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Acht Beiträge für die neue Diskussionsplattform des Deutsch-russischen Forums, dem ich wegen der Notwendigkeit einer Aufrechterhaltung des Dialogs mit Russland vorletztes Jahr beigetreten bin (siehe www.russlandkontrovers.de ) : Klaus Wittmann 17. März 2015 „Neues Denken“ für bessere Zeiten (Zu: Alexander Rahr, Lösungen zur Ukraine-Krise) Russlands gewaltsames Vorgehen gegen die Ukraine hat die Regeln der Schlussakte von Helsinki (1975), der Charta von Paris (1990) und weiterer Abmachungen – Souveränität, territoriale Integrität, Unverletzlichkeit von Grenzen, freie Bündniswahl – in Frage gestellt. Fundamentales Vertrauen ist zerstört. Doch muss eingestanden werden: Die NATO-Politik der Westintegration der MOE-Staaten bei gleichzeitigem Angebot der Partnerschaft an Russland hat sich als Misserfolg erwiesen. In Putins Rede vor der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 fokussierten sich der Demütigungskomplex, die Frustration darüber, dass der Westen „macht, was er will“ und das Gefühl, ausgegrenzt zu sein. Doch isolieren kann Russland sich nur selbst. Das tut seine Führung derzeit mit einer Politik, die das Gegenteil ist von Gorbatschows „Perestroika“, „Glasnost“ und „Neuem Denken“. Aber genau das braucht Russland: „neues Denken“ in der Außen- und Sicherheitspolitik, als Teil seiner dringend notwendigen Modernisierung. Der Westen und besonders die NATO sollten das freilich durch selbstkritische Anerkennung ihres Teils der Verantwortung für die Verschlechterung des Verhältnisses in den letzten zwanzig Jahren erleichtern (siehe im Einzelnen hierzu und zum Folgenden: Klaus Wittmann, The West is not Russia’s Enemy. Atlantic Times Sep/Oct 2014 ). Russland bleibt Nachbar und weitgehend Teil Europas. Konkrete Vorstellungen für künftige Zusammenarbeit werden gebraucht. In Ergänzung des konditionierten Vorschlags der Bundeskanzlerin für eine West-Ost-Freihandelszone sollte auf sicherheitspolitischem Gebiet, vor allem seitens der NATO, u.a. 1

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Acht Beiträge für die neue Diskussionsplattform des Deutsch-russischen Forums, dem ich wegen der Notwendigkeit einer Aufrechterhaltung des Dialogs mit Russland vorletztes Jahr beigetreten bin (siehe www.russlandkontrovers.de ) :

Klaus Wittmann 17. März 2015

„Neues Denken“ für bessere Zeiten

(Zu: Alexander Rahr, Lösungen zur Ukraine-Krise)

Russlands gewaltsames Vorgehen gegen die Ukraine hat die Regeln der Schlussakte von Helsinki (1975), der Charta von Paris (1990) und weiterer Abmachungen – Souveränität, territoriale Integrität, Unverletzlichkeit von Grenzen, freie Bündniswahl – in Frage gestellt. Fundamentales Vertrauen ist zerstört. Doch muss eingestanden werden: Die NATO-Politik der Westintegration der MOE-Staaten bei gleichzeitigem Angebot der Partnerschaft an Russland hat sich als Misserfolg erwiesen. In Putins Rede vor der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 fokussierten sich der Demütigungskomplex, die Frustration darüber, dass der Westen „macht, was er will“ und das Gefühl, ausgegrenzt zu sein. 

Doch isolieren kann Russland sich nur selbst. Das tut seine Führung derzeit mit einer Politik, die das Gegenteil ist von Gorbatschows „Perestroika“, „Glasnost“ und „Neuem Denken“.

Aber genau das braucht Russland: „neues Denken“ in der Außen- und Sicherheitspolitik, als Teil seiner dringend notwendigen Modernisierung. Der Westen und besonders die NATO sollten das freilich durch selbstkritische Anerkennung ihres Teils der Verantwortung für die Verschlechterung des Verhältnisses in den letzten zwanzig Jahren erleichtern (siehe im Einzelnen hierzu und zum Folgenden: Klaus Wittmann, The West is not Russia’s Enemy. Atlantic Times Sep/Oct 2014).

Russland bleibt Nachbar und weitgehend Teil Europas. Konkrete Vorstellungen für künftige Zusammenarbeit werden gebraucht. In Ergänzung des – konditionierten – Vorschlags der Bundeskanzlerin für eine West-Ost-Freihandelszone sollte auf sicherheitspolitischem Gebiet, vor allem seitens der NATO, u.a. folgendes ins Auge gefasst werden: bessere Nutzung des NATO-Russland-Rats im Sinne konformer Interessen und gemeinsamer Aktion, Dialog mit der CSTO, gewisse Rücksichten in der NATO-Erweiterung, ein Wiederaufgreifen des Medwedjew-Vorschlags von 2008/9 (ungeachtet inhaltlicher Bedenken) als Ausgangspunkt für einen intensiven strukturierten Dialog über die künftige europäische Sicherheitsordnung und Russlands Platz darin, einen neuen Aufbruch in der konventionellen Rüstungskontrolle und europäischen Vertrauensbildung sowie eine Aktivierung der OSZE.

Für die NATO bleibt die Harmel-Philosophie gültig: Verteidigung und Entspannung, Festigkeit und Gesprächsbereitschaft. Ihren prägnantesten Ausdruck fand sie im NATO-Doppelbeschluss von 1979, der mitsamt der „Nachrüstung“ nach Gorbatschows eigener Aussage ausschlaggebend für das „neue Denken“ in der sowjetischen Außenpolitik war.

Vorausschauende westliche Politik müsste erneutes „neues Denken“ in Russland befördern. Eines Tages wird es sich auch durchsetzen, wenngleich möglicherweise nicht, solange Putin am Ruder ist. Aber seine Herrschaft könnte früher zu Ende gehen, als er und seine derzeit in

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nationalistischem Stolz schwelgenden Anhänger glauben. Jedenfalls sollten langfristige Angebote zur Zusammenarbeit einschließlich der ernsthaft erneuerten Ermutigung zu kooperativer statt konfrontativer Sicherheit ausgearbeitet und bereitgehalten werden – unter Berücksichtigung legitimer Interessengesichtspunkte sowohl Russlands als auch des Westens.

Klaus Wittmann 30. April 2015

„Ukraine-Krise“

(zu: Alexander Rahr, Neue Sicherheitsarchitektur Europas)

Russland braucht „neues Denken“ in der Außen- und Sicherheitspolitik als Teil seiner Modernisie-rung. Der Westen und besonders die NATO sollten das durch selbstkritische Anerkennung ihres Teils der Verantwortung für die Verschlechterung des Verhältnisses in den letzten zwanzig Jahren erleichtern (siehe „The West is not Russia’s Enemy“, Transatlantic Times Sep/Oct 2014, S. 5.). Der Krieg in der Ukraine hat die Voraussetzungen für eine solche Entwicklung geschwächt, doch muss langfristig das ernsthafte Angebot zu kooperativer statt konfrontativer Sicherheit bestehen bleiben – unter Berücksichtigung legitimer Interessengesichtspunkte sowohl Russlands als auch des Westens.

Kein Fehler der NATO, der EU oder der USA rechtfertigt Moskaus gewaltsames Vorgehen gegenüber der Ukraine. Russland sieht sich im Konflikt mit „dem Westen“, doch die Interpretation seiner Handlungsweise als Reaktion auf Aktionen der USA greift zu kurz. Die NATO-Erweiterung war nie eine Bedrohung – nicht einmal eine aktive Expansion, sondern der Drang der neubefreiten MOE-Staaten nach Westen, über dessen Gründe Moskau nachdenken sollte.

Auch wenn Perzeptionen politisch wirkmächtige Fakten sein können, geht es hier nicht lediglich um „unterschiedliche Wahrnehmungen“ von Konfliktursachen, wie der russische Botschafter gerade in einem Rundfunkinterview feststellte. Russland muss zurückkehren zur Achtung der Prinzipien von Helsinki und Paris: Souveränität, territoriale Integrität, Unverletzlichkeit der Grenzen, friedliche Konfliktbeilegung, Nichteinmischung, freie Bündniswahl. Das Land, das am konsequentesten auf „Nichteinmischung“ beharrt, hat sich in seit Jahrzehnten nicht dagewesener Weise in die inneren Angelegenheiten seines Nachbarn Ukraine eingeschaltet. Die Minsker Abkommen müssen umgesetzt werden, und die Ukraine muss sich reformieren, aber auch imstande sein, sich gegen weitere Vorstöße der von Russland unterstützten Aufständischen zu verteidigen.

Doch muss über die gegenwärtige Krise hinausgedacht werden: Nie hat es in ausreichendem Maße das Gespräch über Russlands Platz in der europäischen Sicherheitsordnung gegeben. Die Bundeskanzlerin hat unter der Bedingung einer Rückkehr Russlands zu den vereinbarten Prinzipien eine West-Ost-Freihandelszone in Aussicht gestellt. Diese Bereitschaft sollte auf sicherheitspolitischem Gebiet durch konkrete Vorstellungen flankiert werden.

Ein zentrales Beispiel: Den Medwedjew-Vorschlag von 2008/2009 für einen umfassenden europäischen Sicherheitsvertrag, wenngleich in der Substanz bedenklich, hätte der Westen doch viel aktiver aufgreifen sollen – als Ausgangspunkt für einen intensiven strukturierten

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Dialog nicht zuletzt im NATO-Russland-Rat. Die Scheu davor auf westlicher Seite war und ist nicht angebracht. Ist nicht auch die Schlussakte von Helsinki 1975 mit ihren positiven Auswirkungen in der jüngeren europäischen Geschichte aus ursprünglich furchtsam betrachteten sowjetischen Vorschlägen hervorgegangen? Die unterschiedlichen ordnungspolitischen Vorstellungen Russlands und der NATO für den euro-atlantischen Raum sollten mit großer Offenheit und langem Atem diskutiert werden. Und im Interesse der Weiterentwicklung der europäischen Sicherheitsordnung sollte innovativ und engagiert ein neuer Aufbruch in der konventionellen Rüstungskontrolle und europäischen Vertrauensbildung betrieben werden.

Die fortwährende Bereitschaft zum Dialog ist Teil der Harmel-Philosophie der NATO; „Verteidigung und Entspannung“. Wenn die russische Führung meint, die USA wollten „Russland klein halten“(Präsident Putin in seiner Neujahrsrede) so sollte sie einsehen: Respekt und Augenhöhe lassen sich nicht durch Aggression erzwingen. Aber ein Russland, das konstruktiv zu regionalem und globalem Problemlösen beitrüge (wofür es in den letzten Jahren mit den syrischen Chemiewaffen und der Nuklearambition Irans leider nur zwei positive Beispiele gibt), statt auf Störpotential und Verhinderungsmacht zu setzen, wäre auch als Großmacht hochwillkommen.

 

Klaus Wittmann

Alle gleich schuld? 17. August 2015

(Zu: August Pradetto, Ost-West-übergreifende Inszenierung des Ukraine-Konflikts)

Die „äquidistante“ Sicht auf den Ukraine-Konflikt betrachtet die Ukraine als Streitobjekt zwischen Russland und dem Westen. Sie kommt in August Pradettos Deutung einer „Ost-West-übergreifenden Inszenierung des Ukraine-Konflikts“ zum Ausdruck, aber auch in Edgar Jahns Erklärung als „Integrationskonkurrenz“ bzw. als „Moskau-Brüssel-Konflikt“.

Solche Interpretationsmuster lassen Verschiedenes außer Betracht.

Erstens sollte man in Respekt vor dem ukrainischen Volk anerkennen, dass es auf seine Wünsche und Aspirationen ankommt, nicht auf die Ziele anderer Mächte. Was Jahn verniedlichend „Verwestlichung“ nennt, ist der „Drang einer bevormundeten Nation nach Emanzipation und Selbstbehauptung“ (Krzeminski).

Zweitens wäre im Lichte russländischer Ansprüche etwas Beschäftigung mit der ukrainischen Geschichte nützlich. Adam Krzeminski kritisiert zu Recht Herfried Münklers Darstellung, die russischen Grenzverschiebungen des 18. und 19. Jahrhunderts seien „bloße Wechsel des Landesherren und der Verwaltungsspitze“ gewesen, und verweist auf die zahllosen repressiven Maßnahmen und die rigorose Zwangsrussifizierung.

Drittens sind „Einflussnahme“ Russlands und des Westens in der Ukraine von gänzlich unterschiedlichem Charakter: Unterstützung prowestlicher Kräfte (sicher nicht ganz interessenfrei) und Assistenz im Rahmen der seit 1997 bestehenden NATO-Ukraine-Kommission ist etwas völlig anderes als Annexion eines Landesteils, Schüren sprachlich-ethnischer Divergenzen und verdeckte militärische Intervention.

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In einem „Politischen Salon“ in Potsdam wurde kürzlich behauptet, der Westen wolle Russland mit einem cordon sanitaire einhegen. Dies verrät vor allem eins: Objekt-Denken gegenüber den mittel- und osteuropäischen Staaten. Dem ist ein viel zutreffenderer Gebrauch dieser politischen Metapher entgegenzuhalten (Berthold Kohler in der FAZ): „Putin wünscht sich einen cordon sanitaire von scheiternden Staaten, der sein Reich vor der Ansteckung mit westlichen Ideen schützen soll.“

In der Tat scheint das Hauptmotiv der Kreml-Führung (neben Revisionismus/Geopolitik, Frustration über vermeintliche Missachtung v.a. durch die USA, Externalisierung von internen Problemen und Verhinderung der Westintegration) die Erkenntnis zu sein, dass demokratischer Erfolg in der Ukraine für Putins Machtsystem eine existentielle Bedrohung wäre. Dass man in Moskau unlängst hunderttausend Demonstranten zu einer Kundgebung unter dem Motto „Anti-Maidan“ versammelte, erscheint als geradezu tragikomisches Zeichen der Schwäche. „Putin hat nicht Angst vor der NATO“, schrieb die Süddeutsche Zeitung, „sondern vor dem eigenen Volk“.

Die NATO-Erweiterung mag politisch-psychologisch für Moskau schmerzlich sein, aber eine Bedrohung war sie nie – nicht einmal eine aktive Expansion. Sie ergab sich aus dem Drang wieder freier Staaten, sich dem Westen anzuschließen, über dessen Motive man im Kreml nachdenken sollte. Eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine liegt übrigens seit dem Gipfeltreffen der Allianz im Bukarest 2008 in weiter Ferne. Putins Behauptung, bevor die NATO sich der Krim bemächtigt hätte, habe er eingreifen müssen, ist besonders plumpe Propaganda. Propaganda sind auch die ständig wiederholten Behauptungen, die Sowjetunion bzw. Russland hätten Zusicherungen hinsichtlich einer Nichterweiterung der NATO erhalten.

Dass die Europäische Union nun mit der NATO fast gleichgesetzt wird (siehe Lawrows Reden vom „Machtbereich“ der EU), kam unerwartet. Trotz Kritik an Fehlern und Ungeschicklichkeiten auf EU-Seite hätte niemand voraussagen können, dass ihr Assoziierungsabkommen mit einem souveränen Staat Kriegsgrund sein könne.

Nein, es geht nicht um „Integrationskonkurrenz“ mit der Ukraine als Streitobjekt. Es geht auch nicht (so Botschafter Grinin in einem Rundfunkinterview) um „unterschiedliche Wahrnehmungen“ von Konfliktursachen. Und die großen innerukrainischen Probleme sind keine Rechtfertigung für gewaltsames Eingreifen durch eine auswärtige Macht (die sich sogar makabrerweise auf die VN-proklamierte „Responsibility to protect“ beruft). Ohne russische Aggression gäbe es in der Ostukraine keinen „Bürgerkrieg“.

Es geht, wie gesagt, um Emanzipation und Selbstbehauptung, Souveränität und Unverletzlichkeit von Grenzen sowie um das Recht der Ukraine, ihre Probleme ohne Intervention von außen zu lösen. Dazu verdient sie alle mögliche Unterstützung.

Diese ist Hauptaspekt der notwendigen Lösungsansätze, zu denen aus meiner Sicht außerdem gehören: Deeskalationsbemühungen gegenüber einer russischen Politik, die kürzlich als brinkmanship (Politik des äußersten Risikos) bezeichnet wurde – und zugleich ist die Harmel-Philosophie der NATO weiterhin aktuell mit ihren beiden Elementen: Verteidigung und Entspannung, Festigkeit und Dialogbereitschaft. Das bedeutet in der aktuellen Lage Umsetzung der Gipfel-Beschlüsse von Wales über zuverlässigen Schutz aller NATO-Mitglieder bei gleichzeitiger stetiger Erneuerung des Angebots an Moskau für eine Rückkehr zu kooperativer (statt konfrontativer) Sicherheitspolitik – und (endlich!) Aufnahme eines ernsthaften Dialogs über Russlands Platz in der europäischen Sicherheitsordnung.

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Klaus Wittmann

Russlands Militäreinsatz in Syrien 9. November 2015

(zu Alexander Rahr, „Putins Plan in Syrien – Helfer oder Störenfried?“)

Kern des russischen Vorgehens in Syrien ist keineswegs ein „Friedensplan“, bislang nirgends offiziell eingebracht, sondern “am Rande der Konferenz des Valdai Klubs in Sotschi zirkuliert“. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die mit der bisherigen Anti-IS-Koalition nicht abgestimmten militärischen Aktionen. Angeblich richten sie sich gegen den IS, doch zeigen die bisherige Zielauswahl wie auch die Luftnahunterstützung syrischer Truppen, dass es der russischen Führung vorrangig um die Rettung des für hunderttausendfachen Tod und vielmillionenfache Flucht seiner Bürger verantwortlichen Assad-Regimes geht. Präsident Putin hat das öffentlich eingeräumt und sich offenbar Assads Definition von „Terroristen“ zu eigen gemacht. Russland macht sich international weiter unglaubwürdig, indem es „IS“ sagt, aber vorwiegend innersyrische Aufständische bekämpft.

Neben der Unterstützung des Regimes hat dieser Militäreinsatz offenbar auch zum Ziel, Russland als entscheidende Großmacht in der Region zu etablieren, wozu freilich die vierjährige amerikanische Zögerlichkeit geradezu als Einladung erschien. Und natürlich ist jede Art von „Regimewechsel“ für Moskau Anathema. Auch mag das Kalkül eine Rolle spielen, der Wunsch des Westens nach Zusammenarbeit mit Russland wie in der Iranfrage möge vom Ukraine-Konflikt ablenken oder sogar zur Aufhebung der Sanktionen führen. Außerdem hat der Militäreinsatz einschränkende Wirkung auf Luftoperationen der Koalition, und eine gewisse Schadenfreude in Moskau zeigt, dass dort auch das weitere Anschwellen der Flüchtlingsströme nach Europa nicht ungern gesehen wird.

Der in der russischen Bevölkerung wenig populäre Militäreinsatz hat bislang jetzt nur begrenzten Erfolg, denn die syrischen Streitkräfte können die Luftunterstützung nicht wirkungsvoll nutzen. Auch sieht sich Russland bereits zum Einsatz von Spezialkräften veranlasst, der IS setzt seine Tschetschenen auf russische Stützpunkte an, und der Sinai-Flugzeugabsturz scheint mit der russischen Militäraktion zu tun zu haben.

Es mag sein, dass Putin den so zögerlichen Westen in Zugzwang versetzt hat und dass sein von Alexander Rahr kolportierter „Friedensplan“ verwertbare Elemente enthält. Er scheint aber nicht mit der der ersten multilateralen Verhandlung in Wien Ende Oktober abgestimmt zu sein. Dann hat er eher Stör- als konstruktives Potential. Nach Rahrs Resümee hätte Russland, sollte es durch sein überraschendes Vorgehen „den großen Coup landen, […] seinen Großmachtanspruch im Nahen Osten auf Jahre hinaus gesichert“.

Zu diesem „Großmachtanspruch“: Putins Handlungsweise auf vielen Gebieten scheint nicht zuletzt durch die Frustration darüber motiviert zu sein, vom Westen nicht auf Augenhöhe akzeptiert zu werden. Er scheint zu glauben, durch unilaterales Handeln, Regelverletzung und Aggression Respekt und gleichen Status mit den USA erzwingen zu können. Er meint, diese wollten Russland „kleinhalten“. Nein – ein Russland, das sich (wie im Ausnahmefall der iranischen Nuklearwaffenambitionen) konstruktiv am globalen und regionalen Problemlösen beteiligte, anstatt hauptsächlich Störpotential und Verhinderungsmacht auszuspielen, wäre auch als Großmacht hochwillkommen.

Hätte es sich, statt sich nun durch militärisches Vorgehen in Syrien als Großmacht zu profilieren, vor vier Jahren im VN-Sicherheitsrat dazu bereitgefunden, Assads

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unverhältnismäßig gewaltsames Vorgehen gegen zunächst friedliche Proteste zumindest moralisch zu verurteilen, so gäbe es heute vielleicht 250 000 Tote und viele Millionen Flüchtlinge weniger. Das wäre konstruktives Großmachthandeln gewesen.

Aber natürlich ist für die russische Führung jeder „Regimewechsel“ das Schreckbild schlechthin, und da gibt es auch Anlass zu westlicher Selbstkritik und zu der Erkenntnis, dass Regimesturz noch lange nicht Regimewechsel ist. Diese Einsicht macht aber die russische Handlungsweise nicht besser - eine politische Lösung des syrischen Bürgerkriegs erleichtert sie nicht.

Klaus Wittmann 15. Dezember 2015

Über „Minsk II“ hinausdenken

(zu: Eberhard Schneider, Minsk II – Inhalte und Ergebnisse)

Zum Abschluss des ersten Minsker Abkommens trug der Kommentar des „Tagesspiegel“ die Überschrift „Putins Sieg“. Natürlich waren diese Vereinbarung und dann „Minsk II“, Präsident Putin mit höchstem Einsatz der deutschen Bundeskanzlerin und des französischen Staatspräsidenten abgerungen, „das Besterreichbare“.

Aber in der fast verzweifelten Fixierung auf die Einhaltung des fragilen Waffenstillstands und auf die schrittweise Umsetzung der Minsker Vereinbarungen sollte nicht vergessen werden, dass diese ein massives droit de regard Russlands über ein souveränes Nachbarland festgeschrieben haben.

Kürzlich konnte man bei einer Veranstaltung des Deutsch-russischen Forums aus dem Mund des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses der Duma, Alexej Puschkow, wieder einmal unwidersprochen hören, Moskau verwirkliche die Minsker Abmachungen, Kiew nicht.

Doch sollte der durchaus unterschiedliche Charakter der Vereinbarungen nicht übersehen werden: Einerseits geht es um interne Reformen in der Ukraine, die sicher teilweise nötig sind, aber teilweise von Russland in spalterischer Absicht erzwungen wurden, und andererseits um die immer noch nicht wiederhergestellte ukrainische Kontrolle über Hunderte von Kilometern Grenze zu Russland sowie um die fortwährende Anwesenheit von vielen russischen Panzern, Geschützen, Raketenwerfern etc. sowie russischem Armeepersonal.

In der Ostukraine hat Russland einen neuen schwelenden Konfliktherd geschaffen, den es jederzeit wieder zum Aufflammen bringen kann. Und auch die Annexion der Krim bleibt illegal, selbst wenn man sich wohl temporär mit ihr abfinden muss. Doch sollte ihr Anschluss an Russland völkerrechtlich nicht anerkannt und die falsche Analogie zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo nicht akzeptiert werden.

Auch wenn kein Versäumnis und kein Fehler der alten und neuen ukrainischen Führung verharmlost werden sollte, darf doch zugleich die russische Version der Ereignisse nicht durch ständige Wiederholung Allgemeingut werden („in Kiew Putsch einer faschistischen Clique“, „Unterdrückung Russischsprachiger“, „Selbstbestimmung“, „malaysisches Flugzeug von der Ukraine abgeschossen“, „russische Soldaten allenfalls freiwillig im Urlaub an Kämpfen in der Ukraine beteiligt“, „keine russischen schweren Waffen in der Ukraine“ etc.)

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Die NATO, die EU und die Ukraine selbst haben nicht alles richtig gemacht. Aber kein Fehler oder Versäumnis auf westlicher Seite rechtfertigt das gewaltsame Vorgehen Russlands gegen die Ukraine. Die Verschwörungstheorie, nach der die USA die ukrainischen Massen auf dem Maidan versammelt haben, um letztlich Russland zu schaden, ist nicht haltbar. Und die amerikanische „Einmischung“ (z.B. Militärhilfe und Beratung, wie sie NATO-Staaten im Rahmen der 1997 eingerichteten „NATO-Ukraine-Kommission“ seit vielen Jahren betreiben), hat einen gänzlich anderen Charakter als die russische militärische Infiltration, hybride Kriegführung und Propaganda.

Neben Revisionismus, Externalisierung von internen Problemen und Frustration über mangelnden westlichen „Respekt“ vor Russland scheint sich Präsident Putins Hauptmotiv daraus abzuleiten, dass er demokratischen Erfolg - und gar noch Westorientierung - in der Ukraine als existentielle Bedrohung seines eigenen Machtsystems fürchtet. Dass zu Beginn dieses Jahres in Moskau Zehntausende zu einer Demonstration unter dem offiziellen Motto „Anti-Maidan“ zusammengebracht wurden, erscheint als ein fast tragikomisches Zeichen der Schwäche.

Natürlich müssen die Minsker Bestimmungen weiterhin umgesetzt werden. Aber was dort Voraussetzung wofür ist, sollte sorgsamer bedacht werden. Und keinesfalls sollten die westlichen Sanktionen vorzeitig aufgehoben oder gar die Ukraine zum Opfer der westlichen Sehnsucht nach Zusammenarbeit mit Russland im Fall Syrien werden.

Wohlgemerkt: Kooperation mit Russland in den großen Problemlagen ist äußerst erwünscht. Das Nuklearabkommen mit Iran ist ein - leider singuläres - positives Beispiel. Und auch hinsichtlich des syrischen Bürgerkriegs (wo sich die russische Führung bedauerlicherweise Assads Definition von „Terroristen“ zu eigen gemacht hat) wäre Zusammenwirken aller am Kriegsende und an der Vernichtung des „Islamischen Staats“ interessierten Kräfte wünschenswert.

Denn wenn der Kremlherr meint, der Westen wolle „Russland klein halten“ und er könne Respekt und gleiche Augenhöhe erzwingen oder ertrotzen, kann man nur entgegnen: Nein, ein Russland, das sich konstruktiv am regionalen und globalen Problemlösen beteiligte (wie im Fall Iran), anstatt auf Störpotential und Verhinderungsmacht zu setzen, wäre als Großmacht hochwillkommen.

Die russische Führung sollte mittlerweile erkannt haben, dass sie ihr Land im Ukrainekonflikt in eine Sackgasse manövriert, die Einigkeit des Westens unterschätzt, sich selbst isoliert und gegen die wahren russischen Interessen gehandelt hat. Sie muss zurückkehren zur Einhaltung mit der Ukraine geschlossener Verträge und, vor allem, zur Beachtung der Grundsätze von Helsinki und Paris: Gleichheit aller europäischen Staaten, Souveränität, territoriale Integrität, Unverletzlichkeit von Grenzen, friedliche Streitschlichtung, Verzicht auf Androhung oder Anwendung von Gewalt. Das Land, das amerikanische Völkerrechtsverstöße und Interventionen stets am schärfsten verurteilt hat, kann diese doch nicht zur Rechtfertigung eigenen Verhaltens heranziehen.

Im Ukrainekonflikt muss es in erster Linie um den Willen und die Aspirationen des ukrainischen Volkes gehen, dessen Identitätsfindung, Staatwerdung und Emanzipation jahrhundertelang von oben und von außen gewaltsam verhindert wurden, nicht um die Interessen von Nachbarstaaten.

Zugleich muss aber über Russlands Platz in der europäischen Sicherheitsordnung viel ernsthafter nachgedacht und mit Russland geredet werden, als dies seit dem Ende des Kalten Krieges geschah. Bedauerlich, dass die Einsicht „Sicherheit m i t, nicht g e g e n Russland“

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zurzeit bei vielen überlagert ist durch die Sorge um Sicherheit v o r Russland. Dies muss ebenso überwunden werden wie das Nullsummendenken, wonach eine Seite nur auf Kosten der anderen Sicherheit gewinnen und Interessen befriedigen kann.

Klaus Wittmann 17. Januar 2016

Zum BILD-Interview mit Präsident Wladimir Putin (11./12. Januar 2016)

(auf Alexander Rahr, Gesten der Versöhnung zwischen Russland und Deutschland, 12.1.2016)

Vermittelt Präsident Putins großes BILD-Interview „Gesten der Versöhnung“, wie Alexander Rahr meint? Ungeachtet seiner zahlreichen propagandistischen Aussagen sollte man natürlich nach positiven Ansätzen Ausschau halten.

Kooperation mit Russland in allen globalen Krisen ist schon wegen seiner Vetomacht als permanentes Mitglied des VN-Sicherheitsrats wünschenswert. Und für Europa bleibt es wahr, dass seine Sicherheit auf Dauer nicht gegen, sondern nur mit Russland zu organisieren ist. Doch hat die russische Führung bewirkt, dass für viele Sicherheit vor Russland zunächst wieder im Vordergrund steht. Russische Aggression gegen die Ukraine ist nicht lediglich ein „im Westen aufgebautes Narrativ“ (so Rahr).

Putin meinte früher einmal, die USA wollten Russland „klein halten“. Und Obamas (in Reaktion auf eine beiläufige Reporterfrage getroffene) Qualifizierung Russlands als „Regionalmacht“ wurde zur „Demütigung“ hochstilisiert, auch wenn Putin in dem Interview nonchalant behauptet, er nehme das nicht ernst. Indes: Ein Russland, das sich konstruktiv am globalen und regionalen Problemlösen beteiligte, anstatt hauptsächlich auf Störpotential und Verhinderungsmacht zu setzen, wäre auch als Großmacht hochwillkommen. Respekt und „gleiche Augenhöhe“ lassen sich aber auch in den internationalen Beziehungen nicht erzwingen oder ertrotzen. Die Zusammenarbeit im Fall der iranischen Nuklearmacht-Ambitionen war ein leider singuläres positives Beispiel. Russlands militärisches Vorgehen in Syrien ist wieder recht dubios. Da scheint es, neben der Unterstützung des mörderischen Diktators Assad, vor allem darum zu gehen, „es den USA zu zeigen“.

In diesem Blog wurde vom Autor schon früher folgender Gedankengang vertreten: Der Westen, insbesondere die NATO, sollte selbstkritisch den eigenen Anteil an der Verantwortung für die Verschlechterung des Verhältnisses mit Russland während der letzten fast 20 Jahre anerkennen und so dazu beitragen, dass dort das dringend erforderliche „neue Denken“ in der Außen- und Sicherheitspolitik Platz greift. Dessen bedarf Putins Russland genau so dringend wie vor 30 Jahren die marode Sowjetunion – als Teil der erforderlichen Modernisierung.

Im Westen kann man zu den Beziehungen mit Russland viele selbstkritische Einsichten hören und lesen, und auf deren Grundlage ist vielfaches Verständnis für Putins Handlungsweise zu konstatieren. Dieser allerdings, von den BILD-Redakteuren nach russischen Fehlern gefragt, wusste kein anderes Versäumnis zu nennen, als dass Russland nicht weit früher seine „nationalen Interessen viel deutlicher gemacht“ habe. Etwas mehr Selbstkritik auch auf russischer Seite wäre erwünscht.

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Es wäre gut, wenn das Motiv der von manchen in dem BILD-Interview ausgemachten Versöhnungsofferten Putins die Erkenntnis wäre, dass er sein Land mit der Ukraine-Politik in eine Sackgasse geführt hat, und wenn es echte Angebote zur Verbesserung der Beziehungen und zu kooperativer Sicherheit enthielte. Aber auch diese vier Interview-Seiten scheinen eher zu bestätigen, dass Wladimir Putin wenig kompromissbereit oder –fähig ist. Es scheint für ihn nur entweder-oder, du oder ich, Sieg oder Niederlage zu geben.

„Versöhnung“ ist aber schwer, wenn die Gründe für ein Zerwürfnis unbearbeitet bleiben. Die Infragestellung aller wichtigen Prinzipien der europäischen Sicherheitsordnung durch Russlands gewaltsames Vorgehen gegen die Ukraine sollte nicht durch den Wunsch nach „Normalisierung“ der Beziehungen vergessen gemacht werden. Zu echter Versöhnung gehört mehr als Schalmeienklänge bei zugleich kompromisslosem Festhalten an den eigenen Positionen und an der Logik des Nullsummendenkens, demgemäß eine Seite immer nur auf Kosten der anderen Sicherheit erlangen oder Interessen vertreten kann.

Diese Skepsis spricht allerdings nicht dagegen, mit Russland immer wieder den Dialog auch über Fragen jenseits der Ukraine zu suchen – nicht Dialog als Selbstzweck, sondern über ernste Themen. Derzeit mag sich dafür ein „Fenster der Gelegenheit“ öffnen angesichts der Zerfallserscheinungen im Nahen Osten und steigender islamistischer Bedrohungen auch für Russland, angesichts des Ölpreis-Sturzflugs, angesichts Russlands offensichtlicher Selbstisolierung. Westlicher Politik muss weiterhin die Philosophie des Harmel-Reports der NATO von 1967 zugrundeliegen: Verteidigung und Entspannung, Festigkeit und Dialogbereitschaft.

Das ernsthafte Gespräch über den Platz Russlands in der europäischen Sicherheitsordnung ist seit dem Ende des Kalten Krieges versäumt worden und erscheint überfällig. Putins BILD-Interview, auch wenn es wenig Einsicht widerspiegelt, könnte doch ein Signal für die Bereitschaft zu diesem Dialog darstellen – bzw. sollte als solches gewertet werden.

Veröffentlicht am 3. März 2016 (www.russlandkontrovers.de) Matthias Platzeck(mit Kommentar von Klaus Wittmann)

Wiederannäherung an Russland / Warum sie in unserem

Interesse ist und was wir dafür tun können Das Klima zwischen Deutschland und Russland ist deutlich rauer geworden und das gegenseitige Misstrauen gewachsen. Eine Verständigung ist nicht in Sicht. Im Gegenteil. Ein Blick in die Medien beider Länder offenbart das Ausmaß des Zerwürfnisses: Ein vorwurfsvoller, bisweilen feindseliger Ton durchzieht fast alle Berichte, die sich mit dem jeweils anderen Land befassen. Für eine

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gedeihliche Zukunft auf dem europäischen Kontinent ist die nachbarliche Konfrontation kontraproduktiv. Eine Wiederannäherung an Russland kommt den politischen und wirtschaftlichen Interessen beider Seiten entgegen. Wir müssen die nächsten Wochen und Monate nutzen, um den Graben, der sich zwischen Russland und Europa und besonders auch zwischen Russland und Deutschland aufgetan hat, wieder zu schließen. Was können wir tun?

Dialog mit Russland intensivieren

Wir müssen jetzt alle Kanäle nutzen, um miteinander im Gespräch zu bleiben. Die Distanzierung und die Sprachlosigkeit, die wir gegenwärtig erleben, verstärken bestehende Vorurteile und Ängste, Missverständnisse entstehen. Die Verständigungsprobleme nehmen zu und führen zu Vorwürfen und Anschuldigungen. Vieles ist irrational. Wir haben das zuletzt im „Fall Lisa“ gespürt. Im ständigen direkten Kontakt können wir das verlorengegangene Vertrauen wiederaufbauen und den Weg für einen Neustart bereiten. Das gilt in gleichem Maße für Deutschland wie für Europa. Russland muss auch bei europäischen Diskussionen häufiger mit am Tisch sitzen. Das wird mehr Stabilität und Sicherheit auf unserem Kontinent bringen.

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Sanktionen aufheben

Sanktionen sind nie ein wirksames Mittel der Politik. Im Falle Russlands haben sie sicher einen Effekt, jedoch nicht den erhofften, dass nämlich die russische Politik gegenüber dem Westen wieder konzilianter wird. Im Gegenteil: Russland zieht sich immer mehr zurück, wird nationalistischer und feindlicher. Das liegt nicht in unserem Interesse. Eine wirtschaftliche oder politische Destabilisierung Russlands kann in Europa niemand wollen. Zerfallsprozesse auf dem Territorium der zweitgrößten Atommacht der Erde, in einem Land, das sich über 10 Zeitzonen erstreckt und 80 Völkerschaften vereint, sind ein Szenario, dass man sich nicht einmal vorstellen möchte.

Wirtschaftliche Zusammenarbeit verstärken

Die deutsche Wirtschaft muss aufgrund der Sanktionen, aber auch der allgemein schwachen Wirtschaftsentwicklung in Russland Einbußen hinnehmen. Trotzdem bleiben die Unternehmen dem Markt treu, weil sie Vertrauen in die russische Wirtschaftskraft haben und um die Bedeutung der Partnerschaft wissen. Das Potenzial der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen ist immens. Sie sind ein wichtiger Faktor für eine Zukunft mit Wohlstand auf dem europäischen Kontinent. Intensivere Wirtschaftskontakte bedeuten für Deutschland und Europa auch zusätzliche Stabilität und zusätzliches Vertrauen im außenpolitischen Beziehungsgeflecht mit Russland. Für Russland können sie eine positive Dynamik der innergesellschaftlichen Entwicklung des Landes auslösen, können helfen Ressentiments gegenüber Europa abzubauen und mehr Offenheit und weniger Nationalismus mit sich bringen.

Krisen zusammen mit Russland angehen

Die Flüchtlingskrise, die uns in Europa derzeit in Atem hält, ist nur der Beginn großer Veränderungen. In Afrika deutet sich ein Zerfall von Staaten an, der zusätzlich zu den 60 Millionen Menschen, die heute auf der Flucht sind, weitere Völkerwanderungen hervorrufen wird. Willy Brandt hat einmal gesagt, dass der Ost-West-Konflikt nichts gegen den Nord-Süd-Konflikt sei. Das ist aktueller denn je. Vor uns liegen weltumspannende Herausforderungen. Wir müssen diese zusammen mit Russland angehen. Ohne oder gar gegen Russland ist keines der globalen Probleme zu lösen. Die Syrien-Krise führt uns das vor Augen. Der Westen muss akzeptieren, dass Russland selbstverständlich ein Wort in der Region mitzureden hat und die russische Politik auf Augenhöhe in die internationale Krisenkommunikation einbinden. Syrien kann zum Testfall dafür werden, wie man Probleme der Welt mit Russland gemeinsam angeht und löst.

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Im Umgang mit Russland umdenken

Für den Westen war nach dem Ende der Sowjetunion endgültig zur Gewissheit geworden, dass er über die besseren Werte und das überlegene System verfugt. Es stand außer Frage, dass Russland sich anzupassen und das westliche Modell von Rechtsstaat, Demokratie und Wirtschaft zu übernehmen hatte. Dass Russland völlig andere Voraussetzungen als die westlichen Länder mit sich brachte, spielte keine Rolle, etwa dass Russland keine Demokratiegeschichte hat oder dass im größten Flächenland der Erde andere Mentalitäten und Traditionen prägend waren. Heute müssen wir einsehen, dass aufgrund dieser Voraussetzungen für Russland auch andere Entwicklungswege in Betracht kommen. Wir werden umdenken und lernen müssen, diese Wege zu respektieren, auch wenn sie nicht immer mit unseren Idealen übereinstimmen. Nur aus der Achtung auch gegenüber anderen Entwürfen heraus kann sich ein Miteinander mit Russland auf Augenhöhe entwickeln und in der Folge ein konstruktiver partnerschaftlicher Dialog.

Die Beziehungen zu Russland sind über Jahrhunderte gewachsen — Krisen, leider auch Kriege, gehörten stets dazu. Am Ende aber sind wir gestärkt aus solchen Krisen hervorgegangen. Ich meine, dass wir das auch dieses Mal erreichen können und dass wir alle Anstrengungen dafür unternehmen sollten — denn die Partnerschaft mit Russland nützt uns allen in Deutschland und in Europa.

Meinungen / Was sagen die Experten? 18. März 2ß16

Klaus Wittmann

Auch Russland sollte Interesse an der Wiederannäherung haben und etwas dafür tun

Auf dieser Debattenplattform habe ich schon früher folgenden Gedankengang dargelegt (und konkretisiert): Wie seinerzeit die marode Sowjetunion braucht auch Putins Russland „neues Denken“ in der Außen- und Sicherheitspolitik – als Teil seiner notwendigen Modernisierung. Der Westen, nicht zuletzt die NATO, sollte das erleichtern durch selbstkritische Anerkennung

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des eigenen Anteils an der Verantwortung für die Verschlechterung der Beziehungen zu Russland in den vergangenen fast 20 Jahren.

Und, ja, der Westen muss Schritte zur Wiederannäherung machen – nicht zuletzt durch Aktivierung des NATO-Russland-Rats, der eigentlich seit Beginn des Ukraine-Konflikts quasi in Permanenz hätte tagen müssen. Und auch durch das permanente Angebot eines ernsthaften Dialogs über den Platz Russlands in der europäischen Sicherheitsordnung, wie er schon zum Zeitpunkt des Medwedew-Vorschlags (2008/9) überfällig war.

Aber sollte man nicht zugleich darüber nachdenken, warum Wiederannäherung auch im Interesse Russlands ist und welche Schritte von ihm zu verlangen wären? Dieser Gedanke kommt in dem Text des von mir als Vermittler sehr respektierten Matthias Platzeck nicht vor. Deshalb zu seinen fünf Thesen, unterstützenswert in ihrer Intention, aber einseitig in Zielrichtung und zugrundeliegender Analyse, folgende Anmerkungen.

„Dialog mit Russland intensivieren“: Gründe für „Distanzierung und Sprachlosigkeit“ sowie „verlorenes Vertrauen“ liegen nicht vorwiegend auf westlicher Seite, sondern in Russlands massiver Verletzung des Regelwerks der Europäischen Sicherheitsordnung, niedergelegt in der Schlussakte Helsinki 1975 und bekräftigt in Paris 1990, beide Male unterschrieben von der Sowjetunion, deren Rechtsnachfolger Russland ist: Souveränität und Gleichheit der Staaten Europas, Unverletzlichkeit der Grenzen, friedliche Streitschlichtung, Freiheit der Bündniswahl. Auf politischer Ebene gibt es niemanden, der so intensiv “im Gespräch bleibt“ wie Bundeskanzlerin und Bundesaußenminister; das Echo von russischer Seite bleibe hier mal unerörtert. Und der „Fall Lisa“ geht nicht zurück auf „Missverständnisse“ und „Verständigungsprobleme“, sondern war der empörende Versuch der russischen Führung (unter persönlicher Beteiligung Außenminister Lawrows!), den in Nachbarländern Russland schon lange Besorgnis erregenden „Schutz [durch Moskau] von Russen, wo immer sie leben“ nun auch auf Deutschland auszudehnen, um unter Nutzung der Flüchtlingsproblematik zusätzlichen Unfrieden zu schaffen.

„Sanktionen aufheben“: Gewiss sind die Wirtschaftssanktionen kein Idealmittel, sondern auch Ausdruck einer gewissen Hilflosigkeit, weil EU und NATO der russischen Aggression gegen die Ukraine nicht militärisch entgegentreten können. Irgendwie müssen sie aber Russland zeigen, dass sie sein Vorgehen für inakzeptabel halten, und Putins Nutzen-/Kostenkalkül zu beeinflussen versuchen. Sanktionen sollen die Erkenntnis bei der russischen Führung verstärken, dass sie das Land in eine Sackgasse geführt hat. Ohne Wiederherstellung voller Kontrolle der Ukraine über ihre Grenze und Abzug russischen Kriegsmaterials und Militärpersonals von ukrainischem Territorium ist m.E. an ihre Aufhebung nicht zu denken. Merkwürdig sind übrigens bei Moskaus Kritik an Sanktionen sein Setzen auf Gegensanktionen und seine eigenen Sanktionen gegen die Türkei nach Abschuss des russischen Kampflugzeugs an der syrisch-türkischen Grenze.

„Wirtschaftliche Zusammenarbeit verstärken“: Das ist wünschenswert. Aber das Schreckbild von „Zerfallsprozessen auf dem Territorium der zweitgrößten Atommacht der Erde“ sollte man nicht an den westlichen Sanktionen festmachen. Vielmehr müssten beim Bemühen um die Verstärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit die Probleme der russischen Wirtschaft beim Namen genannt werden, die nur in geringem Ausmaß auf die Sanktionen zurückzuführen sind: u.a. Modernisierungsdefizit und -versäumnisse, Primat der Machtpolitik vor Wirtschaftsfragen, Vorrang fürs Militär, Ölpreisabhängigkeit, Rechtsunsicherheit, Korruption, Bürokratie, Protektionismus, Rubelschwäche, Kapitalmangel, Investitionsrisiken, Aussperren von Konkurrenz durch Einfuhrbeschränkungen in mehreren Wirtschaftssektoren – und bei alledem steigende Preise und sinkende Einkommen.

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„Krisen zusammen mit Russland angehen“: In der Tat gibt es „weltumspannende Herausforderungen“. Da wäre es äußerst erwünscht, dass Russland sich in ernster Mitverantwortung konstruktiv am globalen und regionalen Problemlösen beteiligte (wie im leider recht singulären Fall des Iran-Nuklearabkommens), anstatt vorwiegend auf Störpotential und Verhinderungsmacht zu setzen. Ein solches Russland wäre als Großmacht hochwillkommen. Doch „gleiche Augenhöhe“ und Respekt erwirbt man sich, sie lassen sich nicht erzwingen oder ertrotzen. Das rücksichtslose militärische Vorgehen in Syrien mag den zögerlichen Westen in Zugzwang versetzt und zu einer hoffnungsvollen Entwicklung beigetragen haben – die Motive waren ganz andere als Beendigung von Krieg und menschlichem Leid.

„Im Umgang mit Russland umdenken“: Hier wird kritisch festgestellt, dass nach dem Ende des Kalten Krieges „Russland sich anzupassen und das westliche Modell von Rechtsstaat, Demokratie und Wirtschaft zu übernehmen hatte“, und vom Westen gefordert, „andere Entwicklungswege … [zu] respektieren, auch wenn sie nicht immer mit unseren Idealen übereinstimmen“. Indes: Nicht auf solche Aspekte zielt die Kritik an der russischen Führung, sondern auf die oben angesprochene Verletzung der Prinzipien von Helsinki und Paris. Auf russischer Seite gibt es mindestens ebensoviel Anlass zum „Umdenken“ wie im Westen, aber keinerlei Bereitschaft dazu. Häufiger Selbstkritik auf westlicher Seite stehen russische Intransigenz und Kompromisslosigkeit gegenüber. Kritik an den USA klingt so, als ob dort immer noch George W. Bush am Ruder wäre anstatt eines Präsidenten, der doch mit der Kritik an dessen militärischen Interventionen die Wahl gewann sowie mit dem Versprechen „to end America’s Wars“, und der Moskau das Angebot eines „Reset“ der Beziehungen machte. Festzuhalten bleibt: Bei aller berechtigten Kritik an NATO, EU, USA oder Ukraine rechtfertigt doch nichts die militärische Aggression gegen einen Nachbarstaat.

Ein letzter Hinweis: Bei allem Bemühen um Wiederannäherung ist Sorgsamkeit der Sprache erforderlich. Oft wird - zumindest implizit - deutsch-russische „Nachbarschaft“ beschworen. Russland ist Nachbar - und weitgehend Teil - Europas, aber nicht Nachbar Deutschlands. Dazwischen leben 90 Millionen Menschen, denen ungute historische Reminiszenzen kommen, wenn Russland und Deutschland über ihre Köpfe hinweg handeln.

Klaus Wittmann 27. April 2016

Gedanken zur Reaktivierung des NATO-Russland-Rats

(zu: General a.D. Harald Kujat, „NATO-Russland - Zeit für einen Neustart“)

Da hat General a.D. Kujat recht: Der NATO-Russland-Rat, der letzte Woche erstmals seit fast zwei Jahren wieder zusammentrat, hat das Potential zu einem „effektiven und flexiblen Instrument des Krisenmanagements“. Er ist in der Tat kein „Schönwetter“-Gremium, und m.E. hätte er eigentlich seit Beginn des Konflikts um die Ukraine quasi in Permanenz tagen müssen.

Aber das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen hat bedeutendere Dimensionen. Hin und wieder zusammenzutreten, miteinander über Krisen zu sprechen und konträre Positionen auszutauschen reicht nicht. Das ganze Spektrum potentiell konformer Interessen und

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abgestimmter oder gar gemeinsamer Aktionen, angelegt in der NATO-Russland-Grundakte von 1997, muss ausgeschöpft werden.

In der Grundakte steht aber auch die Beteuerung, Russland und die NATO betrachteten sich gegenseitig nicht mehr als Gegner. Dieses Einverständnis hat nicht die NATO aufgekündigt, sondern Russland - und mittlerweile auch die Europäische Union in die feindselige Gegnerschaft einbezogen, wobei Außenminister Lawrow vom „Machtbereich der EU“ schwadroniert.

Gleichwohl müsste das notwendige „neue Denken“ in der russischen Außen- und Sicherheitspolitik erleichtert werden durch selbstkritische Anerkennung des westlichen (und NATO-) Anteils an der Verantwortung für die Verschlechterung der Beziehungen im Laufe der letzten fast 20 Jahre. Doch kann kein Fehler der NATO, der USA, der EU oder auch der Ukraine als Rechtfertigung für Annexion und militärische Aggression gelten sowie für die Infragestellung der fundamentalen Regeln für die europäische Sicherheitsordnung, niedergelegt in der Schlussakte von Helsinki 1975 und bekräftigt in der Charta von Paris 1990: Souveränität und Gleichheit aller Staaten, territoriale Integrität, Unverletzlichkeit der Grenzen, friedliche Streitbeilegung usw.

Deshalb kann, bei aller Vermeidung von Schwarz-Weiß-Denken, Dämonisierung und Gut-Böse-Kategorien das Bemühen um eine Wiederbelebung der Beziehungen mit Russland nicht von äquidistanter Sicht ausgehen. Der Krieg in der Ukraine ist nicht, wie Kujat schreibt, ein „eindrucksvolles Beispiel“ für eine „Verschiebung im Machtgefüge“. Was soll das heißen? Er ist Ausdruck von Moskaus geopolitischem Einflusssphärendenken, einer Externalisierung interner Probleme Russlands, der Furcht vor dem „demokratischen Virus“, des Revisionismus einer gekränkten Großmacht, die Mitwirkung „auf Augenhöhe“ beansprucht.

Diese würde Russland zufallen, wenn es sich konstruktiv am globalen und regionalen Problemlösen beteiligen würde (wie in dem bisher leider ziemlich singulären Fall der iranischen Nuklearwaffenambitionen), anstatt auf Störpotential, Verhinderungsmacht, Überrumpelungstaktik, militärische Aggression und Destabilisierung anderer Länder zu setzen. Großmachtstatus kann nicht auf die Furcht von Nachbarn gegründet sein, Respekt lässt sich nicht ertrotzen oder erzwingen - schon gar nicht mit Verhöhnung der westlichen Gesellschaften und Unterstützung ihrer Feinde.

Aber auch wenn die Kooperations- und Inklusionsangebote gegenüber Russland aufrichtig waren: Der Westen und die NATO müssen sich vorwerfen, sich nach dem Ende des Kalten Krieges der Frage von Russlands Platz in der europäischen (und auch globalen) Sicherheitsordnung nur in völlig unzulänglichem Maße gewidmet zu haben. Insbesondere bleibt wahr, dass es auf Dauer Sicherheit in Europa nur m i t, nicht g e g e n Russland geben kann - aber auch, dass Putin es fertiggebracht hat, für viele zunächst wieder Sicherheit v o r Russland in den Vordergrund zu rücken. Das liegt keineswegs im Interesse des russischen Volkes.

Kujat erwähnt die Harmel-Philosophie der NATO: Verteidigung u n d Entspannung, Festigkeit u n d Gesprächsbereitschaft. Moskau sollte ein umfassender Dialog angeboten werden über Vertrauensbildung, Rüstungskontrolle, globale und regionale Probleme und

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Konfliktlagen, beiderseitige Interessen - systematisch und mit langem Atem, wenngleich ohne Nachgeben hinsichtlich des russischen Verhaltens in der Ukraine. Der Medwedew-Vorschlag von 2008/9 bezeichnet eine verpasste Gelegenheit zu einem strukturierten Dialog und Gesprächsforum. Natürlich war sein Inhalt nicht zum Nennwert zu nehmen. Aber ging nicht auch die Schlussakte von Helsinki mit ihrer segensreichen Wirkung für die Geschichte Europas auf sowjetische Vorschläge zurück, die viele im Westen zunächst mit großem Argwohn aufgenommen hatten?

Dieser grundsätzliche Dialog ist überfällig, und der NATO-Russland-Rat hätte dabei eine wichtige Rolle zu spielen. Natürlich gehört dazu die offene Darlegung und Diskussion der völlig konträren Narrative, die in Russland und in den NATO-Staaten vorherrschen beispielsweise hinsichtlich der Entwicklung in Europa seit dem Fall der Berliner Mauer, des Charakters der europäischen Sicherheitsordnung und der Legitimität geopolitischer Interessen. Anders ist „common ground“ nicht zu finden.

Aber sichtbar sollte die Hand der NATO ausgestreckt bleiben mit dem Angebot kooperativer statt konfrontativer Sicherheit - und zum gemeinsamen Überwinden von Nullsummendenken, bei dem vermeintlich eine Seite immer nur auf Kosten der anderen Interessen verwirklichen und Sicherheit gewinnen kann.

Brigadegeneral a.D. Dr. Klaus Wittmann, geb. 1946 in Lübeck, trat im Oktober 2008 nach 42 Jahren Bundeswehrdienst in den Ruhestand. Seine Laufbahn beinhaltete Truppenkommandos (Bataillons- und Brigadekommandeur), akademische Abschnitte (Geschichts- und Politikstudium mit Promotion zum Dr. phil. und Forschungsaufenthalt am International Institute for Strategic Studies in London), militärpolitische Arbeit im BMVg und im NATO-Hauptquartier sowie höhere Offizierausbildung national (Direktor Lehre an der Führungsakademie der Bundeswehr) und international (Director Adademic Planning and Policy am NATO Defense College, Rom). Zahlreiche Veröffentlichungen zur außen- und Sicherheitspolitik. W. war Mitglied der Kammer für Öffentliche Verantwortung, in der die Friedensdenkschrift des Rates der EKD von 2007 entstand. Er ist Senior Fellow des Aspen Institute Deutschland und hat einen Lehrauftrag für Zeitgeschichte an der Universität Potsdam. Mitglied des Deutsch-russischen Forums ist er seit 2014.

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