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PrestelMünchen · Berlin · London · New York
Hajo Düchting
Wassily Kandinsky
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Die Kunststadt München ...… ist um die Jahrhundertwende eine der inspirierendsten
Metropolen Europas. Daher ist sie auch Anziehungs-punkt für viele junge Künstler, die hier nicht nur Kunststudieren wollen, sondern auch die bunte, quirlige
Atmosphäre der bayerischen Hauptstadt schätzen.
Um 1900 ...
-> … gehört München als
Haupt- und Residenzstadt
Bayerns zu den wichtigsten
Großstädten Europas.
-> … zählte München etwa
500 000 Einwohner.
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KünstlerkreiseDie 1868 gegründete Künstlergenossen-
schaft unter dem Vorsitz des Malerfürs-
ten Franz von Lenbach zählt 1890 bereits
900 Mitglieder. Von den auf ungefähr
3000 geschätzten Münchner Künstlern
kommen aber nur die wenigsten in den
Genuss von offiziellen Aufträgen und
Ausstellungen. Zu den wichtigsten Aus-
stellungen gehört die international be-
schickte Jahresausstellung im Münchner
Glaspalast.
Die Unzufriedenheit mit dieser Situation
führt bereits 1892 zur Gründung der
Münchner Secession, eine der ersten Ab-
spaltungen moderner Künstler, der bald
ähnliche Neugründungen in Berlin und
Wien folgen. Auch Kandinsky versuchte
mit der Gründung mehrerer Künstlergrup-
pen, wie der Phalanx, der Neuen Künstler-
vereinigung München und Der Blaue Reiter
die Aufmerksamkeit des Kunstpublikums
auf seine Bilder zu lenken.
Raum auf der VII. InternationalenKunstausstellung im Münchner
Glaspalast, 1897
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Rückblende
Freiluft-malereiZu den neuesten Trends der Kunst gehört das Malen in der freien
Natur, das die französischen Impressionisten eingeführt haben. Die
Künstler der Münchner Gruppe Die Scholle folgen diesem Beispiel
und malen selbst Akte in der freien Natur. Auch Kandinsky und
seine Malschüler verbringen viel Zeit beim Malen in der bayeri-
schen Landschaft.
»Moderne« gegen»Konservative«In der Kunststadt München
prallen immer wieder ver-
schiedene Parteien und An-
hänger aufeinander. Zu den
konservativen Hütern der
Kunsttradition zählen die
Historienmaler Karl Theodor
von Piloty (1824-1886), ab
1874 auch Direktor der
Münchner Kunstakademie,
und Franz von Lenbach (1836-
1904), dessen Künstlervilla
zum Treffpunkt der Münchner
Künstler wird. Die Anhänger
einer französisch orientierten
Malerei, zu denen vor allem
Wilhelm Leibl (1844-1900) und sein Kreis gehören, werden dagegen
an den Rand gedrängt und fristen ihr Leben im Schatten der Kunst-
metropole, in den kleinen Dörfern des bayerischen Voralpenlandes.
Andere Künstler, wie Lovis Corinth (1858-1925) und Max Liebermann
(1847-1935), verlassen München ganz und ziehen nach Berlin, der
neuen aufstrebenden Kunststadt des 20. Jahrhunderts.
Schwabing als KünstlerviertelUm 1900 ist der kleine Münchner Stadtteil Schwa-
bing ein berühmtes Künstlerviertel, das viele
Studenten aus aller Welt mit seinen billigen
Mieten, Künstlerkneipen und Modellen anzieht.
Man sieht in den Straßen Schwabings kaum einen
Mann oder eine Frau ohne Palette und Leinwand,
oder zumindest mit einer schweren Mappe
unterm Arm.
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Im Zentrum kreativen Schaffens:Künstleratelier in Schwabing, um 1899
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Rückblende
»Ein Paradies ist München ...«Als Kandinsky 1896 mit dreißig Jahren beschließt nach München zu
gehen, um dort Kunst zu studieren, folgt er dem Ruf einer Kunststadt,
die auf dem Höhepunkt ihrer Ausstrahlung steht. München mit seinen
Prachtboulevards, seinen Kirchen und Schlössern, aber auch mit sei-
nen verträumten Plätzen, Winkeln und Cafés dient Künstlern aus ganz
Europa als Ausbildungsort wie Vergnügungsstätte.
Die expressionistische Dichterin Else Lasker-Schüler beschreibt Mün-
chen um die Jahrhundertwende als Paradies für sensible Künstler:
»Ein Paradies ist München, aus dem man nicht vertrieben wird, aber Berlin ist ein
Kassenschrank aus Asphalt ... Ich muss München immer wieder küssen, schon, weil ich
Nach einer wissenschaftlichen Ausbildung als Nationalökonomverfolgt Kandinsky diese Laufbahn nicht weiter, sondern stürztsich ins Abenteuer Kunst, der schon lange sein ganzes Interessegilt. In München sucht er nach neuen Wegen, um den Wunsch-traum des Künstlerdaseins zu verwirklichen.
Der Ruf der Kunststadt
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Fassade des Fotoateliers Elvira, München 1896/97
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Berlin hinter mir habe; wie von einer langweiligen Ko-
kotte geschieden fühle ich mich. Meine Freunde spielen
Harmonika, wir ziehen an Schaufenstern pietätvoller
Läden vorbei; Meisterbilder, frommer Schmuck, wilde
Waffen aus den Gräbern der Bibelfürsten und überall
die blauen König-Ludwig-Augen! Eine Riesenkommode
ist München, aus einem bayerischen Alpenknochen ge-
hauen. Man kann so andächtig kramen in München und
ausruhen auf gepolsterten Erinnerungen. Hier freut
man sich seiner selbst ...!«
Kandinsky gerät mitten hinein in die künstlerischen
Auseinandersetzungen der Münchner Kunstszene, die
von der Historienmalerei und ihren konservativen Ver-
fechtern Piloty und
Lenbach beherrscht
wird. Daneben hat sich
1892 die Secession
gebildet, die ganz un-
terschiedliche Talen-
te und Richtungen
sammelt, um gegen die rigide Kunstpolitik zu kämpfen.
Im gleichen Jahr wird die Zeitschrift Jugend gegründet,
die dem neuen, sich überall manifestierenden Jugend-
stil den Namen gibt. Der junge Architekt August Endell,
der mit seinen Entwürfen für das Hofatelier Elvira Auf-
sehen erregt (Abb. Seite 9), fasst den Kerngedanken der
neuen Kunstauffassung in einem Satz zusammen: »Es
gibt keinen größeren Irrtum als den Glauben, die sorg-
fältige Abbildung der Natur sei Kunst.«
Als Neuling unterwirft sich Kandinsky aber erst der
strengen Disziplin des Aktzeichnens in der Malschule
von Anton Ažbe, die er zwei Jahre lang besucht. Auch in
Anatomie lässt sich der lernbegierige Russe unterwei-
sen, doch bald stellt sich heraus, dass sein Interesse
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In der Serie der Heuhaufen beschreibtMonet nicht länger denGegenstand selbst,sondern die Auswir-kungen von Licht undAtmosphäre auf dieFormwahrnehmung.
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auf einem ganz anderen Gebiet liegt: »Als einige meiner
Kollegen meine Hausarbeiten sahen, stempelten sie
mich zum ›Koloristen‹. Manche nannten mich nicht
ohne Bosheit den ›Landschaftsmaler‹. Beides kränkte
mich, obwohl ich die Gerechtigkeit dieser Bezeichnun-
gen einsah. Um so mehr! Ich fühlte tatsächlich, daß ich
im Reich der Farben mich viel heimischer fühlte als in
dem der Zeichnung. Und ich wußte nicht, wie ich mir
diesem drohenden Übel gegenüber helfen sollte.«
Tatsächlich hat Kandinsky bereits in Moskau koloristi-
sches Talent an den Tag gelegt, das von einem intensi-
ven Farbempfinden gesteigert und gefördert wird. Die
Farben Moskaus verändern sich in seinen Augen zu glü-
henden Farbklängen – grelle Farbkontraste, die für ihn
von musikalischen Klängen begleitet werden: »Rosa,
lila, gelbe, weiße, blaue, pistaziengrüne, flammendrote
Häuser, Kirchen, der rasend grüne Rasen, die tiefer
brummenden Bäume, oder der mit tausend Stimmen
singende Schnee, oder das Allegretto der kahlen Äste,
der rote, steife, schweigsame Ring der Kremlmauer und
darüber, alles überragend, wie ein Triumphgeschrei,
Rückblende
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wie ein sich vergessendes Halleluja der weiße, lange,
zierlich ernste Strich des Iwan Weliky-Glocken-
turms.«
So erlebt er auch Musik, wie zum Beispiel die Wagner-
Oper Lohengrin, als mit Farben verbunden, was man
»synästhetisches Empfinden« nennt, obwohl man heute
an dieser von Kandinsky beschriebenen Fähigkeit zwei-
felt. Es wird sich eher um »vorgestellte Synästhesien«
handeln als um echte. Auch die später nieder-
gelegte Farbensprache, in der Farben und Klänge
zugeordnet werden, ist keine wissenschaftlich belegba-
re Tatsache sondern ein poetischer Versuch, starkes
Farbempfinden metaphorisch zu erläutern.
Über ein weiteres starkes Erlebnis in seiner Moskauer Ju-
gendzeit hat Kandinsky ausführlich berichtet. Er sieht ein
Bild aus der Serie der Heuhaufen von Monet und erkennt
den Gegenstand nicht, was ihn zunächst verwirrt, dann
aber auf dem Weg zu einem eigenen Kunststil bestärkt.
Bereits angesichts dieses impressionistischen Werkes er-
kennt Kandinsky die Möglichkeit der Farben, ohne er-
kennbaren Gegenstand aus sich heraus zu »sprechen«.
Franz von Stuck gehörteum 1900 zu den wichtigstenund einflussreichstenMünchner Künstlern.
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Die Serie der Mont Sainte-Victoire-Bilder führtCézanne zur immer weiteren Abstrahierung
vom Motiv, bis zu einer fast schon gegen-standslosen Malerei aus Farbflecken, aus
denen der Berg wie ein Monument auftaucht,aber mit der Struktur des Bildes verwoben ist.
Zunächst folgt er dem Rat seiner Kollegen und sucht
sich im Zeichnen zu vervollkommnen, bei einem der da-
mals größten in München lebenden Künstler: Franz von
Stuck, dem Gründer der Münchner Secession! Stuck
gehört zu den wichtigsten Persönlichkeiten des Münch-
ner Kunstlebens, seine Villa hallt wider von den dort
stattfindenden Künstlerfesten, er ist neben Lenbach der
Künstlerfürst, dem die Kunstwelt bereitwillig huldigt.
In dem Kreis um Stuck lernt Kandinsky seinen späte-
ren Kollegen und Freund Paul Klee kennen. Nach
einem Jahr hat er endgültig genug von den akademi-
schen Studien, er verlässt Stuck und konzentriert sich
auf sein Naturtalent und die Liebe zur Malerei!
Zusammen mit seinen Freunden Alexej Jawlensky,
Marianne von Werfekin und Gabriele Münter durch-
streift er die bayerische Voralpenlandschaft, um in vor
Ort gemalten Landschaftsskizzen und -studien seinen
Malstil zu entfalten.
Kandinskys erste Bilder sind allerdings eher dem Ju-
gendstil verpflichtet, in ihrer märchenhaften, weltabge-
wandten Entrücktheit und edelsteinartigen Farbigkeit.
Auf dem Weg zur Neuen Kunst
Die Münchner Kunstszene ist zu dieser Zeit konservativ,
rückwärtsgewandt, sie versucht am Altbewährten fest-
zuhalten und erkennt noch nicht die neuen Zeichen, die
vor allem in Frankreich die Kunst erfasst haben.
Dort waren es die Impressionisten, die mit ihrer fri-
schen, farbstarken Palette und den vor Ort gewonnenen
Motiven eine Revolution eingeleitet hatten, die bald ganz
Europa erfassen wird: die Freilichtmalerei. Was die Im-
pressionisten begannen, führen andere Maler weiter:
die Lösung des Bildes von der illusionistischen Gegen-
standsnachahmung. Vor allem ein zurückgezogen in
der Provence lebender Maler, Paul Cézanne, geht auf
diesem Weg weiter und erfindet eine Malerei, die sich
ganz auf ihre eigenen Regeln besinnt. Das Motiv wird in
kleine Sehdaten zerlegt und auf der Bildfläche puzzle-
artig zu einem Farben-Bild zusammengefügt, das in
Festigkeit und Formgebung die impressionistischen
Vorläufer übertrifft.
Cézanne steht am Anfang einer neuen Entwicklung, die
vom Naturvorbild wegführt und die Eigenständigkeit des
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Rückblende
Bildes betont. Die Kubisten gehen diesen Weg weiter,
und auch Kandinsky wird ihn nach seiner vorbereiten-
den Landschaftsphase beschreiten.
Kunst und Kunstpolitik
Um gegen die herrschende Kunstdoktrin und das Regle-
ment der öffentlichen Ausstellungen anzukämpfen, grün-
det Kandinsky 1902 einen eigenen Künstlerverein, den er
bezeichnenderweise Phalanx nennt. Die Mitglieder haben
sich über Stucks Atelier zusammengefunden: neben Kan-
dinsky gehören Stucks Atelierassi-
stent Ernst Stern, der Puppenspieler
Waldemar Hecker und der Bildhauer
Wilhelm Hüsgen dazu, alle drei sind
auch Mitglieder des literarisch-
künstlerischen Kabaretts Die elf
Scharfrichter, deren satirisch-kriti-
sches Programm von Kandinsky auf-
merksam verfolgt wird.
In der Phalanx organisiert Kandinsky
mit seinen Freunden zwölf Ausstel-
lungen mit wichtigen Vertretern der modernen Kunst:
vom Impressionismus über den Jugendstil bis zum Sym-
bolismus, von Corinth und Monet zu Signac, Vallotton und
Toulouse-Lautrec. Daneben leitet er eine Kunstschule
und führt Malausflüge in die nähere Umgebung durch. In
der Phalanx erfährt Kandinsky erste Anerkennung als Or-
ganisator einer Künstlergruppe. Seine organisatorischen
und pädagogischen Fähigkeiten werden ihn sein ganzes
Leben begleiten und einen Großteil seines Schaffens aus-
machen.
Wassily Kandinsky (vorne rechts)im Frühjahr 1902 mit Schülern seiner »Phalanx«-Malklasse
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Impressionistischer Einfluss In seiner ersten Münchner Phase malt Kandinsky noch in impressionistischer Manier, die sich aber zunehmend vom gegenständlichen Motiv ablöst. Ein Beispiel dafür ist das 1901 entstandene Gemälde des Münchner Nordfriedhofs.
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Das bunte Leben Kandinskys Heimatliebe drückt sich in einer Serie von Märchenbildern aus, in denen er Aspekte des weltlichen undgeistigen Lebens Russlands wie auf einem bunten Teppich versammelt.
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Ruhm und Ehre
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»Der Künstler muß seine Begabung durch und durch
kennen, und wie ein kluger Geschäftsmannkein Teilchen ungebraucht undvergessen liegen-lassen, sondern
ausnützen, ausbil-den muß er jedesTeilchen bis zur
letzten Möglichkeit, die es für ihn gibt.«
Wassily Kandinsky
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Das »Geistige in der Kunst« ...... kann sich nach Kandinsky nur dann offenbaren, wenn
der Materialismus überwunden wird. Für die Malereiheißt das, keine Gegenstände mehr darzustellen, sondern den »inneren Klang« von abstrakten Farben
und Formen zu erfahren. Der Betrachter muss sich dabeigrößtenteils auf sein eigenes Empfinden verlassen. Die Künstler-
theorie kann für ihn nur »Anleitung zum Sehen« sein.
Abstrakte Kunst ...
-> … ist für Kandinsky
Ausdruck neuer geistiger
Kräfte.
-> … wird von ihren über-
zeugten Anhängern auch
»absolute Malerei« ge-
nannt.
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Der Blaue ReiterKandinsky und Franz Marc gründen Ende
1911 die Redaktion Der Blaue Reiter, mit
dem Ziel, die neuen Kunstströmungen in
einem Almanach und einer Ausstellung zu-
sammenzustellen. Der Name entsteht an-
geblich bei einer Kaffeerunde im Garten
von Maria Marc: Beide Künstler lieben die
Farbe Blau und sehen im Motiv des Reiters
ein Symbol für die vorwärtsstürmende
Avantgarde.
Zu der ersten Ausstellung, die vom 19. De-
zember 1911 bis zum 30. Januar 1912 in
der Modernen Galerie Thannhauser in
München stattfindet, werden wichtige mo-
derne Künstler aller Richtungen eingela-
den, darunter auch Gabriele Münter,
August Macke, Alexej Jawlensky, Paul Klee, Robert Delaunay
und Henri Rousseau.
Aber auch die Volks- und Kinderkunst, die Kunst der soge-
nannten »Primitiven« Ostasiens und Ägyptens wie die alt-
deutsche Kunst werden im Almanach, der Ende 1912 im Ver-
lag Piper in München erscheint, als unterschiedliche Ausprä-
gungen eines neuen expressiven Kunstwollens gewürdigt.
Im Titel des Almanachs Der Blaue Reiter sind die
Symbole der neuen Kunst-bewegung versammelt: der Ritter zu Pferd und
die geistige Farbe Blau.
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AnregungenKandinskys Bilder auf dem Weg zur Abstraktion sind von ganz un-
terschiedlichen Quellen inspiriert. Zunächst regen ihn die Bilder
französischer Künstler, der Impressionisten, dann der Neo-Im-
pressionisten (Seurat) und schließlich der Fauves (Matisse) sehr
an. Von ihnen übernimmt er den starken Pinselduktus und die
»wilden« Farben. Zusammen mit Gabriele Münter entdeckt er die
bayerische Volkskunst und vor allem die Hinterglasmalerei, in der
sich beide Künstler versuchen. Kandinsky übernimmt für seine
Malerei die Flächigkeit, besonders aber die linearen Elemente der
Hinterglasbilder, die schwarze Konturierung der Formen und
Figuren. Aber auch die russische Volkskunst hat einen Einfluss
auf Kandinsky mit ihren märchenhaften Szenen und der bunten
Farbigkeit.
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Ruhm und Ehre
Neue Künstler-vereinigung MünchenKandinsky und seineMalerfreunde Jawlens-ky, Münter, Erbslöh,Werefkin, Kanoldt,Kubin, Schnabel undWittenstein knüpfen mit der Gründung derNeuen Künstlervereini-gung München (NKVM)an die aufgelöste Grup-pe der Phalanx an. Zielwar auch hier, neueStrömungen in der Malerei vorzustellenund dort anzuschließen.Zwischen 1909 und 1911 werden drei große Ausstellun-gen veranstaltet, in denen neben Arbeiten der Mitglie-der Bilder von Picasso, Braque, de Vlaminck und denRussen David und Wladimir Burljuk gezeigt werden.Doch bereits die dritte Ausstellung findet ohne Kan-dinsky, Marc, Münter und Kubin statt, da diese aus Pro-test gegen die Ausjurierung eines Bildes von Kandinskyausgetreten sind. Als auch Werefkin, Jawlensky undBechtejeff aus der Neuen Künstlervereinigung austreten,löst sich diese im Jahr 1912 auf.
Okkultismus und AvantgardeKandinsky ist fest davon überzeugt, dass nach dem
endgültigen Zusammenbruch der alten Vorherr-
schaft des Materialismus ein neues geistiges Reich
entstehen wird. Mit diesem Glauben steht er nicht
allein innerhalb der internationalen Avantgarde.
Auch sein Freund und Mitstreiter Franz Marc ist der
Ansicht, man müsse »Symbole schaffen auf den
Altären einer kommenden Religion«. Auch andere
abstrakte Künstler, wie Kupka, Mondrian und Male-
witsch suchen geistige Inhalte mit abstrakten
Formen auszudrücken. Genährt werden diese Vor-
stellungen von damals kursierenden esoterischen
und okkulten Schriften, wie zum Beispiel von Helena
Blavatzky oder das Tertium Organum von
P. D. Ouspensky, die auf eine geistige Dimension
hinter den materiellen Erscheinungen hinweisen.
Einflussreich besonders für Kandinsky sind auch die
Schriften Rudolf Steiners, des Gründers der
Anthroposophie.
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Wilde Reiter jagen durch die Romantische Landschaft aus demJahr 1911, ein Zeichen für den stürmischen Tatendrang desjungen Künstlers, der zu neuen Ufern aufbrechen will.
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Ruhm und Ehre
Die Freiheit des Malens
Mit der langsamen, schrittweisen Loslösung der Farben
und Formen vom Gegenstand betritt Kandinsky ein für
ihn selbst wie für das damalige Kunstpublikum völlig un-
bekanntes Gebiet. Zwar hatten die französischen Maler
des Fauvismus und auch die deutschen Expressionisten
schon die Motive stark stilisiert und heftige Farben ein-
geführt. Doch war immer noch der Gegenstand erkenn-
bar und deutbar geblieben. Selbst die Kubisten wie Picasso hatten die Grenzen der gegen-
ständlichen Kunst respektiert und nie verlassen wollen. Erst mit Robert Delaunay zieht ein
Mit der Erfindung der abstrakten Malerei revolutioniert Kan-dinsky die gesamte Kunst des 20. Jahrhunderts. Aber auch alsLehrer und Kunsttheoretiker beeinflusst er die Kunstentwick-lung seiner Zeit maßgeblich. Sein mutiger Schritt in die gegen-standslose Welt hat Generationen von Künstlern den Weg ineine freie Kunst gewiesen.
Die Revolution der Malerei
»Es mußten viele Jahre vergehen, bis ich durch Fühlen und Denken zuder einfachen Lösung kam, daß dieZiele (also auch die Mittel) der Naturund Kunst wesentlich, organisch undweltgeschichtlich verschieden sind –und gleich groß, also auch gleich stark.«
Wassily Kandinsky
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Deutlich sieht man in Picassos Die Fabrikin Horta di Ebro die Ableitung der Motiv-welt aus stereometrischen Formen.Auch die Farbigkeit betont die Plastizitätder Formen und gibt keine Atmosphärewieder. Das ist der Beginn des Kubismusin der Auseinandersetzung mit Cézanne!
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Künstler die Konsequenzen aus der Zerlegung des Moti-
vs. Mit den »Fensterbildern« öffnet er den Blick auf eine
neue Welt der Farbe. Das Bild soll allein aus und mit den
Farben entstehen, eine »reine Malerei« mit den Mitteln
der Malerei.
In der Murnauer Landschaft
Ohne seine Malerfreunde Münter, Jawlensky und Werfe-
kin, mit denen Kandinsky lange und ergiebige Malausflü-
ge in die Münchner Umgebung macht, wäre seine Ent-
wicklung wohl nicht so geradlinig und konsequent verlau-
fen. Von Jawlensky erfährt er die neusten Nachrichten
aus Paris, wo sich der russische Künstler öfter aufhält.
Auch dessen Kunsturteil ist für Kandinsky von Bedeutung.
Den größten Einfluss haben wohl in den Jahren 1909-1911
Münters Malerei und Rat. Die eigenwillige Stilisierung und
Abstrahierung ihrer Murnauer Landschaften macht auf
Kandinsky großen Eindruck. Für ihn sind es aber vor
allem die Farben, die den Blick anziehen müssen. So malt
er in Murnau einige sehr heftig-bunte Landschaften, die
seinen Willen zur Abstraktion schon erkennen lassen. Die
Landschaft löst sich immer mehr im Wogen der Farbfor-
men auf, nur vereinzelte Gegenstände verweisen noch auf
den Ausgangspunkt.
Impression, Improvisation und Komposition
Ab 1909 beginnt Kandinsky seine Bilder in drei Kategori-
en einzuteilen:
Impressionen – Werke, denen gegenständliche Motive zu-
grunde liegen und zum Teil noch erkennbar sind.
Improvisationen – innere Erlebnisse.
Kompositionen – vorher genau entworfene und nach Plan
durchkomponierte Bilder.
Zwischen 1910 und 1939 malt Kandinsky zehn große
Kompositionen. Die geringe Zahl bestätigt den hohen An-
spruch, den er an diese Bildform stellt.
Komposition IV von 1911 ist mit ihren noch teilweise er-
kennbaren Gegenständen ein Übergangsbild auf dem
Weg zur Abstraktion. In seinen Rückblicken (1913) hat
Kandinsky dieses Bild genau beschrieben: »Die ganze
Komposition ist sehr hell gemeint mit vielen süßen Far-
ben, die oft ineinander fließen (Auflösungen), auch das
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Komposition VII ist ein Beispiel für eine ausgefeilte
Komposition, die von vielen Skiz-zen und Studien vorbereitet
wurde. Kandinsky hat den TitelKomposition nur wenigen Bildern
vorbehalten, in denen er dieSynthese seiner künstlerischen
Ziele verwirklicht sah.
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Gelb ist kalt. Dieses Hell-Süß-Kalte zum Spitz-Bewegten
(Krieg) ist der Hauptgegensatz im Bild. Hier ist, scheint
mir, dieser Gegensatz (im Vergleich mit Komposition 2)
noch stärker, aber dafür auch härter (innerlich), deutli-
cher, was als Vorteil das präzisere Wirken hat und als
Nachteil eine zu große Deutlichkeit dieser Präzisität.«
Später am Bauhaus hat Kandinsky diese Einteilung kaum
noch aufgegriffen, da jedes einzelne Bild mehr oder weni-
ger ausgefeilt komponiert ist.
Der Künstler-Lehrer
1922 übernimmt Kandinsky die Leitung der Werkstatt für
Wandmalerei am neu gegründeten Bauhaus in Weimar.
Daneben gibt er aber auch einen Kurs in elementarer Far-
ben- und Formlehre, den er während seiner gesamten
Bauhaus-Zeit bis 1932 beibehält. In diesem Kurs analy-
siert er die Elemente der Malerei und veröffentlicht die Er-
gebnisse in dem Buch Punkt und Linie zu Fläche (1926).
Es geht Kandinsky darum, die Regeln aufzustellen, eine
Bildgrammatik zu begründen, nach denen ein abstraktes
Bild aufgebaut werden kann. Für ihn vollzieht sich ab-
Ruhm und Ehre
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strakte Kunst nicht in willkürlicher Beliebigkeit, sondern
nach einem festen Regelwerk, innerhalb dessen sich Va-
rianten und Abweichungen ergeben können und zur
Spannung und Dynamik des Bildes beitragen.
Die Synthese der Künste
Kandinsky hat am Bauhaus auch die Gelegenheit, seine
Ideen von einer Synthese der Künste in einer praktischen
Inszenierung am Dessauer Theater zu verwirklichen. Mit
der Bühne am Bauhaus, die von Oskar Schlemmer gelei-
tet wird, hat er dagegen kaum Kontakt. Kandinsky hat sich
bisher nur theoretisch mit der Bühne befasst und einige
Farb-Opern (Der Gelbe Klang) entworfen, die aber zu Leb-
zeiten nicht zur Aufführung kamen. Nun erhält er 1928
den Auftrag vom Intendanten des Dessauer Theaters, die
Bühnenaufführung von Modest Mussorgskys Bilder einer
Ausstellung zu inszenieren. Kandinsky entwirft zur Musik
von Mussorgsky 16 Bildszenen mit abstrakten, teilweise
beweglichen Elementen, verwendet aber auch gegen-
ständliche Teile. Auch Lichteffekte sind eingeplant und
machen die Aufführung zu einem sinnlichen Erlebnis.
Das Zusammenspiel der bildnerischenElemente hat für Kandinsky eine beson-dere Dynamik und Spannung, die die alteIkonographie des Bildes ersetzen soll. Ermanifestiert diesen Gedanken in seinemBuch Punkt und Linie zur Fläche.
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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE
living_art: Wassily Kandinsky
Paperback, Klappenbroschur, 128 Seiten, 19,5x23,5100 farbige Abbildungen, 20 s/w AbbildungenISBN: 978-3-7913-3938-2
Prestel
Erscheinungstermin: Februar 2008
Wassily Kandinsky, in Moskau geboren, ist eigentlich ausgebildeter Jurist, bevor er nachMünchen übersiedelt und dort als Spätberufener ein Kunststudium beginnt. Er wird zum Gründungsmitglied des „Blauen Reiters“ und sorgt mit seinen schließlich gänzlichgegenstandslosen Gemälden für Furore. Auf die Ära des „Blauen Reiters“ folgt der Ruf andas Weimarer Bauhaus, der Zweite Weltkrieg zwingt ihn schließlich zur Flucht nach Paris,wo er 1944 stirbt. Sein bahnbrechendes, von ihm stets theoretisch fundiertes Werk giltals Meilenstein für die Kunst des 20. Jahrhunderts, und auch privat führt der Künstler einereignisreiches Leben, das geprägt ist von Künstlerfreundschaften und seiner schwierigen,letztlich gescheiterten Beziehung zur Malerin Gabriele Münter. Der vorliegende Band stelltKandinsky mit all seinen Facetten vor und bietet einen unterhaltsamen Einstieg in Leben undWerk des Ausnahmekünstlers.