkdatenbank in einem Netzwerk von z.Zt. 94 öffentlichen und wissenschaftlichen
Bibliotheken. Die Integration öffentlicher und wissenschaftlicher Bibliotheken, mit
zum Teil sehr unterschiedlichen Geschäftsgängen, ist, wie oben gezeigt wurde, in
InfoDesk einfach zu realisieren.
Partizipatives Entwicklungsmodell
Die Entwicklermannschaft wurde mittlerweile vergrößert, wodurch in Zukunft die
von den Bibliotheken geäußerten Featurewünsche schneller erfüllt werden können.
Die geplante Schnittstelle zur verteilten Authentifizierung per Shibboleth13 soll noch
innerhalb des laufenden Jahres implementiert werden.
Das Team des BSZ stützt sich bei Weiterentwicklungen besonders auf die Erfahrungen
und Vorschläge der Pilotbibliotheken, die seit Projektbeginn am Konzept des Dienstes
und an der Optimierung von Funktionalität und Usability der Anwendung mitgearbeitet
haben. Auf den zweimal jährlich stattfindenden Treffen der AG Virtuelle Auskunft
findet ein Erfahrungsaustausch statt, werden Verbesserungsvorschläge gesammelt und
gemeinsam priorisiert. Dieses Feedback der Anwender wird im Projekt als integraler
Bestandteil einer partizipativen Softwareentwicklung gesehen.
FAZIT
Schon jetzt stellt sich InfoDesk jedoch als praktisches, stabiles und flexibles Tool
heraus. Aufgrund der in enger Absprache mit den Bibliotheken durchgeführten
permanenten Verbesserung der Anwendung ist abzusehen, dass der Anwenderkreis
weiter wachsen und die Kommunikation mit den Kunden der teilnehmenden
Bibliotheken durch einen anwenderfreundlichen Dienst erweitert wird.
Ein Projekt auf der Erfolgsspur!
13 URL: http://aar.vascoda.de/.
WIRTSCHAFT
276
DER WERTSCHÖPFUNGSANTEIL VON VERLAGEN AM WISSENSCHAFTLICHEN PUBLIKATIONSPROZESS
MANFRED ANTONI
Im Zuge der Diskussionen zur Urheberrechtsnovelle und den gesetzgeberischen
Schritten gegen Verlage drängt sich die Frage auf, welche Funktion und Aufgabe Verlage
heutzutage in dem Prozess der Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse einnehmen.
Am Beispiel des Wiley-VCH Verlags wird aufgezeigt, welchen Wertschöpfungsanteil
ein wissenschaftlicher Verlag im digitalen Zeitalter zur Sicherung qualitätsvoller
Veröffentlichungen sowie zur Sicherstellung einer weltweiten Verbreitung, einer
dauerhaften Sichtbarkeit und der Auffindbarkeit von Publikationen besitzt.
1. DAS UNTERNEHMEN WILEY-VCH
Von 1921 bis 1996 war der Verlag im Wesentlichen in den Händen der chemischen
und pharmazeutischen wissenschaftlichen Gesellschaften in Deutschland. Seit
1996 ist der Verlag Teil der weltweit agierenden Verlagsgruppe John Wiley &
Sons, Inc., die 2007 ihr 200-jähriges Verlagsjubiläum feiert. Der Wiley-VCH
Verlag unterhält Standorte in Weinheim, Berlin, Darmstadt und Zürich. Im
Geschäftsjahr 2006 publizierte der Verlag insgesamt 131 Zeitschriften in 1.208
Heften mit nahezu 158.000 Seiten. Es sind im gleichen Zeitraum 334 neue Bücher
erschienen und 1.588 Bücher lieferbar. Der Umsatz des Verlages setzt sich zu 56%
aus Zeitschriftensubskriptionen und Lizenzen, zu 25% aus Buchverkäufen und zu
19% aus Anzeigeneinkünften zusammen.
Der Verlag beschäftigt rund 410 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, davon sind etwa
85% in den Redaktionen und Lektoraten sowie im Marketing und Verkauf tätig.
Lediglich 15% der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind mit administrativen oder
ausschließlich leitenden Tätigkeiten betraut. Dies vermittelt einen ersten Eindruck
über die Schwerpunkte der Arbeit von wissenschaftlichen Verlagen.
2. DIE AUFGABEN DER VERLAGE IM DIGITALEN ZEITALTER
Seit 1997 bietet Wiley-VCH Inhalte auch auf digitalem Wege an. Seither hat sich
die Verbreitungsgeschwindigkeit ebenso erhöht wie die Verbreitung selbst. Niemals
277
zuvor konnten mehr Menschen auf unsere Inhalte zugreifen – und dies gilt weltweit.
Grundsätzlich hat sich an den Aufgabenstellungen von Verlagen nichts geändert,
im Gegenteil: Es sind neue Aufgaben dazu gekommen. Neben kontinuierlichen
Aktualisierungen unserer Internet-Plattform Wiley InterScience muss insbesondere
die Authentizität der Beiträge gewährleistet werden. Nur die Inhalte, die unter Wiley
InterScience veröffentlicht werden, sind die Inhalte, die der Rechteinhaber – der
Autor – uns als Verlag zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat.
Autoren geben uns die Verwertungsrechte ihrer Inhalte mit dem Wissen, dass
diese Inhalte durch Begutachtungsprozesse und wissenschaftliches Redigieren der
Manuskripte (Vollständigkeit, Logik, Stimmigkeit, Klarheit, Sprache, Struktur,
Indexierung usw.) sowie durch die digitale Aufbereitung einen deutlichen
Wertzuwachs erfahren, und folglich für den Autor und Nutzer Mehrwert stiften.
Mittels der Selektion von Inhalten sichern wir Qualität und schützen das geistige
Eigentum unserer Autoren. Darüber hinaus sorgen wir mit der weltweiten Verbreitung
unserer Publikationen für die Sichtbarkeit sowohl der Inhalte als auch der Autoren
selbst. Die Retrodigitalisierung unserer Inhalte umfasst in der Zwischenzeit u.a.
die Physik- und Astronomie-Backfiles von 1799 bis 1999 sowie die Chemistry
Backfile Collection von 1831 bis 1999. Vergangene Inhalte werden von uns verfügbar
gemacht und tragen zur Bewahrung des kulturellen Erbes bei.
Aber auch neue Inhalte entstehen durch die Gründung von Zeitschriften – in den
letzten fünf Jahren haben wir mehr als 20 neue Zeitschriften gegründet, zum Teil
durch Zusammenführung existierender Zeitschriften. Dabei wurden 16 existierende
Zeitschriften eingestellt. Alle diese neuen Zeitschriften haben ihren Platz im
Wissenschaftsmarkt gefunden. Wie alle unsere Zeitschriften erleben auch diese
neuen Zeitschriften eine kontinuierlich wachsende Zahl an Manuskripteingängen.
3. DER PROZESS DES ELEKTRONISCHEN PUBLIZIERENS
Wie vergleichsweise einfach sich die Welt des Publizierens im Print-Zeitalter doch
gestaltete: Ein Autor schickt einen wissenschaftlichen Beitrag, unser Redakteur
überprüft ihn auf Vollständigkeit und Sinnhaftigkeit, schickt zwei ausgesuchten
Gutachtern das Manuskript zu, bekommt dieses mit einem Kommentar zurück,
bearbeitet gemeinsam mit dem Autor die Anmerkungen der Gutachter im Falle der
Annahme des Manuskripts für die Zeitschrift, gibt das Manuskript in die Herstellung,
die Herstellung sorgt dafür, dass der Beitrag in der korrekten Form ins richtige Heft
der Zeitschrift kommt. Dieser hier verkürzt dargestellte Prozess ist im digitalen
Zeitalter im Wesentlichen der gleiche. Hinzu kommen aber Funktionalitäten, die
278
heute im elektronischen Publikationsprozess zum Standard gehören (auch hier kann
nur eine Auswahl aufgezeigt werden). Die Autoren erwarten ein nutzerfreundliches
Übermittlungstool für die Manuskripte (bei uns manuscriptXpress und MsCentral).
Die Reviewer erwarten ebenfalls leicht zu bedienende und leicht zu erlernende
Bearbeitungsinstrumente. Um dem suchenden Wissenschaftler den höchstmöglichen
Komfort zu bieten, werden im Bearbeitungs- und Produktionsprozess die Inhalte im
Sinne einer DTD (document type definition) strukturiert; es werden DOIs (digital
object identifier) angebracht, die CrossRef und EarlyView ermöglichen. Zudem
werden die Möglichkeiten des sog. forward linking oder citation tracking geschaffen;
mit Alerts erhalten registrierte Wissenschaftler elektronische Mitteilungen über
Inhalte, die in ihrem angegebenen Gebiet aktuell erschienen sind. Schließlich sorgen
E-Newsletter dafür, dass unsere Nutzer über Such- und Nutzungsfunktionalitäten
aktuell informiert werden.
Dies alles ist nur möglich, da Verlage in die software-technische Entwicklung
Millionenbeträge investiert haben. Naturwissenschaftliche Verlage führen
diese Entwicklungen seit Jahren vor allen anderen Verlagen an. Mit all diesen
Nutzungsmöglichkeiten sorgen Verlage dafür, dass immer mehr Menschen zu
immer geringeren Preisen die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung nutzen
können. Verlage sind Transaktionskostenreduzierer für den wissenschaftlichen
Erkenntnisgewinnungs- und Verbreitungsprozess. Diese Funktion haben Verlage
bereits in der Vergangenheit wahrgenommen; heute übernehmen sie die Funktion
im Zuge der Bereitstellung digitaler Inhalte im Internet – zumeist parallel mit
dem immer noch geforderten gedruckten Exemplar für Archivierungszwecke.
Das bedeutet, dass Verlage zweispurig arbeiten und damit auch die Kosten der
Zweispurigkeit tragen. Wer heute noch glaubt, dass das digitale Verbreiten von
wissenschaftlichen Inhalten nur wenig kostet, der irrt völlig. Verlage tragen das
Kostenrisiko für zwei unterschiedliche Distributionswege, beim Print-Produkt
sind es neben den Personalkosten die Handlings- und Versandkosten, bei der
digitalen Distribution sind es zusätzlich die Software-Kosten für eine sichere und
schnelle Übermittlung der Artikel sowie deren Zustellung und Übermittlung an
den Nutzer und dessen Dokumentenschutz. In jedem Falle sind diese Kosten
nicht zu vernachlässigen, auch wenn dies gelegentlich proklamiert wird. Selbst
Protagonisten des Open Access (OA) haben inzwischen eingesehen, dass durch
OA der Publikationsprozess nicht kostengünstiger zu bewerkstelligen ist. Immerhin
eine Erkenntnis, die für die verschiedenen Versuchen zum OA angesichts der in der
Zwischenzeit angefallenen Millionenverluste zu spät kommt.
279
4. ANMERKUNGEN ZUR PREISGESTALTUNG VON ZEITSCHRIFTEN
Der entscheidende Punkt der Auseinandersetzung zwischen Bibliothekaren und
Verlagen (Wissenschaftler halten sich in dieser Diskussion vornehm zurück und
weichen auf OA aus, schon, um sich nicht in Diskussionen zu begeben, die von
ihnen massive Einschränkungen verlangen könnten) sind die Preise. Hier treffen
naturgemäß antagonistische Interessen aufeinander.
Schaut man sich die im Zuge der OA-Bewegung durchgeführten Kalkulationen
an, kann man feststellen, dass sich die Preise für die Publikation eines Artikels in
einer internationalen Spitzenzeitschrift durchaus im Bereich von € 2.500 bis zu €
9.000 bewegen. Dies sind zunächst reine Kostenkalkulationen. Rechnet man den
Ressourcenverbrauch von Zeitschriften auf einen Artikel zurück, kommt man zu
Kosten in vergleichbaren Größenordnungen.
Grundsätzlich kann man sagen, dass in die Forschung in den letzten Jahrzehnten
immer mehr Ressourcen gesteckt wurden. Sich zu wundern, dass aus dieser Situation
immer mehr Forschungsergebnisse generiert werden, zeugt von einer gewissen
Weltfremdheit. Die entsprechende Anpassung der Etats der Bibliotheken hat man in
diesem Zuge schlicht vergessen. Schaut man sich die Referenzzahlen für 13 unserer
Zeitschriften im Chemiebereich an, in denen hausinterne Redaktionen tätig sind,
dann ergeben sich hieraus einige Konsequenzen:
2001 2006
Eingereichte Manuskripte 5.500 16.000
Veröffentlichte Seiten 35.000 65.000
Veröffentlichte Artikel 3.000 6.000
Hefte 280 420
Downloads 3,5m 6,1m
Auf die Verdreifachung der eingereichten Manuskripte folgte eine massive Erhöhung
der Ablehnungsquote von 55% auf 62,5%. 2001 mussten 5.500 Artikel begutachtet
und bearbeitet werden, 2006 waren es hingegen 16.000 Artikel. Dieser Entwicklung
konnte insbesondere nur dadurch Schritt gehalten werden, weil wir massiv in
280
Funktionalitäten investierten, die den Workflow der Manuskripteingänge und des
Bearbeitens von Artikeln erheblich beschleunigten.
Schaut man sich die letzten Jahre an und bildet Wachstumsraten, dann stellt man
fest, dass die durchschnittliche Erhöhung der Anzahl
– der Ausgaben p.a. rund 4%
– der Artikel p.a. rund 8%
– der Seiten p.a. rund 10%
betrug (wiederum für das Beispiel der 13 Zeitschriften aus dem Bereich Chemie). In
den letzten Jahren haben wir uns, wie alle anderen STM-Verlage auch, bemüht, die
Erhöhung der Preise auf das niedrigste mögliche Maß zu begrenzen. So haben wir
für das Kalenderjahr 2006 in unserem Katalog durchschnittliche Preiserhöhungen
von nicht mehr als 9,9% angezeigt. Davon kommen aber deutlich weniger als 6%
tatsächlich bei uns an.
Woran liegt dies? Nicht in jedem Land dieser Erde können wir unsere Preise überhaupt
realisieren. In Ländern der Dritten Welt erzielen wir nur einen Bruchteil davon,
was die wohlhabenden Länder bezahlen können. Unser Modell der mehrjährigen
Verträge enthält Preisbegrenzungen, die das Preiswachstum bremsen. Abbestellungen
aufgrund mangelnder Mittel tun ein Übriges. Gleichzeitig investieren wir immer
mehr in neue Zeitschriften, erhalten immer mehr Zuschriften, bieten immer mehr
Funktionalitäten online an, erhöhen den Servicegrad für unsere Nutzer, müssen
unsere Angebote an das Web 2.0 anpassen, fahren immer noch zweigleisig, müssen
gegen die Enteignung im Rahmen von Gesetzgebungsverfahren (s. UrhG-E 1. und
2. Korb) sowie im Rahmen der Dokumentenlieferungen (s. subito) kämpfen, und
sehen uns darüber hinaus mit einer immer schlechteren Zahlungsmoral konfrontiert.
Die Aushöhlung der wirtschaftlichen Basis insbesondere der STM-Verlage schreitet
voran. Jeder einzelne Artikel kann heute von mehr Menschen als jemals zuvor genutzt
werden, jeder einzelne Artikel ist heute bei weitaus geringeren Preisen zu nutzen
als jemals zuvor. Die Verlage organisieren die massenhafte Verbreitung des Wissens
unter den Generationen. Dafür sollte (fast) kein Preis zu hoch sein!
281
5. ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
Im gegrenzten Rahmen dieses Beitrages können naturgemäß nur wenige Aspekte
des Anteils der Verlage am wissenschaftlichen Wertschöpfungsprozess diskutiert
werden. In der Diskussion mit Wissenschaftlern, Wissenschaftsmanagern und
Bibliothekaren stößt man häufig auf völlig falsche Vorstellungen von der Arbeit in
den Verlagen. Die Hoffnung, ein wenig Einblick über Zahlen und Fakten vermittelt
zu haben und die Diskussion damit konstruktiv voranzubringen, bleibt immer!
282
LIZENZEN.PARASITEN DES BIBLIOTHEKSETATS
ADALBERT KIRCHGÄSSNER
Es gibt kein Leben ohne Parasiten. Waschen Sie sich
nicht zu oft die Hände, sonst werden Sie krank.
Michel Serres
Wissenschaftliche Verlage und Bibliotheken sind Symbionten: „Symbiose (griechisch
symbioun [Verb] = zusammenleben, Symbiosis = das Zusammenleben) bezeichnet
das Zusammenleben von Organismen verschiedener Arten. Das Zusammenleben
kann für einen oder mehrere Partner nützlich sein.“1 Verlage produzieren
wissenschaftliche Literatur, die die wissenschaftlichen Bibliotheken beschaffen und
zur Nutzung bereitstellen. Bei der Symbiose ist der „Mutualismus (Zusammenleben
mit wechselseitigem Nutzen) nur eine spezifische Form der Symbiose, welche von
Mutualismus über Neutralismus bis hin zu Parasitismus reichen kann. Die Vorstellung
von Symbiosen als ein Leben in Harmonie zum wechselseitigen Nutzen ist völlig
überholt. Unbestritten ist, dass Symbiosen Vorteile für beide Partner beinhalten
können. Tatsächlich erfordert jede Symbiose aber auch strikte Kontrolle und
Überwachung des Partners, denn das Ausnutzen einer Leistung ohne Gegenleistung
durch Täuschen ist evolutionär profitabler und weit verbreitet.“2 Die Symbiose von
Bibliotheken und Verlagen hat weitreichende finanzielle Konsequenzen für beide
Seiten. Und die finanziellen Folgen dieser Symbiose für die Bibliotheken werden in
diesem Beitrag analysiert.
FORMEN DER LITERATURBESCHAFFUNG
Bibliotheken beschaffen Literatur und Information in unterschiedlichen Formen.
Diese sind durch die Dauer des Bezugsvorganges sowie die juristische und technische
Form der Beschaffung bestimmt. Bibliotheken kaufen Bücher, die einzeln bestellt
und geliefert werden. Oder sie bestellen zur Fortsetzung; dann werden regelmäßig
oder unregelmäßig Bände oder Hefte solange geliefert, bis die Lieferung vollständig
erfolgte, weil das bestellte Werk abgeschlossen ist, oder bis die Bibliothek abbestellt,
weil sie den Bezug einer Zeitschrift oder Serie nicht fortsetzen will.
1 Vgl. Eintrag „Symbiose“. In: Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Symbiose
(12.1.2007).
2 Ebd.
283
Bei den Einzelbestellungen kann die Bibliothek durch Nichtbestellen weiterer
Einzeltitel steuern, während sie bei Fortsetzungen und Zeitschriften durch
Abbestellen steuern muss. Da Bibliotheken Werke und Zeitschriften möglichst
vollständig besitzen und den Benutzern anbieten wollen, wird bei knappen Mitteln
eher bei der Einzeltitelbeschaffung gespart als dass mehrbändige Werke oder
laufende Fortsetzungen abgebrochen oder Zeitschriften abbestellt werden.
Früher haben die Bibliotheken die Materialien gekauft. Die gekaufte Literatur
ging in das Eigentum der Bibliothek über, war Bestand und stand langfristig der
Nutzung zur Verfügung. Seit Literatur online angeboten wird, wird diese Literatur
häufiger als Lizenz angeboten. Hier bezahlt die Bibliothek für die Möglichkeit,
online zugängliche Literatur befristet ihren Benutzern zur Nutzung zur Verfügung
stellen zu können. Es wird Information zur Nutzung bereitgestellt, die Nutzer
werden mit Information versorgt, und die Bibliothek muss die Bereitstellung für
jede Nutzungsperiode aufs Neue bezahlen. Die Bibliothek erwirbt keinen Bestand,
der auf Dauer zur Verfügung steht.
PREISSTEIGERUNGEN UND ETATSTEIGERUNGEN
Im langjährigen Mittel sind die Preise für wissenschaftliche Literatur stärker
angestiegen als die Erwerbungsetats der Bibliotheken. Dies reduziert die
Kaufmöglichkeiten der Bibliotheken von Jahr zu Jahr, wenn die steigenden Preise
nicht durch zusätzliche Mittel aufgefangen werden können. Wenn die Kosten für
Zeitschriften und Fortsetzungen stärker ansteigen als die Erwerbungsmittel, wächst
deren Anteil an den Ausgaben und es können (relativ dazu) weniger Monographien
gekauft werden. Will die Bibliothek längerfristig die Anteile von Monographien und
Zeitschriften am Gesamtzugang stabil halten, muss sie – wenn die Preise schneller
ansteigen als der Etat – regelmäßig Zeitschriften und Fortsetzungen abbestellen.
Diese Wirkung wurde in den neunziger Jahren massiv verstärkt. Die Zeitschriften haben
Monopolcharakter, da die Lektüre einer Fachzeitschrift nur in engen Grenzen durch
die Lektüre einer anderen Fachzeitschrift ersetzt werden kann. Und die Zeitschriften
werden im Gegensatz zu Monographien, die einzeln bestellt werden, vorausbezahlt.
In den neunziger Jahren nutzten die großen wissenschaftlichen Verlage besonders
im Bereich Naturwissenschaften, Technik und Medizin diesen Monopolcharakter
der Zeitschriften, indem sie die Preise Jahr um Jahr sehr viel stärker anhoben als die
Kostensteigerung dies erforderte. Dies ist auch daran abzulesen, dass in diesen Jahren
die Gewinne dieser Verlage stark angestiegen sind und bis zu fünfunddreißig Prozent
284
Umsatzrendite erwirtschaftet werden konnte.3 Für die Bibliotheken ergab sich vor
allem bei den Zeitschriften dadurch folgende Situation:
– Die Preissteigerung war deutlich höher als die Kostensteigerung.
– Die Kostensteigerung war deutlich höher als der allgemeine Preisindex.
– Der Preisindex war deutlich höher als die jährliche Etatsteigerung.
In dieser Zeit kamen zusätzlich zu den gedruckten Medien die elektronischen
Medien auf den Markt. Diese ersetzten die gedruckten Medien nur zum Teil, und
wenn sie sie ersetzten waren sie meist teurer als die Papierausgaben. Oft mussten
dann beide Ausgaben gekauft werden. Und die elektronischen Medien konnten oft
nicht gekauft werden, sondern wurden nur als Lizenz angeboten. Dies bedeutet, die
Bibliothek muss für diese Inhalte, will sie diese ihren Benutzern auf Dauer anbieten,
Jahr für Jahr aufs Neue bezahlen. Diese Zahlungen steigen jährlich (schneller als
der Etat) und wenn die Bibliothek die Lizenz nicht weiterbezieht, kann oftmals der
bisher bereitgestellte Bestand nicht mehr genutzt werden.
DAS MODELL
Um diesen Zusammenhang darzustellen wird hier ein vereinfachtes Modell vorgestellt.
Die Werte sind so gewählt, dass der Effekt innerhalb von zehn Perioden dargestellt
werden kann. Wenn die Preissteigerung geringer oder höher ist, dauert es nur länger oder
kürzer, bis das abgeleitete Ergebnis eintritt – aber das Ergebnis ist immer dasselbe.
Betrag in € Anzahl Bände Durchschnitts- Preis-
bzw. Titel preis in € steigerung
Monographien 300.000 6.000 50 2%
Fortsetzungen 100.000 1.000 100 3%
Zeitschriften 600.000 3.000 200 6%
Gesamt 1.000.000 10.000 100 4,5%
Tabelle : Modell Ausgangsdaten
3 Vgl. Reed Elsevier Geschäftsbericht für das Jahr 2003, hier: Operation and Financial
Review, Sience and Medical: URL: http://www.reedelsevier.com/staging/ReviewRe-
port/e3.html. Hier wird berichtet, dass die Umsatzrendite in diesem Bereich sich auf
33,81% beläuft. Im Geschäftsbericht 2004 wird dieser Bereich nicht mehr separat
ausgewiesen. – In der Klageerwiderung zur Subitoklage auf Seite 44 wird ausgeführt,
dass der Gewinn von Wiley seit 1994 jährlich um 12 Prozent, der Gewinn je Aktie in
dieser Zeit um ca. 22 Prozent stieg. Dies lässt darauf schließen, dass die Umsatzrendite
sich in ähnlicher Größenordnung wie bei Elsevier bewegt.
285
Für die weiteren Berechnungen wird angenommen, dass die Preissteigerung gleich
der Differenz zwischen der Marktpreissteigerung und der Etatsteigerung ist. (Wenn
die Preise um fünf Prozent steigen und der Etat um drei Prozent, hat das die gleiche
Wirkung, wie wenn die Preise um zwei Prozent steigen und der Etat gleichbleibt.)
Und es wird ein Zeitraum von zehn Perioden (= Jahren) betrachtet. Ausgehend von
diesen Daten werden drei Entwicklungen untersucht:
– Die Anteile von Monographien, Fortsetzungen und Zeitschriften am
Bestandszugang sollen gleich bleiben.
– Die Zeitschriften (und die Fortsetzungen) sollen gehalten, also möglichst nicht
abbestellt werden.
– Ein Teil der Zeitschriften wird in ein Konsortium eingebracht und kann nicht
abbestellt werden.
286
DAS AUSGANGSMODELL
Werden die laufenden Verpflichtungen
für Zeitschriften und Fortsetzungen
regelmäßig in dem Umfang gekürzt,
wie die Kaufkraft des Erwerbungsetats
sinkt, sinkt der Gesamtzugang,
die Anteile des Bandzugangs von
Monographien, Fortsetzungen und
Zeitschriften bleiben gleich, aber
die Ausgaben für Zeitschriften
wachsen auf Kosten der Ausgaben für
Monographien und Fortsetzungen.
DAS ZEITSCHRIFTENMODELL
Ausgehend von den gleichen An-
fangswerten wird errechnet, wie sich
Zugang und Ausgaben verändern,
wenn die Bibliothek mit erster
Priorität die Zeitschriften halten,
mit zweiter Priorität die laufenden
Fortsetzungen weiterführen will
und dafür die Monographien ent-
sprechend reduziert.
Bis zur siebten Periode können Zeit-
schriften und Fortsetzungen gehalten
werden, während die Monographien-
käufe kontinuierlich reduziert werden,
bis sie im Lauf der siebten Periode
ganz eingestellt werden müssen. Um
die Zeitschriften zu halten, müssen
ab diesem Zeitpunkt die Käufe der
Fortsetzungen reduziert werden, bis
in der zehnten Periode nur noch
Zeitschriften gekauft werden können.
(Ab der elften Periode müssten dann
die Zeitschriften reduziert werden.)
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Jahr
0
50
100
150
200
250
300
350
400
Gesamt
Mono-graphien
Fort-setzungen
Zeit-schriften
Abbil dung 1 : D urchschnittspreise im G rundmodell
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Jahr
0
200
400
600
800
1.000
1.200
Gesamt
Mono-graphien
Fort-setzungen
Zeit-schriften
Abbil dung 2 : Ausgabenentwic klung im G rundmodell
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Jahr
0
2.000
4.000
6.000
8.000
10.000
12.000
Gesamt
Mono-graphien
Fort-setzungen
Zeit-schriften
Abbil dung 3 : Zugangsentwicklung i m Gr undmodell
287
Die Durchschnittspreise für Mono-
graphien, Fortsetzungen und Zeit-
schriften entwickeln sich in diesem
Modell genauso wie im Grundmodell,
aber der Durchschnittspreis für
alle Käufe steigt stärker an, da der
Anteil der Zeitschriften an der
gesamten Beschaffung ansteigt, bis
der Durchschnittspreis der gesamten
Beschaffung dem Durchschnittspreis
der Zeitschriften gleich ist.
Die Universität Konstanz hat aus
dieser Überlegung heraus schon
Mitte der achtziger Jahre entschieden,
dass in keinem Fach die laufenden
Kosten für Fortsetzungen und
Zeitschriften über siebzig Prozent
der Literaturkosten in den Geistes-
und Sozialwissenschaften und über
fünfundachtzig Prozent in den
Naturwissenschaften steigen dürfen.
Deshalb muss seitdem in allen
Fächern in regelmäßigen Abständen
abbestellt werden, um diese
Grenzen einzuhalten. Damit konnte
sichergestellt werden, dass auch bei
schrumpfenden Kaufmöglichkeiten
in allen Fächern weiterhin auch
Monographien beschafft werden
konnten.
KONSORTIALMODELL
Ausgehend vom Grundmodell wird
angenommen, dass die Bibliothek
entscheidet, an einem Konsortium
teilzunehmen. Es wird angenommen,
dass
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Jahr
(200)
0
200
400
600
800
1.000
1.200
Gesamt
Mono-graphien
Fort-setzungen
Zeit-schriften
Abbil dung 4 : Ausgabenentwic klung im Zeitschri ftenmodell
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Jahr
(2.000)
0
2.000
4.000
6.000
8.000
10.000
12.000
Gesamt
Mono-graphien
Fort-setzungen
Zeit-schriften
Abbil dung 5 : Zugangsentwicklung i m Zeitschr iftenmodell
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Jahr
0
50
100
150
200
250
300
350
400
Gesamt
Mono-graphien
Fort-setzungen
Zeit-schriften
Abbil dung 6 : D urchschnittspreisentwicklung im Zeitschr iftenmodell
288
– ein Drittel der Zeitschriften durch
den Konsortialvertrag gebunden
wird,
– für das Konsortium ein Aufschlag
von zehn Prozent auf die Abon-
nementspreise zu bezahlen ist,
– für die vom Konsortium
betroffenen Zeitschriften ein
Abbestellverbot gilt und
– die Preise im Konsortium
abweichend von der bisherigen
Preissteigerungsannahme um
zehn statt sechs Prozent steigen.
Der Cross-Access wird nicht berück-
sichtigt, da die zusätzlichen Titel zwar
ein zusätzlicher Bestand sind, aber die
Ursächlichkeit und Wirkungsweise
durch die zusätzlichen Titel nicht
verändert wird. Zudem sind die
zusätzlichen Titel vielfach nicht
die für die Nutzer der Bibliothek
interessantesten, da diese im Gegen-
satz zu den noch bezogenen bereits
abbestellt oder nie bestellt waren.
Um das Konsortium zu finanzieren,
müssen in den folgenden Perioden
Zeitschriften abbestellt werden.
Dabei werden auch Zeitschriften
abbestellt, die wichtiger als einzelne
zum Konsortium gehörende oder
durch das Konsortium als Cross-
Access-Titel zugängliche Titel sind,
da die konsortialen Zeitschriften
nicht abbestellt werden können. Da
weniger wichtige Zeitschriften im
Konsortium und die Cross-Access-
Zeitschriften nicht abbestellt werden
können aber wichtigere Titel, die
nicht zum Konsortium gehören
abbestellt werden, entsteht ein
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Jahr
0
200
400
600
800
1.000
1.200
Gesamt
Mono-graphien
Fort-setzungen
Zeit-schriften
E-Zeit-schriften
Abbil dung 7 : Ausgabenentwic klung im K onsorti almodel l
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Jahr
0
5.000
10.000
15.000
Gesamt
Mono-graphien
Fort-setzungen
Zeit-schriften
E-Zeit-schriften
Abbil dung 8: Zugangsentwic klung im K onsortial model l
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Jahr
0
500
1.000
1.500
Gesamt
Mono-graphien
Fort-setzungen
Zeit-schriften
E-Zeit-schriften
Abbil dung 9 : D urchschnittspreisentwicklung im K onsor tialmodell
289
Nutzenverlust für die Benutzer der Bibliothek, der größer ist, als die Reduzierung
der Titelanzahl anzeigt. Der Gesamtnutzen wäre höher, wenn die Bibliothek über
Abbestellungen nach der Wichtigkeit der Titel für die Nutzer entscheiden könnte.
Im Modell geschieht nun folgendes:
– Bereits in der fünften Periode können keine Monographien mehr gekauft
werden.
– Ab der sechsten Periode können keine Fortsetzungen mehr gekauft werden.
– Ab der siebten Periode müssen die Zeitschriften, die nicht im Konsortium
gebunden sind, reduziert werden.
– In der neunten Periode werden die gesamten Mittel benötigt, um das Konsortium
zu finanzieren, und
– in der zehnten Periode ist die Teilnahme am Konsortium nicht mehr finanzierbar,
auch wenn sonst nichts anderes mehr eingekauft wird. Und die in den neun
vorhergehenden Perioden genutzten elektronische Zeitschriftenbestände sind
nicht mehr nutzbar, wenn nicht ein Archivrecht vereinbart war.
Die Durchschnittspreise für Monographien, Fortsetzungen und die nicht-konsortialen
Zeitschriften entwickeln sich in der gleichen Weise wie in den beiden vorher
behandelten Modellen. Der Durchschnittspreis für die konsortialen Zeitschriften
steigt entsprechend stärker an. Die Kosten für das Konsortium erfordern von Periode
zu Periode einen immer größeren Anteil am Gesamtetat, bis sie in der neunten
Periode den gesamten Etat aufbrauchen. Deshalb dominiert der Durchschnittspreis
der konsortialen Zeitschriften den Durchschnittspreis des gesamten Einkaufes,
solange die Bibliothek am Konsortium teilnehmen kann.
FIXKOSTEN IM BIBLIOTHEKSETAT
In jedem Bibliotheksetat gibt es Kostenanteile, die von der Bibliothek nur in Grenzen
gesteuert werden können. Alle Bezüge, die längerlaufende Verträge erfordern, haben
zur Folge, dass die Bibliothek nicht kurzfristig darüber entscheiden kann, ob sie
die damit verbundenen Beschaffungen tätigen will oder nicht. Lieferungen aus
Subscriptionen mit Gesamtabnahmeverpflichtungen müssen abgenommen werden,
auch wenn die Bestellungen schon Jahre zurückliegen und die Verhältnisse sich
seitdem grundlegend geändert haben. Zeitschriftenabonnements können nur für
das Folgejahr mit längerem Vorlauf gekündigt werden – sofern sie nicht durch
einen länger laufenden Gesamtvertrag unter Abbestellverbot stehen. Bei diesen
Abnahmeverpflichtungen gibt es auch nur sehr beschränkt die Möglichkeit, mit
der Begründung wegfallender Haushaltsmittel den Bezug vorzeitig zu beenden.
Da die Preise für Zeitschriften und Fortsetzungen meist schneller steigen als die
290
Erwerbungsetats, verschieben sich die Anteile der Ausgaben für Dauerbezüge und
Einzelkäufe in den Etats jedes Jahr. Je größer der „Fixkostenanteil“, d.h. der Anteil der
Dauerverpflichtungen aus langlaufenden Bezugsverträgen am Gesamtetat ist, desto
schwieriger wird es für die Bibliothek, auf Veränderungen in den Bezugsbedingungen
bei Etatkürzungen oder Änderung der Nutzungsanforderungen zu reagieren.
Datenbanken, die die herkömmlichen Bibliographien und Nachschlagewerke
zunehmend ersetzen, sind im Verhältnis zu den gesamten Literaturkosten der
einzelnen Fächer sehr viel teurer als es früher die Bibliographien und Lexikas
waren. Da diese Datenbanken meist Monopolcharakter haben und die Verlage diese
Monopolstellung nutzen, um die Preise stärker als die Kosten anzuheben, steigen
ihre Preise überproportional an und verdrängen zunehmend die Primärliteratur.
– So kosten die beiden Datenbanken Scifinder und Beilstein inzwischen bereits
mehr als 25% der Mittel, die für Literatur und Information für das Fach Chemie
zur Verfügung stehen, und dies mit steigender Tendenz. Da der Preis für diese
Datenbanken jährlich um (mindestens) fünf Prozent steigt, der Etat aber langfristig
stagniert und in der Vergangenheit um höchstens zwei Prozent gestiegen ist, ist
absehbar, wann nur noch diese Datenbanken gekauft werden können (in etwa
15 Jahren kosten die beiden Datenbanken etwa die Hälfte und in dreißig Jahren
den gesamten Etat des Faches). In dieser Zeit wird die Möglichkeit, erforderliche
Information, die nicht in den beiden Datenbanken mitgeliefert werden kann, zu
beschaffen, von Jahr zu Jahr geringer.
In gleicher Weise wirken Zeitschriften, die nur als Titelgesamtheit gekauft
werden können, oder wenn die elektronischen (Parallel-)Titel nur bezogen werden
können, wenn der Titelbestand einschließlich der jährlichen Preissteigerung
auf Dauer bezahlt werden muss. Da nur große Verlage diese monopolistischen
Knebelverträge durchsetzen können, hat dies zur Folge, dass die kleineren
Verlage – unabhängig von der Qualität ihrer Zeitschriften – ständig Anteile am
Markt für wissenschaftliche Information verlieren. Die Großverlage nutzen die
monopolistische Struktur wissenschaftlicher Information, um unabhängig von den
tatsächlichen Bedürfnissen der Wissenschaft und der Qualität ihrer Zeitschriften
im Verhältnis zu den Zeitschriften der Wettbewerber steigende Anteile der Etats
für wissenschaftliche Information zu vereinnahmen. Sie monopolisieren über ihre
Marktmacht die Verfügung über die wissenschaftliche Information. In der Folge
wird die Meinungsvielfalt verringert und die Informationsmöglichkeiten werden
eingeschränkt.
291
ALTERNATIVEN FÜR DIE BIBLIOTHEKEN
Die Bibliotheken haben nur beschränkte Möglichkeiten, dem entgegenzusteuern.
Eine Möglichkeit ist, grundsätzlich keine Zeitschriftenbündel, sondern nur Einzeltitel
einzukaufen. Dies kostet meist höhere Aufschläge für die elektronischen Ausgaben.
Da bei Einzeltitelkauf aber eine Anpassung an den Bedarf der Wissenschaft vor
Ort leichter möglich ist als beim Paketkauf, kann weiterhin von Jahr zu Jahr die
beschaffte Information an den Bedarf angepasst werden. Je nachdem wie stark
sich die Interessen in der Universität (z.B. bei Neuberufungen, Gründung oder
Auflösung einer Fachrichtung u.ä.) verändern, kann schon in wenigen Jahren trotz
einer geringeren Gesamtmenge an Information eine bessere Versorgung des Bedarfs
gegeben sein im Gegensatz zu „kosten“günstigen Paketkäufen, die zwar im Anfang
eine größere Titelvielfalt bieten, aber nur geringere Anpassungsmöglichkeiten an
die Bedarfsveränderungen erlauben.
Da Zeitschriften vielfach der Dokumentation aber nur punktuell der aktuellen
Information dienen,4 kann überlegt werden, ob größere Anteile der Zeitschriften
nicht mehr fortlaufend bezogen werden und der Wissenschaft stattdessen die
einzelnen Artikel über Artikellieferdienste beschafft werden. Dann gewinnt die
Bibliothek die notwendige Handlungsfreiheit, die Materialien und Informationen
zu beschaffen, die am dringlichsten gebraucht werden.
Eine weitere Möglichkeit ist, immer dann, wenn absehbar ist, dass eine vertragliche
Festschreibung von Titelpaketen unvermeidlich sein wird, im Vorfeld, d.h. ein
bis zwei Jahre vorher die gesamte betroffene Verlagsproduktion zu kündigen und
den längerlaufenden Vertrag in entsprechendem zeitlichen Abstand auf einer
sehr viel geringeren als der bisherigen Titelbasis abzuschließen. Dies erfordert
aber in mehrjährigem Abstand immer wieder aus den Verträgen auszusteigen, die
entsprechenden Titel für ein oder zwei Jahre nicht zu beziehen, und dann wieder mit
einer neuen Titelzusammenstellung einen längerlaufenden Vertrag abzuschließen.
Damit gewinnt die Bibliothek ein Stück Handlungsfreiheit zurück, muss aber
Unterbrechungen in der Bereitstellung vor allem der Zeitschriftenliteratur in Kauf
nehmen.
4 Vgl. Adalbert Kirchgäßner: 13 Jahre Zeitschriftenabbestellungen an der Universität
Konstanz. In: Das Zeitschriftenparadoxon – oder: Wer verfügt über die wissenschaft-
liche Information. Hg. von Werner Stephan. Stuttgart 2004; Abbildungen 9 und 10.
Siehe auch URL: http://www.ub.uni-konstanz.de/kops/volltexte/2003/1036/ Die
Nutzungskurven von 2004 enthalten erheblich mehr Zeitschriften als diejenigen von
2003, haben aber die gleiche Struktur.
292
Die Bibliotheken sollten darauf hinarbeiten – und einige Ansätze in dieser
Richtung gibt es schon – Konsortialverträge als Rahmenverträge zu gestalten, die
in Abhängigkeit von Umsatz und Titelanzahl Konditionsverbesserungen bieten, aber
den Bibliotheken Handlungsmöglichkeiten belassen. So könnten Abbestellkorridore
vereinbart werden, die bei Überschreiten gewisser Abbestellmengen die Konditionen
des Gesamtvertrages verschlechtern aber nicht erfordern, den Gesamtvertrag zu
kündigen. Ebenso sollte dann eine Umsatzausweitung mit einer Verbesserung
der Konditionen verbunden sein. Die Langfristbindung der Verträge mit dem
bisherigen „alles oder nichts“ ist auf Dauer keine Option zur bedarfsgerechten
Informationsversorgung.
Um Bewegung in den Markt zu bekommen, sollten die Bibliotheken die Open-
Access-Publikationsmöglichkeiten fördern. Dies können sie nur in Grenzen tun, vor
allem durch Werbung bei den Autoren. Hilfreich sind hierbei die inzwischen belegten
Gegebenheiten, dass Open-Access-veröffentlichte Beiträge höhere Zitationsraten
haben als die Veröffentlichungen vergleichbarer Kaufzeitschriften, und dass die
Abschöpfung von Monopolrenditen bei diesen Publikationsformen geringer ist als
bei Kaufzeitschriften.5
SYMBIOSE: PARASITISMUS ODER ALLIANZ?
Die Symbiose von Verlagen und Bibliotheken hat sich in den letzten Jahren Richtung
Parasitismus verändert. „Parasiten sind hoch spezialisierte Lebewesen“ und „im
Allgemeinen besteht eine hohe Abhängigkeit eines Parasiten von seinem Wirt oder
seinen Wirten.“6
Die Gestaltung der Konsortien schädigt die Bibliotheken zunehmend in ihrer
Funktion der Literatur- und Informationsversorgung der Wissenschaft. Ziel
der Bibliotheken sollte es sein, die Beziehungen so zu verändern, dass eine
Protokooperation bzw. Allianz wieder möglich wird: Eine „[l]ockere Beziehung
zwischen verschiedenen Arten; alle Arten ziehen einen Vorteil aus der Beziehung,
sind aber ohne einander gleichwohl lebensfähig“7.
5 Th eodore C. Bergstrom und Carl T. Bergstrom: Can „autor pays“ journals compete
with „reader pays“? In: Nature 2004, URL: http://www.nature.com/nature/focus/acces-
sdebate/22.html.
6 Vgl. Symbiose. In: Wikipedia: URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Symbiose
(12.1.2007).
7 Ebd.
293
OPEN ACCESS PUBLISHING: AUSWEG ODER IRRWEG AUS DER KRISE DES WISSENSCHAFTLICHEN PUBLIKATIONS-WESENS? NEUESTE ENTWICKLUNGEN
BRUNO BAUER
EINLEITUNG
Open Access Publishing (OAP) ist wahrscheinlich das am meisten strapazierte –
gemeinsame – Thema von Wissenschaftlern, Bibliothekaren und Verlegern.
Initiiert wurde die Idee von Open Access (OA) durch eine Reihe von offiziellen
Erklärungen. Von den mittlerweile an die 50 bedeutenderen OA-Deklarationen ist
jenen ein besonderer Stellenwert einzuräumen, die mit den Städtenamen Budapest,
Bethesda und Berlin in Zusammenhang stehen:
– Budapest Open Access Initiative1
– Bethesda Statement on Open Access Publishing2
– Berliner Erklärung über offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen3
Aus den BBB-Erklärungen werden folgende Kriterien für OAP abgeleitet:
– Sicherung der Qualität durch Peer Review.
– Zugänglichkeit unmittelbar und kostenfrei über das Internet.
– Archivierung auf einem öffentlichen Server und
– Verbleib des Copyrights beim Autor.
Zur Erreichung des Ziels OA für wissenschaftliche Publikationen werden zwei Wege
vorgeschlagen:
1) Selbstarchivierung von Dokumenten in fachlichen oder institutionellen
Repositorien („Green Road to Open Access“).
2) Publikation in eigenen OA-Zeitschriften („Gold Road to Open Access“).
1 URL: http://www.soros.org/openaccess/g/read.shtml.
2 URL: http://www.earlham.edu/~peters/fos/bethesda.htm.
3 URL: http://www.mpg.de/pdf/openaccess/BerlinDeclaration_dt.pdf.
294
Mittlerweile gibt es eine Vielzahl an Fachartikeln, Weblog-Einträgen und
Konferenzbeiträgen über OAP. Im vorliegenden Beitrag werden bewusst einzelne
Facetten von OA ins Schlaglicht gestellt, die meist nur wenig Beachtung finden.
OAP-SCHLAGLICHT 1:KONFERENZEN UND IHRE VERANSTALTER
Es vergeht kaum ein Monat, in dem nicht wieder eine neue große OAP-Konferenz
angekündigt wird. Wenn man nicht die inhaltlichen Schwerpunkte, sondern die
Veranstalter der großen OA-Konferenzen ins Schlaglicht stellt, ist feststellbar,
dass einige wenige Institutionen nicht nur die aktuelle Diskussion um OAP im
Wesentlichen tragen, sondern auch durch Projekte und Initiativen zur Avantgarde
des OAP zählen.
TABELLE 1: INSTITUTIONEN ALS BETREIBER VON OA-KONFERENZEN UND OA-INITIATIVEN BZW. OA-PROJEKTEN
Institution Konferenz Initiative / Projekt
Max-Planck-Gesellschaft Berliner Konferenz 20031 Berliner Erklärung
Berlin 42 eSciDoc3
CERN Berlin 24 Cern Document Server5
Universität Southampton Berlin 36 Cogprints79
Deutsche Zentralbibliothek für Medizin
Cologne Summit on Open Access Publishing 20048
German Medical Science9
Lund University Lund 200610 DOAJ11
OAP-SCHLAGLICHT 2:PROPONENTEN UND IHRE MOTIVATION
Nicht nur die Konferenzen und ihre Veranstalter, sondern auch die Proponenten
der OAP-Bewegung sind es wert, einmal ins Schlaglicht gestellt zu werden. In den
Programmen der Konferenzen finden sich immer wieder die gleichen Namen. OAP-
Experten – von Steven Harnad bis Jan Velterop – setzen seit Jahren die wesentlichen
295
Akzente in der OAP-Diskussion. Weil Initiatoren von OAP-Proklamationen und
Betreiber von OAP-Projekten zugleich auch als Veranstalter großer OAP-Konferenzen
auftreten, könnte man überspitzt formuliert sogar von Marketingveranstaltungen
sprechen.
Als besonders bezeichnend erweisen sich Formulierungen wie die folgenden:
– „… tireless proselytising of a host of John the Baptist-like f igures from Paul Ginsparg
to Stevan Harnad …” (D. Law) 4
– „Wir sind von Open Access überzeugt.“ (A. Borbely, Prorektor für Forschung an der
Uni Zürich)5
– „Werdet Teil der Revolution!“ (Nobelpreisträger H. Varmus)6
Vor dem Hintergrund dieser Aussagen, die Begriffe wie Krieg, Überzeugung und
Revolution enthalten, ist Oliver Obst zuzustimmen, der in diesem Zusammenhang
von „Open Access-Ideologen“7 spricht.
Weil OAP mit dem Anspruch, einen Ausweg aus der Krise des wissenschaftlichen
Publikationssystems zu weisen, schwerpunktmäßig im akademischen
Umfeld angesiedelt ist, wäre eine weniger emotionale, dafür aber sachlichere
Diskussionsführung angebracht.
OAP-SCHLAGLICHT 3:GRAVIERENDE ÖKONOMISCHE AUSWIRKUNGEN
Bei der Diskussion um OAP handelt es sich allerdings nicht bloß um einen
akademischen Streit, sondern der von den Proponenten des OAP eingeforderte
Paradigmenwechsel im wissenschaftlichen Publikationswesen würde auch das
etablierte Geschäftsmodell, das sich bisher auf Zeitschriftenabonnements (print)
und Zeitschriftenlizenzen (online) gestützt hat, in seinen Grundfesten erschüttern.
4 Derek Law: Delivering Open Access: From Promise to Practice. In: Ariadne Issue 26,
Feb. 2006, URL: http://www.ariadne.ac.uk/issue46/law/.
5 Sabine Witt: „Wir sind von Open Access überzeugt”. In: Universität Zürich, Uni
News, 22.9.2004, URL: http://www.unipublic.unizh.ch/campus/uni-news/2004/1342.
html.
6 Harold Varmus, Nobelpreisträger: „Werdet Teil der Revolution“ In: Zeit.de, 18.6.2003,
URL: http://www.zeit.de/2003/26/N-Interview-Varmus.
7 Oliver Obst: Academic Publishing in Europe: Dienstag. In: medinfo, 6. April 2006,
URL: http://medinfo.netbib.de/archives/2006/04/06/1289.
296
Bei einem jährlichen Publikationsvolumen von zwei Millionen Fachartikeln in
wissenschaftlichen Zeitschriften ist es jedenfalls angebracht, die gravierenden
ökonomischen Auswirkungen von OAP auf das traditionelle Verlagswesen ins
Schlaglicht zu setzen. Die unterschiedlichen Positionen zwischen den etablierten
Verlagen und den OA-Proponenten werden an der unterschiedlichen Einschätzung
der Tragfähigkeit der OAP-Geschäftsmodelle deutlich.8
Exemplarisch für die vollkommen konträren Schlussfolgerungen ist ein Streitgespräch
zwischen Dietrich Götze, ehemaliger Verleger des wissenschaftlichen Springer-
Verlages und Ulrich Korwitz, Direktor der Deutschen Zentralbibliothek für Medizin,
anzuführen, das 2004 im Börsenblatt unter dem Titel „Irrweg oder Notausgang“ 9
veröffentlicht worden ist:
– „Keines der Open-Access-Modelle hat eine wirtschaftliche Grundlage“ (D. Götze),
– „Open Access ist primär eine Notwehrreaktion auf überhitzte Preisstrukturen“
(U. Korwitz).
Für die möglichen brisanten ökonomischen Konsequenzen eines Paradigmenwechsels
im wissenschaftlichen Publikationswesen steht eine Mitteilung von Oxford University
Press vom Dezember 2005: „More than 1.000 Oxfordshire publishing jobs could be at risk
if proposals to alter the way scientif ic journals are published become reality […]“10.
OAP-SCHLAGLICHT 4:BIBLIOTHEKS- UND ZEITSCHRIFTENKRISE
In einer Vielzahl von Untersuchungen wurden die Preissteigerungen der letzten
Jahre im Bereich der wissenschaftlichen Zeitschriften dokumentiert. Ein sehr
anschauliches Beispiel für diese Problematik liefert eine Resolution der University
of California, die 2003 zur Problematik der unverhältnismäßig teuren Elsevier-
Zeitschriften ins Internet gestellt worden ist, und in der u.a. dargestellt worden
ist, dass die University of California für Zeitschriften dieses Verlages ca. 50% des
Zeitschriftenbudgets ausgibt, während sie für diese Titel nur ca. 25% der Nutzung
verzeichnet.11
8 Bruno Bauer: Zur aktuellen Situation von Open Access: Cologne Summit on Open
Access Publishing. In: Bibliotheksdienst 39, (2005) 2, 206–215.
9 Dietrich Götze & Ulrich Korwitz: Irrweg oder Notausgang. Debatte. In: Börsenblatt
2004, 50, 16–17.
10 1000 publishing jobs could go. In: Oxfordshire Archive, 17. Dez. 2005, URL: http://ar-
chive.oxfordmail.net/2005/12/17/90099.html.
11 University of California, Committee on the Library. Resolution on Ties with Elsevier
297
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch eine Mitteilung über den
Wissenschaftsverlag Elsevier, die am 18. April 2006 in heise online erschienen ist: „Mit
7.300 Mitarbeitern brachte er es im abgelaufenen Geschäftsjahr auf einen Reingewinn von
655 Millionen Euro, was bei einem Umsatz von 2,1 Milliarden Euro einer Umsatzrendite
von 31 Prozent entspricht.“12
Wenn man diese Problematik ins Schlaglicht setzt, wird verständlich, dass manche
nicht von einer Bibliotheks- und Zeitschriftenkrise, sondern von einer Verlags-
und Zeitschriftenkrise sprechen, die man nur mit einer radikalen Umstellung des
wissenschaftlichen Publikationssystems lösen könne.
OAP-SCHLAGLICHT 5:HIGHLIGHTS DER „GOLD ROAD TO OPEN ACCESS”
Vor nunmehr sieben Jahren wurden in einem Open Letter der Public Library of Science13
Wissenschaftler aufgerufen, ab 1. Oktober 2000 nicht mehr als Autor, Reviewer,
Herausgeber, Käufer für Zeitschriften zur Verfügung zu stehen, deren Beiträge nicht
nach einer bestimmten Zeit (zumeist sechs Monate nach dem Erscheinungstermin)
frei zugänglich gemacht werden. Diese Aktion musste nicht zuletzt deshalb erfolglos
bleiben, weil für die potentiellen Autoren, die die Kriterien des Open Letter erfüllen
wollten, keine alternative Publikationsplattformen vorhanden waren.
In der Folge wurde von den Proponenten von OAP ein neuer Weg beschritten. Um
Autoren, die mit den Zielen von OAP sympathisieren, Publikationsmöglichkeiten
bieten zu können, wurden eigene OA-Zeitschriften gegründet. Zu den aktuellen und
vielerorts zitierten Highlights unter den OA-Titeln zählen:
– BioMed Central14
– PLoS15
– DIgital Peer Publishing NRW16
– German Medical Science17
Journals. October 8, 2003, URL: http://senate.ucsc.edu/col/res.1405.pdf.
12 Richard Sietmann: Riesengewinne mit wissenschaftlichen Publikationen. heise online:
news, 18. 4.2006, URL: http://www.heise.de/newsticker/meldung/72062.
13 URL: http://www.plos.org/about/letter.html.
14 URL: http://www.biomedcentral.com/.
15 URL: http://www.plosjournals.org/perlserv/?request=index-html.
16 URL: http://www.dipp.nrw.de.
17 URL: http://www.egms.de.
298
Mittlerweile ist auch ein weiterer Kritikpunkt, nämlich das Fehlen des Impact Factors
(IF) bei OA-Zeitschriften nicht mehr zulässig. Von den 163 von BioMed Central
herausgegebenen OA-Zeitschriften weisen mittlerweile 26 einen IF auf, 13 weitere
verfügen bereits über einen inoffiziellen IF. PLoS Biology und PLoS Medicine haben
sich mit einem IF von 14,672 bzw. 8,389 bereits unter den absoluten Spitzentiteln
des jeweiligen Faches etabliert.
OAP-SCHLAGLICHT 6:„GOLD ROAD TO OPEN ACCESS” IN ÖSTERREICH
Einen guten Überblick über die Vielzahl der OA-Zeitschriften bietet das an
der Universität Lund erstellte Directory of Open Access Journals18, das zur Zeit
2.581 Zeitschriften nachweist. Aufnahmekriterien für das DOAJ sind OA,
Qualitätskontrolle (Peer Review), Forschungscharakter der Zeitschrift und
periodische Erscheinungsweise. Dennoch zeigen sich große Unterschiede in Qualität
und Umfang der erfassten Zeitschriften.
Das Directory verzeichnet derzeit 22 österreichische Zeitschriften, davon
14 des medizinischen Fachverlages Krause & Pacherneg. Von den übrigen acht
OA-Zeitschriften werden fünf an Instituten der Universitäten Wien, Salzburg
und Linz erstellt, drei an sonstigen Einrichtungen (Joanneum, ECSA Austria und
Wienxtzra/ifp). Hinsichtlich des Kriteriums periodische Erscheinungsweise (nicht näher
eingegangen wird hier auf die Kriterien Qualität und Peer Review) ist festzuhalten,
dass der Umfang dieser Zeitschriften zwischen 13 und 169 Artikeln variiert, wobei
letzteres eine Zeitschrift betrifft, die schon seit 1992 existiert und die retrospektiv
online gestellt bzw. frei geschaltet worden ist.
18 URL: http://www.doaj.org.
299
TABELLE 2: IM DOAJ VERZEICHNETE ÖSTERREICHISCHE OA-ZEITSCHRIFTEN (OHNE 14 OA-TITEL DES MEDIZINISCHEN
FACHVERLAGS KRAUSE UND PACHERNEGG)
Herausgeber OA-Zeitschrift Frequenz OA ab Zahl
Universität WienAustrian Studies in Social Anthropology12 3x / Jahr 2005 ff 13 Artikel
Universität WienWEB-FU: Wiener E-Beiträge des Instituts für Finno-Ugristik13
Irregulär 2001 ff 39 Artikel
Universität Wiene-Journal Philosophie der Psychologie14 3x / Jahr 2005 ff 70 Artikel
Universität SalzburgRhet On: Online Zeitschrift für Rhetorik und Wissenstransfer15
2x / Jahr 2004 ff 30 Artikel
Universität LinzPSR – Papers on Social Representations16 Irregulär 1992 ff 169 Artikel
JoanneumJoannea – Geologie und Paläontologie17 Irregulär 1999 ff 47 Artikel
ECSA Austria EIoP – European Integration online Papers18 4x / Jahr 1997 ff 154 Artikel
Wienxtra / ifp e-beratungsjournal.net19 1x / Jahr 2005 ff 23 Artikel
Die Analyse der österreichischen Beiträge im DOAJ (ohne Titel des Verlags Krause
& Pachernegg) führt zu folgenden Erkenntnissen:
a) Das im DOAJ behauptete Aufnahmekriterium periodische Erscheinungsweise
scheint nicht wirklich überprüft zu werden.
b) Nur acht im DOAJ verzeichnete Titeln mit insgesamt 545 Aufsätzen (davon
viele retrospektiv online gestellt und frei geschaltet) sind ein Indiz dafür, dass
die OA-Idee in Österreich, insbesondere im universitären Bereich, bisher nicht
sehr gut verankert ist.
Dieser Befund spiegelt sich auch in den Ergebnissen einer Auswertung der Beteiligung
österreichischer Autoren an den OA-Zeitschriften von BioMed Central und PLoS,
die ebenfalls nur eine geringe Akzeptanz für alternative Publikationsformen
nachgewiesen hat.19
19 Bruno Bauer: Open Access Publishing – Trends in Deutschland, Österreich und der
Schweiz: Initiativen, Projekte, Stellenwert. Delivered at ODOK 05: 11. Österreichisches
Online-Informationstreff en, 12. Österreichischer Dokumentartag: „Zugang zum Fach-
wissen“, Bozen, URL: http://www.uibk.ac.at/voeb/odok2005/tagungsband/bauer.pdf.
300
OAP-SCHLAGLICHT 7:GESCHÄFTSMODELL EINES KOMMERZIELLEN OPEN ACCESS-VERLAGES
Der unmittelbare und kostenfreie Zugang zur wissenschaftlichen Fachinformation
stellt ein wesentliches Kriterium von OAP dar. Mit diesem Publikationsmodell ist
das bisherige Finanzierungsmodell (Reader-Pays bzw. seine Bibliothek) nicht mehr
kompatibel.
Bei der Entwicklung eines kommerziellen Geschäftsmodells für OAP hat der
BioMed Central eine führende Rolle übernommen. Die von diesem Verlag
offerierte institutionelle Mitgliedschaft ist seit der Berliner Erklärung 2003 auf
großes Interesse bei vielen Universitäten und auch Bibliothekskonsortien gestoßen.
Während die Zahl der institutionellen Mitglieder bis 2005 weltweit kontinuierlich
angestiegen ist, ist wegen einer deutlichen Erhöhung der Mitgliedsbeiträge bzw. der
Veröffentlichungsgebühren seit dem Jahreswechsel 2005/2006 ein stetiger Rückgang
bei den Mitgliedschaften zu verzeichnen. Mittlerweile stehen 372 aktiven Mitgliedern
in 32 Ländern 272 Former Members gegenüber.20 So etwa reduzierte sich die Zahl der
deutschen BioMed Central-Mitglieder innerhalb eines Jahres von 48 auf 37; beendet
haben mit der Charité Berlin, der Universität Köln, der Universität Heidelberg und
dem DKFZ Heidelberg auch vier jener zehn Institutionen ihre Mitgliedschaften,
deren Mitarbeiter bis Jahresende 2005 am häufigsten in BioMed Central publiziert
hatten. Ihre Mitgliedschaften beibehalten haben u.a. die Max-Planck-Gesellschaft,
die Universität Köln und die Universität Zürich, durchwegs Institutionen, die als
Proponenten der OAP-Bewegung ein besonders großes Interesse am Erfolg dieses
Publikationsmodells haben, das sie auch als Veranstalter einschlägiger internationaler
Konferenzen unter Beweis gestellt haben.
OAP-SCHLAGLICHT 8:HYBRIDE OPEN-ACCESS-GESCHÄFTSMODELLE ALS ALTERNATIVE KOMMERZI-ELLER VERLAGE?
„Wir bieten doch auch Open Access an!“, wird beginnend mit 2004 immer häufiger von
Vertretern kommerzieller Verlage eingewendet, wenn das OAP thematisiert wird.
Tatsächlich besteht für Autoren, deren Beiträge in etablierten Verlagszeitschriften
erscheinen, in vielen Fällen bereits die Möglichkeit, gegen Bezahlung die Freischaltung
ihrer Beiträge zu veranlassen. Dieses Geschäftsmodell verfolgt ein Konzept, das nicht
auf OA-Zeitschriften, sondern auf OA-Fachartikeln basiert.
20 URL: http://www.biomedcentral.com/inst.
301
TABELLE 3: HYBRIDE OPEN ACCESS-GESCHÄFTSMODELLE
Beginn Verlag BezeichnungBetroffene
TitelArtikelkosten
2004/06 Nat. Acad. Sci OA Option PNAS $ 750–1000
2004/07 Springer Open Choice Alle Titel $ 3000
2004/11 AIP Author Select 11 Titel $ 1500–1800
2005/02 Blackwell Online Open79 v. 750
Titeln$ 2500 p.A.
2005/04 BMJ Unlocked 22 Titel $ 2200–3145
2005/07 OUP Oxford Open47 v. 192
Titeln$ 1500–2800
2006/05 Elsevier Sponsored Articles 40 Titel $ 3000
2006/06 Royal Society EXiS Open Choice 7 Titel GPB 300 pro Seite
Nachdem die etablierten Verlage zunächst der OA-Bewegung reserviert oder
grundsätzlich ablehnend gegenübergestanden sind, lohnt es sich, deren Beweggründe
ins Schlaglicht zu stellen.
Bedeutende Forschungsförderungseinrichtungen fordern in ihren OA Policies mittler-
weile als Auflage für die finanzielle Unterstützung von Forschungsprojekten die
Publikation der Ergebnisse in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift, die den
Standards von OA entspricht oder zumindest nach sechs Monaten frei zugänglich
ist, etwa National Institutes of Health21, Wellcome Trust22 oder DFG23.
Folglich handelt es sich bei den hybriden OA-Geschäftsmodellen etwa von
Springer oder Elsevier nicht um überzeugende Initiativen für OAP, sondern
vielmehr um den Versuch, auch in Zukunft einer bestimmten Autorengruppe, die
entsprechende OA Policies zu berücksichtigen hat, etablierte Verlagszeitschriften als
Publikationsplattform anbieten zu können und damit den Fortbestand dieser Titel
abzusichern. Eine Publikation von Forschungsergebnissen etwa in Zeitschriften
von Springer oder Elsevier bleibt für einen Autor, der öffentliche Forschungsgelder
bekommt, weiterhin möglich, weil er ja den entsprechenden Beitrag über Open Choice
freikaufen kann.
21 URL: http://grants.nih.gov/grants/guide/notice-fi les/NOT-OD-05-022.html.
22 URL: http://www.wellcome.ac.uk/doc_WTD002766.html.
23 URL: http://www.dfg.de/aktuelles_presse/information_fuer_die_wissenschaft/ande-
re_verfahren/infowissenschaft_04_06.html.
302
OAP-SCHLAGLICHT 9:KOSTEN EINES PARADIGMENWECHSELS AM BEISPIEL VON DREI ÖSTERREICHI-SCHEN UNIVERSITÄTEN
In der OA-Debatte werden häufig Einsparungsmöglichkeiten für Bibliotheken
als ein wichtiges Argument vorgebracht. Allerdings gibt es nur wenige
Untersuchungen über die finanziellen Auswirkungen eines vollständigen Umstiegs
vom etablierten Publikationssystem (mit Subskriptionen und Lizenzen) zum OA-
Publikationsmodell, wie sie etwa im Rahmen eines Untersuchungsausschusses des
britischen Unterhauses 2004 für Großbritannien berechnet worden sind. Für den
Fall eines Paradigmenwechsels zu OAP war an den britischen Hochschulen fast mit
einer Verdoppelung der Zeitschriftenausgaben zu rechnen;24 mittlerweile haben
sich die Kosten für OAP deutlich erhöht. Weil für Österreich keine vergleichbare
Studie vorliegt, wird das OAP-Geschäftsmodell am Beispiel von drei österreichischen
Universitäten (Veterinärmedizinische Universität Wien, Technische Universität Wien,
Medizinische Universität Wien) ins Schlaglicht gestellt.25
Zunächst wurde die Zahl der Fachartikel, die an den betreffenden Universitäten im Jahr
2005 verfasst worden sind, in Relation zu den Ausgaben für Zeitschriftenabonnements
bzw. -lizenzen der jeweiligen Universitätsbibliotheken für 2006 gesetzt.
TABELLE 4: ZEITSCHRIFTENARTIKELN & ZEITSCHRIFTENKOSTEN
Institution Vet.-Med. Uni Wien
Tech. Uni Wien
Med. Uni Wien
Zahl der Zeitschriftenartikel von Uni-Angehörigen
320 3.100 3.450
Ausgaben der UB für Zeitschriftenabonnements bzw. -lizenzen
€ 280.000 € 1,490.000 € 1,200.000
24 Bruno Bauer: UK Parliament’s Science & Technology Committee Inquiry. Britische
Politiker stellen an 23 Vertreter von Verlagen, Fachgesellschaften, Bibliotheken, Wissen-
schaften und Forschungsorganisationen 428 Fragen über die Zukunft des wissenschaft-
lichen Publikationswesens. In: Medizin – Bibliothek – Information, 4 (2004) 2, 38–43.
25 Bruno Bauer: Kommerzielle Open Access Publishing-Geschäftsmodelle auf dem
Prüfstand: ökonomische Zwischenbilanz der „Gold Road to Open Access“ am Beispiel
von drei österreichischen Universitäten. In: GMS Medizin – Bibliothek – Information,
6 (2006) 3, Doc32.
303
Zeitschriftenausgaben pro publiziertem Fachartikel
€ 875 € 486 € 347
Pro veröffentlichtem Fachartikel eines Mitarbeiters der Veterinärmedizinischen
Universität Wien, der Technischen Universität Wien bzw. der Medizinischen Universität
Wien wurden € 875, € 486 bzw. € 347 für Zeitschriftenabonnements bzw. -lizenzen
ausgegeben.
In einem zweiten Schritt wurde das Szenario angenommen, dass das OA-
Publikationsmodell das etablierte Publikationsmodell vollständig ablöst. Für die
folgenden Berechnungen bilden die Geschäftsmodelle von Biomed Central 2006 ($
1.453) und Springer Open Choice 2006 ($ 3.000) die Basis.
• Bei einem kompletten Paradigmenwechsel wären für die Finanzierung
der an der Veterinärmedizinischen Universität Wien 2005 entstandenen
Zeitschriftenpublikationen, je nach OAP-Geschäftsmodell, zwischen € 352.000
(BioMed Central 06) und € 727.000 (Springer Open Choice) erforderlich, was
gegenüber den aktuellen Ausgaben für Zeitschriftenabonnements und -lizenzen
in Höhe von € 280.000 einen zusätzlichen Finanzierungsbedarf zwischen 26%
und 160% für den Zeitschriftenbereich bedeuten würde.
• Ein Paradigmenwechsel würde an der Technischen Universität Wien zwischen
€ 3,410.000 (BioMed Central) und € 7,040.000 (Springer Open Choice) kosten,
sodass zusätzlich zu den aktuellen Ausgaben für Zeitschriftenabonnements und
-lizenzen in Höhe von € 1,490.000 ein Finanzierungsbedarf zwischen 129% und
372% der Zeitschriftenkosten gegeben wäre.
• Besonders gravierende finanzielle Auswirkungen würde ein Paradigmenwechsel
für die Medizinische Universität Wien nach sich ziehen, die bei einem Umstieg auf
eines der beschriebenen OAP-Geschäftsmodelle für die Zeitschriftenpublikationen
zwischen € 3,795.000 und € 7,835.000 zu bezahlen hätte, während für
Zeitschriftenabonnements und -lizenzen derzeit € 1,200.000 ausgegeben werden;
somit wäre ein zusätzlicher Finanzierungsaufwand zwischen 216% und 553%
gegenüber den aktuellen Zeitschriftenkosten gegeben!
OAP-SCHLAGLICHT 10:PERSPEKTIVE FÜR „GREEN ROAD TO OPEN ACCESS”
Der Anteil der OA-Zeitschriften am wissenschaftlichen Zeitschriftenmarkt beträgt
derzeit erst knapp 8 %.26 Der Aktionsschwerpunkt hat sich mittlerweile von der
26 Christian Woll: Optimierungspotentiale bei der praktischen Umsetzung von Open
Access. Proceedings Knowledge eXtended. Die Kooperation von Wissenschaftlern,
Bibliothekaren und IT-Spezialisten. (= Schriften des Forschungszentrums Jülich. Reihe
304
„Gold Road to OA“, der Herausgabe von OA-Zeitschriften, die ursprünglich von den
Wegbereitern der OA-Bewegung in den Vordergrund gestellt worden ist, auf die
„Green Road to OA“, die Selbstarchivierung der Publikationen durch die Autoren
und das Einbringen in fachliche und institutionelle Repositorien, verlagert, weshalb
es auch dieser Bereich verdient, ins Schlaglicht gestellt zu werden.
Einen Überblick über die bestehenden Repositorien vermittelt das Directory of Open
Access Repositories/OpenDOAR27. Bei Analyse der bestehenden Repositorien wird
evident, dass auch die „Green Road to OA“ von jenen Institutionen forciert wird,
die sich schon als Vorreiter der „Gold Road to OA“ und als Initiatoren von OAP-
Proklamationen sowie als Veranstalter großer OAP-Konferenzen gezeigt haben.
Zu nennen sind etwa die Max-Planck-Gesellschaft (eDoc-Server)28, CERN (CERN
Document Server)29 oder die Universität Zürich (ZORA – Zurich Open Repository and
Archive)30.
Wie bei der „Gold Road to OA“, so ist auch der österreichische Beitrag auf der “Green
Road to OA” bisher bescheiden, openDOAR weist unter insgesamt 843 Repositorien
gerade einmal vier österreichische Repositorien mit insgesamt ca. 2.500 Publikationen
nach.
Bemerkenswert ist allerdings auch für die Situation in Österreich die Vernetzung
zwischen Personen, Projekten und Initiativen. So wird das European Research Papers
Archive von Michael Nentwich betrieben, der auch als Herausgeber der bereits
genannten European Integration online Papers fungiert und Mitorganisator der
sogenannten Wiener Erklärung für Open Access (2005) war.
TABELLE 5: IN OPENDOAR VERZEICHNETE ÖSTERREICHISCHE REPOSITORIEN
Institution Bezeichnung Zahl der Dokumente
Institut für Philosophie der Universität Wien
Sammelpunkt. Elektronisch archivierte Theorie20
823 Items
Wirtschaftsuniversität Wien ePubWU – Elektronische Publikationen der Wirtschaftsuniversität Wien21
570 Items
Akademie der Wissenschaften
epub.oeaw – Elektronisches Publikationsportal der Österreichischen Akademie der Wissenschaften22
nur Bücher
Bibliothek/Library 14), Jülich 2005, 135–151.
27 URL: http://www.opendoar.org.
28 URL: http://edoc.mpg.de/.
29 URL: http://cdsweb.cern.ch/.
30 URL: http://www.zora.unizh.ch/zora/.
305
European Research Papers Archive
ERPA – European Research Papers Archive23
1.057 Items
RESÜMEE
In zehn Schlaglichtern wurden im vorliegenden Beitrag jeweils Themen in
den Mittelpunkt gerückt, die in der aktuellen Auseinandersetzung um OAP oft
vernachlässigt werden.
• Besonders bemerkenswert an der internationalen OA-Diskussion ist das Netzwerk
aus Institutionen und Experten, die als Träger von Initiativen und Projekten,
als Kongressveranstalter, als Autoren in Fachpublikationen und Weblogs OAP
fördern.
• Auf nationaler Ebene ist festzustellen, dass sowohl die Entwicklung der „Gold
Road to OA“ als auch der „Green Road to OA“ in Österreich, abgesehen von
Unterstützungserklärungen offizieller Stellen31, kaum thematisiert wird. Es
fehlen fundierte Untersuchungen, wie sie etwa auf Initiative des Scientif ic and
Technology Committee des House of Commons für Großbritannien32, der DFG für
Deutschland33 und der Europäischen Kommission für die Europäische Union34in
Auftrag gegeben worden sind.
Fragestellungen, wie „Open Access – Sackgasse oder Königsweg?“35 oder „Open Access
– Modetrend oder Paradigmenwechsel“36 können noch nicht endgültig beantwortet
31 Bruno Bauer: Open Access Publishing – Irrweg oder Ausweg aus der Zeitschriftenkri-
se. In: Online Mitteilungen, 81, (2005), 10–18.
32 House of Commons, Science and Technology Committee. Scientifi c Publications: Free
for all? Tenth Report of Session 2003–04. Vol I: Report. HC 399-I. 20 Juli 2004, URL:
http://www.publications.parliament.uk/pa/cm200304/cmselect/cmsctech/399/399.pdf.
33 Albert Over, Friedhelm Maiworm, Andre Schelewsky: Publikationsstrategien im
Wandel – Ergebnisse einer Umfrage zum Publikations- und Rezeptionsverhalten unter
besonderer Berücksichtigung von Open Access, Studie. Bonn, Weinheim 2005.
34 Mathias Dewatripont et al.: Study of the economic and technical evolution of the
scientifi c publication markets in Europe: fi nal report. Commissioned by DG-Research,
European Commission. Brussels: European Commission, Directorate General for
Research, Information and Communication Unit. Jänner 2006, URL: http://www.gbv.
de/du/services/gLink/2.1/514159847/999/; http://ec.europa.eu/research/science-soci-
ety/pdf/scientifi c-publication-study_en.pdf.
35 Titel einer Veranstaltung von Forum Zeitschriften/GeSIG im Rahmen der Frankfurter
Buchmesse 2004, URL: http://www.gesig.org/gesig/deu/bild/Frankfurter_Buchmesse.pdf.
36 Ulrich Korwitz: Open Access – Modetrend oder Paradigmenwechsel. In: Deutsche
Zahnärztliche Zeitschrift, 60 (2005) 2, 65.
306
werden, auch wenn von Einzelnen ein Ende der OAP-Diskussion bereits eingefordert
wird.37 In der nächsten Phase der OAP-Diskussion gilt es, die vielen ungeklärten
Detailfragen zu OAP, die z.T. auch im vorliegenden Beitrag ins Schlaglicht gestellt
worden sind, zu beantworten.
37 Rafael Ball: Green Road – Golden Road: Open Access – Th e Road to Hell? In: B.I.T.
online, 9 (2006) 2, 125–129.
307
INTERACTIVE OPEN ACCESS PUBLISHING ZUR VERBESSERUNG WISSENSCHAFTLICHER KOMMUNIKATION UND QUALITÄTSSICHERUNG
ULRICH PÖSCHL
Die traditionellen Formen von Publikation und Fachbegutachtung werden den
Anforderungen effizienter Kommunikation und Qualitätskontrolle im zunehmend
diversifizierten und rasch fortschreitenden Wissenschaftsbetrieb unserer Zeit nicht
gerecht. Spektakuläre Betrugsfälle sind nur die Spitze eines Eisbergs von Problemen,
die aus einer Flut entbehrlicher, mit mangelnder Sorgfalt erstellter und fehlerhafter
Veröffentlichungen entstehen.1 Im Gegensatz zu landläufigen Missverständnissen
stellt der freie Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen (Open Access) keine
Bedrohung für das derzeit praktizierte, wenig effiziente und zunehmend überforderte
System wissenschaftlicher Qualitätssicherung dar, sondern bietet vielmehr die
Grundlage und vielfältige Möglichkeiten für dringend nötige Verbesserungen2.
Im traditionellen Publikationswesen erfolgt die Fachbegutachtung unter Kollegen
(Peer Review) in einem nicht-öffentlichen Verfahren, und der Zugang zu
wissenschaftlichen Publikationen, die größtenteils aus öffentlich finanzierten Projekten
stammen, ist nicht nur für die zahlende Öffentlichkeit, sondern auch für Gutachter
limitiert. An den Universitäten und Forschungseinrichtungen in Deutschland und
weltweit ist jeweils nur ein Bruchteil der gesamten wissenschaftlichen Literatur frei
zugänglich.
Dem entgegen bietet Open Access umfassenden Informationszugang für Gutachter
und Kollegen, ermöglicht eine gemeinschaftliche Fachbegutachtung (Collaborative
Peer Review) und erleichtert die Neu- bzw. Weiterentwicklung statistischer
Qualitätsindikatoren3. Die Vorteile von Open Access und Collaborative Peer Review
1 Ulrich Pöschl: Interactive journal concept for improved scientifi c publishing and qual-
ity assurance. In: Learned Publishing, 17 (2004), S. 105–113, URL: www.copernicus.
org/EGU/acp/poeschl_learned_publishing_2004.pdf.
2 Ian Baldwin et al.: Statement of the Quality Assessment Working Group. Conference
on Open Access to Knowledge in the Sciences and Humanities. Berlin 2003, URL:
www.zim.mpg.de/openaccess-berlin/Schutz-QualityAssessment.pdf.
3 Ulrich Pöschl: Collaborative Peer Review and Quality Assurance. E-Journal Summit.
National Academy of Sciences. Washington DC 2006, URL: www.copernicus.org/
308
lassen sich effizient und flexibel mit den Stärken des traditionellen Publikationswesens
und Peer Review verbinden. Dies demonstrieren die erfolgreiche interaktive Open
Access Fachzeitschrift Atmospheric Chemistry and Physics (ACP, www.atmos-chem-
phys.org) und eine wachsende Zahl von Schwesterjournalen der European Geosciences
Union (EGU, www.egu.eu), die von einem internationalen, weltweit verzweigten
Netzwerk von Editoren herausgegeben werden.
Diese Zeitschriften praktizieren einen zweistufigen Publikationsprozess mit
öffentlichem Peer Review und interaktiver Diskussion. In der ersten Stufe werden
Manuskripte, die eine rasche Vorauswahl (Access Review) durch die Editoren
passieren, sofort als „Discussion Paper“ im Online-Diskussionsforum des Journals
(Atmospheric Chemistry and Physics Discussions, ACPD) veröffentlicht. Dort werden
auch die Kommentare bestellter Fachgutachter, zusätzliche Kommentare anderer
interessierter Mitglieder der wissenschaftlichen Gemeinschaft und die Antworten der
Autoren publiziert. Dabei haben die bestellten Fachgutachter die Möglichkeit, anonym
zu bleiben. In der zweiten Stufe werden Überarbeitung und Fachbegutachtung der
Manuskripte auf die gleiche Weise komplettiert wie in traditionellen Zeitschriften –
wenn nötig unter Iteration von Revision und Begutachtung. Erst wenn die Editoren
ein revidiertes Manuskript akzeptieren, wird dieses als „Final Paper“ im Journal
veröffentlicht. Zur dauerhaften Dokumentation des wissenschaftlichen Diskurses
ist auch das Diskussionsforum ISSN-registriert, und alle Discussion Papers und
Kommentare bleiben permanent archiviert und individuell zitierfähig, unabhängig
davon, ob entsprechende Final Papers angenommen und im Journal publiziert
werden4.
Der interaktive Zweistufenprozess löst das Dilemma zwischen rascher Kommunikation
und gründlicher Qualitätskontrolle. Es fördert die wissenschaftliche Diskussion und
bietet allen Beteiligten (mit Ausnahme von Autoren mangelhafter Manuskripte)
Vorteile gegenüber dem traditionellen Verfahren von Veröffentlichung und Peer
Review (All-Win Situation).
EGU/acp/Poeschl_EJournalSummit_Washington2006.pdf; ders.: Open Access, Public
Peer Review and Interactive Discussion for Improved Scientifi c Communication &
Quality Assurance. IFQ-DFG-WZB Workshop Peer Review Revisited. Berlin 2006,
URL: www.copernicus.org/EGU/acp/Poeschl_IFQ_DFG_WZB_Berlin_2006.pdf.
4 Ulrich Pöschl: Interactive journal concept for improved scientifi c publishing and qual-
ity assurance, a. a. O.; Th omas Koop, Ulrich Pöschl: An open, two-stage peer review
journal. In: Nature Web Debate on Peer Review 2006. (URL: www.nature.com/nature/
peerreview/debate/nature04988.html.
309
1) Die Discussion Papers ermöglichen den Autoren freie Rede und rasche Verbreitung
neuer Ergebnisse und bieten den Lesern aktuellste Information nahezu direkt
vom Urheber. Zwischen Einreichung eines Manuskripts und Veröffentlichung
im Diskussionsforum vergehen planmäßig nur wenige Tage. Die Minimalzeiten
von ACPD liegen bisher bei einer Woche (inkl. Access Review, Typesetting und
Proofreading), weitere Verkürzungen sind durch technische Fortschritte in der
Manuskript verarbeitung zu erwarten.
2) Der öffentliche Peer Review mit interaktiver Diskussion bietet den Autoren
hochwertiger Manuskripte öffentliche Anerkennung und direkte Rückmeldungen
aus der wissenschaftlichen Gemeinschaft, was erfahrungsgemäß insbesondere
von Studenten und Nachwuchsforschern hoch geschätzt wird. Das öffentlich
dokumentierte Begutachtungsverfahren schützt die Autoren zudem vor
versteckten Behinderungen und Plagiarismen durch Konkurrenten. Tatsächlich
wird ACP bzw. ACPD bevorzugt zur Veröffentlichung besonders aktueller und
innovativer Studien genutzt.
3) Den Fachgutachtern bietet das öffentliche Verfahren die Genugtuung, dass
ihre Meinung und Beiträge sichtbar und nachhaltig dokumentiert werden.
In aufwändiger Arbeit verfasste Kommentare, Anregungen und Kritikpunkte
stehen der gesamten wissenschaftlichen Gemeinschaft zur Verfügung und
werden nicht nur von Editoren und Autoren genutzt (oder missachtet). Je nach
Wunsch können Gutachter die Autorenschaft für ihre zitierfähigen Kommentare
namentlich geltend machen oder aber ihre Anonymität wahren. Die Möglichkeit
zur Wahrung der Anonymität ist mitunter zur Vermeidung persönlicher Konflikte
erforderlich sowie zum Schutz der Gutachter vor potentiell rufschädigenden
Fehleinschätzungen, die im Rahmen ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit nicht nur
aufgrund naturgemäß limitierter Kompetenz/Kenntnisse, sondern auch durch
Überlastung und Zeitmangel auftreten können (wichtige grundlegende Fragen
können sich manchmal als „dumme Fragen“ herausstellen und umgekehrt). Bei
etwa der Hälfte der rund zweitausend bisher in ACPD abgegebenen öffentlichen
Gutachter-Kommentare bevorzugten die internationalen Fachgutachter (mehrere
Hundert Wissenschaftler weltweit) ihren Kommentar anonym zu publizieren,
obwohl auch die kritischen Kommentare zumeist sehr kompetent und konstruktiv
verfasst sind. Interessanterweise war die Bereitschaft zur Aufgabe der Anonymität
bei Modellierern generell größer (ca. 2/3) als bei Experimentatoren (ca. 1/3).
4) Der Zugang zu den Kommentaren anderer Gutachter und interessierter
Wissenschaftler in der öffentlichen Diskussion bietet dem einzelnen Fach-
gutachter zusätzliche Ansatzpunkte und die Möglichkeit, durch Zustimmung
310
zu bereits geäußerten Punkten eigene Formulierarbeit zu sparen und sich auf
ergänzende Aspekte zu konzentrieren. Andererseits liegt es in der Natur aktiver
Wissenschaftler (und kommt in ACPD häufig vor), dass Gutachter und andere
interessierte Wissenschaftler die Kommentare ihrer Kollegen hinterfragen und
relativieren bzw. diesen widersprechen.
5) Von der Offenlegung und Dokumentation kontroversieller Fragen und Argumente
profitieren interessierte Leser ebenso wie von der Ergänzung der Discussion Papers
durch komplementäre Fachinformationen und Bewertungen in unterstützenden
und kritischen Kommentaren. Die Gesamtseitenzahl interaktiver Kommentare,
die von Gutachtern, Autoren und anderen interessierten Wissenschaftlern
in ACPD publiziert werden, beträgt mehr als 1/3 der Gesamtseitenzahl der
Discussion Papers (durchschnittlich 4 Kommentare/Paper; bisheriges Maximum:
17 Kommentare/Paper). Die meisten Kommentare sind nicht weniger interessant
als die Originalveröffentlichung und bieten einen Fundus an wertvollen
Hintergrund- und Begleitinformationen, die in traditionellen Fachzeitschriften
nicht verfügbar waren. Sämtliche Rückmeldungen bestätigen, dass Leser von
ACP bei Veröffentlichungen, die ihre eigene Forschungsarbeit betreffen, praktisch
immer auch an den Gutachterkommentaren und der interaktiven Diskussion in
ACPD sehr interessiert sind.
6) Die Transparenz der Begutachtung wirkt abschreckend gegen die Einreichung
mangelhafter Originalmanuskripte, da Autoren öffentlich die Verantwortung
dafür übernehmen müssen und mangelnde Sorgfalt bei der Verfassung von
Manuskripten nicht unter missbräuchlicher Ausnutzung der Arbeitskapazität von
Fachgutachtern kompensieren können. Die daraus resultierende Verringerung
von Korrekturbedarf und Ablehnungshäufigkeit von Manuskripten trägt
substantiell zur Schonung der verfügbaren Fachgutachter-Kapazitäten bei, die
zu den meistlimitierten Ressourcen im wissenschaftlichen Publikationswesen
gehören. In der Tat liegt die Ablehnungsquote von ACP bei nur etwa 10%,
während die Ablehnungsquoten vergleichbarer Fachzeitschriften mit ähnlich
hohen Qualitätsansprüchen typischerweise bei 50% liegen.
7) Die Final Papers, welche schließlich aus dem zweistufigen gemeinschaftlichen
Begutachtungsprozess (Collaborative Peer Review) hervorgehen, bieten
den Lesern maximale Qualitätssicherung (Kombination von traditionellem
Peer Review mit interaktiver öffentlicher Diskussion) und maximale
Informationsdichte (Einarbeitung der Kommentare von Gutachtern ebenso wie
von anderen interessierten Wissenschaftlern). Höchste Sichtbarkeit, Qualität
und Anerkennung der in ACP publizierten Final Papers werden sowohl durch
311
die Reputation des Journals innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft als
auch durch Zitierstatistiken bestätigt.
Aufgrund der genannten Vorteile gegenüber traditionellen Journalen konnte ACP
innerhalb von nur fünf Jahren an die Spitze aller Zeitschriften seines Fachgebiets
vorstoßen. Laut Journal Citation Report 2005 des Institute of Scientific Information
(ISI) hat ACP den höchsten Journal-Impact-Factor aller 47 Journale des Fachbereichs
„Metorology and Atmospheric Sciences“ und einen der zehn höchsten Werte
unter den mehr als 250 Journalen der Fachbereiche „Environmental Sciences“ und
„Geosciences“. Angesichts dieses Erfolgs haben die EGU und ihr wissenschaftlicher
Dienstleister bzw. Verlag Copernicus (www.copernicus.org) in den vergangenen
Jahren bereits vier neue interaktive Open-Access-Zeitschriften mit Collaborative
Peer Review gestartet, die sich ähnlich erfolgreich entwickeln (Biogeosciences, Climate
of the Past, e-Earth, Ocean Science), und eine bereits zuvor existierende Zeitschrift auf
das neue Konzept umgestellt (Hydrology and Earth System Sciences). Der Neustart
bzw. die Umstellung weiterer geowissenschaftlicher Fachzeitschriften nach diesem
Muster ist in Vorbereitung.
Das interaktive Open-Access-Publikationskonzept (Interactive Open Access
Publishing) wurde mittlerweile auch in andere wissenschaftlichen Disziplinen
übertragen (z.B. in Biotechnologie und Ökonomie) und kann flexibel sowohl auf
existierende Fachzeitschriften angewandt als auch auf großskalige Open-Access-
Publikationssysteme (z.B. arXive.org) ausgedehnt werden.5
Daher erscheint es nicht nur wünschenswert, sondern auch realistisch, dass die
öffentliche Fachbegutachtung mit interaktiver Diskussion (Collaborative Peer
Review) sich bereits in naher Zukunft zum Standard der Qualitätssicherung im
wissenschaftlichen Publikationswesen entwickelt, und die traditionelle, nicht-
öffentliche Fachbegutachtung (Peer Review) in dieser Rolle ablöst.
Einführung und Verbreitung von Open Access und Collaborative Peer Review
dienen nicht nur der Verbesserung von wissenschaftlicher Kommunikation und
Qualitätssicherung, sondern lassen darüber hinaus eine substantielle Förderung
und Beschleunigung des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts
erwarten. Sie bieten die Grundlage zur effizienten Nutzung, Mehrung, und
Aufrechterhaltung wissenschaftlicher Information als globales Gemeingut (Global
5 Ulrich Pöschl: Collaborative Peer Review and Quality Assurance. E-Journal Summit.
National Academy of Sciences, a.a.O.; ders: Open Access, Public Peer Review and Inter-
active Discussion for Improved Scientifi c Communication & Quality Assurance), a.a.O.
312
Information Commons)6. Zudem kann und soll das Konzept gemeinschaftlicher
und öffentlicher Begutachtung, Diskussion und Dokumentation als Musterbeispiel
für rationale und transparente Verfahren zur Lösung komplexer Fragen, Probleme
und Auseinandersetzungen dienen, d.h. als Modell für die Weiterentwicklung der
Strukturen, Mechanismen und Prozesse von Kommunikation und Entscheidungs-
findung in Gesell schaft und Politik.
Um die genannten Perspektiven möglichst rasch und umfassend zu realisieren, sind
für Institutionen der Wissenschaftspolitik, -förderung und -administration folgende
Maßnahmen angezeigt:
1) Sicherstellung des freien Zugangs (Open Access) zu Publikationen aus öffentlich
geförderten wissenschaftlichen Projekten durch verpflichtende Regelungen für
Förderungsempfänger.
2) Unterstützung von Autoren und Verlagen/Dienstleistungsunternehmen bei
der Implementierung von Open Access, insbesondere durch Umwandlung von
Subskriptions-Budgets öffentlicher Forschungs- und Bildungseinrichtungen in
Fonds zur Deckung von Open-Access-Publikationskosten (z.B.: Subskriptions-
Budget-Umwidmungen von 20–30% pro Jahr; Publikationskosten-Deckung
von 2000,-- pro Jahr und Wissenschaftler in öffentlichen Forschungs-
einrichtungen; Bereitstellung zusätzlicher Publikationsmittel im Rahmen von
Forschungsprojekten und Entwicklungshilfemaßnahmen).
3) Förderung und Forderung verbesserter Qualitätssicherungs- und Evaluierungs-
methoden im Wissenschaftsbetrieb, insbesondere durch öffentliche Begutachtung
und interaktive Diskussion (z.B.: Erfassung und höhere Bewertung von
Publikationen mit öffentlicher Begutachtung gegenüber solchen mit nicht-
öffentlicher oder ohne Begutachtung; Implementierung von Diskussionsforen
in neuen und existierenden Fachzeitschriften; Weiterentwicklung von
Zitierstatistiken und Ergänzung durch Kommentierungsstatistiken; Unterstützung
und Anerkennung von Gutachtertätigkeiten).
6 P. A. David, P. F. Uhlir: Creating the Information Commons for e-Science: Toward
Institutional Policies and Guidelines for Action. Paris 2005, URL: www.codataweb.
org/UNESCOmtg/proceedings1.html.
313
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN
Thomas Aigner, Dr. phil, Studium der Musikwissenschaft in Wien, seit 2000 Lei-
ter der Musiksammlung der Wienbibliothek im Rathaus.
Stefan Alker, Mag. phil., Studium der Germanistik in Wien, Universitäts-
bibliothek Wien, Projekt Provenienzforschung.
Roland Alton-Scheidl, DI Dr. techn., Studium der Informatik und Medienkunst,
seit 2003 an der Fachhochschule Vorarlberg, Leitung der Studiengänge Medien-
gestaltung und InterMedia, Leiter des Kompetenznetzwerks Mediengestaltung,
F & E-Koordination.
Manfred Antoni, Dr. rer. pol., Studium der Betriebswirtschaftslehre und der
Soziologie in Mannheim und Göttingen, bis März 2007 Geschäftsführer John
Wiley & Sons GmbH.
Monika Bargmann, Mag. (FH), Bibliothekarin und wissenschaftliche Assistentin
am Fachhochschulstudiengang Informationsberufe in Eisenstadt.
Bruno Bauer, Mag. phil, Studium der Geschichtswissenschaften in Wien,
Leiter der Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien,
Chefredakteur von GMS Medizin – Bibliothek – Information.
Michaela Brodl, Mag. phil., Studium der Volkskunde und Kunstgeschichte
in Wien, Leiterin des Archivs des Österreichischen Volksliedwerkes sowie der
Arbeitsgruppe „Digitalisierung von analogen Tondokumenten“ der
Österreichischen Nationalbibliothek in Wien.
Stephan Büttner, Diplom-Physiker, Dr. phil., Prof., Studium der Physik,
Professor für Digitale Medien an der Fachhochschule Potsdam, Fachbereich
Informationswissenschaften.
Olaf Eigenbrodt, M.A., MA (LIS), Studium der Neuen Deutschen
Philologie, Kunstgeschichte, Geschichte und Philosophie in Bochum und
Münster, seit 2005 Baureferent der Universitätsbibliothek der Humboldt-
Universität zu Berlin, Lehrbeauftragter am Institut für Bibliotheks- und
Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin.
314
Christian Enichlmayr, Dr. phil., Studium der Kommunikationswissenschaften und
Psychologie in Salzburg, seit 1999 Leiter der Oberösterreichischen
Landesbibliothek.
Sebastian Eschenbach, Prof. (FH) Mag. Dr. rer. soc. oec., Dr. rer. nat.,
Studium der Betriebswirtschaft und Psychologie in Wien und Klagenfurt, Leiter
des Bachelor-Studiengangs Informationsberufe und des Master-Studiengangs
Angewandtes Wissensmanagement an der Fachhochschule in Eisenstadt.
Susanne Eschwé, Dr. phil., Studium der Musikwissenschaft und Kunstgeschichte
in Wien, Leiterin der Universitätsbibliothek der Universität für Musik und dar-
stellende Kunst in Wien.
Arnd Frederichs, Dipl.-Ing. (FH), Studium der Verlagsherstellung in Leipzig,
Brockhaus Duden Neue Medien GmbH, Mannheim, Produktmanager.
Gabriele Fröschl, Dr. phil., Studium der Geschichte in Wien, Österreichische
Mediathek, Metadatenerfassung und Benutzung, Webprojekte, Projektplanung.
Winfried Gödert, Prof. Dipl.-Math., Studium der Mathematik und Physik
in Dortmund, Fachreferent an der Universitätsbibliothek Kaiserslautern,
Lehrtätigkeit an den Fachhochschulen Hamburg und Köln.
Joachim Griesbaum, M.A., Dipl.Inf.-Wiss., Studium der Politikwissenschaft,
Finanzwissenschaft und Geschichte in Freiburg im Breisgau, Studium der
Informationswissenschaft in Konstanz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Lehrstuhl Informationswissenschaft an der Universität Konstanz.
Heimo Gruber, Bibliothekar der büchereien wien, Koordinator des „Arbeitskreises
kritischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare im Renner-Institut (KRIBIBI)“.
Jürg Hagmann, lic. Phil. I, Studium der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und
Staatsrecht in Bern, Novartis Basel, Global Records Manager.
Manfred Hauer, M.A., Dipl.Inf.-Wiss., AGI – Information Management
Consultants, Neustadt/Weinstraße.
Markus Heindl, derzeit Studium Lehramt Informatik und Informatikmanage-
ment und Psychologie, Philosophie und Pädagogik an der Universität Wien, seit
2002 Universitätsbibliothek für Bodenkultur in Wien.
315
Wilhelm Hilpert, Dr. rer. nat., Studium der Chemie in München, Bayerische
Staatsbibliothek, Leiter der Abteilung Benutzungsdienste.
Ulrich Hohoff, Dr. phil., Mag. art., Studium Neuere Deutsche Philologie, Philo-
sophie und Theaterwissenschaft in München, Universitätsbibliothek Augsburg,
Leiter, stellv. Vors. des Vereins Deutscher Bibliothekare (VDB).
Rainer Hubert, Hofrat Dr. phil., Studium der Zeitgeschichte in Wien, Leiter der
Österreichischen Mediathek des Technischen Museums Wien,
Vorsitzender der „Medienarchive Austria“.
Roman Hummel, Dr. phil., Univ.-Prof., Studium der Kommunikationswissen-
schaft in Wien und Berlin, Leiter der Abteilung Journalistik des Fachbereichs
Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg.
Christian Jahl, seit 2001 Leiter der Hauptbücherei der büchereien wien.
Hans-Christian Jetter, M.Sc., Studium des Information Engineering an der
Universität Konstanz, Universität Konstanz, Projektleiter MedioVis in der
Arbeitsgruppe Mensch–Computer-Interaktion.
Manfred Kammerer, Dr. phil., seit 2003 Leiter der Universitätsbibliothek
Mozarteum in Salzburg.
Adalbert Kirchgäßner, Dipl.-Kfm., Dr. rer. pol., Studium der Betriebswirtschafts-
lehre und Mathematik, Bibliothek der Universität Konstanz, Leiter der
Bearbeitungsabteilung und Erwerbungsleiter.
Andreas Klingenberg, Diplom-Informationswirt (FH), Studium Informations-
management in Hannover, S(kim) Service | Kommunikation Information Medien
der Fachhochschule Lippe und Höxter, Bibliothek Detmold, 2. Vorsitzender des
Vereins INFOKOS – Informationskompetenz für Schüler e. V.
Oliver Kohl-Frey, M.A., Studium der Politikwissenschaft und Volkswirtschafts-
lehre in Mannheim und Florenz, Bibliothek der Universität Konstanz, Fachrefe-
rent für Politik, Verwaltungswissenschaft und Zeitgeschichte, Projektkoordinator
Informationskompetenz.
Christina Köstner, Dr. phil., Studium der Germanistik und Romanistik in Wien
und Turin, Universitätsbibliothek Wien, Projekt Provenienzforschung.
316
Thomas Leibnitz, Dr. phil., Studium von Musikwissenschaft und Germanistik in
Wien, Österreichische Nationalbibliothek Wien, Direktor der Musiksammlung.
Dirk Lewandowski, Prof. Dr., Studium Bibliothekswesen in Stuttgart, Philosophie
und Informationswissenschaft in Düsseldorf, Hochschule für Angewandte Wissen-
schaften Hamburg, Professor für Information Research & Information Retrieval.
Anke Märk-Bürmann, Dipl. Bibliothekarin und Gymnasiallehrerin,
Mitarbeiterin der Akademie für Leseförderung der Stiftung Lesen an
der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek in Hannover.
Peter Mayr, Mag. (FH), Studium am Fachhochschulstudiengang
Informationsberufe in Eisenstadt, hbz – Hochschulbibliothekszentrum
des Landes Nordrhein-Westfalen, Gruppe Portale.
Günter Olensky, Dr. med. vet., Studium der Veterinärmedizin in Wien,
Leiter des Multimedialen Informations- und Kommunikationszentrums
(MIK – Universitätsbibliothek, Medienzentrum, Zentraler Informatikdienst)
der Veterinärmedizinischen Universität in Wien.
Ulrich Pöschl, Dipl.-Ing. Dr. techn, Studium der Technischen Chemie,
Max-Planck-Institut für Chemie, Forschungsgruppenleiter.
Harald Reiterer, Prof. Dr., Studium der Betriebsinformatik an der Universität
Wien, Habilitation an der Universität Wien im Fachgebiet Mensch–Maschine-
Interaktion, Universität Konstanz, Leiter der Arbeitsgruppe Mensch–
Computer-Interaktion.
Robert Schiller, Mag. phil., Studium der Philosophie und Musikwissenschaft in
Graz, Direktor der Universitätsbibliothek der Universität für Musik und
darstellende Kunst in Graz.
Werner Schöggl, Mag. phil., Lehrer und Leiter der Arbeitsgruppe multimediale
Schulbibliotheken im Auftrag des Unterrichtsministeriums und der Servicestelle
für Schulbibliotheken an AHS am Pädagogischen Institut der Stadt Wien.
Jan Steinberg, Dipl.-Bibl. (FH), Studium der Informations- und Kommunikati-
onswissenschaften, Fachrichtung Bibliothek, Team Digitale Bibliothek im Biblio-
theksservice-Zentrum Baden-Württemberg, Projekte InfoDesk, Portale.
317
Markus Stumpf, Mag. phil., Studium der Völkerkunde und Publizistik in Wien,
Universitätsbibliothek Wien, Leiter der Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte
und Osteuropäische Geschichte.
Wilfried Sühl-Strohmenger, Dr. phil, Studium der Pädagogik, Politik, Germani-
stik und Geschichte in Freiburg im Breisgau, Universitätsbibliothek Freiburg im
Breisgau, Leiter der Dezernate „Bibliothekssystem“ und „Informationsdienste,
Kompetenz- und Lernzentrum“, Lehrtätigkeit an den Universitäten Freiburg,
Innsbruck und Wien.
Margot Werner, Mag. phil., Studium der Geschichte und Deutschen
Philologie in Wien, Österreichische Nationalbibliothek in Wien, Provenienz-
forschung und Archiv.
Helmut Windinger, Dr. phil., Studium der Politikwissenschaft und Kunstge-
schichte in Salzburg, seit 2007 Leiter der Stadtbibliothek Salzburg.
Stefan Winkler, Dipl.Inf.-Wiss., Studium der Informationswissenschaft an der
Universität Konstanz, Graduiertenkolleg „Infrastruktur für den elektronischen
Markt“ an der TU Darmstadt, Team Digitale Bibliothek im Bibliotheksservice-
Zentrum Baden-Württemberg, Projekt InfoDesk.
ODOK_06.indd 317ODOK_06.indd 317 18.10.2007 19:02:02 Uhr18.10.2007 19:02:02 Uhr