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Konzept zur sozialpsychiatrischen Versorgung von Menschen mit Mehrfachdiagnosen (geistige Behinderung und psychische Erkrankung) in der Steiermark Graz, im August 2004

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Konzept

zur sozialpsychiatrischen Versorgung von Menschen

mit Mehrfachdiagnosen (geistige Behinderung und

psychische Erkrankung) in der Steiermark

Graz, im August 2004

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Inhaltsverzeichnis 1 Vorwort ................................................................................................................. 4 2 Einführung............................................................................................................. 4 3 Pilotprojekt zum Aufbau einer außerstationären Versorgung von Menschen mit

Mehrfachdiagnosen............................................................................................... 7 3.1 Erste Schritte ................................................................................................ 7 3.2 Zielgruppe .................................................................................................... 8 3.3 Verbundkonzept ........................................................................................... 8 3.4 Bausteine des Verbundkonzeptes ................................................................. 9 3.5 Aufgaben der Koordinierungsstelle ........................................................... 10

3.5.1 Care Management............................................................................... 12 3.5.2 Case Management .............................................................................. 12 3.5.3 Fort- und Weiterbildungsangebote ..................................................... 13 3.5.4 Diagnostik – Bewertungskommission – IHB..................................... 15 3.5.5 Beratung ............................................................................................. 17 3.5.6 Öffentlichkeitsarbeit ........................................................................... 17 3.5.7 Transitional Services (Enthospitalisierung) ....................................... 17 3.5.8 Präventive Dienste .............................................................................. 18

3.6 Vollzeitbetreutes Wohnen und Beschäftigung in einer Tageseinrichtung für Menschen mit Behinderung und schwersten Persönlichkeits-, Verhaltens- und Entwicklungsstörungen....................................................................... 18

3.7 Mobile Krisenintervention ......................................................................... 19 3.7.1 Ambulante Krisenintervention ........................................................... 20

3.7.1.1 Aufgaben der Krisenintervention....................................................... 21 3.7.1.2 Methoden............................................................................................ 21

3.8 Projektplanung ........................................................................................... 22 4 Vorschläge von Leistungsbeschreibungen nach LEVO...................................... 23

4.1 Vollzeitbetreutes Wohnen für Menschen mit Behinderung Behinderung und schwersten Persönlichkeits-, Verhaltens- und Entwicklungsstörungen.................................................................................................................... 23

4.2 Beschäftigung in Tageseinrichtungen mit Tagesstruktur für Menschen mit Behinderung Behinderung und schwersten Persönlichkeits-, Verhaltens- und Entwicklungsstörungen....................................................................... 29

5 Anhang ................................................................................................................ 38 5.1 Begriffe/Definitionen................................................................................. 38

5.1.1 Geistige Gesundheit............................................................................ 39 5.1.2 Verhaltensstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, Krisen.................... 40 5.1.3 Mehrfachdiagnosen bei Menschen mit geistiger Behinderung .......... 41

5.2 Theoretische Grundlagen ........................................................................... 44 5.2.1 Epidemiologie ..................................................................................... 45 5.2.2 Ätiologie ............................................................................................. 47

5.2.2.1 Ursachen und Modelle von psychischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung .47

5.2.2.2 Das Vulnerabilitäts-Streßmodell von Roder et al............................... 50 5.2.2.3 Das 4 - Variantenmodell von Schmidt ............................................... 51 5.2.2.4 Das Modell der erlernten Hilflosigkeit von Seligman........................ 52 5.2.2.5 Das Morbiditätsmodell von Baumeister ............................................. 52 5.2.2.6 Das Modell von Murrell & Norris ...................................................... 53

5.2.2.7 Verhaltensphänotypen bei bestimmten Formen geistiger Behinderung ................................................................................... 53

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5.2.2.7.1 Pränatal bedingte Formen......................................................... 54 5.2.2.7.2 3.7.2 Perinatal bedingte Formen .............................................. 55 5.2.2.7.3 Postnatal bedingte Formen....................................................... 56

5.2.2.8 Verhaltensstörungen und psychische Störungen im Alter und ihre Einwirkungen auf die soziale Integration........................................... 57

5.2.3 Pädagogische, therapeutische und diagnostische Konzepte ............... 59 5.2.3.1 Pädagogische Konzepte ...................................................................... 59 5.2.3.2 Biopsychosozialer Ansatz – Biopsychologisches Assessment ........... 60

5.2.3.3 Klassifizierung von geistiger Behinderung nach ICD-10 und DSM-IV.......................................................................................... 62

5.2.3.4 Das Klassifikationssystem der WHO für Funktionalität, Behinderung und Gesundheit (ICF) ......................................................................... 68

5.2.3.5 Klinisches Assessment ....................................................................... 72 5.2.3.6 Therapeutische Ansätze ...................................................................... 72

5.3 Literatur ...................................................................................................... 74

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1 Vorwort

In mehreren Arbeitsreffen von Vertretern der Landesregierung, Sachwalterschaft,

psychiatrischen Landesklinik, und Anbietern der Behindertenhilfe zum Thema Men-

schen mit Mehrfachdiagnosen wird seit 1999 bemängelt, dass es kein Konzept zur

Betreuung und Behandlung von Menschen mit Mehrfachdiagnosen, keine Unterstüt-

zung bei Krisensituationen und keinen Ressourcenpool bzw. ein Kompetenznetzwerk

gibt, dass eine Abschiebung und Fehlunterbringung von Menschen mit Mehrfachd i-

agnosen in psychiatrische und Pflegeanstalten verhindert. Dies führt 2003 zur Bil-

dung einer Expertenrunde in der Fachabteilung 11B des Sozialressort der Landesre-

gierung Steiermark

Paralell dazu initiiert alpha nova ein Arbeits- und Informationstreffen, da die Belan-

ge und Vorschläge der Behindertenhilfe in der Expertenrunde der Landesregierung

keine Beachtung finden. Dort wird der Versuch unternommen, ein Wohnhauskon-

zeptes für Menschen mit Mehrfachdiagnosen zu entwickeln. Gleichzeitig erstellt

alpha nova ein Verbundkonzept zur sozialpsychiatrischen Versorgung von Menschen

mit Mehrfachdiagnosen.

Im Februar 2004 beauftragt die Fachabteilung 8B (Gesundheitsressort) alpha nova

mit der Erstellung eines Umsetzungskonzeptes für ein Pilotprojekt auf Grundlage des

Verbundkonzeptes, angepasst an die neuen Regelungen des seit Juli 2004 in Kraft

getretenen neuen Behindertengesetz und der dazugehörigen Leistungsverordnung,

das im folgenden beschrieben werden soll.

2 Einführung

Menschen mit geistiger Behinderung, die zusätzlich eine psychosoziale Krise oder

psychische Erkrankung durchleben, haben in der Steiermark keinen adäquaten Zu-

gang zu ambulanter, extramuraler psychiatrischer Versorgung. Psychische Störungen

äußern sich bei Menschen mit geistiger Behinderung oft in extremen Verhaltensauf-

fälligkeiten, wodurch ihre Bezugspersonen und ihr Betreuungsumfeld meist überfo r-

dert werden. Noch immer wird oft fälschlicherweise ein herausforderndes Verhalten

(challenging behavior) der bestehenden geistigen Behinderung zugeschrieben, und

nicht erkannt, dass ursächlich eine psychische Störung vorliegt, die behandlungsbe-

dütftig ist. Nicht selten werden diese Personen mit einer sogenannten Mehrfachdiag-

nose von Einrichtung zu Einrichtung gereicht und verlieren dabei ihre sozialen Stüt-

zungssysteme, was die Problematik verschlimmert. Als letzter Ausweg bleibt oft nur

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noch die Einweisung in die psychiatrische Landesklinik, die für Menschen mit Mehr-

fachdiagnosen derzeit ebensowenig eine Station mit entsprechendem Konzept vor-

weisen kann.

Manche leiden aufgrund lang andauernder Fehlunterbringung in Heimen bzw. psy-

chiatrischen Anstalten an schweren Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen bzw.

Hospitalisierungssymptomen. Nach Wiederherstellung einer adäquaten Lebensum-

welt, Aktivierung von Ressourcen und Aufbau sozialer Kompetenzen wird häufig

eine Reduzierung der Verhaltensauffälligkeiten erzielt. Dem hat eine entsprechend

der untypischen Störungsbilder bei Menschen mit geistiger Behinderung (diagnostic

overshadowing) aufwändige Diagnostik in Form eines bio-psycho-sozialen Assess-

ments voranzugehen, um Veränderungen in der Lebenswelt zur Unterstützung vor-

zunehmen und spezielle Hilfsangebote wahrzunehmen.

Dies ist jedoch nur möglich, wenn auf therapeutischer, psychiatrischer und pädagogi-

scher Seite ein entsprechendes Angebot mit zugehöriger Infrastruktur vorhanden ist

bzw. aufgebaut wurde.

Das hier vorgestellte Konzept soll einen Beitrag dazu leisten, diesem Personenkreis

die Erhaltung bzw. Wiederherstellung der geistigen Gesundheit zu ermöglichen und

stationäre Unterbringung zu vermeiden oder zeitlich zu begrenzen. Kurzfristig soll

eine derzeit fehluntergebrachte Gruppe von ca. 40 Menschen enthospitalisiert wer-

den, um sie rechtmäßig Unterzubringen und angemessen zu betreuen. Mittelfristig

soll durch die Einrichtung einer neuen Dienstleistung, die u.a. den Aufbau eines Ein-

richtungsverbundes vorantreibt, um die entsprechenden Leistungen und Angebote

verfügbar zu machen, eine derartige Fehlunterbringung zukünftig vermieden werden.

Nach Angaben in der ICD-10 der WHO (vgl. Dilling, Mombour & Schmidt, 1993)

liegt die Prävalenzrate für psychiatrische Störungen bei geistig Behinderten mindes-

tens drei- bis viermal so hoch wie bei der Normalbevölkerung. Dies bezieht sich

auch auf Verhaltensstörungen und emotionale Störungen.

Hennike (2002) weist darauf hin, dass aggressives und impulsives Verhalten bei

Menschen mit geistiger Behinderung Ausdruck einer posttraumatischen Belastungs-

störung oder Anpassungsstörung aufgrund erlebter Gewalt oder sexuellen Übergrif-

fen sein können, jedoch nicht als solche erkannt werden. In einer deutschen Studie

(Zemp, 2002) gaben nahezu alle befragten in Wohnhäusern lebende Frauen und

Männer mit geistiger Behinderung an, sexuelle Belästigung erfahren zu haben, sexu-

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elle Ausbeutung fand bei einem Drittel der Frauen und der Hälfte der Männer statt,

etwa ein Viertel der Frauen wurde einmal oder mehrmals vergewaltigt, bei den Män-

nern 7%.

Die Häufigkeit von Gewalttätigkeiten ohne sexuellen Hintergrund wird ebenso hoch

eingeschätzt (s. Kapitel 5 im Anhang).

Gewalttätige Übergriffe auf das Betreuungspersonal sind ebenfalls keine Seltenheit,

wie eine kürzlich in den Einrichtugnen von alpha nova durchgeführte Befragung

ergab. Diese emotional belastenden Erfahrungen aufgrund der oft schwer verstehba-

ren Handlungsweisen überfordern oft Betreuungspersonal aber auch Angehörige.

Burnout-Syndrom und hohe Fluktuation in dern Einrichtungen sind die Folge. Ange-

hörigenschulung, Beratung, Fortbildungen und Fallsupervision für das Betreuungs-

personal sind notwendig.

Je nach Untersuchung ergibt sich eine Prävalenzrate für eine geistige Behinderung

von 0,5% bis 1%. Im Psychiatriebericht 2002 wird davon ausgegangen, dass 260.000

StererInnen an einer psychischen Beeinträchtigung leiden. Insgesamt wurden an al-

len derzeitigen psychosozialen Einrichtungen 11.877 Klienten extramural versorgt.

In stationären Einrichtungen wurden 2001 in der Steiermark 12838 Patienten gezählt.

Eine flächendeckende sozialpsychiatrische Versorgung, wie sie vom Bundesministe-

rium vorgegeben wurde, ist damit aber noch nicht lange nicht erreicht, der Bedarf

entsprechend höher. Aus den Zahlen lässt sich errechen, dass es in der Steiermark

noch deutlich mehr Menschen mit geistiger Behinderung als die derzeit fehlunterge-

brachten ca. 40 Personen gibt, die trotz zusätzlicher psychische Beeinträchtigung

keine angemessene sozialpsychiatrische Betreuung erfahren.

Die lebensweltnahe Betreuung und Hilfestellung bedeutet langfristig eine finanzielle

Entlastung für den Sozialleistungsträger.

Ein zur Realisierung kommendes Projekt muss folgende Mindeststandards einhalten:

• Keine Ghettoisierung/Abschiebung

• Fehlunterbringung müssen auch zukünftig vermieden werden

• Mittelfristiger Aufbau einer Koordinierungsstelle/Ressourcenmanagement für

Menschen mit Mehrfachdiagnosen

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• Kurzfristig Enthospitalisierung in einem Wohnheim, welches auch Kurzzeit-

unterbringung und Notunterbringung anbietet und als Ausgangspunkt für die

Koordinierungsstelle und den Krisendienst dient

• Entwicklung standardisierter Diagnostik bzw. Assesmentinstrumente

3 Pilotprojekt zum Aufbau einer außerstationären Versorgung von Menschen mit Mehrfachdiagnosen

3.1 Erste Schritte

Zunächst soll in einem Pilotprojekt eine ganztägige Wohnbtreuung für diesen Perso-

nenkreis aufgebaut werden, in dem fehluntergebrachte Menschen mit Mehrfachdiag-

nosen nach besonderen Betreuungskonzepten betreut werden sollen. Dafür notwen-

dige spezifische Dienstleistungen sollen auch für Menschen mit Mehrfachdiagnosen

in anderen Einrichtung angeboten werden. Die Aufgaben der Koordinierungsstelle

werden zunächst von der Wohneinrichtung mit übernommen. Dabei wird auch ver-

mieden, dass derzeit fehluntergebrachte Menschen mit Mehrfachdiagnosen im LSF

lediglich in eine neue stationäre Versorgung umhospitalisiert werden. Vielmehr soll

eine Verteilung auf mehrere Träger und Wohnhäuser angestrebt werden. Für Men-

schen mit Mehrfachdiagnosen außerhalb der Psychiatrie und Pflegeanstalten soll ein

Verbleib in ihrer derzeitigen Umgebung möglich gemacht werden.

Durch Phasenweise Aufnahme von Menschen mit Mehrfachdiagnosen soll die Belas-

tung (Ghettoisierung) für Klienten und Personal niedrig gehalten werden.

Eine Finanzierung des Dienstes ist durch folgende Quellen möglich: Tagsatz mit

höchster Beeinträchtigung, 50% Dienstposten-Regelung nach der

Leistungsverordnung (LEVO), Stundensatz, Startfinanzierung SKAFF, weitere

Finanzierung. Außerhalb des Steiermärkischen Behindertengesetzes (BehG).

Ausgehend von diesen Erfahrungen soll ein Verbundkonzept für Menschen mit

Mehrfachdiagnosen aufgebaut werden, um zukünftige Hospitalisierung und

Psychiatrieaufenthalte zu vermeiden, und eine ambulante sozialpsychiatrische

Betreuung für Menschen mit geistiger Behinderungin der Steiermark zu

ermöglichen. Dazu gehört auch die Einrichtung eines mobilen Krisendienstes, der

sowohl für Menschen mit Mehrfachdiagnosen, als auch für Einrichtungen zur

Verfügung steht.

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Nach ungefähr drei Jahren stellen die Einrichtungen ein „normales“ Wohnhaus und

Tagesstruktur mit teilweiser spezieller Ausrichtung auf Mehrfachbeeinträchtigte

Personen dar. Die Koordinierungsstelle und der Krisendienst verselbständigen sich.

Ebenso muss auf Grundlage der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähig-

keit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO ein standardisiertes Diagnose-

und Assessmentinstrument entwickelt werden.

Für die schnelle und pragmatische Anwendung kann vorläufig aus den Klassisfikati-

onsraster des ICF ein Kriterienkatalog zur Einstufung von Menschen mit Mehrfach-

diagnosen zusammengestellt werden. Die Skalierung muss in Hinblick auf die Erfa-

sung des Betreuungsaufwandes angepasst werden. Dazu ist ein Dokumentations- und

Evaluationssystem zu erarbeiten, die eine Verhaltensbeobachtung über einen länge-

ren Zeitraum einschließt. Für einen ressourcenorientierten Ansatz ist es unbedingt

notwendig über die aggressiven oder fremd- und selbstgefährdenden Verhaltenswei-

sen die positiven Botschaften und Stärken des Klienten zu Erfassen. Dies soll durch

Hinzunahme eines Erhebungsinstruments auf Grundlage von Theunissen (1997) ge-

schehen.

3.2 Zielgruppe

Menschen mit Mehrfachdiagnosen stellen eine sehr heterogene Gruppe dar. Extreme

Verhaltensauffälligkeiten können ihre Ursachen in kontextuellen Faktoren, psychi-

schen Erkrankungen oder Komplikationen aufgrund der die geistige Behinderung

verursachenden Erkrankung sein (näheres zur Ätiologie im Anhang). Oft wird die

Symptomatik durch eine einhergehende körperliche Behinderung oder Beeinträchti-

gung auf kognitiver Ebene wie fehlender lautsprachlicher Verständigung überformt.

Zusätzlich können Verhaltensauffälligkeiten in Zusammenhang mit intellektueller

Beeinträchtigung Teil eines nicht angeborenen Hirnorganischen Syndroms sein.

Deswegen ist eine möglichst genaue Diagnostik unerlässlich, um angemessene For-

men der Betreuung diesen Menschen zuzuordnen.

3.3 Verbundkonzept

Langfristig sollen folgende Ziele erreicht werden:

Für Menschen mit geistiger Behinderung soll in der Steiermark eine adäquate,

extramurale psychiatrische Versorgung sichergestellt und zugänglich gemacht wer-

den. Eine neuerliche Hospitalisierung (Drehtüreffekt) wird dadurch vermieden, ge-

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nauso wie zukünftige drohende Fehlunterbringung. Dafür notwendige neue Leistun-

gen und Dienstleistungen müssen in das schon bestehende Angebot sozialpsychiatri-

scher Versorgung eingebettet werden, um eine hohe Vernetzung der Dienste zu er-

reichen. In einem Verbund verschiedener Träger werden deren komplementären An-

gebote durch eine Koordinierungsstelle in Form von Case Management auf die

Klienten abgstimmt (funktionsbereichsbezogene Trägerverbundverknüpfung). Zu

einer optimalen Versorgung gehört auch ein passgenaue Verbindung zur stationären

Psychiatrieversorgung, die für diesen Personenkreis ein entsprechendes Spezialange-

bot mit Therapiemöglichkeiten einrichten sollte. Die Zusammenarbeit kann auf die

Erfahrung zurückgreifen, die mit dem Pilotprojekt „Sozialpsychiatrischer Über-

gangsdienst“ gemacht wurden.

Um eine Ghettoisierung von Menschen mit Mehrfachdiagnosen zu vermeiden muss

bei den Trägern der Behindertenhilfe darauf hingewirkt werden, dass möglichst ver-

teilt Plätze für Menschen mit geistiger Behinderung und zusätzlichem psychiatri-

schen Krankheitsbild zur Verfügung gestellt werden.

Dafür ist eine Inklusion dieses Klientels in allen Lebensbereichen anzustreben. Un-

terbringung in traditionellen Anstalten muss durch gemeindenahe Unterstützungssys-

teme ersetzt werden, so dass so weit wie möglich normale Lebenswelten gescha ffen

werden können.

Träger und Anbieter von Betreuungs- oder Pflegediensten, die Aufgaben in einem

Verbundkonzept übernehmen, versuchen optimale gesellschaftliche Bedingungen für

die geistige Gesundheit dieser Menschen herzustellen.

Durch Informationsvermittlung und Beratung von Betreuungsteams in Wohnheimen

und Werkstätten wird eine Eskalation vermieden und Betreuungs- und Bezugsperso-

nen entlastet.

Dabei muss eine qualitative Verbesserung mit einer quantitative Verbesserung in der

Betreuung von Menschen mit Mehrfachdiagnosen einhergehen.

Das Streben nach geistiger Gesundheit ist ein Ziel aller Menschen. Geistige Gesund-

heit ist ein wesentlicher Bestandteil der zur Lebensqualität beisteuert.

Geistige Gesundheit muss für jeden Menschen erreichbar sein!

3.4 Bausteine des Verbundkonzeptes

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• Wohnungsangebote für Singles, Paare und Wohngruppen aber auch kurzfris-

tige Unterbringung bei Krisenintervention müssen in ausreichender Zahl be-

reitgestellt werden.

• Mobile Pflegedienste und Hilfen müssen die Kapazitäten und Expertise erhal-

ten, um Menschen mit Mehrfachdiagnosen betreuen zu können.

• Genügend Arbeit, Freizeit und Bildungsangebote müssen einer Verarmung

der Lebenswelt von Menschen mit geistiger Behinderung vorbeugen.

• Angebote zur Frühförderung machen auf die Gefahr einer psychischer Er-

krankung durch inadäquate Lebensumstände aufmerksam und weisen auf Lö-

sungsmöglichkeiten hin.

• Auch schulische und vorschulische Integration leisten einen wichtigen Be i-

trag zur Normalisierung der Lebensumstände für Menschen mit geistiger Be-

hinderung und sind Grundlage für geistige Gesundheit.

• Therapeutische Fachdienste bieten für die Behandlung spezielle Programme

an.

• Das psychiatrische Landeskrankenhaus bietet ein zeitliche begrenztes Kon-

zept für die Behandlung von akuten psychischen Krisen an.

• Angehörige, Betreuungs- und Pflegepersonal, Hausärzte und andere Kontakt-

personen werden durch ein Beratungs- und Fortbildungsprogramm im Um-

gang bei psychischen Krisen unterstützt.

• Eine Kooordinierungsstelle sorgt als Anlaufstelle und sichert die Verfügbar-

keit und Qualität der o.g. Angebote.

• Ein Krisendienst steht Hilfesuchenden rund um die Uhr zur Verfügung.

3.5 Aufgaben der Koordinierungsstelle

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Im folgenden soll die Struktur des Einrichtungsverbundes und die Aufgaben der Ko-

ordinierungsstelle dargestellt werden. Die Aufgaben der Koordienierungsstelle be-

stehen zu einem großen Teil auch aus indirekter Betreuungsleistung, also Dienstleis-

tungen, die die direkte Betreuung erst ermöglicht, und deren Qualität sicherstellt.

Laut dem steirischen Psychiatriebericht 2002 besteht im internationalen Vergleich

eine Relation von direkter versus indirekter Betreuung von 60:40 bei psychosozialen

Beratungszentren. Für Wohn- und Tagesstrukturangebote ergibt sich ein Verhältnis,

das meht zugunsten der direkten Betreuungsleistung liegt.

Nachdem ein Verbundsystem von klientenspezifischen Leistungen möglichst von

verschiedenen Trägern in der Region aufgebaut wurde, kann sich die Koordinie-

rungsstelle ähnlich dem höllandischen Konsulentenmodell auf die indirekte Betreu-

ungsarbeit konzentrieren. Die Aufgabe der dortogen sogenannten Konsulententeams

ist, das geeignetste Betreuungsangebot für den Klienten ausfindig zu machen und

über einen Hilfeplan bis zum Abschluss zu begleiten und zu evaluieren. Sie verste-

hen sich dabei nicht als Bewertungs- oder Zulassungsinstanz zwischen Ratsuchen-

dem und Berater. Andererseits sind finanzielle Mittel an den Einsatz der Berater des

Teams gekoppelt.

Zur Anzeige wird der QuickTime™ Dekompressor „Grafiken“

benötigt.

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Grafik 3: In der Grafik soll verdeutlicht werden, wie das Ressourcenmanagement an

er Lebenswelt des Menschen mit geistiger Behinderung orientiert ist. Exemplarisch

sind die einzelnen Lebensbereiche in den Kästen angedeutet. Die Aufgaben, die ring-

förmig angeordnet sind, entsprechen den folgenden Kapiteln.

3.5.1 Care Management

Unter Care Management soll hier der Aufbau und die Vernetzung der regionalen

Versorgungsstrukturen für Menschen mit Mehrfachbelastungen verstanden.

Nach Griffith et al. (2002) soll das Betreuungssystem von der Ebene der Sozialpla-

nung und allgemeinen Gesundheitsversorgung über einzelne Maßnahmen und Ange-

bote der institutionalisierten Einrichtungen bis zum Individuum in seinen informellen

und formellen Netzwerken als Einheit aufgebaut werden.

Bisherige Fehl- und Unterversorgung muss erhoben werden und eine bedarfsgerechte

Alternative vorgeschlagen werden. Welche ambulanten Dienste gibt es bereits und

wie können diese koordiniert werden? Welche zusätzlichen Angebote müssen in der

Gemeinde bzw. Region noch geschaffen werden?

In bereichsbezogenen Regionalkonferenzen wird ein einheitlicher Standard und eine

reibungslose Zusammenarbeit zwischen den Unterschiedlichen Anbietern in den je-

weiligen o.g. Bausteinen geschaffen (z.B.: Regionalkonferenz „Wohnen“, „Freizeit“

etc.)

Care Management trägt auch für den Aufbau und Organisation der Kooperation der

Beteiligten bei der Krisenintervention Sorge und hilft z.B. durch die zur Verfügungs-

stellung von Interventionsplänen.

3.5.2 Case Management

Weiterer zentraler Schwerpunkt der Koordinierungsstelle ist die Koordination von

psychosozialen und medizinisch-pflegerischen Dienstleistungen für Menschen mit

Mehrfach-/Doppeldiagnosen durch Case Management.

Damit wird ein Prozess bezeichnet, der Zusammenarbeit, in dem es um das Einschä t-

zen, Planen, Umsetzen, Koordinieren und Überwachen der Aktivitäten aller Betrof-

fenen geht. Dies bedeutet: Kontaktaufnahme mit Betreuungs-, Bezugspersonen und

Sachwalterschaft. Anbahnung der notwendigen Intervention, Therapien, Fortbildun-

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gen, Beratungen und Kontakte zu weiteren ambulanten Dienstleistern sowie Koordi-

nation der einzelnen Dienstleistungen und Sicherstellung der Finanzierung. Erstellen

eines individuellen Förderplans bzw. Krisen- und Notfallplans. Abschließende Be-

wertung der Entwicklung des Kunden/Hilfesuchenden. Dadurch wird eine qualitativ

hochwertige und Kosten sparende Erbringung von Dienstleistungen erreicht.

3.5.3 Fort- und Weiterbildungsangebote

Das Fördern von Verständnis und Erkennen bzw. Unterscheiden von psychischen

Störungen bzw. Verhaltensauffälligkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung

ist nach wie vor eine bisher unerledigte Aufgabe. Für die verschiedenen Helferpro-

fessionen werden verschiedene Curricula entwickelt, um Informationen zu vermit-

teln, die eine bessere Vorhersagbarkeit, Früherkennung einer Krise ermöglichen und

für die anstehende Bewältigung der Krise eine Vorbereitung anbieten.

Betreuungspersonal und Angehörige verfügen oft nicht über genügend Wissen bzw.

personelle oder zeitliche Ressourcen um eine psychiatrische Auffälligkeit zweifels-

frei festzustellen oder sie von einer psychosozialen Krise zu unterscheiden. Trotzdem

ist gerade ihr enger Kontakt zu den Klienten der Schlüssel für eine bessere Einschä t-

zung für die Situation des Klienten. Daher ist es notwendig bei den unmittelbaren

Kontaktpersonen ein theoretisch fundiertes Verständnis für die Problematik bei Men-

schen mit Mehrfach-/Doppeldiagnosen zu vermitteln. Folgende Punkte sollten in

einem 1 bis 2-tägigen Seminar bearbeitet werden:

• Selbsterkenntnis der professionellen Helfer:

à Realistisches Einschätzen der Kompetenzen und Grenzen;

à Kenntnisse über die Wirkungsweise verschiedener Interventionen.

• Selbstkontrolle der professionellen Helfer:

à Eigenes Temperament kennen und beherrschen lernen.

• Kenntnisse über den Betroffenen:

à In welchen Situationen reagiert der Betroffene kritisch;

à Wie lässt sich die Situation beruhigen, wie kann man präventiv

eingreifen.

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• Blick für Stärken und Ressourcen:

à Konzentration auf Stärken, Talente, Fähigkeiten und nicht auf die

Symptome.

• Geplantes Vorgehen und reflektiertes Handeln:

à Zufälliges, beliebiges oder willkürliches Handeln erkennen und ab-

stellen.

• Vertrautsein mit präventiven Methoden:

à Gute Kenntnisse erhöhen die Chance diese Möglichkeiten auch zu

nutzen.

• Vertrautsein mit symptomzentrierten pädagogischen Interventionsmethoden:

à Im Krisenfall muss man kreativ und passend intervenieren können.

• Antiseptisches Grundprinzip:

Interventionen dürfen keine Nebenwirkungen auf die langfristigen pä-

dagogischen

Ziele haben.

• Krisenplan:

à Verbindliches Vorgehen im Krisenfall wird vorher festgelegt

(z.B Ansprechpartner).

• Vor-Ort-Lösungen:

à Eigene Fähigkeiten der Betroffenen und die des Umfeldes werden

zuerst

benützt.

• Kontinuierlicher Erfahrungsaustausch mit anderen:

à Fördert die bessere Einschätzung der eigenen Handlungen im Kri-

senfall.

• Praxisberatung und Supervision:

à Helfer sind oft selbst in die Problematik verstrickt, und müssen

Wege kennen

um emotionale Unterstützung zu erhalten.

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Die Koordinierungsstelle sorgt für das Angebot und Vermittlung von entsprechenden

Fortbildungs-/Weiterbildungsangeboten, vertreibt Fortbildungsmaterialien und bietet

fachliche Supervision an.

Ein soziales Kompetenztraining für Menschen mit geistiger Behinderung zum Er-

werb von Bewältigungsstrategien und verbesserter Konfliktfähigkeit kann psychoso-

ziale Krisen vermeiden oder zumindest abfedern. Ein entsprechendes Training kann

auch individualisiert für den Arbeitsplatz erfolgen.

3.5.4 Diagnostik – Bewertungskommission – IHB

Gemäß dem Ansatz der WHO im ICF (International Classification of functioning,

disability and health) soll durch ein interdisziplinäres biopsychosoziales Assessment

eine Diagnose bei Menschen mit Mehrfachdiagnosen erstellt werden.

Ein eindeutige Bestimmung der Ursachen des vom Klienten gezeigten problemati-

schen Verhaltens bzw. dessen Empfindens vermeidet, dass eine unangemessene Be-

gegnung der Situation bzw. Behandlung der Störung zu weiterer Traumatisierung

führt.

Dabei wird nach dem biopsychosozialen Ansatz vorgegangen, der das komplexe

Zusammenspiel von biomedizinischen, psychologischen und sozialen Einflüssen auf

geäußertes herausforderndes Verhalten beachtet. Persönliche Erfahrungen des Indi-

viduums werden exploriert, und die Behandlung auf den Einzelfall ange-

passt/abgestimmt.

Durchzuführen sind:

• Ein biomedizinisches Assessment,

• Systematische Verhaltensanalyse,

• Überprüfung/Einschätzung von psychologischen und anderen Fähigkeiten,

• Untersuchung der sozialen und realen Umwelt.

=> Dadurch bekommt man Einsicht in den Gesamtkontext, auf den der

Klient reagiert.

Dieses Assessment geht über eine Einstufung wie sie nach ICF vorgenommen wird

hinaus, da schon Daten für ein entsprechendes therapeutisches bzw. Betreuungsan-

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gebot gesammelt werden. Für die Erfolgskontrolle im Hinblick auf größtmöglicher

Integration und Teilhabe sowie der Einbeziehung von Kontextfaktoren (Lebenshin-

tergrund) ist die ICF auch für die Sozialplanung ein geeignetes Instrument. Eine Zu-

sammenarbeit mit den Sachverständigenteam zur Ermittlung des Individuellen Hilfe-

bedarfs (IHB), die nach der Leistungsverordnung des neuen steirischen Behinderten-

gestezes ebenfalls einige Items der ICF verwenden, wäre daher äußerst sinnvoll. Eine

Bewertungskommission, die einen zusätzlichen Betreuungsbedarf aufgrund von

Mehrfachdiagnosen feststellt , wird dadurch überflüssig.

Die ICF eignet sich auch deshalb gut für die sozialmedizinisache Begutachtung, da

sie ein gemeinsame Sprache zwischen den verschiedenen Disziplinen herstellt, die an

der Betreuung von Menschen mit Mehrfachdiagnosen beteiligt sind. Die ICF basiert

ebenfalls auf dem bio.psycho-sozialen Modell (s. Anhang) und ist kein Krankheits-

folgemodell, also nicht defizitär orientiert. Die ICF erstellt jedoch keine funktionale

Diagnose. Hierfür ist die ICD notwendig. Die ICF ist auch kein Assessmentintstru-

ment. Auf ihrer Grundlage können jedoch standardisierte Methoden und Instrumente

zur Beschreibung und Beurteilung der Körperfunktionen sowie –strukturen, der Ak-

tivitäten des Menschen mit geistiger Behinderung und dessen Teilhabe entwickelt

werden.

Standardisierte Instrumente zum Assessment für Menschen mit Mehrfachdiagnosen

existieren drzeit nur im angelsächsischen Raum. Im Rahmen eines Pilotprojektes zur

Einführung dieses Verbundkonzeptes könnte jedoch ein methodisch abgesichertes

Assessment-Instrument entwickelt werden, auch unter Einbeziehung der ICF.

Für die schnelle und pragmatische Anwendung kann vorläufig aus den Klassisfikati-

onsraster des ICF ein Kriterienkatalog zur Einstufung von Menschen mit Mehrfach-

diagnosen zusammengestellt werden. Die Skalierung muss in Hinblick auf die Erfa-

sung des Betreuungsaufwandes angepasst werden. Dazu ist ein Dokumentations- und

Evaluationssystem zu erarbeiten, die eine Verhaltensbeobachtung über einen länge-

ren Zeitraum einschließt. Für einen ressourcenorientierten Ansatz ist es unbedingt

notwendig über die aggressiven oder fremd- und selbstgefährdenden Verhaltenswei-

sen die positiven Botschaften und Stärken des Klienten zu Erfassen. Dies soll durch

Hinzunahme eines Erhebungsinstruments auf Grundlage von Theunissen (1997) ge-

schehen.

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3.5.5 Beratung

Informationen für Angehörige und Betroffene, aber auch Beteiligungsangebot und

Mitsprachemöglichkeiten gehören ebenfalls zur Palette der Angebote der Koordinie-

rungsstelle.

Durch ein möglichst niederschwelliges Angebot – also nicht nur telefonisch sondern

auch entsprechend den Möglichkeiten unserer Klienten in aufsuchender Art und

Weise – soll für alle beteiligten eine Gesprächsmöglichkeit geschaffen werden.

Maßnahmen bzw. Verhaltensweisen der Betreuungs- und Bezugspersonen sollen

dem Klienten verständlich gemacht werden. Unangemessene Lebensbedingungen

oder gar Übergriffe sollen aufgedeckt werden. Familienkonferenzen können bei der

Aufarbeitung der problematischen Situation hilfreich sein. Betreuungs- und Bezugs-

personen erhalten auch eine situative Beratung in Bezug auf kurz- und langfristige

Interventionen, sowie Hinweise zur objektiven Verhaltensbeobachtung.

Darüber hinaus informiert die Koordinierungsstelle Therapeuten, Hausärzte, Behör-

denmitarbeiter, Nachbarschaftsnetzwerke und andere involvierte Personen und Or-

ganisationen zum Thema Mehrfachdiagnosen.

3.5.6 Öffentlichkeitsarbeit

Nicht nur das Verständnis in der Allgemeinheit über Menschen mit Mehrfachdiagno-

sen soll durch Öffentlichkeitsarbeit erreicht werden. Sondern nur durch ein gezieltes

Werben für und Erzeugung von Unterstützungsnetzwerken in Nachbarschaften, Poli-

tik, Behörden, Medien usw. kann verwirklicht werden, was als Care Management als

Ergebnis erreicht werden soll. Dies soll vor allem am Anfang der Umsetzungsphase

durch internationalen, fachlichen Austausch in Konferenzen geschehen.

3.5.7 Transitional Services (Enthospitalisierung)

Menschen, die durch jahrelange Fehlunterbringung in Kliniken und stationären,

meist geschlossenen Anstalten schwere Verhaltensauffälligkeiten zeigen, bedürfen

einer besonderen Herangehensweise von Seiten der Zieleinrichtung als auch von der

bisher unterbringenden Institution. In enger Absprache mit beiden Einrichtungen

wird ein individueller Plan zur mittelfristigen Integration des Klienten in normale

Lebenszusammenhänge aufgestellt. Dasselbe gilt, falls durch Überforderung eines

familiären Betreuungsnetzerkes eine Unterbringung bei den Angehörigen nicht mehr

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aufrecht erhalten werden kann. Die Transition wird bis zum Abschluss durch die

Koordinierungsstelle begleitet und anschließend bewertet.

3.5.8 Präventive Dienste

Prävention soll dergestalt sein, so dass „enabling niches“ (Taylor) entstehen. Es soll

zum einen eine Anreicherung der Lebenswelt zum anderen aber auch ein Hilfsnetz-

werk geschaffen werden. Das kann der Aufbau und Pflege eines Freundeskreise sein,

oder regelmäßiger Kontakt zu Nachbarn ermöglichen. Um dies zu erwirken schlägt

Theunissen (2002) Maßnahmen wie Nachbarschaftshilfen, Stadtteilfeste, gemeinsa-

me Nutzung von kulturellen Orten in Begleitung durch Selbsthilfeorganisation oder

einer freiwilligen Unterstutzungshilfe mit individuellen Patenschaften von Nichtbe-

hinderten für Menschen mit geistiger Behinderung.

3.6 Vollzeitbetreutes Wohnen und Beschäftigung in einer Tageseinrichtung für Menschen mit Behinderung und schwersten Persönlichkeits-, Verhal-tens- und Entwicklungsstörungen

Der Dienst muss multi-professionell geplant werden: Psychiatrisch, psychologisch-psychotherapeutisch, sozialarbeiterisch, sozialpädagogisch. Dies gilt vor allem in der Anfangsphase, in der die Leistungen der Koordinierungsstelle von der Wohneinrich-tung zunächst mit übernommen werden.

Personal Aufgaben

Psychologe/in Diagnose, Beratung, Verhaltensanalyse

Sozialarbeiter/in Case Management

Sozialpädagoge Beratung, Intervention, Fortbildung

Psychiatrischer Pfleger/in Beratung, Intervention, Medikamente, häusliche

Pflege

Management/Sekretariat Leitung Verbundaufbau, Care Management

Psychiater/in (konsultativ) Diagnose, Informationen zusammenfügen

Therapeuten (konsultativ) spezielle Therapien

Bei einer Vollbelegung der Einrichtung von 12 Personen soll der Dienst mit 12

Dienstposten für das Wohnhaus, 12 Dienstposten für die Tagesstruktur, 1,6 Diens t-

posten für die Koordinierungsstelle und erweitertes Case-Management sowie mit

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weiteren 0,5 Dienstposten für den Aufbau des Krisendienstes und der Entwicklung

des Assessment-Instruments betrieben werden. Bei einer Erweiterung der Betreuung

auf insgesamt 8 extern untergegrachte Personen ergeben sich zusätzliche 0,4 Diens t-

posten für die Koordinierungsstelle.

Zunächst wird der Dienst regional in Graz bzw. auf Landesebene für fehlunterge-

brachte tätig, später kann eine Erweiterung mit Außenstellen in den Sozialplanungs-

regionen in der ganzen Steie rmark erfolgen.

Die Unterbringung der Klienten/Klientinnen soll dezentral erfolgen, um eine Ghet-

toisierung zu vermeiden. D.h. Menschen mit Mehrfachdiagnosen in externen Wohn-

häusern werden ebenso betreut, wie eine Vorbereitung und Begleitung bei der

Enthospitalisierung in externe Wohnhäuser möglich ist. Die betreffenden Betreu-

ungspersonen in den einzelnen bestehenden Wohnhäusern, die sich mit Menschen

mit Mehrfachdiagnosen beschäftigen, werden entsprechend geschult, und nehmen an

den Besprechungen teil.

Bei der Tagesbetreuung bleibt es bei der 1:1 Betreuung beim höchsten Grad der Be-

einträchtigung

Beide Leistungen werden inhaltlich als Einheit geführt. Unter Maßgabe des Normali-

sierungsprinzips sollen sie jedoch praktisch getrennt sein.

(siehe auch Kapitel 3 Vorschläge von Leistungsbeschreibungen) 3.7 Mobile Krisenintervention

Hilfe und Beratung möglichst vor Ort bei akuten Krisen wünscht sich jede Einrich-

tung. Dabei soll zur Entlastung des Personals die Einleitung aller notwendigen

Schritte zur weiteren Krisenbewältigung vorgenommen werden.

Wie Nichtbehinderte können auch Menschen mit geistiger Behinderung jederzeit in

eine psychosoziale oder suizidale Krise geraten bzw. andere Mitbewohner oder

Betreuungspersonal gefährden. Bei diesem Personenkreis besteht sogar eine höhere

Wahrscheinlichkeit psychischer Erkrankungen als bei nicht behinderten Menschen.

Der Krisendienst trägt mit seinem speziellen Angebot diesem Umstand Rechnung.

Menschen mit geistiger Behinderung aller Altersgruppen – ob in speziellen Einrich-

tungen oder zu Hause –, ihre Angehörigen, Mitbewohner und Freunde sowie ihre

Betreuer in Wohneinrichtungen und Arbeitsstätten haben durch den Krisendienst im

Notfall Ansprechpartner. Durch telefonische Beratung, Hausbesuche und Gespräche

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in der Koordinierungsstelle wird Menschen mit geistigen Behinderungen und ihrem

persönlichen Umfeld in Krisensituationen, bei Überforderung und Eskalation eine

individuelle Entlastung geboten. Bei Konflikten mit Angehörigen und Freunden, bei

Trennungsschmerz und Suizid-Gedanken aggressiven Tendenzen sowie bei psychiat-

rischen Notfällen kann frühzeitig eine Unterstützung erfolgen. Die Position als Au-

ßenstehender kann hier vorteilhaft wirken. Der gleichzeitig sehr persönliche, vertrau-

ensvolle Kontakt zum Klienten ist die Basis einer erfolgreichen Arbeit in einer be-

sonderen Beziehung zum Hilfesuchenden.

Da die gewohnte verbale Kommunikation häufig beschränkt bleiben muss, werden

neue Kommunikationswege gesucht und in die Interaktion einbezogen.

Angehörige und Betreuer von Menschen mit geistiger Behinderung haben Verha l-

tensweisen entwickelt, um Krisensituationen im Umgang mit ihnen zu bewältigen.

Und doch brauchen auch sie manchmal die Hilfe Dritter.

Allen Betroffenen in diesem speziellen Umfeld gilt das Bestreben des Krisendienst

und seiner Mitarbeiter, immer wieder gemeinsam Wege aus der Krise zu finden.

3.7.1 Ambulante Krisenintervention

In Abgrenzung zu einer längerfristigen Behandlung (wenn nötig) soll der Krisen-

dienst eine möglichst schnelle Wiederherstellung des bisherigen Gleichgewichtes

erzielen.

Sinnvollerweise soll der Krisendienst für Menschen mit Mehrfachdiagnosen organi-

satorisch in bereits bestehende oder im Aufbau befindlichen Angebotsstrukturen der

psychosozialen Versorgung in der Steiermark eingebettet werden. Eine flächende-

ckende Versorgung kann nur dann erreicht werden, wenn die Organisation und Infra-

struktur eines allgemeinen sozialpsychiatrischen Krisendienst mitgenutzt werden

kann. Im Krisenfall wird einem Krisen- und Interventionsteam das Know-How im

Umgang mit Menschen mit Mehrfachdiagnosen durch eine speziell ausgebildete

Fachkraft zur Verfügung gestellt, die sich beim Einsatz vor Ort beteiligt. Übergangs-

lösungen werden auch hier notwendig sein. In der Koordinierungsstelle könnte zu-

nächst ein mobiler sozialpsychiatrischer Dienst entstehen, der sowohl für Organisati-

onen der Behindertenbetreuung als auch Bezirkspsychiatrischen Diensten zur Verfü-

gung steht. Dies wäre eine gute Möglichkeit, den notwend igen Austausch der Kon-

zepte zwischen der Behindertenpädagogik und der Psychiatrie voranzubringen.

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3.7.1.1 Aufgaben der Krisenintervention

Wüllenweber (2001) fasst Grundelemente der Krisenintervention für Menschen mit

geistiger Behinderung wie folgt zusammen:

• Bewältigung psychosozialer Belastungen und Notlagen,

• Beeinflussung eskalierender Symptome bei psychischen Störungen und psychiat-

rischen Erkrankungen,

• Beherrschung von Verhaltensstörungen,

• Prävention bei psychischen Erkrankung,

• Vermeidung einer stationären Einweisung

• Vorbereitung auf Psychotherapie

• Suizidprävention

3.7.1.2 Methoden

Entsprechend den Professionen kommen folgende Methoden zur Anwendung

psychosoziale Beratung, Case Management, sozialpädagogische Erziehung, Krisen-

unterkünfte, Psychotherapie, Psychopharmaka.

Dabei wird nach folgenden Schritten vorgegangen:

- intellektuelles Verständnis der Krise beim Klienten herstellen,

- Beteiligte sollen sich ihrer Gefühle klar werden,

- Bewältigungsvermögen seitens des Klienten herstellen,

- Wiedereingliederung in soziale Welt bzw. Aufrechterhaltung des sozialen

Bezugs

- Bereitstellen/Aktivieren eines Ressourcenpools für den Notfall

- Vorbereitung für von Angehörigen und Hinzuziehen von Angehörigen bei

der Krise

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3.8 Projektplanung

Der zeitliche Ablauf für eine Übergangsphase hin zum „Normalen“ Wohnhausbe-

trieb stellt sich folgendermaßen dar:

= intern belegte Gruppe mit 4 Personen.

= extern belegte Gruppe mit 4 Personen.

= nicht belegte Gruppe.

= betreute Personen mit Aufenthalt im LSF.

6 Monate 6 Monate 6 Monate Vorbereitungs-phase Adaptations-phase

Adaptations-phase Rüstphase

Vorbereitungs-phase

Rüstphase

Akzeptanzpha-se

Adaptations-phase

Aus Anfra-

gen

3 Monate Auf-

bau/Organisation LSF

LSF

Adaptations-phase

Rüstphase Akzeptanzpha-se

LSF Vorbereitungs-phase

Adaptations-phase

Extern

Vorbereitungsphase: Adaptationsphase:

Akzeptanzphase:

Diagnostik und klinisches Assessment noch im LSF, Vorbereitung auf Enthospitalisierung auch für externe Wohnhäuser. Biopsychosoziales Assessment.

Kompetenzförderung, therapeutische Angebote. Stabilisierung und Normalisierung, langfristig Vorbereitung auf ande-re Wohnform.

Der Verbleib oder Wechsel in einzelnen Phasen ist abhängig vom individuellen Entwick-lungsstand.

Rüstphase:

LSF

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4 Vorschläge von Leistungsbeschreibungen nach LEVO

4.1 Vollzeitbetreutes Wohnen für Menschen mit Behinderung Behinderung und schwersten Persönlichkeits-, Verhaltens - und Entwicklungsstörun-gen.

1. Funktion und Ziele 1.1 D EFINITIO N Kurzbeschreibung: Vollzeitbetreutes Wohnen hat sich an Jugendliche nach Beend igung der Schulpflicht, Erwachsene mit geistiger, körperlicher -, Sinnes- oder mehrfacher Behinderung zu richten. Vollzeitbetreutes Wohnen hat Menschen mit Behinderung, die auf eine per-manente Betreuung und Hilfestellung durch professionelles Fachpersonal angewie-sen sind, eine bedarfs- und bedürfnisorientierte Form der Begleitung und Unterstüt-zung in allen Bereichen der privaten Lebensgestaltung anzubieten. Die Intensität der Unterstützungsleistung hat sich von der Assistenz und Hilfestellung über die Anle i-tung und Übung bis hin zum stellvertretenden Handeln zu erstrecken. In der Regel stehen diese Klientinnen/Klienten tagsüber in Beschäftigung bzw. nehmen eine Ta-gesstruktur in Anspruch. Menschen mit geistiger Behinderung, die zusätzlich eine psychosoziale Krise oder psychische Erkrankung durchleben oder aufgrund ihres derzeitigen Lebenshinter-grundes schwere Verhaltensstörungen zeigen, erhalten eine individuell zugeschnitte-ne Betreuung zusätzlich zu den Leistungen des vollzeitbetreuten Wohnens. Ziel: Den betreuten Klientinnen/Klienten muss mit dem vollzeitbetreuten Wohnen die Möglichkeit eröffnet werden, Unterstützung bei der Durchsetzung ihrer Wünsche und Bedürfnisse sowie adäquate Hilfestellung bei der Führung eines möglichst nor-malisierten und selbstbestimmten Lebens, zu erhalten. Dazu zählen insbesondere: • die erfolgreiche Bewältigung der alltäglichen Lebensführung und Bezie-hungsgestaltung • die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben • Selbsterfahrung und Persönlichkeitsentwicklung • Gesundheitsfürsorge- und vorsorge

Damit wird die Erhaltung bzw. die Wiederherstellung der geistigen Gesundheit zu ermöglicht und eine stationäre Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt ver-mieden. Eine genaue Beobachtung und Dokumentation des Verhaltens der Person ermöglicht eine genaue Diagnose als Grundlage für weitere therapeutische Ange-bote.

Die soziale Kompetenz der betreuten Person soll soweit gesteigert werden, damit sie weitergehende Integrationsleistungen in Anspruch nehmen kann und am gesell-schaftlichen Leben teilhaben kann

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1.2 ZIELGRUPPE Vollzeitbetreutes Wohnen hat sich an Jugendliche nach Beendigung der Schulpflicht und Erwachsene, mit geistiger, körperlicher, Sinnes- oder mehrfacher Behinderung zu richten. Die Klientinnen/Klienten müssen aufgrund ihrer eingeschränkten Fähig-keiten und Beeinträchtigungen einen Bedarf an einer vollzeitbetreuten Wohnform haben.

Darüberhinaus handelt es sich um Menschen mit geistiger Behinderung und zusätzli-chen psychischen Beeinträchtigungen oder Verhaltensauffälligkeiten, durch die die Sicherstellung einer angemessenen Lebensqualität gefährdet wird

1.2.1 Indikationen Klientinnen/Klienten, die diese Leistung in Anspruch nehmen, müssen mit einer höchsten Beeinträchtigung leben, die es für sie notwendig macht, beim Wohnen und in der Freizeit in hohem Ausmaß betreut zu werden. Allgemein gilt, dass sich die Klientinnen/Klienten aus freiem Willen für diese Leistungsart entscheiden müssen. Das sind insbesondere:

Menschen mit geistiger Behinderung, die aufgrund einer psychiatrischen Er-krankung oder extremen Verhaltensauffälligkeiten in ihrem derzeitigen Le-bensumfeld keine ausreichende Betreuung erfahren können.

Menschen mit geistiger Behinderung, die aufgrund ihrer Beeinträchtigung ihrer Körperfunktionen oder Körperstruktur zu extremen Verhaltensweisen neigen oder als Folge unangemessener Betreuung dieses zeigen.

Menschen mit geistiger Behinderung, die aufgrund von Fehlunterbringung starke Verhaltensauffälligkeiten zeigen und keine angemessene Betreuung er-halten.

1.2.2 Kontraindikationen Die Leistungsart darf von Klientinnen/Klienten nicht in Anspruch genommen wer-den, die in einer geringer betreuten Wohnform leben könnten. 1.3 Stellung des Dienstes in der Angebotskette Bei Fähigkeit der Klientinnen/Klienten zu einer selbständigeren Lebensführung in Form einer Trainingswohnung oder alternativen Leistungsart mit geringerer Betreu-ungsintensität, wie beispielsweise das teilzeitbetreute Wohnen bzw. Wohnassistenz (mobil betreutes Wohnen), ist bei der Leistungszuerkennung zu berücksichtigen. Durch eine Stabilisierung der geistigen Gesundheit und eine Erweiterung des Verha l-tensrepertoires kann die derzeitige Unterbringung aufrechterhalten bzw. wiederher-gestellt werden und eine Unterbringung im LSF vermieden werden.

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Bei Fehlunterbringung wird ein individueller Plan zur mittelfristigen Integration des Klienten in normale Lebenszusammenhänge aufgestellt. Schrittweise Enthospitalisie-rung durch Angebot des vollzeitbetreuten Wohnens für Menschen mit Behinderung mit schwersten Persönlichkeits-, Verhaltens- und Entwicklungsstörungen. 2. Leistungsangebot 2.1 GRUNDSÄTZE UND M ETHODISCHE GRUNDLAGEN Das Leistungsangebot hat sich an folgenden Grundsätzen insbesondere zu orientie-ren: • Integration (physisch, funktional und sozial) • Normalisierung der Lebensbedingungen (die Lebensbedingungen von Men-schen mit Behinderung

entsprechen weitgehend denen von Menschen ohne Behinderung) • Selbstbestimmung und Emanzipation (Menschen mit Behinderung treffen Entscheidungen, die ihre

Person betreffen selbst beziehungsweise sind zumindest maßgeblich an den Entscheidungsprozessen beteiligt)

• Selbstständigkeit (Förderung und Stärkung des persönlichen Handlungsspiel-raums und der Eigen-

verantwortung – Hilfe zur Selbsthilfe) 2.2 GRUNDSÄTZE DER PÄDAGOGISCHEN B ETREUUNGSARBEIT: Die pädagogische Betreuungsarbeit soll insbesondere durch Betreuung, Begleitung und Assistenz folgendes fördern: • stellvertretendes Handeln • Gestaltung des persönlichen Tages-, Wochen und Jahresablaufs • Haushaltsführung • Gestaltung des persönlichen Lebensraumes • Aufbau und Gestaltung sozialer Beziehungen • Außenkontakte bzw. Außenbeziehungen • Krisenbewältigung • Umgang mit Aggressionen • Individualversorgung (Ernährung, Bekleidung, Hygiene, Gesundheit) • Umgang mit finanziellen Angelegenheiten • Freizeitgestaltung • Teilnahme am gesellschaftlichen Leben Förderung und Unterstützung der Klientinnen/Klienten bei • der altersgemäßen Entwicklung • der alltäglichen Lebensführung und Lebensgestaltung • der Fähigkeit eigene Wünsche und Bedürfnisse zu erkennen und zum Aus-druck zu bringen • bei der Erweiterung des persönlichen Handlungsspie lraumes

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• Sicherstellung therapeutischer Zusatzangebote und fachärztlicher Betreuung bei Bedarf • Soziale Kompetenzförderung • Hilfe bei der Aufarbeitung traumatischer Erlebnisse 2.3 LEISTUNGSUMFANG Die Leistung ist wie folgt zu erbringen: Stationäre Betreuung: bis zu 24 Stunden täglich Hauptdienstzeit: 6:00 Uhr bis 22:00 Uhr Betriebstage: 365 Tage/Jahr Tagbereitschaft: Mo. bis Fr. Tagesbetreuung: Mo. bis Fr. zwischen 8:00 Uhr –16:00 Uhr (nur für Klientinnen/Klienten, die keiner Beschäftigung nachgehen bzw. keine Ta-gesstruktur in Anspruch nehmen können; für Klientinnen/Klienten während der Ur-laubszeiten) Nachtbereitschaft: an allen Betriebstagen Nachtdienst: aktive Nachtdienste nach Bedarf Verpflegung: • Werktags: Frühstück / Abendessen; • Sa/So/Fei sowie bei Krankheit /Urlaub: Vollverpflegung • Klientinnen/Klienten, die keiner Beschäftigung nachgehen beziehungsweise

keine Tagesstruktur in Anspruch nehmen können: Vollverpflegung 3. Qualitätssicherung 3.1 STRUKTUR -S TANDARDS 3.1.1 Wohneinrichtung Einrichtungsgröße: Richtwert: 12 Klientinnen/Klienten (exklusive angeschlossene Wohngruppen). Die Klientinnen können auf mehrere Wohnheime verteilt sein und dezentral betreut werden (Vermeidung von Ghettoisierung). Standort und Umgebung: Folgende infrastrukturelle Mindestanforderungen sollen erfüllt werden: • Es ist sicherzustellen, dass den Klientinnen/den Klienten die Teilnahme am gesellschaftlichen und

kulturellen Leben ermöglicht wird. • Es ist sicherzustellen, dass eine entsprechende Infrastruktur (Geschäfte, Ärz-te, Institutionen etc.)

vorhanden ist. • Eine Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz soll vorhanden sein. Raumbedarf : Die Einrichtung soll nach folgenden Grundsätzen errichtet sein (Richtwert : maxi-mal 45 m² Gesamtraumbedarf je Klientin/Klient):

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• 12 Einbettzimmer rund 14m² je Klientinnen/Klient • Sanitärbereiche • Küche, Wohn-, Ess- und Freizeitbereiche • Nebenräume in Form von Gängen, Abstell- Wirtschaftsräumen • Personalräume (Büro, Schlafmöglichkeit, Sanitär) Die Einrichtung ist jeweils nach dem baulichen und technischen Stand der Technik zu errichten. 3.1.2 Fachpersonal Pädagogische Le itung: • Das Leitungspersonal richtet sich nach der Anzahl des Betreuungspersonals.

Maximalwert: 6,7 % Dienstposten pro 100 % Betreuerdienstposten

Gesamtpersonalbedarf: Der Bedarf an fachlich qualifiziertem Personal wird über den Grad der Beeinträcht i-gung der betreuten Klient innen/Klienten, der jeweiligen betrieblichen Ablauforgani-sation und den Leistungsschwerpunkten definiert. Die Anzahl des einzusetzenden fachlich qualifizierten Personals richtet sich nach der Anzahl der betreuten Klientinnen/Klienten und deren Grad der Beeinträchtigung. Grad der Beeinträchtigung: Der konkrete, tatsächliche Bedarf an fachlich qualifiziertem Personal wird über den Grad der Beeinträchtigung der betreuten Klientinnen/Klienten (Anlage 4) und die jeweilige betriebliche Ablauforganisation (Besetzungszeiten, Einzelbetreuung, Team, Supervision, Fortbildung bzw. Personalentwicklung sowie Planung und Dokumenta-tion) definiert. Das Personal für zusätzliche Leistungen erhöht sich entsprechend nach dem Betreuungszuschlag gemäß LEVO. Dabei ist von einem höchsten Grad der Beeinträchtigung auszugehen. Dies entspricht 0,80 + 0,50 Dienstposten/Klient/Klientin. Zielwerte: Höchster Grad der Beeinträchtigung: maximal 0,80 Dienstpos-ten/Klientin/Klient + 50% Dienstposten nach fachpsychiatrischem Gutachten Mindestpersonalbedarf : Die Zielwerte können im Einzelfall seitens der Leistungserbringer nach tatsächlichen Betreuungserfordernissen im Rahmen eigener pädagogischer Verantwortung kurz-fristig unterschritten werden, sofern eine ordnungsge-mäße Betreuung mit dem Min-destpersonal noch gewährleistet ist. (Mindestwert: pro Einrichtung für 12 Klientin-nen/Klienten : 550% Dienstposten) Qualifikation: • Die Qualifikation des Personals hat den Anforderungen der Leistungsart bzw. der Funktion und der

Ziele der Einrichtung (Punkt 1.) und den dafür formulierten Stellenbeschrei-bung zu entsprechen. • Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen eine abgeschlossene Ausbil-dung im psychosozialen,

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heil/sonderpädagogischen bzw. handwerklichen Bereich (Heil- und Sonder-pädagoginnen-/pädagogen, Behindertenpädagoginnen-/pädagogen, Behinder-tenfachbetreuerinnen-/betreuer, Psychologinnen/Psychologen, Dipl. Soziala r-beiterinnen/Sozialarbeiter, Sonderschullehrerinnen-/lehrer, diplomierte Pfle-gehelferinnen-/helfer, Therapeutinnen/Therapeuten) haben. Die primäre Qua-lifikation hat sich nach der konkreten Stellenbeschreibung zu richten. Je nach Anforderung des konkreten Arbeitsfeldes können (komplementäre) Zusatz-qualifikationen erforderlich sein. Bei erforderlichen, pflegerischen Tätigkei-ten ist eine Ausbildung, Zusatzausbildung oder entsprechende Nachschulung des Personals für diesen Pflegebereich jedenfalls erforderlich.

3.2 PROZESS-S TANDARDS 3.2.1 Organisation • Aufbau und Ablauforganisation müssen in einem Organisationshandbuch dargestellt werden

(Funktionsbeschreibungen, Stellenbeschreibungen). • Im Betreuungskonzept hat eine Darstellung und Beschreibung der Ziele und Methoden anhand dieser

Verordnung zu erfolgen. 3.2.2 Dokumentation Die klientenspezifische Dokumentation hat insbesondere folgendes zu enthalten: • Vorgeschichte/Erstkontakt beispielsweise(Klientinnen-/Klientenanfrage,

bei Bedarf Wartezeit, Ersterhebung, Anamnesebogen, Zuweisungsdiagnose, Interessensabklärung und dergle i-

chen) • Einstufung in Zusammenarbeit mit dem IHB-Team auf Grundlage der ICF. • Aufnahme in Form einer Stammdatenerhebung (allgemein, medizinisch) des Unterstützungsbedarfes,

des Pflegebedarfes, weitere therapeutische – psychologische Maßnahmen, zu-sätzliche Betreuungs-vereinbarungen, Erfassen von Klientinnen-/Klientenwünschen und Zielen, zusätzliche Vereinbarungen mit Personen aus dem Herkunftssystem (Eltern, Angehörigen) und Sachwalterin-nen/Sachwaltern), Notfallsblatt, Gesundheitsblatt (Medikamente und Befun-de)und dergleichen.

• Verlaufsdokumentation (Aktualisierung persönlicher Stammdaten, Ziel- und Entwicklungsplanung

auf Basis des konkreten Leistungszuerkennungsbescheides, Betreuungspro-tokolle, und dergleichen.)

• Erfassung von Verhaltensauffälligkeiten, Erfassen von Stärken und positi-ven Botschaften, Beobachtungsbögen • Abschlussdokumentation der Betreuungsleistung (Abschlussbericht) Die einrichtungsspezifische Dokumentation hat insbesondere folgendes zu entha l-ten:

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• Leistungsdokumentation • Verlaufs- und Entwicklungsdokumentation (Jahresentwicklungsberichte) • Dienstpläne • Fortbildungspläne des Fachpersonals • Anwesenheitslisten von Klientinnen/Klienten • Dokumentation von Teambesprechungen, Teamsupervisionen und Fortbil-dungen des Fachpersonals • Sonstige trägerspezifische Dokumente (Protokolle und dergleichen) 3.2.3 Fachpersonal/Personalentwicklung Regelmäßige Teambesprechungen sind abzuhalten. Teamsupervisionen sind ver-pflichtend und regelmäßig abzuhalten. Fortbildungen sind verpflichtend und regel-mäßig auf allen Ebenen durchzuführen. Personalentwicklung ist insbesondere sicherzustellen durch: • Personalentwicklungskonzept • Einschulung neuer Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter • Jährliches Mitarbeiterinnen-/Mitarbeitergespräch 3.3 ERGEBNIS -S TANDARDS • Jahresentwicklungsberichte sind zu erstellen. • Die Prüfung des individuellen Maßnahmenerfo lgs erfolgt über die leistungs-zuerkennenden Behörden

nach Einholung eines Sachverständigengutachtens je nach Bedarf und Erfor-dernis. 4. Controlling Die Leistungserbringer sind verpflichtet, über Ersuchen der Landesregierung rege l-mäßig automationsunterstützt Daten bekannt zu geben. Daten sind insbesondere: • Einrichtungsbezogene Daten • Klientenbezogene Daten • Personalbezogene Daten • Kostenbezogene Daten

4.2 Beschäftigung in Tageseinrichtungen mit Tagesstruktur für Menschen mit Behinderung Behinderung und schwersten Persönlichkeits-, Verhal-tens- und Entwicklungsstörungen

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1. Funktion und Ziele 1.1 D EFINITION Kurzbeschreibung: Die Beschäftigung in Tageseinrichtungen mit Tagesstruktur hat sich an Jugendliche (nach Beendigung der Schulpflicht) und Erwachsene mit intensiver geistig-, körper-lich-, sinnes- und/oder mehrfacher Behinderung zu richten. Der Grad der Beeinträch-tigung der begleiteten Personen ist als hoch bis höchst einzustufen. Die Unterstützungsleistung muss umfassend sein und hat sich von kontinuierlicher Anleitung und Aufsicht bis hin zur stellvertretenden Ausführung von Handlungen zu erstrecken (im besonderen in den Bereichen Kommunikation, Mobilität, Ernährung, Hygiene und Pflege). Die hohe Personaldichte, die Raumgestaltung und die Ausstattung der Einrichtung muss auf die speziellen Anforderungen / Bedürfnisse der begleiteten Personen abge-stimmt werden. Menschen mit geistiger Behinderung, die zusätzlich eine psychosoziale Krise oder psychische Erkrankung durchleben oder aufgrund ihres derzeitigen Lebenshinter-grundes schwere Verhaltensstörungen zeigen, erhalten eine individuell zugeschnitte-ne Betreuung in enger Verknüpfung zu den Leistungen des vollzeitbetreuten Woh-nens. Ziel: Die Tagesstätte muss Klientinnen/Klienten mit höchstem Grad der Beeinträchtigung getrennt von Wohnen und Freizeit eine bedürfnisorientierte und sinnvolle Form der Aktivität und Beschäftigung bieten und die Teilnahme an einem möglichst normali-sierten, selbstbestimmten und integrativen Tagesablauf gewährleisten. Die inhaltliche Ausgestaltung der Betreuung muss auf einem ganzheitlich, integrati-ven Ansatz basieren. Die begleiteten Klientinnen/Klienten müssen in ihrer Gesamt-heit erfasst werden. Förderung hat ausschließlich abgestimmt auf die Interessen, Wünsche und Bedürfnisse der Personen stattzufinden. Entwicklungspotentiale auf physischer, psychischer und sozialer Ebene sollen sicht-bar werden. Mit angemessener Unterstützung müssen sich die begleiteten Klientinnen/Klienten neue Fähigkeiten und Kenntnisse aneignen.

Damit wird die Erhaltung bzw. die Wiederherstellung der geistigen Gesundheit zu ermöglicht und eine stationäre Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt ver-mieden. Eine genaue Beobachtung und Dokumentation des Verhaltens der Person ermöglicht eine genaue Diagnose als Grundlage für weitere therapeutische Ange-bote.

Die soziale Kompetenz der betreuten Person soll soweit gesteigert werden, damit sie weitergehende Integrationsleistungen in Anspruch nehmen kann und am gesell-schaftlichen Leben teilhaben kann. 1.2 ZIELGRUPPE

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Die Beschäftigung in Tageseinrichtungen mit Tagesstruktur hat sich an Jugendliche nach Beendigung der Schulpflicht und Erwachsene (beiderlei Geschlechts) mit geis-tiger, körperlicher-, sinnes- und/oder mehrfacher Behinderung zu richten. Der Grad der Beeinträchtigung muss als höchst eingeschätzt werden. Die Art und Schwere der Behinderung der Klientinnen/Klienten darf zum aktuellen Zeitpunkt eine Teilnahme an weiterführenden Angeboten nicht zulassen. Maßnah-men der beruflichen Integration sowie Arbeits- und Beschäftigungsangebote der Ta-geswerkstätten für Menschen mit Behinderung (Hilfe zur beruflichen Eingliederung, produktive / kreative Beschäftigung) müssen für sie eine deutliche Überforderung bedeuten. Darüberhinaus handelt es sich um Menschen mit geistiger Behinderung und zusätzli-chen psychischen Beeinträchtigungen oder Verhaltensauffälligkeiten, durch die die Sicherstellung einer angemessenen Lebensqualität gefährdet wird Die Klientinnen/Klienten, die diese Leistung in Anspruch nehmen brauchen: • intensive Unterstützung bei der Planung und Ausführung aller alltäglichen Verrichtungen • umfangreiche Unterstützung bei der Körperpflege und beim Essen • intensive Zuwendung einer Betreuungsperson bei allen Verrichtungen • geeignete Hilfsmittel zur Lagerung, Pflege, Mobilität und Kommunikation. • Unterstützung bei der räumlichen und zeitlichen Orientierung • umfassende Hilfestellung bei der Lebensplanung, -gestaltung und Perspekti-venentwicklung

Kommunikation auch ohne Sprache (unterstützte Kommunikation) 1.2.1 Indikationen In der Tagesstätte begleitete Klientinnen/Klienten müssen einen Bedarf an persone l-ler Unterstützung in allen Lebensbereichen haben. Darüber hinaus haben fast alle dieser Klientinnen/Klienten einen hohen Bedarf an Pflege. Vielfach bewirkt die Schwere der Beeinträchtigung auch das Auftreten psychischer Störungen und schwerer Verhaltensauffälligkeiten. Das sind insbesondere:

Menschen mit geistiger Behinderung, die aufgrund einer psychiatrischen Er-krankung oder extremen Verhaltensauffälligkeiten in ihrem derzeitigen Le-bensumfeld keine ausreichende Betreuung erfahren können.

Menschen mit geistiger Behinderung, die aufgrund ihrer Beeinträchtigung ihrer Körperfunktionen oder Körperstruktur zu extremen Verhaltensweisen neigen oder als Folge unangemessener Betreuung dieses zeigen.

Menschen mit geistiger Behinderung, die aufgrund von Fehlunterbringung starke Verhaltensauffälligkeiten zeigen und keine angemessene Betreuung er-halten.

1.2.2 Kontraindikationen

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Die Leistung darf von Klientinnen/Klienten nicht in Anspruch genommen werden, die einen • geringeren oder mittleren Grad der Beeinträchtigung • Arbeits- bzw. Beschäftigungsfähigkeit • altersbedingte permanente Bettlägerigkeit aufweisen. 1.3 STELLUNG DES D IENSTES IN DER ANGEBOTSKETTE Die Beschäftigung in Tageseinrichtungen mit Tagesstruktur für Menschen mit Be-hinderung Behinderung und schwersten Persönlichkeits-, Verhaltens- und Entwick-lungsstörungen ist die betreuungsintensivste Form der Beschäftigung. Sie wird unter Maßgabe des Normalisierungsprinzips praktisch getrennt, aus pädagogischer Not-wendigkeit jedoch inhaltlich als Einheit mit dem Vollzeitbetreuten Wohnen für Men-schen mit Behinderung Behinderung und schwersten Persönlichkeits-, Verhaltens- und Entwicklungsstörungen geführt. 2. Leistungsangebot 2.1 GRUNDSÄTZE UND M ETHODISCHE GRUNDLAGEN Das Leistungsangebot hat sich an folgenden Grundsätzen insbesondere zu orientie-ren: • Integration (physisch, funktional und sozial) • Normalisierung der Lebensbedingungen (die Lebensbedingungen von Men-schen mit Behinderung

entsprechen weitgehend denen von Menschen ohne Behinderung) • Selbstbestimmung und Emanzipation (Menschen mit Behinderung treffen Entscheidungen, die ihre

Person betreffen selbst bzw. sind zumindest maßgeblich an den Entschei-dungsprozessen beteiligt) • Selbstständigkeit (Förderung und Stärkung des persönlichen Handlungsspiel-raums und der

Eigenverantwortung – Hilfe zur Selbsthilfe) 2.2 GRUNDSÄTZE DER PÄDAGOGISCHEN B ETREUUNGSARBEIT: Die pädagogische Betreuungsarbeit soll insbesondere durch Betreuung, Begleitung und Assistenz folgendes fördern: • Trennung von Aktivität/Beschäftigung – Wohnen/Freizeit • Schaffung einer individuell abgestimmten und bedürfnisorientierten Tages-struktur • Sicherstellung der Teilnahme an Aktivitäten mit unterschiedlichem Schwie-rigkeitsgrad • Begleitung und Förderung auf Individual- und Gruppenebene • regelmäßiger Wechsel von Beschäftigung, Förderung und Therapie • Teilnahme an gesellschaftlichen Veranstaltungen • Bereitstellung fachlich kompetenter und verlässlicher Bezugspersonen

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• gemeinschaftliche Planung und Gestaltung des Alltages • bedarfsorientierte Unterstützung bei Planung, Durchführung und Reflexion von Aufgaben und

Vorhaben • Hilfestellung bei der Fortbewegung • Unterstützung bei der Kommunikation und dem Aufbau bzw. Erhalt sozialer Kontakte (in und

außerhalb der Tagesstätte) • Hilfestellung bei der Nahrungsaufnahme, Hygiene und Körperpflege • medizinische und pflegerische Grundversorgung • Bedürfnisentwicklung- und Bedürfnisdifferenzierung • Förderung der Kommunikationsfähigkeit • Verstärkung der Eigenaktivität • Unterstützung der Identitätsentwicklung • Erhaltung und Verbesserung des körperlichen Gesundheitszustandes • Basale Aktivierung, Basale Kommunikation (Basale Stimulation) • fachärztliche Betreuung (Neurologie, Psychia trie, …) • Beratung von Eltern, Angehörigen und Sachwalterinnen/Sachwalter • Umgang mit Aggressionen • Soziale Kompetenzförderung • Hilfe bei der Aufarbeitung traumatischer Erlebnisse 2.3 LEISTUNGSUMFANG Die Leistung ist wie folgt zu erbringen: Stationär-Teilzeit: bis zu 8 Stunden täglich Betriebstage: durchschnittlich 248 Tage/Jahr Betreuungszeiten: an Werktagen; 38 Stunden/Woche Journaldienste: keine

Verpflegung: während des Tages: Jause und Mittagessen 3. Qualitätssicherung 3.1 STRUKTUR -S TANDARDS 3.1.1 Einrichtung Einrichtungsgröße: Richtwert: 12 Klientinnen/Klienten Standort und Umgebung: Folgende infrastrukturelle Mindestanforderungen sollen erfüllt werden: • Es ist sicherzustellen, dass den Klientinnen/den Klienten die Teilnahme am gesellschaftlichen und

kulturellen Leben ermöglicht wird.

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• Es ist sicherzustellen, dass eine entsprechende Infrastruktur (Geschäfte, Ärz-te, Institutionen etc.)

vorhanden ist. • Eine Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz soll vorhanden sein. Raumbedarf : Die Einrichtung soll nach folgenden Grundsätzen errichtet sein (Richtwert : maxi-mal 28 m² Gesamtraumbedarf je Klientin/Klient): Grundsätzlich gilt die rollstuhlgerechte Planung und Gestaltung, je nach Bedarf, bei • Gruppenräumen • Projekträumen • Werkstätten-, Therapie- und Entspannungsräumen, Lehrküchen (in allen Gruppen und Projekträumen

sind Waschbecken zu installieren) • Küchen • Gemeinschaftsräumen • Sanitärbereichen • geschlechtergetrennte WC Anlagen, in der Betreuung von Klientin-nen/Klienten mit Pflegebedarf

sind zusätzliche WC Anlagen vorzusehen • in der Betreuung von Klientinnen/Klienten mit Pflegebedarf ist ein entspre-chend ausgestatteter

Pflegebereich (WC, Pflegebadewanne, Sitzdusche, Wickelliege, technische Hebehilfen, Halte- und

Stützgriffe, Notsignalanlage und dergleichen) zur Verfügung zu stellen. Die konkreten Ausstattungsmerkmale sind individuell zu bestimmen, wie insbeson-dere: • Garderoben und Nebenräume, sonstige Räumlichkeiten Die Einrichtung ist jeweils nach dem baulichen und technischen Stand der Technik zu errichten. 3.1.2 Fachpersonal Pädagogische Le itung: • Das Leitungspersonal richtet sich nach der Anzahl des Betreuungspersonals.

Maximalwert: 6,7 % Dienstposten pro 100 % Betreuerdienstposten Gesamtpersonalbedarf: Der Bedarf an fachlich qualifiziertem Personal wird über den Grad der Beeinträcht i-gung der betreuten Klientinnen/Klienten, der jeweiligen betrieblichen Ablauforgani-sation und den Leistungsschwerpunkten definiert. Die Anzahl des einzusetzenden fachlich qualifizierten Personals richtet sich nach der Anzahl der betreuten Klientinnen/Klienten und deren Grad der Beeinträchtigung.

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Grad der Beeinträchtigung: Der konkrete, tatsächliche Bedarf an fachlich qualifiziertem Personal wird über den Grad der Beeinträchtigung der betreuten Klientinnen/Klienten (Anlage 4) und die jeweilige betriebliche Ablauforganisation (Besetzungszeiten, Einzelbetreuung, Team, Supervision, Fortbildung bzw. Personalentwicklung sowie Planung und Dokumenta-tion) definiert. Zielwerte: Höchster Grad der Beeinträchtigung: maximal 1,00 DP/Klientin/Klient 1:1 Mindestpersonalbedarf : Die Zielwerte können im Einzelfall seitens der Leistungserbringer nach tatsächlichen Betreuungserfordernissen im Rahmen eigener pädagogischen Verantwortung kurz-fristig unterschritten werden, sofern eine ordnungs-gemäße Betreuung mit dem Min-destpersonal noch gewährleistet ist. (Mindestwert: pro Einrichtung für 12 Klientin-nen/Klienten : 700% Dienstposten) Qualifikation: • Die Qualifikation des Personals hat den Anforderungen der Leistungsart bzw. der Funktion und der

Ziele der Einrichtung (Punkt 1.) und der dafür formulierten Stellenbeschreibung zu

entsprechen. • Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen eine abgeschlossene Ausbil-

dung im psychosozialen, heil/sonderpädagogischen bzw. handwerklichen Bereich (Heil- und Sonder-pädagoginnen-/pädagogen, Behindertenpädagoginnen-/pädagogen, Behinder-tenfachbetreuerinnen-/betreuer, Psychologinnen/Psychologen, Dipl. Soziala r-beiterinnen/Sozialarbeiter, Sonderschullehrerinnen-/lehrer, diplomierte Pfle-gehelferinnen-/helfer, Therapeutinnen/Therapeuten) haben. Die primäre Qua-lifikation hat sich nach der konkreten Stellenbeschreibung zu richten. Je nach Anforderung des konkreten Arbeitsfeldes können (komplementäre) Zusatz-qualifikationen erforderlich sein. Bei erforderlichen, pflegerischen Tätigkei-ten ist eine Ausbildung, Zusatzausbildung oder entsprechende Nachschulung des Personals für diesen Pflegebereich jedenfalls erforderlich.

3.2 PROZESS-S TANDARDS 3.2.1 Organisation • Aufbau und Ablauforganisation müssen in einem Organisationshandbuch dargestellt werden

(Funktionsbeschreibungen, Stellenbeschreibungen). • Im Betreuungskonzept hat eine Darstellung und Beschreibung der Ziele und Methoden anhand dieser

Verordnung zu erfolgen. 3.2.2 Dokumentation Die klientenspezifische Dokumentation hat insbesondere folgendes zu enthalten:

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• Vorgeschichte/Erstkontakt (z.B. Klientinnen-/Klientenanfrage, bei Bedarf Wartezeit, Ersterhebung,

Anamnesebogen, Zuweisungsdiagnose, Interessensabklärung und dergle i-chen) • Einstufung in Zusammenarbeit mit dem IHB-Team auf Grundlage der ICF. • Aufnahme in Form einer Stammdatenerhebung (allgemein, medizinisch) des Unterstützungsbedarfes,

des Pflegebedarfes, weitere therapeutische – psychologische Maßnahmen, zu-sätzliche Betreuungs-vereinbarungen, Erfassen von Klientinnen-/Klientenwünschen und Zielen, zusätzliche Vereinbarungen mit Personen aus dem Herkunftssystem (Eltern, Angehörigen) und Sachwalterin-nen/Sachwaltern), Notfallsblatt, Gesundheitsblatt (Medikamente und Befun-de)und dergleichen.

• Erfassung von Verhaltensauffälligkeiten, Erfassen von Stärken und positi-ven Botschaften, Beobachtungsbögen • Verlaufsdokumentation (Aktualisierung persönlicher Stammdaten, Ziel- und Entwicklungsplanung

auf Basis des konkreten Leistungszuerkennungsbescheides, Betreuungspro-tokolle, Berichte und dergleichen.)

• Abschlussdokumentation der Betreuungsleistung (Abschlussbericht) Die einrichtungsspezifische Dokumentation hat insbesondere folgendes zu entha l-ten: • Leistungsdokumentation • Verlaufs- und Entwicklungsdokumentation (Jahresentwicklungsberichte) • Dienstpläne • Fortbildungspläne des Fachpersonals • Anwesenheitslisten von Klientinnen/Klienten • Dokumentation von Teambesprechungen, Teamsupervisionen und Fortbil-dungen des Fachpersonals • Sonstige trägerspezifische Dokumente (Protokolle und dergleichen) 3.2.3 Fachpersonal/Personalentwicklung Regelmäßige Teambesprechungen sind abzuhalten. Teamsupervisionen sind ver-pflichtend und regelmäßig abzuhalten. Fortbildungen sind verpflichtend und regel-mäßig auf allen Ebenen durchzuführen. Personalentwicklung ist insbesondere sicherzustellen durch: • Personalentwicklungskonzept • Einschulung neuer Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter • Jährliches Mitarbeiterinnen-/Mitarbeitergespräch 3.3 ERGEBNIS -S TANDARDS • Jahresentwicklungsberichte sind zu erstellen.

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• Die Prüfung des individuellen Maßnahmenerfolgs erfolgt über die leistungs-zuerkennenden Behörden

nach Einholung eines Sachverständigengutachtens je nach Bedarf und Erfor-dernis. 4. Controlling Die Leistungserbringer sind verpflichtet, über Ersuchen der Landesregierung rege l-mäßig automationsunterstützt Daten bekannt zu geben. Daten sind insbesondere: • Einrichtungsbezogene Daten • Klientenbezogene Daten • Personalbezogene Daten • Kostenbezogene Daten

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5 Anhang 5.1 Begriffe/Definitionen

Den Menschen, die im Blickpunkt dieser Konzeption stehen, werden verschiedene,

teils umstrittene Bezeichnungen gegeben. Das Selbstvertretungsnetzwerk People

First Steiermark1 möchte ihr Mitglieder Menschen mit Lernschwierigkeiten genannt

wissen. Im weiteren soll jedoch nach einer Diskussion der vielen, synonym verwen-

deten Begriffe einheitlich der in der Fachliteratur weit verbreitete Begriff Menschen

mit geistiger Behinderung verwendet werden. Die hier fokussierte Gruppe von Men-

schen mit Mehrfach- oder Doppeldiagnosen wird hierbei eher eingeschlossen, als

durch die Bezeichnung des Selbsthilfenetzwerks. Dieser Begriff ist jedoch zu unter-

scheiden von Lernschwierigkeiten bei schulischen Teilleistungsschwächen, die im

ICD-10 unter F 81 als Entwicklungsstörungen beschrieben werden (Legasthenie,

Dyskalkulie), obwohl für beide Personengruppen eine strukturell ähnlich behindern-

de Mensch-Umwelt-Beziehung besteht.

Der vor allem bei Laien am weitesten verbreitete Begriff geistige Behinderung führt

in diesem Zusammenhang zu sprachlichem und inhaltlichem Widerspruch. So soll

doch das hier

vorgestellte Einrichtungsverbundkonzept der Erhaltung bzw. Wiederherstellung von

geistiger Gesundheit dienen. Eine generelle oder auf eine angeborene, physische

Konstitution zurückzuführende Behinderung des Geistes eines Menschen würde dies

unmöglich machen. Dieser Einwand ist auch dem in der Psychiatrie verwendeten

Begriff seelische Behinderung für chronifizierte Klienten entgegenzuhalten.

Die o.g. Einwände bzw. Verwechslungsgefahren gelten entsprechend für die syn-

onym verwendeten Begriffe Lernbehinderung, intellektuelle Behinderung, mental

retardation, developmental disability und learning disability.

Um ihre Dienstleistung verantwortlich durchzuführen, bauen heilberuflich tätige

Personen eine vertrauensvolle Beziehung zu den Menschen auf, denen sie sich wid-

men. Wenn im Text diese Beziehung im Vordergrund steht, soll dies durch die Ver-

wendung des Begriffes Klient für die Bezeichnung von Menschen mit geistiger Be-

hinderung verwendet werden. Dieser Bezeichnung soll gegenüber dem im Deutschen

1 Aus http://www.peoplefirst.at/uns.php#wollen : Was wollen wir? Wir wollen, dass alle Leute "Menschen mit Lernschwierigkeiten" zu uns sagen, weil wir dazu stehen!

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problematischen Begriff Konsument aus dem Englischen Begriff consumer übersetzt,

bevorzugt werden, da es sich bei der oben dargestellten Beziehung um mehr als ein

ökonomischer Austauschprozess handelt. Darüber hinaus gibt es Unterstützungs-

dienstleistungen, in denen Menschen mit geistiger Behinderung sehr wohl die Rolle

des Konsumenten einnehmen. Dieser Sachverhalt soll dann auch so bezeichnet wer-

den.

Für Menschen mit geistiger Behinderung, die zusätzlich eine psychische oder Ver-

haltensstörung aufweisen, ist der Begriff Doppeldiagnosen (Dualdiagnose, dual dia-

gnosis, dual disability) leider nicht sehr trennscharf. In der Fachwelt wird er meistens

für psychisch kranke Menschen mit Suchtproblematik verwendet. Zudem kann eine

Doppel- oder Mehrfachdiagnose das Zusammentreffen jeder beliebigen medizini-

schen Diagnosen bedeuten, ohne eine spezielle Abgrenzung auf Menschen mit geis-

tiger Behinderung. Auch die klassische Definition der geistigen Behinderung anhand

niedriger psychometrische r IQ-Werte, die noch vor dem Erwachsenenalter auftreten

müssen, führt nicht sehr weit. So kann eine Intelligenzminderung nach ICD-10 F7

durch Demenz, Hirnverletzung oder Residual nach einer psychotischen Phase entste-

hen. Ebenso kann Autismus ohne Intelligenzminderung aber mit Verhaltensstörun-

gen auftreten. Ähnliche Schwierigkeiten treten auch bei Menschen mit organischem

Psychosyndrom auf. Im Hinblick auf die angestrebte Anbindung des Einrichtungs-

verbundes an ambulante psychosoziale Versorgungsstrukturen soll daher in diesem

Bericht der Begriff Mehrfachdiagnosen verwendet werden.

Im ICD-10 wird Oligophrenie als Klassifikation nicht verwendet, taucht als Begriff

jedoch noch auf. Auch wird er nach wie vor im psychiatrischen Alltag verwendet. Da

bei dem m.E. ungeeigneten Begriff Oligophrenie von einem angeborenen Intelli-

genzdefizit ausgegangen wird, soll er nicht verwendet werden.

5.1.1 Geistige Gesundheit

Die zwei Hauptmerkmale von geistiger Gesundheit sind einerseits emotionales

Wohlbefinden und andererseits wertvolle soziale und zwischenmenschliche Bezie-

hungen. Emotionale Stabilität und Wohlbefinden ist ein wichtiger Teil unseres

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menschlichen Lebens. Gute soziale und zwischen menschliche Beziehungen sind

wichtig für ein reiches erfülltes Leben. Menschen mit geistiger Behinderung sind

nicht im Hinblick auf diese menschliches Qualitäten eingeschränkt. Sie sind sehr

wohl in der Lage ein wertvolles emotionales Leben zu genießen.

Leider gibt es immer noch weit verbreitete Missverständnisse bzgl. geistige Gesund-

heit bei Menschen mit geistiger Behinderung:

1. Es wird oft angenommen, dass Menschen mit geistiger Behinderung keine psy-

chischen Störungen aufweisen, sondern dass diese zu dem Gesamtbild der geisti-

gen Behinderung zählen.

2. Sehr häufig sieht man, dass Menschen mit ge istiger Behinderung so behandelt

werden als ob sie über keine richtigen Gefühle und Emotionen verfügen würden.

Genauso wie alle anderen können Menschen mit geistiger Behinderung über die

gesamte Bandbreite von Gefühlen und Emotionen verfügen. Sie können verletz-

lich und sensibel sein und auch sie können sich fürchten.

3. Manchmal wird angenommen dass die geistig behinderte Person Veränderungen

in ihrer Umwelt nicht wahrnimmt, oder unbeeinflusst von ihnen bleibt. In der tat

ist es jedoch so, dass die eingeschränkte Fähigkeit zu verstehen was um sie her-

um passiert die Reaktionen der Menschen mit geistiger Behinderung verstärkt.

So kann zum Beispiel die Umstellung des Betreuungspersonals, allgemeine Verände-

rungen in der Unterkunft des Patienten, neue Mitbewohner oder Krankheiten und

Todesfälle im Familien- und Freundeskreis zu einem schwerwiegenden Ungleichge-

wicht in Verhalten führen.

5.1.2 Verhaltensstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, Krisen

Bevor eine Beschreibung von Mehrfachdiagnosen mit ihren zugehörigen Krank-

heitsbildern bzw. Verhaltensstörungen erfolgt, sollten Störungen, Auffälligkeiten und

allfällig auftretende Krisen generell unterschieden werden in:

psychosozial vs. psychiatrisch

(normal) (pathologisch)

Lebenskrise Erkrankung

Als Fachbegriff erscheint Krisen zunächst unscharf , da er keine eindeutige Be-

schreibung der Problematik oder der Methoden (z.B bei der Krisenintervention) wie-

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dergibt. Der Krisenbegriff hilft jedoch, die komplexe Wirklichkeit der Person er-

kennbar und beschreibbar zu machen.

Krise soll hier im engeren Sinn benutzt werden, nach dem universalistischer Ansatz

von Ulich (1987) und Krystek (1987) folgend. Dabei sollen in dieser Arbeit zwei

verschiedene individuumszentrierte Krisenkonzepte gebraucht werden:

1. Entwicklungskonzept

2. Coping (Belastungs- Bewältigungskonzept).

5.1.3 Mehrfachdiagnosen bei Menschen mit geistiger Behinderung

Menschen mit geistiger Behinderung die gleichzeitig psychosoziale Auffälligkeiten

bzw. psychische Störungen oder Verhaltensstörungen 2 aufweisen, sollten weiters

dahingehend unterschieden werden, inwieweit die Störung tatsächlich behandlungs-

bedürftig im klinischen Sinne ist. So kann

1. eine Kompensation mit lebensweltbezogen, therapeutisch-pädagogischen Konzep-

ten ausreichen, oder

2. eine psychiatrisch, psychotherapeutische Behandlung notwendig sein.

Verhaltensstörungen sind normabweichende Verhaltensweisen, die welche die Per-

sönlichkeitsentwicklung der Betroffenen oder das jeweilige soziale Umfeld länger-

fristig beeinträchtigen, unter unterschiedlichen Bedingungen und Situationen auftre-

ten, von den Betroffenen nicht kontrolliert werden können und besondere pädagogi-

sche Maßnahmen erfordern. Bei Menschen mit geistiger Behinderung kann man u.a.

folgende Verhaltensauffälligkeiten beobachten:

§ Aggressives Verhalten gegen Gegenstände und Personen in Wort und Tat.

§ Selbstverletzendes Verhalten (z .B. Kopfschlagen, Sich-Beißen)

§ Stereotypien (z. B. Körperjaktationen, Handwedeln, stereotypes Hantieren

mit Gegenständen, exzessives Finger- oder Handlutschen).

§ Plötzliche Wutausbrüche.

2 Im angelsächsischen Sprachraum wird für Verhaltensstörungen bei Menschen mit

geistiger Behinderung der Begriff Challenging Behaviour (herausforderndes Verhal-

ten) verwendet.

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§ Stimmungsschwankungen ohne ersichtlichen Grund.

§ Lang anhaltendes Schreien oder Weinen.

§ Aufdringliches und vereinnahmendes Verhalten gegenüber dem Personal.

§ Starkes Rückzugsverhalten und soziale Isolierung.

§ Depressive Verstimmungen.

§ Hyperaktivität.

§ Extreme Langsamkeit.

§ (Selektiver) Mutismus.

§ Sexuelle Auffälligkeiten (z. B. öffentliches Masturbieren, Sich-Entkleiden).

§ Essstörungen (z. B. Nahrungsverweigerung, selbstinduziertes Erbrechen, Es-

sen und Trinken im Übermaß).

§ Kotschmieren, Spielen mit Speichel oder Erbrochenem.

§ Selbstinduzierte epileptische Anfälle.

§ Scheinbares Desinteresse am Geschehen in der Umwelt und an Gruppenakti-

vitäten.

§ Enuresis (Einnässen), Enkopresis (Einkoten)

(s. auch Mühl, Neukäter, Schulz 1996, 18f; vgl. auch Lingg, Theunissen 1993, 19ff)

Die Forschung der vergangenen Jahre die sich mit den psychopathologischen Er-

scheinungsbildern bei erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung gewidmet

hat, konnte vielfach feststellen, dass psychische Störungen und Verhaltensauffällig-

keiten deutlich vermehrt bei Menschen mit geistiger Behinderung auftreten als bei

der Allgemeinbevölkerung.

Hierbei gilt zu beachten, dass nicht alle Erscheinungsformen als psychiatrische Stö-

rungen im ICD 10 F.5. aufgezählt sind. Es handelt sich hierbei um Verhaltensauffäl-

ligkeiten die als bizarr, störend und herausfordernd umschrieben werden bzw. um

Verhaltensweisen mit direkt schädlichen Konsequenzen wie zum Beispiel automuti-

tatives Verhalten (Weber, 1997).

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Unter Verhaltensstörungen wiederum fallen verschiedene Erscheinungsbilder wie

Aggression, wobei es sich sowohl um verbale als auch um körperliche Aggression

gegen andere und Gegenstände handeln kann. Dazu zählen auch die Selbstverlet-

zenden Tendenzen (Automutilationen). Diese oft lebensgefährlichen Tendenzen

reichen vom rhythmischen Schlagen des Kopfes gegen eine Wand, über sich ins Ge-

sicht schlagen, sich die Augen eindrücken, bis hin zu Selbstverstümmelungen von

Gliedmaßen.

Eine andere Gruppe von Verhaltensstörungen sind die sogenannten Stereotypien,

ritualisierende, repetitive Verhaltensweisen, rhythmische Schaukelbewegungen .

Störungsformen wie Hyperaktivität und lmpulsivität findet man eher bei Kindern und

Jugendlichen mit geistiger Behinderung als bei Erwachsenen

In letzter Zeit hat sich der Begriff "herausforderndes Verhalten" ( challenging beha-

viour) weitgehend durchgesetzt. Qureshi & Alborz (1992) geben folgende Definition

dafür an, die vor allem im praxisbezogenen Umgang mit Betroffenen von großer

Bedeutung ist: "..ein Verhalten, welches (a) zu einem bestimmten Zeitpunkt bei der

Person selbst oder bei Drittpersonen zu mehr als geringfügigen Verletzungen geführt

hat, (b) zu einem bestimmten Zeitpunkt zu Zerstörungen in der direkten Wohn- oder

Arbeitsumwelt geführt hat, (c) welches die Person in extreme Gefahr bringt, bzw.

welches die Intervention von mehr als einer Betreuungsperson benötigt und mehr als

einmal im Monat vorkommt und (d), weiches Unterbrechungen in den Aktivitäten

der umgebenden Personen von mehreren Minuten hervorruft und täglich mehrmals

vorkommt."

Es ist eine Tatsache, dass über die Menschen mit Dualdiagnose und ihre charakteris-

tischen Merkmale sehr wenig bekannt ist, und noch weniger weiß man über den Ein-

fluss des Alters auf die Verhaltensauffälligkeiten und die psychischen Störungen.

Man hat jedoch herausgefunden, dass bei Menschen mit geistiger Behinderung ur-

sprüngliche Verhaltensstörungen (solche wie sie im Kindes- und Jugendalter aufge-

treten sind) im Erwachsenenalter wesentlich abgeschwächter auftreten (Rollett,

1997). Bei Angststörungen, Depressionen und Psychosen kann es auch zu einer Ver-

lagerung der Symptomatik bei gleichbleibendem Schweregrad kommen.

Bei Erwachsenen mit geistiger Behinderung können alle psychiatrischen Störungen

vorkommen, wie sie uns aus der Allgemeinbevölkerung bekannt sind. Die wichtigs-

ten seien hier nur kurz aufgezählt:

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Persönlichkeitsstörungen:

Störungen, die über ganze Lebensabschnitte anhalten. Es gibt verschiedenen Subty-

pen wie zum Beispiel emotional anhänglich, aufmerksamkeitserregend, aufbrausend,

unbeständig- sprunghaft.

Affektive Störungen:

Störungen der Grundstimmung die sich meist durch eine tiefe Traurigkeit ankünd i-

gen, häufig verbunden mit auffallenden Veränderungen der Eß- und Schlafgewohn-

heit und des Antriebes. Es kann auch zu plötzlichen euphorischen Ausbrüchen kom-

men.

Angst:

Extreme Angstzustände, häufige Beschwerden über körperliche Leiden wie Kopf-

schmerzen, Bauchschmerzen und Schwindelgefühl. Hinzu kommt oft eine extreme

Nervosität die Wochen andauert. Hierunter fallen Panikstörungen und posttraumati-

sche Stressstörung.

Psychotische Störungen:

Können sich in plötzlichen Verhaltensänderungen zeigen. Oft mit extremer Desori-

entierung und Verwirrtheit, Stimmenhören, exzessive Ärgerausbrüche und geringer

Kontrolle der Impulsivität.

Vermeidungsverhalten (auch Zwänge):

Der Betroffenen ist ein Einzelgänger der seine Mitmenschen meidet aus Angst vor

Kritik, Scham und dem Nicht-Akzeptiert werden. Rituelle, zwanghafte Handlungen

Paranoide Persönlichkeitsstörung:

Betroffene verhalten sich anderen gegenüber als äußerst misstrauisch und fühlen sich

schnell hintergangen und angegriffen. Sie neigen zu Überreaktionen und Sturheit.

5.2 Theoretische Grundlagen

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5.2.1 Epidemiologie

Jacobson (1990) wertete die Daten einer großen Population (n= 42479) geistig Be-

hinderter im Hinblick auf das Vorkommen von psychischen Störungen aus. 8496

Personen (20%) erhielten die Doppeldiagnose psychische Störung und Entwick-

lungsstörung. 33983 Personen (80%) wurden nur als entwicklungsgestört eingestuft.

Es muss allerdings angemerkt werden, dass in der Untersuchung ein Anteil von ca.

30,3% der Einstufung ‘mild mental retardation’ zugeordnet war. Diese Einstufung

entspricht, wie bereits mehrfach erwähnt, nicht unbedingt dem deutschen Terminus

der geistigen Behinderung. Jacobson differenzierte die Gesamtgruppe in zwei Teil-

gruppen. In der ersten Gruppe wurden die geistig Behinderten bis 22 Jahre zusam-

mengefasst, in der zweiten die über 22jährigen.

Tabelle 1: Häufigkeit des Vorkommens psychischer Störungen bei geistig Behinder-ten ( vgl. Jacobson, 1990, S. 588) bis 22 Jahre über 22 Jahre männl. weibl. Gesamt männl. weibl. Gesamt Nichtpsychotisches organi-sches Hirnsyndrom

2,3% 1,16% 1,83% 2,02% 1,9% 1,97%

Psychosen 7,78% 5,1% 6,68% 5,93% 5,4% 5,69% Neurosen 1,39% 1,21% 1,32% 1,3% 1,71% 1,49% Persönlichkeitsstörungen 5,96% 3,77% 5,06% 4,22% 3,72% 3,99% Verhaltensstörungen des Kinder- und Jugendalters

13,14% 7,4% 10,78% 1,21% 1,02% 1,12%

Gesamt 30,57% 18,6% 25,67% 14,68% 13,7% 14,26% Anhand von Tabelle 1 wird deutlich, dass Verhaltensstörungen im Kinder- und Ju-

gendalter, genau wie bei nicht geistig behinderten Personen, bei Jungen gehäufter

auftreten als bei Mädchen. Nach Angaben des DSM-III-R kann bei 9% der Jungen

und bei zwei Prozent der Mädchen eine Störung des Sozialverhaltens diagnostiziert

werden (Wittchen, Saß, Zaudig & Köhler, 1991).

Ansonsten gibt es ein deutlich geringes Auftreten von psychischen Störungen bei

geistig Behinderten im Alter von über 22 Jahren. Die niedrigen Raten dieser Gruppe

erklärt Jacobson (1990) mit dem Ausschluss eines Teils der Fälle aufgrund unspezi-

fizierter Diagnosen.

Anhand der dargestellten Untersuchungen ergibt sich, dass psychische Störungen bei

geistig behinderten Kindern und Jugendlichen erheblich öfter auftreten, als bei nicht

Behinderten. Dem von Jacobson ermittelten Anteil von 25.67 % psychisch gestörter

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Kinder und Jugendlicher, steht ein Anteil von 5% bei der Normalbevölkerung entge-

gen. Es muss allerdings einschränkend angemerkt werden, dass beide Untersuchun-

gen aufgrund der unterschiedlichen Stichproben nicht direkt miteinander vergleich-

bar sind.

Matson , Gardner, Coe und Sovner (1991) beschreiben die psychischen Störungen

einer Gruppe von 506 amerikanischen erwachsenen geistig Behinderten, die nach

dem Diagnoseschema der AAMR (vgl. Kapitel 1.1) als severely mental retarded

(32.3%) und profoundly mental retarded (62.7%) eingestuft wurden. Es zeigten

45.8% der Stichprobe selbstverletzendes Verhalten. 37.7% zeigten Stereotypen.

Probleme der Impulskontrolle wurden bei 72.9% der Stichprobe diagnostiziert. Psy-

chiatrische Störungen der Gruppen eins und zwei des triadischen Systems der Psy-

chiatrie (vgl. Huber, 1994) wurden erheblich weniger diagnostiziert. Beispielsweise

wurden schizophrene Störungen nur bei 0.6% der Stichprobe festgestellt.

Lotz und Koch (1994) geben einen Überblick über 75 durchgeführte Studien zur

Fragestellung des Auftretens von psychischen Störungen bei geistig Behinderten. Sie

zeigen, dass in Deutschland bislang drei Studien zu dieser Fragestellung durchge-

führt worden sind. Drei viertel der Studien insgesamt sind in den USA und in Groß-

britannien erstellt worden. Die beiden Autoren attestieren eine Zunahme der For-

schungstätigkeit auf diesem Gebiet, da 68% der von ihnen gesichteten Untersuchun-

gen in den Jahren nach 1981 durchgeführt worden sind. Sie gehen nach Sichtung der

Studien von einem Anteil von 30-40% psychisch gestörter geistig behinderter Men-

schen aus. Die am häufigsten gestellten Diagnosen sind Verhaltensstörungen und

psychotisches Verhalten. Sie stellen weiterhin fest, dass bei Menschen mit leichter

geistiger Behinderung häufiger neurotische Störungen und Persönlichkeitsstörungen,

sowie affektive und schizophrene Psychosen festgestellt werden. Verhaltensstörun-

gen werden dagegen häufiger bei schwerer geistig behinderten Menschen diagnosti-

ziert. Verhaltens- und Persönlichkeitsstörungen wurden häufiger bei männlichen

Probanden festgestellt. Im Gegensatz dazu wurden affektive und insbesondere de-

pressive Störungen vermehrt bei weiblichen geistig Behinderten beobachtet. Dieses

deckt sich mit dem Vorkommen dieser Störungen in der Normalbevölkerung.

Ein Großteil dieser Studien griff allerdings auf ‘Gelegenheitsstichproben’ von je-

weils gerade innerhalb großer Einrichtungen leicht verfügbaren geistig Behinderten

zurück. Die Mehrzahl der Studien untersuchte eine heterogene Stichprobe, heterogen

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sowohl nach dem Alter, wie nach dem Behinderungsgrad der Probanden. Einige

machten keine Angaben hinsichtlich Alter, Geschlecht und Behinderungsgrad der

untersuchten Personen. Dieses könnte Auswirkungen auf die Repräsentativität der

Ergebnisse haben.

Meins (1994) kommt nach Sichtung des Forschungsstandes zu dem Ergebnis, dass

bei leicht geistig Behinderten die Prävalenz von psychischen Störungen um etwa

50% über dem Niveau der Normalbevölkerung liegt. Bei schwerer geistiger Behinde-

rung geht er von einer zwei- bis dreifach höheren Prävalenz gegenüber Normalintel-

ligenten aus.

Gaerdt, Jäckel und Kischkel (1989) beschreiben eine Studie von Rutter aus dem Jah-

re 1976. Dieser ermittelte bei der Untersuchung aller Kinder einer Gemeinde auf der

Isle of Wight ein um das Vier- bis Fünffache erhöhtes Vorkommen von psychischen

Störungen bei geistig behinderten Kindern.

Reiss, Goldberg, und Ryan (1993) geben an, dass amerikanische Gesundheitsbehör-

den von einer Quote zwischen 10 und 40 % an psychischen Störungen bei geistig

Behinderten ausgehen. Im Gegensatz dazu kamen verschiedene amerikanische Stu-

dien nur auf eine Quote von 10 bis 20 % (ebd.). Reiss et al. (ebd.) geben weiterhin

an, dass bei geistig Behinderten im Bereich psychische Störungen Probleme des So-

zialverhaltens am verbreitetsten sind.

5.2.2 Ätiologie

5.2.2.1 Ursachen und Modelle von psychischen Störungen und Verhaltensauf-

fälligkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung

Seit den 70er Jahren haben Studien immer wieder daraufhin gedeutet, dass vor allem

Menschen mit geistiger Behinderung besonders anfällig für psychopathologische

Phänomene sind. Die Psychopathologie wird zu einer besonderen Herausforderung

wenn es darum geht die persönliche Unabhängigkeit eines Menschen zu fördern.

Gleichzeitig ist es aber auch die Psychopathologie die zur Institutionalisierung führt.

Es ist wenig verwunderlich, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung und

einem Mangel an sozialer Kompetenz größere Schwierigkeiten haben sich in einer

komplexen Gesellschaftsstruktur zurückzufinden.

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Unterdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten und die Einengung in den adapti-

ven Fähigkeiten die untrennbar mit geistiger Behinderung einher gehen ,sind zu ei-

nem großen Teil die Ursache für die immer wiederkehrenden Stresserlebnisse, die

immer wiederkehrende Angst, der immer wiederkehrende Kontrollverlust und das

immer wiederkehrende tiefe Gefühl der Unsicherheit

Auffälliges Verhalten kann aber auch physische Ursachen haben. So können Verhal-

tensweisen wie Schreien und Selbstverletzung oft eindeutig Schmerzen und Unbeha-

gen zugeschrieben werden. Es ist also wichtig die Möglichkeit von Schmerz oder

Krankheit für ein abnormes Verhalten in Betracht zu ziehen. Als Veranschaulichung

eignet sich zum Beispiel ein sensorischer Defizit, wie eine nicht erkannte Taubheit

oder Schwerhörigkeit, die im Laufe der zeit eine schwere Verhaltensstörung mit sich

bringen kann.

Als andere möglichen Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten werden häufig folgen-

de Themen genannt (Bouras, N. 1997) :

Verhaltensstörung als Antwort auf ein reizarmes Umfeld

Die Wahrscheinlichkeit für erwachsenen und ältere geistig behinderte Menschen in

eine psychiatrische Anstalt zu kommen ist recht hoch. Dass diese Krankenhäuser

nicht immer die ideale Umgebung für diese Menschen darstellen ist kein Geheimnis.

Es werden wenig Aktivitäten und sonstige Beschäftigungen angeboten und auch auf

sozialem zwischenmenschlichem Plan zeichnet sich meist ein sehr dürftiges Bild ab.

Oft sind die Interaktionen zwischen Betreuer und Betroffenen gekennzeichnet von

einer gewissen Härte und Forderung seitens der Betreuer, anstatt unterstützend zu

sein. Die Lebensqualität ist für die betroffenen Personen meist sehr eingeschränkt.

Dass es in einer solchen Umgebung gehäuft zu auffälligen Verhaltensweisen kommt

die nach Zuneigung, Kontakt, Aktivität und Vermeidung unangenehmer Ansprüche

streben ist offensichtlicher zu erwarten als es dies in einer unterstützenden, empathi-

schen Umgebung der Fall wäre.

Verhaltensstörung als gelerntes Verhalten

Verhaltensauffälligkeiten lassen sich eben so erlernen wie jedes andere Verhalten.

Wenn auf ein Verhalten, das zunächst nicht in Erwartung einer Belohnung erfolgte,

eine Reaktion folgt, die die betreffende Person als angenehm empfindet, so wird die

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Person in weiterer Folge mit dem Verhalten eine für ihn positive Konsequenz ver-

binden; eine Belohnung so zu sagen. Diese subjektive positive Bewertung eines Ver-

haltens, welches von der Umwelt als störend oder unangepasst bezeichnet wird, ist

für die Betreuer jedoch oft nicht auf den ersten Blick zu erkennen.

Früher wurde auffälliges Verhalten meist mit dem Label aufmerksamkeitserregend

versehen und daher oft unbeachtet gelassen. Mittlerweile wird versucht das Verha l-

ten differenzierter zu betrachten und in direktem Zusammenhang mit den Bedürfnis-

sen der jeweiligen Person zu sehen.

So konnte man 4 verschiedene Belohnungstypen heraus filtern.

1. Der soziale Typus : Interaktion mit einem anderen wird als Belohnung emp-

funden.

2. Der primär greifbare Typus : Die Belohnung liegt in der Nahrungsaufnah-

me oder dem Rauchen; in Dingen die konsumiert und berührt werden können.

3. Der sensorische Typus : Sensorische Stimulation ist die Belohnung.

4. Der Anforderungsvermeidungstypus Man geht unangenehmem aus dem

Weg und empfindet dies als Belohnung.

Verhaltensstörung als Kommunikation

Dies steht in engem Kontakt zu dem vorher erwähnten Punkt, da man solchen Ver-

haltensweisen die eine Reaktion aus der Umwelt des Betroffenen erzeugt, einen

kommunikativen Charakter zuspricht.

Verhaltensstörung als Antwort

Erwachsene geistig Behinderte können sich ihrer Behinderung sehr wohl bewusst

sein. Alle sind aber alleine nicht immer in der Lage ihre Lebenssituation zu bewälti-

gen, was oft starke Gefühle des Zorns, der Hilflosigkeit und des Schmerzes hervor-

ruft.

Leider sind die geistig Behinderten den Reaktionen ihrer Umgebung meistens hilflos

ausgesetzt und leider ist diese Umwelt nicht immer stützend und hilfsbereit. Es

kommt immer wieder vor dass Menschen mit geistiger Behinderung sowohl emotio-

nal wie physisch, sexuell und psychisch missbraucht werden So hat sich gezeigt,

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dass bei verschiedenen Verhaltensstörungen ein konkreter Missbrauch zurückve r-

folgt werden konnte. Hennike (2002) weist darauf hin, das die Reaktionen auf eine

postraumatische Belastungsstörung oder Anpassungsstörung (ICD-10, F43) oft

fälschlicherweise der Behinderung zugeschrieben werden. Das Risiko, daß Men-

schen mit geistiger Behinderung Opfer von Gewalt werden, ist ungleich höher als bei

nichtbehinderten. Die Häufigkeitsangaben sind erschreckend und deuten darauf hin,

daß fast alle Menschen mit geistiger Behinderung, die im Laufe ihres Lebens sexuel-

le Übergriffe erlebt haben, ein wesentlicher Teil davon auch schwere Mißhandlun-

gen.

Auch bei Menschen mit geistiger Behinderung werden die Ursachen von psychi-

schen Störungen und Verhaltensstörungen in psychologisch begründeten Modellen

zusammengefasst. Hier sollen nur ein paar von den wichtigsten vorgestellt werden.

5.2.2.2 Das Vulnerabilitäts-Streßmodell von Roder et al.

Das 1977 im Rahmen der Schizophrenieforschung entwickelte Modell ( Roder,

Brenner, Kienzie & Hodel, 1991).von Zubin und Spring wurde in den letzten Jahren

gehäuft zur Erklärung des Auftretens von psychischen Störungen bei geistigen Be-

hinderten verwendet (David & Neukäter,1995; Fiedler, 1994; Steiger, 1994 ).

Die Hauptaussage des Vulnerabilitäts-Streßmodells besagt, dass Menschen mit Ein-

schränkungen im biologischen, psychischen und/oder sozialen Bereich Limitierun-

gen erleiden, die das Risiko für sie erhöhen, bei akuten Belastungen psychische zu

erkranken. Es werden 2 verschiedene Formen der Vulnerabilität beschrieben, die

genetisch bedingte und die erworbene Form. Es wird angenommen dass die Vulnera-

bilität allein schon ausreicht, um eine psychische Störung auszulösen. Kommen zu-

sätzlich noch akute oder chronische Stressfaktoren hinzu, wird das Erkrankungsrisi-

ko dementsprechend erhöht. Gegen die Stressoren können Copingfähigkeiten des

Individuums wirken.

Sowohl durch die Vulnerabilität als auch durch die Stressoren, denen die geistig Be-

hinderten Menschen in unserer Gesellschaft ausgesetzt sind und die wiederum Aus-

wirkungen auf die Vulnerabilität besitzen, ist davon auszugehen, dass geistig behin-

derte Menschen ein erhöhtes Risiko haben, psychisch zu erkranken bzw. Verha l-

tensauffälligkeiten zu entwickeln ( Bradl, 1994). Verschärft wird das Ganze durch

die begrenzte Verfügbarkeit von sogenannten Bewältigungsstrategien (Coping

Skills) (David & Neukäter, 1995).

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Vor allem älter werdende Menschen mit geistiger Behinderung werden aufgrund des

Abbaus ihrer Copingmöglichkeiten psychisch verletzlicher. Nicht selten werden sie

sehr anfällig für umweltbedingten Stress, der wiederum zu einer negativen psychi-

schen Veränderung führen kann (Moss 1997).

5.2.2.3 Das 4 - Variantenmodell von Schmidt

In diesem Modell beschreibt Schmidt (1994) vier verschiedene Varianten für das

Auftreten psychischer Störungen bei geistig Behinderten.

In der ersten Variante wird davon ausgegangen, dass die Grunderkrankung die Intel-

ligenzminderung aus löst, aus der wiederum die psychische Störung entsteht. Dieser

Ansatz basiert auf der defektorientierten Psychopathologie und der monokausalen

Ursachenbeschreibung. Bradl (1994) nennt diese Variante "das traditionelle psychiat-

rische Erklärungsmodell". Dieser psychologische Nihilismus hatte fast immer die

Nicht-Therapie der psychischen Störung als Folge: Da die lntelligenzminderung die

die psychische Störung als Folge haben soll, irreversibel ist, wurde auch die psychi-

sche Störung als zur Intelligenzminderung gehörig betrachtet und gleichfalls als irre-

versibel eingestuft.

In der zweiten Variante wird davon ausgegangen, dass die psychische Störung und

die Intelligenzminderung von einer gemeinsamen Grundstörung ausgelöst werden.

Die dritte Variante geht davon aus, dass die Beeinträchtigung der Intelligenz von der

Grundstörung ausgelöst wird. Die psychische Störung hingegen entsteht aufgrund

eines anderen Risikofaktors. Allerdings beeinflusst die lntelligenzminderung die

Entwicklung und den Verlauf der Psychischen Störung. Dieser Ansatz steht in der

Forschung erst seit kurzer Zeit im Mittelpunkt der Betrachtung. So betonen Lotz &

Koch (1994), die Notwendigkeit, zwischen der lntelligenzminderung selbst und den

sie eventuell begleitenden Verhaltensauffälligkeiten zu differenzieren und die Fähig-

keit "dieser Personen anerkennen, unabhängig von ihrer geistigen Behinderung psy-

chisch zu erkranken"( S. 13).

Die vierte Variante zeigt, dass aufgrund der durch die Grunderkrankung ausgelösten

Intelligenzminderung das Ris iko ansteigt, dass weitere Faktoren entstehen, die eine

psychische Störung auslösen, auf die in Entwicklung und verlauf wiederum die Intel-

ligenzminderung Einfluss nimmt. Ob nun diese Risikofaktoren stärkeren Einfluss auf

die Entwicklung und den Verlauf der psychischen Störung nehmen als die Intelli-

genzminderung, kann freilich nicht genau festgestellt werden.

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Viele Fähigkeiten werden von geistig Behinderten aufgrund nicht vorhandener

Handlungskompetenzen oder Abwehrmechanismen nicht oder nur unzureichend er-

worben (Schmidt, 1994). Allerdings kann Intelligenzminderung nach Schmidt (1994)

auch umgekehrt als Schutzfaktor wirken, wenn durch sie verhindert wird, dass

Wahrnehmungen kognitiv adäquat verarbeitet werden, deren Verarbeitung pathogene

Auswirkungen haben könnte.

5.2.2.4 Das Modell der erlernten Hilflosigkeit von Seligman

Nezu et al. (1992) schlug als Erklärungsmodell die Theorie der erlernten Hilflosig-

keit von Seligman (1975) vor, um die größere Anfälligkeit von Menschen mit geisti-

ger Behinderung für psychopathologische Phänomene zu erklären. Wird ein Lebewe-

sen einen Ereignis ausgesetzt das sich als unkontrollierbar erweist, ist es hilflos. Das

Phänomen der Wahrnehmung und Generalisation der Unbeeinflussbarkeit nennt man

erlernte Hilflosigkeit. Man hat gelernt, dass man keine Kontrolle hat und überträgt

diese Wahrnehmung fälschlicherweise auch auf spätere Situationen, obwohl man

diese vielleicht kontrollieren könnte.

Die erlernte Hilflosigkeit von Seligman hat 3 Folgen:

1. Einfluss auf die Motivation - Wenn man merkt dass die eigenen Handlungen kei-

nen Einfluss auf die Umweltereignisse haben, ist kein Anreiz vorhanden sich weiter-

hin anzustrengen etwas zu tun. In anderen Worten, es führt zur Passivität.

2. Einfluss auf Lernprozesse: Die erlernte Hilflosigkeit beeinträchtigt spätere Lern-

prozesse, da man gelernt hat, dass es keinen Zusammenhang zwischen dem eigenen

Verhalten und den Antworten der Umwelt darauf (Verstärker oder Strafreize) gibt.

Dies macht es schwer zu erkennen, dass in nachfolgenden Lernprozessen dennoch

ein Zusammenhang bestehen kann.

3. Einfluss auf Gefühle -. Der Beweis, dass man nichts ändern kann und der Umwelt

hilflos ausgesetzt ist macht einen traurig und ängstlich. Die erlernte Hilflosigkeit

führt zur Traurigkeit und Depressivität.

5.2.2.5 Das Morbiditätsmodell von Baumeister

Baumeisters neues Morbiditätsmodell der geistigen Behinderung (1988) dagegen,

nimmt an, dass unangemessene kognitive Fähigkeiten und ein Repertoire an adapti-

vem Verhalten im Zusammenhang mit biomedizinischen, sozialen und Umwelt-

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Faktoren die Menschen mit geistiger Behinderung anfälliger machen für chronische

emotionale Störungen.

5.2.2.6 Das Modell von Murrell & Norris

Murrel & Norris schlagen ein Erklärungsmodell hinsichtlich der Funktion psychoso-

zialer Faktoren bei der Entstehung von Krankheiten vor. Dieses Modell beruht auf

Beiträgen von Cassel (1975).

Es sind vor allem zwei Faktoren die die Hauptrolle in diesem Modell spielen. Einer-

seits gibt es die Ursachen der sogenannten Stressoren für eine Person und anderer-

seits gibt es die Prozesse, die sogenannten Puffer die den Menschen vor den Stresso-

ren schützen.

Unter Stressoren wird eine große Vielfalt an Ereignissen verstanden, wie zum

Beispiel Scheidung Ruhestand Tod einer nahe stehenden Person, Krankheit,

Armut, Lärmbelastung.

Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die Stressoren die vor allem für geis-

tig Behinderte eine Gefahr darstellen. Dies sind zum Beispiel unangemessene Unter-

stützung durch Freunde, soziale Stigmatisierung, Dominanz durch andere geistig

Behinderte sowohl am Arbeitsplatz als auch am Wohnplatz und Konflikte zwischen

den betroffenen und den Betreuern. Dieser letztgenannte Punkt ist der am häufigsten

genannte Grund für allgemeine Unzufriedenheit bei geistig behinderten Menschen

wie in einer Studie von Moss et al 1992 festgestellt werden konnte. Reichhaltige An-

gebote, Schutz und persönlicher Beistand unterstützen die psychische Entwicklung

und Gesundheit und werden daher als sogenannte Puffer gegen umweltbedingte

Stressoren angesehen.

Psychische Gesundheit wird in diesem Modell als abhängig vom Ausmaß jener ver-

fügbaren Ressourcen gesehen, die einem helfen Stressoren erfolgreich zu begegnen.

Wichtig ist auch noch anzumerken, dass nicht nur die Überbelastung zu psychischen

Störungen führen kann sondern auch die konsequente Unterforderung.

5.2.2.7 Verhaltensphänotypen bei bestimmten Formen geistiger Behinderung

Menschen mit geistiger Behinderung weisen eine große Bandbreite an den verschie-

densten Verhaltensauffälligkeiten auf. Man hat jedoch herausgefunden, dass es zu

einer auffallenden Homogenität für bestimmte Verhaltensweisen bei einer Reihe von

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Syndromen kommt. Obwohl man natürlich innerhalb der Syndrome unterschiedliche

Ausprägungsformen der verschiedenen Verhaltensauffälligkeiten vorfindet, so sticht

es trotzdem ins Auge dass es für bestimmte Syndrome bestimmte Verhaltensweisen

gibt die sich wie ein roter Faden durch das jeweilige Syndrom ziehen.

In den letzten Jahren hat die Forschung sich immer mehr von der Idee distanziert,

dass psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten per se miteinander in Ver-

bindung stehen. Es hat sich lediglich gezeigt, dass es sogenannte Verhaltensphänoty-

pen gibt, die gehäuft mit einer geistigen Behinderung einher gehen.

Der Phänotypus ist die Summe aller an einem Einzelwesen vorhandenen Merkmale,

sein äußeres Bild, seine äußere Erscheinungsform und seine funktionalen Eigen-

schaften die durch den Genotypus im Zusammenwirken mit Umwelteinflüssen ve r-

schiedener Art geprägt werden. Dagegen ist der Genotypus die Gesamtheit aller Erb-

anlagen eines Organismus dominante und rezessive Gene) die den Phänotypus

bestimmen.

Im Folgenden werden verschieden Formen von geistiger Behinderung vorgestellt, bei

denen sich die Vermutung erhärtet hat, dass es einen Zusammenhang zwischen gene-

tischen Abweichungen und den daraus resultierenden Verhaltensweisen gibt.

Kritisch zu betrachten ist jedoch, dass die Forschung auf diesem Gebiet noch sehr

jung ist und, dass es nach wie vor zu prüfen bleibt in wie weit Umwelteinflüsse hier-

bei eine Rolle spielen und auf bestimmte prädisponierende Faktoren wirken und so-

mit erst Verhaltensauffälligkeiten hervorgerufen werden.

5.2.2.7.1 PRÄNATAL BEDINGTE FORMEN

Ursachen für das Lesch-Nyhan Syndrom liegen in einer Enzymstörung des Purin-

metabolismus, die zu einer Überproduktion der Harnsäure führt, der sogenannten

Hyperurikämie.

Weiters konnten vor allem im dopamingesteuerten Neurotransmittersystem der Ba-

salganglien Auffälligkeiten gezeigt werden.

Dieses Syndrom tritt ausschließlich beim männlichen Geschlecht auf. Es geht mit

schwerer bis schwerster Form von geistiger Behinderung einher, wobei es bis zu

einem IQ von 60 Punkten kommen kann. Das Lesch-Nyhan-Syndrom nimmt auf-

grund der dabei auftretenden schweren Verhaltensstörungen eine Sonderstellung ein,

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da es vor allem für die Theorie- und Therapieentwicklung von Selbstverletzungsver-

halten eine große Bedeutung erhält.

Diese Selbstverletzungstendenzen treten meistens ab dem zweiten Lebensjahr auf.

Bei diesen Verhaltensweisen, die nach aussagen der betroffenen meistens unter ei-

nem großen Zwang ausgeführt werden, handelt es sich um schwerste Verstümme-

lungen der Lippen, der Mundschleimhäuten der Wangen der Finger und Hände.

Es kann aber auch zu einer Fremdaggression kommen die sich zum Beispiel gegen

das Betreuungspersonal richtet.

Das fragile X-Syndrom, das seinen Namen wegen der brüchigen Stelle am langen

Arm des X-Chromosoms erhalten hat, tritt vorwiegend bei Männern auf. Es lassen

sich aber auch Frauen mit leichterer Ausprägung des Syndroms finden. Bei diesem

Syndrom findet man eine große Variabilität des Intelligenzquotienten, der teilweise

sogar Durchschnittswerte annehmen kann.

Gekennzeichnet wird das fragile X-Syndrom durch eine gravierende Störung in der

Sprachentwicklung. Hinzu kommt dass Personen mit diesem Syndrom einen Hang

zu Bewegungsstereotypien haben, hyperaktives Verhalten aufzeigen, zu mangelndem

Blickkontakt und zu Selbstverletzungstendenzen neigen. Oft werden Person mit fra-

gilem X-Syndrom fälschlicherweise dem Autismus zugeordnet.

Dykens et al. (1994) ist es vor kurzer Zeit gelungen einen Zusammenhang zwischen

den Gensequenzen an der brüchigen stelle des X-Chromosoms zu finden und dem

Schweregrad von den Verhaltensauffälligkeiten, die für dieses Syndrom so typisch

sind.

Zu den pränatal bedingten Formen gehören freilich noch viele andere Syndrome auf

die ich hier aber nicht weiter eingehen will. Folgende Syndrome wären hier noch zu

erwähnen:(polygenetisch) Cornelia-de-Lange-Syndrom, Moebius-Syndrom, Prader-

Wilii-Syndrom, Williams-Beuren-Syndrom, (chromosomale Abberation) Down-

syndrom, Angelmannsyndrom, Cri-duchatsyndrom, Klinefeltersyndrom.

5.2.2.7.2 3.7.2 PERINATAL BEDINGTE FORMEN

Geistige Behinderung, die durch perinatal bedingte Ursachen hervorgerufen wurde,

geht in der Regel mit schweren Verhaltensauffälligkeiten einher, wobei man in den

meisten Fällen von einer Symptomatik sprechen kann die einen psychoorganischen

Syndrom zugeordnet werden kann.

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Ein wesentlicher perinataler Faktor kann zum Beispiel die Anoxia weitgehendes Feh-

len von Sauerstoff) sein.

Die Perinatalperiode ist der Zeitraum zwischen der 28. Schwangerschaftswoche und

dem 7. Lebenstag nach der Geburt (Psychrembel, 1994).

5.2.2.7.3 POSTNATAL BEDINGTE FORMEN

Prinzipiell gibt es keinen Zusammenhang zwischen postnatal entstandener geistiger

Behinderung und bestimmten Verhalt ensauffälligkeiten. Ausnahmen hierzu bilden

Formen bei denen ein hirntraumatisches Ereignis während der Entwicklungsphase

stattgefunden hat oder bei denen es zu einer Vergiftung (zum Beispiel Bleivergif-

tung) in diesem Abschnitt gekommen ist, und Formen bei denen die Entwicklung des

ZNS durch einen degenerativen Prozess gestört wurde.

Letztere Form von geistiger Behinderung lässt sich am Rett-Syndrom aufweisen.

Das Rett-Syndrom wurde 1966 zum ersten mal beschrieben, fand aber erst viel später

in den 80er Jahren weltweit Anerkennung. Bis jetzt wurde das Rett-Syndrom aus-

schließlich bei Personen weiblichen Geschlechts vorgefunden, was den Verdacht

erhärtet dass es sich um eine X-chromosomal rezessive Störung handelt.

Es liegen Ergebnisse vor die darauf schließen lassen dass es sich beim Rett-Syndrom

um eine Störung in den Neurotransmittersystemen von Dopamin und Adrenalin han-

deln könnte. Das Rett-Syndrom geht mit einer schweren lntelligenzminderung ein-

her, wobei der IQ Werte von 35 erreichen kann.

Zu beobachten ist eine schwerwiegende Entwicklungsretardierung vor allem auf dem

Gebiet der Sprache und Motorik. Ganz besonders charakteristisch für dieses Syn-

drom sind die Handstereotypien die man als hand-washingmovement bezeichnet.

Durch diese Stereotypie ist die Entwicklung der gezielten Greiffähigkeit fast zur

Gänze gestört und nicht ausgeprägt. Außer dieser Verhaltensauffälligkeit sind vor

allem Schaukelbewegungen, Grimassieren, Hyperventilationen und Zähneknirschen

zu beobachten.

Dadurch dass die Patientinnen eine Reihe von autistischen Merkmalen aufweisen

werden sie oft fälschlicherweise mit Autismus diagnostiziert.

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57

5.2.2.8 Verhaltensstörungen und psychische Störungen im Alter und ihre Ein-

wirkungen auf die soziale Integration

Das Interesse an der psychischen Gesundheit älterer Menschen mit geistiger Behin-

derung hat in den letzten Jahren in den Forscherkreisen merkbar zugenommen. Au-

ßerdem stieg die Lebenserwartung geistig behinderter signifikant an. In logischer

Konsequenz gibt es vermehrt ältere Menschen mit psychischen Störungen und Ver-

haltensauffälligkeiten ( Dosen, A. 1997).

Der geistig behinderte Mensch hat auch in fortgeschrittenem Alter ein Recht in sei-

ner Person, in seiner Würde in seinen Befindlichkeiten und Bedürfnissen , in seiner

Autonomie als aktives und kompetentes Wesen Ernst genommen zu werden und

nach einem sinnerfüllten Leben zu streben. Es ist nicht mehr angebracht den altern-

den psychisch Kranken nur noch als belastenden psychiatrisch-geriatrischen Fall

anzusehen. Vielmehr sollen auf die Wechselwirkungen und Zusammenhängen von

schweren genetisch-organisch bedingten Entwicklungsstörungen und der Umwelt, in

dem der Betroffene lebt, eingegangen werden. Demnach ist von einem gestörten In-

dividuum-Umwelt- Interaktionsverhältnis auszugehen, um die aufkommenden Ver-

haltensauffälligkeiten zu erklären.

Das Individuum mit seinen speziellen Bedürfnissen in seiner Lebenswelt soll im Mit-

telpunkt stehen. Das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung, auf Selbstbestimmung

und das Recht auf Integration in die Gesellschaft, sollen handlungsbestimmend sein.

Es soll klar werden dass die Grundbedürfnisse von älteren Menschen mit geistiger

Behinderung sich nicht von den Bedürfnissen nichtbehinderter alter Menschen unter-

scheiden. Sie haben ein Recht, nicht isoliert zu werden, in vertrauter Umgebung un-

ter Beibehaltung erwachsener sozialer Beziehungen zu leben, Hilfen bei der Tages-

strukturierung und der Gestaltung der Freizeit zu erfahren, im Krankheits- oder Pfle-

gefall von anvertrauten Mitmenschen betreut zu werden, gegebenenfalls bis zum

Sterbebeistand, eine ausreichende wirtschaftliche Grundlage im Alter zu haben.

Es gibt auch im Alter Lebensereignisse die schwer zu verarbeiten sind, sowohl für

Nichtbehinderte als auch für geistig behinderte Menschen. So löst der Eintritt in den

Ruhestand oft eine große Leere aus. Die Leute fühlen sich Nutzlos und nicht mehr

als Teil der Gesellschaft. Menschen mit geistiger Behinderung trifft das noch härter,

da sie Veränderungen im Alter schwerer verarbeiten und außerdem über wenig Mög-

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lichkeiten verfügen, sich aktiv auf den Ruhestand vorzubereiten um ihm Gestaltung

zu geben.

Ein anderes Lebensereignis, mit dem immer mehr ältere Menschen mit geistiger Be-

hinderung konfrontiert sind, ist der Tod von Angehörigen. Durch eine Verbesserung

der medizinischen Versorgung werden die geistig Behinderten heutzutage viel älter

und sehr viel von ihnen überleben ihre Eltern. Es ist deshalb sehr wichtig, dass sie

vorhandene Kontakte zu Freunden und anderen Familienmitgliedern pflegen und

ausbauen lernen. Gerade zur Bewältigung der eigenen Lebensgeschichte und auch

zur Bewältigung von Todesfällen ist es hilfreich, wenn Betreuungspersonen ihren

geistig behinderten Familienmitglieder die eigene Biographie und auch ihren eigenen

Tod nahe bringen und ihnen helfen, sich damit auseinander zu setzten, um mit Trauer

und Angst fertig zu werden.

Allgemein wird der Einfluss der Umwelt oft nicht in dem Ausmaße zur Kenntnis

genommen, der ihm wirklich zusteht. Das Verhalten einer einzelnen Person in einer

bestimmten Umgebung ist direkt abhängig von der Gestaltung dieser Umgebung.

Daher kann die Umwelt nicht getrennt vom Verhalten studiert werden (Davidson, P.

W., 1997).

Ein wichtiger Aspekt im Leben des älteren geistig behinderten Menschen scheint der

Druck der Umwelt zu sein. In der Tat wirken verschiedene Umgebungen auch je-

weils verschieden auf ältere Menschen und stellen andere Anforderungen an ihn.

Menschen mit höherem Kompetenzgrad zeigen ein Verhalten, das eine bessere An-

passung darstellt, als Menschen mit niedrigerem Kompetenzgrad, wobei aber die

Abhängigkeit von dieser Umgebung mit der Einschränkung der Funktion des älteren

Menschen einher geht.

Verliert eine Person mit geistiger Behinderung die Fähigkeit, eine bestimmte, für sie

eigentlich einfache Aufgabe zu erledigen, können dadurch stereotype Verhaltenswei-

sen, Aggressionen oder andere unangepasste Handlungen hervorgerufen werden.

Dies wird um so akzentuierter, wenn die betreffende Person bereits Schwierigkeiten

hat, mit einer veränderten Umgebung umzugehen. Hierbei hilft schon, unnötige Sti-

mulationsquellen, wie etwa übermäßiger Straßenlärm, Hintergrundgeräusche von

Fernseher oder Radio und ähnliches, weitgehendst zu reduzieren.

Andererseits kann zu wenig Stimulation wiederum zu intellektuell und emotional

auffälligen Verhalten führen. Es muss eine Art Mittelmaß an sogenannt redundanten

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Erfahrungsmöglichkeiten gefunden werden, die, miteinander in Verbindung ge-

bracht, dem älteren Menschen einen Fortschritt im Anpassungsverhalten ermöglicht.

5.2.3 Pädagogische, therapeutische und diagnostische Konzepte

5.2.3.1 Pädagogische Konzepte

Die schon bestehenden Konzepte für vollzeitbetreutes Wohnen für Menschen mit

geistiger Behinderung bleiben selbstverständlich erhalten. Darauf aufbauend soll für

Menschen mit Mehrfachdiagnosen ein pädagogisches und therapeutisches Zusatzan-

gebot bereitgestellt werden. Die Betreuungsziele, die Klienten nach dem Normalisie-

rungsprinzip in allen Lebensbereichen hin zu mehr Selbständigkeit, Selbstbestim-

mung und Selbstverantwortung zu begleiten, bleiben bestehen. Die Methoden dafür

bedürfen für Menschen mit Mehrfachdiagnosen jedoch nicht nur einer quantitativen

sondern auch qualitativer Erweiterung, wie sie im Folgenden beschrieben werden.

Der Förderplan stellt die wichtigste Handlungsanleitung für die BetreuerInnen dar.

Bei der Entwicklung eines individuellen Förderplans ist folgendes zu beachten:

• Feststellung der sozialen Validität: Soll das auffällige Verhalten überhaupt

reduziert werden?

• Teilnahme aller Personen, die unmittelbar mit den Betroffenen zu tun haben,

an regelmäßigen Treffen und Absprachen. Festlegung einer verantwortlichen

Person.

• Diagnostik:

o Analyse der förderlichen und hemmenden Lebensweltbedingungen

o Beobachtung der Problemverhaltensweisen, der Begleitumstände und

der vorliegenden Handlungskompetenzen

o Ausfüllen standardisierter diagnostischer Verfahren

o Einschätzung bisheriger Maßnahmen

• Analyse der Daten unter bestimmten Fragestellungen: z.B.

o Welche Funktionen erfüllt das Problemverhalten (Funktionsanalyse)?

o Welches Verhalten soll aufgebaut werden und warum?

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o Gibt es ein zum Verhaltensproblem inkompatibles Verhalten?

o Wann tritt dieses Verhalten auf und wie kann es verstärkt werden?

o Was kann am Verhalten der Betreuungspersonen geändert werden?

• Festlegung der Ziele und der Maßnahmen unter Bezugnahmen auf die Le-

benswelt, das Verhaltensproblem und die Kompetenzerweiterung.

• Nicht bei jedem Verhaltensproblem kommen die gleichen Vorgehensweisen

in Frage; je nach Entstehungszusammenhang und aufrechterhaltenden Bedin-

gungen muss zwischen verschiedenen Methoden ausgewählt werden. Die

fortlaufende Kontrolle der Wirksamkeit einer Maßnahme lässt rasch erken-

nen, ob eine Maßnahme angemessen ist und durch andere ersetzt oder erwei-

tert werden muss. Bei der Auswahl von Maßnahmen sollte auch bedacht wer-

den, welche Maßnahmen die Betreuungspersonen schon kennen und was

auch aus ihrer Sicht realisierbar und vertretbar ist.

• Fortlaufende Prozessdiagnostik während der Durchführung der Maßnahmen

zur kontinuierlichen Dokumentation, um die Maßnahmen den Gegebenheiten

und dem Befinden der Person anzupassen und weiterzuentwickeln.

• Fortsetzung der Aufzeichnungen in längeren Abständen nach Beendigung der

eigentlichen Maßnahmen, damit sofort Veränderungen des Verhaltens wahr-

genommen und rechtzeitig reagiert werden kann, bevor sich ein Verhaltens-

problem abermals verfestigt. (Nachfolgeuntersuchung).

• Gegebenenfalls erneute Durchführung bestimmter Maßnahmen.

5.2.3.2 Biopsychosozialer Ansatz – Biopsychologisches Assessment

Bei diesem Ansatz, wird das komplexe Zusammenspiel von biomedizinischen, psy-

chologischen und sozialen Einflüssen auf herausforderndes Verhalten beachtet. Er

eignet sich in besonderem Maße für die ganzheitliche Diagnose der komplex er-

scheinenden Störungen von Menschen mit Mehrfachdiagnosen. In einem Prozess,

der biopsychosoziales Assessment genannt wird, werden persönliche Erfahrungen

des Individuums exploriert, und die Behandlung auf den Einzelfall angepasst bzw.

abgestimmt.

Dabei sind durchzuführen:

• ein biomedizinisches Assessment,

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• Überprüfung/Einschätzung von psychologischen und anderen Fähigkeiten,

• Untersuchung der sozialen und realen Umwelt.

Ziel ist es, Einsicht in den Gesamtkontext zu bekommen, auf den der Klient reagiert.

Aus den Ergebnissen der biomedizinischen, psychologischen und sozial-

ökologischen Analyse soll sich die biologische im Sinne von pharmazeutischer, psy-

chologische und soziale bzw. umweltbezogene Intervention ableiten. Zu betonen ist,

dass sich alle drei Bereiche gegenseitig beeinflussen, also keine Intervention für sich

allein steht oder nur einseitig begründet wird. Ein gründliches biopsychosoziales

Assessment ist nötig, um eine aussagekräftigen Differentialdiagnose zu erhalten, in

welcher man die Faktoren erkennen kann, die möglicherweise dem (herausfordern-

dem) Verhalten zugrunde liegen. Für die weitere Behandlung und Betreuung kann

davon eine vorläufige Hypothese abgeleitet werden.

Dafür werden Informationen von allen beteiligten Professionen, Angehörigen, Be-

treuer und natürlich dem Klienten selbst eingeholt. Eine Wissensdatenbank über spe-

zifische oder genetisch bedingte Krankheiten und Ihren Einfluss auf die geistige Ge-

sundheit wird benötigt, um die Symptome und Informationen richtig einordnen zu

können.

Innerhalb der oben genannten drei Bereiche kommen folgende Erhebungsmethoden

zur Anwendung:

A.

- Testung auf biomedizinische Auslöser (z.B. Kopfweh, Menstruationsbe-

schwerden), die bisher undiagnostiziert sind.

- Erhebung vom Schlafverhalten durch Betreuer

- Durchführung spezieller Screenings bei bekannten zuordenbaren Sym-

ptomen (z.B. bei Down-Syndrom)

B.

- Erstellung einer psychologischen Entwicklungshistorie

- Durchführung psychologischer Tests (IQ-Tests, adaptives Verhalten,

Sprachtests, schulische Fertigkeiten, spezielle Tests zur Psychopathologie

(Aberrant Behavior Checklist, Aman & Singh, 1994; Assessment for

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Dual Diagnosis, Matson, 1997; Developmental Behavior Checklist, Ein-

feld & Tonge, 1994; Diagnostic Assessment for the Severly Handicapped

– II, Matson, 1995; Emotional Problem Scales, Prout & Stromer, 1991;

Psychopathology Instrument for Mentally Retarded Adults, Matson 1988;

Reiss Scales for Children’s Dual Diagnosis (Reiss & Valenti-Hein, 1990;

Reiss Screen for Maladaptive Behavior, Reiss 1988). Eine nähere Be-

schreibung dieser Tests befindet sich bei Griffiths et al. (2002, S171f.)

C.

Bestimmung der sozialökologischen Faktoren mittels:

- Verhaltensanalyse (Häufigkeit, Intensität, Dauer, Umstände),

- funktionelle Verhaltensanalyse (indirekt / direkt),

- experimentelle Manipulationen zur Analyse,

- spezielle Tests (z.B. zu sozisexuellem Verhalten, Gewaltrisiko),

- nonverbales Assessment

5.2.3.3 Klassifizierung von geistiger Behinderung nach ICD-10 und DSM-IV

Nach Eggert (1979) besitzt das Klassifikationssystem der Weltgesundheits-

Organisation (WHO) in der Beschreibung von geistiger Behinderung die größte Be-

deutung. In der aktuellen ICD-10 wird anstatt des Begriffes ‘Geistige Behinderung’

der Terminus ‘Intelligenzminderung’ benutzt.

Nach der ICD-10 ist eine Intelligenzminderung

„...eine sich in der Entwicklung manifestierende, stehen gebliebene oder unvollstän-

dige Entwicklung der geistigen Fähigkeiten, mit besonderer Beeinträchtigung von

Fertigkeiten, die zum Intelligenzniveau beitragen, wie z.B. Kognition, Sprache, mo-

torische und soziale Fertigkeiten. (....) Das Anpassungsverhalten ist stets beeinträch-

tigt, eine solche Anpassungsstörung muß aber bei Personen mit leichter Intelligenz-

minderung in geschützter Umgebung mit Unterstützungsmöglichkeiten nicht auffal-

len" (Dilling, Mombour & Schmidt, 1993, S. 254).

Im Folgenden wird die Einteilung der Grade der Intelligenzminderung nach der ICD-

10 der WHO dargestellt (vgl. Dilling et al., 1993).

F 70 Leichte Intelligenzminderung

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Unter leichter Intelligenzminderung wird der Intelligenzbereich zwischen 50 und 69

verstanden. Folgende Bezeichnungen sind für diesen Bereich gebräuchlich:

Schwachs inn, leichte geistige Behinderung, leichte Oligophrenie und Debilität.

F71 Mittelgradige Intelligenzminderung

Diese Diagnose beschreibt den Intelligenzbereich zwischen 35 und 49. Es werden

folgende weitere Begrifflichkeiten synonym benutzt: Mittelgradige geistige Behinde-

rung, mittelgradige Oligophrenie und Imbezillität.

F 72 Schwere Intelligenzminderung

Es wird von einem Intelligenzbereich zwischen 20 und 34 ausgegangen. Zusätzlich

verwendet werden hierfür die Begriffe: Schwere geistige Behinderung, schwere Oli-

gophrenie.

F 73 Schwerste Intelligenzminderung

Mit dieser Diagnose werden Menschen mit einem geschätzten IQ von weniger als 20

versehen. Andere Bezeichnungen hierfür sind: Schwerste geistige Behinderung, Idio-

tie, schwerste Oligophrenie.

F 78 Sonstige Intelligenzminderung

Hierunter werden Intelligenzminderungen verstanden, deren Einstufung mit den

klassischen Verfahren (Intelligenztests) aufgrund zusätzlich bestehender Behinde-

rungen ,wie z.B. Taubheit, Blindheit, Stummheit, sowie eventuell zusätzlich beste-

hender Verhaltensstörungen nicht möglich sind.

F 79 Nicht näher bezeichnete Intelligenzminderung

Klienten werden in diese Kategorie eingestuft, wenn nicht ausreichend genug Infor-

mationen vorliegen, um sie in eine der zuvor dargestellten Gruppe einzustufen. An-

dere Begrifflichkeiten für die Kategorie F 79 sind: Nicht näher bezeichneter

Schwachsinn, nicht näher bezeichnete geistige Behinderung, nicht näher bezeichnete

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Oligophrenie.

Die Kategorien F 71, F 72 und F 73 sind in etwa deckungsgle ich mit den deutschen

Graden der geistigen Behinderung (vgl. Tabelle 3). F 71 ist annähernd identisch mit

der deutschen Einstufung Lernbehinderung. Nach Bach (1974) werden Menschen

mit einem IQ zwischen 60±5 und 80±5 in die Kategorie Lernbehinderung eingestuft.

In der ICD-10 werden an der vierten Stelle Störungen der Anpassung an die Anfo r-

derungen des täglichen Lebens beschrieben. Dieses sind:

F7x.0 Keine oder geringfügige Verhaltensstörungen

F7x.1 Deutliche Verhaltensstörungen, die Beobachtung oder Behandlung erfordern

F7x.2 Sonstige Verhaltensstörungen

F7x.9 Nicht näher bezeichnete Verhaltensstörungen

Die Klassifizierung von psychischen Störungen nach dem DSM-IV der American

Psychiatric Association (APA) wird anhand von fünf verschiedenen Achsen vorge-

nommen (Saß et al., 1996). Die Achsen sind in Tabelle 3 dargestellt. Geistige Behin-

derung wird nicht, wie zu erwarten wäre, in Achse I, sondern in Achse II klassifi-

ziert. Dieses geschieht aus folgendem Grunde:

„Die Auflistung von Persönlichkeitsstörungen und Geistiger Behinderung auf einer

separaten Achse stellt sicher, daß das mögliche Vorliegen von Persönlichkeitsstö-

rungen und Geistiger Behinderung auch dann nicht übersehen wird, wenn sich die

Aufmerksamkeit auf die normalerweise auffälligeren Achse I Störungen konzent-

riert" (Saß et al., 1996, S. 18).

Tabelle 3: Klassifikationsachsen des DSM-IV (nach Sass, Wittchen, & Zaudig,

1996, S. 17)

Achse I Klinische Störungen

Andere klinisch relevante Probleme

Achse II Persönlichkeitsstörungen

Geistige Behinderung

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Achse III Medizinische Krankheitsfaktoren

Achse IV Psychosoziale und umgebungsbedingte Probleme

Achse V Globale Beurteilung des Funktionsniveaus

Die Kodierung von Störungen auf Achse II bedeutet nicht, dass diese sich grundsätz-

lich von den auf Achse I festgehaltenen Störungen unterscheiden.

Geistige Behinderung wird im DSM-IV zusammen mit tiefgreifenden Entwicklungs-

störungen unter dem Oberbegriff Entwicklungsstörungen zusammengefasst (Peter-

mann & Lehmkuhl, 1996).

Im DSM-IV wird geistige Behinderung anhand von drei Kriterien diagnostiziert

(nach Saß et al., 1996):

A) Unterdurchschnittliche allgemeine intellektuelle Leistungsfähigkeit.

B) Starke Einschränkung der Anpassungsfähigkeit in mindestens zwei der folgenden

Bereiche: Kommunikation, eigenständige Versorgung, häusliches Leben, soziale

zwischenmenschliche Fertigkeiten, Nutzung öffentlicher Einrichtungen, Selbstbe-

stimmtheit, funktionale Schulleistungen, Arbeit, Freizeit, Gesundheit und Sicherheit.

C) Der Beginn der Störung muss vor dem Alter von 18 Jahren liegen.

Die drei Kriterien zur Diagnosenstellung einer geistigen Behinderung sind identisch

mit den Kriterien der AAMR aus dem Jahre 1992 (vgl. Kapitel 1.1).

Im DSM-IV werden fünf verschiedene Abstufungen von geistiger Behinderung un-

terschieden (vgl. Tabelle 4) .

Tabelle 4: Vergleich von DSM-IV Kategorien und ICD-10 Kategorien (nach Sass,

Wittchen, & Zaudig, 1996, S. 75)

DSM-IV

Kategorie

ICD-10

Kategorie

DSM-IV Bezeichnung Intelligenzbereich

317 F70.9 Leicht geistige Behin-

derung

50-55 bis ca. 70

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318.0 F71.9 Mittelschwere geistige

Behinderung

35-40 bis 50-55

318.1 F72.9 Schwere geistige Be-

hinderung

20-25 bis 35-40

318.2 F73.9 Schwerste geistige

Behinderung

Unter 20 oder 25

319 F79.9 Geistige Behinderung

mit unspezifischen

Schweregrad

Geistige Behinderung wird

angenommen, IQ ist aber

nicht bestimmbar

(X.9 steht für schwere der Verhaltensstörung!)

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Unterschiede in den Klassifi-

kationssystemen der WHO, der APA und der AAMR gering sind. Gemeinsam haben

alle drei Klassifikationssysteme die drei Faktoren:

a) Unterdurchschnittliche Intelligenz

b) Probleme im adaptiven Verhalten

c) Beginn der geistigen Behinderung in der Entwicklungsphase

Nach Rojahn, Borthwick-Duffy & Jacobson (1993) geht hervor, dass Verhaltensstö-

rungen weit häufiger als psychische Störungen auch als solche wahrgenommen wer-

den. Das Verhalten wird der geistigen Behinderung zugeschrieben und nicht als

Ausdruck einer psychischen Störung gesehen. Dies wird auch als so genanntes di-

agnostic overshadowing bezeichnet. Es kann schwerwiegende Folgen für den Betrof-

fenen haben, da den wahren Problemen nicht die angebrachte Relevanz zugespro-

chen wird.

Nach Schroeder, Rojahn & Oldenquist (1991) ist es wichtig zu bedenken, dass psy-

chische Störungen mit zunehmender Verschlechterung der Intelligenz immer schwe-

rer diagnostizierbar sind und aus diesem Grund oft nicht erkannt werde. Das hat viel

mit der Tatsache zu tun, dass es immer noch keine adäquaten diagnostischen Verfah-

ren für Menschen mit geistiger Behinderung gibt. So haben bereits Ovner & Hurley

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1983 darauf hingewiesen, dass es fraglich ist in wieweit die gängigen Kriterien und

Richtlinien für die Erfassung und Bestimmung psychopathologischer Störungen bei

Menschen mit geistiger Behinderung anwendbar sind.

Ein anderes Problem das damit verbunden ist, ist dass man bei der Exploration eines

Menschen mit geistiger Behinderung zu einem Großteil an Aussagen von dritten

gebunden ist, da der Betroffenen selbst oft nicht über ausreichende Sprachentwick-

lung und Ausdrucksfähigkeit verfügt.

Neben der Miteinbeziehung von Drittpersonen bleibt der Diagnostik nur noch die

Verhaltensbeobachtung der Betroffenen Person. Auch hier stößt man schnell an seine

Grenzen. So kann zum Beispiel aggressives verhalten als erhöhte Erregbarkeit ge-

deutet werden, es kann sich aber auch als Ausdruck von Depression entpuppen, als

Ursache einer schlechten pharmakologischen Versorgung oder sich um eine hirnor-

ganische Beeinträchtigung handeln.

Aufgrund der Vulnerabilitätshypothese ist es besonders wichtig, die Umstände3 zu

betrachten, die zu einer psychischen Störungen beitragen können (aber nicht müs-

sen).

Widerstand oder Abwehrfähigkeit gegen diese Bedingungen können Störungen ve r-

hindern und/oder Störungen/Symptome schwächen/erleichtern.

Ein Assessment muss diese Bedingungen aufgreifen/berücksichtigen und daraus eine

entsprechende Behandlung/Förderplan entwickeln.

Die Anwendung und Beschreibung von psychischen Störungen bei Menschen mit

geistiger Behinderung durch DSM IV oder ICD 10 F funktioniert bei leichter und

mittlerer Intelligenzminderung/geistiger Behinderung relativ gut – sonst aber nicht.

Beobachtung und weitere Tests sind deshalb bei schwererer Behinderung sehr wich-

tig.

Ein weiteres Erfassungsinstrument, welches soziale und reale Umwelt sowie Fähig-

keiten und Adaptionsfähigkeit an die Umgebung mit abfragt ist die ICF. Es ist der-

zeit jedoch noch nicht in deutscher Fassung erhältlich. Es ist jedoch ein sehr ausführ-

liches und umfangreiches Instrument.

3 soziale, biologische, psychologische, kulturelle, politische, betreuungs-, therapie-

ideologische

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5.2.3.4 Das Klassifikationssystem der WHO für Funktionalität, Behinderung

und Gesundheit (ICF)

Das ICF besteht prinzipiell aus zwei Bereichen. Sie dient zum einen zur Beschrei-

bung von Gesundheit und andererseits von gesundheitsrelevanten Zuständen. Was

hier gesundheitsrelevanter Zus tand bedeutet lässt sich am besten an einer Analogie

verdeutlichen. Bei dem Begriffspaar Lernen und Bildung wäre hier die Bildung der

lernrelevante Zustand, also was entsprechend den gegebenen Umständen aus dem

Lernen entsteht.

Während die ICD ausschließlich für den Einsatz für medizinische Zwecke konzipiert

wurde, kann die ICF darüber hinaus für sozialplanerische Zwecke benutzt werden,

für die sie hauptsächlich auch konzipiert wurde. Die beiden Klassifikationssysteme

der WHO ICD und ICF stehen sich komplementär gegenüber. Während die ICD Ge-

sundheitsprobleme beschreibt, also Krankheitsdiagnosen erstellt, will die ICF die Art

und das Ausmaß von Auswirkungen von Krankheiten darstellen. Hierbei werden

keine Aussagen über die Gesundheit gemacht, bzw. es wird nicht pathologisiert. Die

Auswirkungen selber, also die Konsequenzen der Krankheit werden nicht beschrie-

ben, sondern die Bestandteile der Gesundheit, die bei jedem Individuum in gegebe-

ner Umgebung zu Recht unterschiedlichen Resultaten führen können. Es werden

auch keine Bestimmende Faktoren oder Risikofaktoren der Gesundheit beschrieben.

In der ICF wurde das medizinische Modell mit dem sozialen Modell der Gesund-

heitsbetrachtung mit einer erweiterten sozial-ökologischen Sichtweise verbunden. Es

gründet also auf dem sogenannten biopsychosozialen Modell. Die dazu verwendeten

Begrifflichkeiten und ihre Beziehung zueinander geht aus Grafik 1 hervor:

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Grafik 1: Zusammenhang der Konzepte der ICF.

Folgende Ziele werden mit der Entwicklung der ICF verfolgt:

- Das Verstehen von Gesundheit als Forschungszweck zu etablieren.

- Einen einheitlichen Sprachgebrauch bei der Erforschung der Gesundheit

innerhalb der verschiedenen Disziplinen zu schaffen.

- Einen Vergleich von Daten zu ermöglichen, der sowohl Länder übergrei-

fend, als auch Disziplin- und Dienst übergreifend ist.

- Ein Kodierungsschema für Gesundheitsinformationssysteme anzubieten.

Die ICF kann für Statistik, Forschung, Sozialpolitik und Weiterbildung als Werkzeug

gebraucht werden. Er kann aber auch im klinischen Setting beim Hilfebedarf, Ange-

botsauswahl bzw. –passung, Berufsberatung, Rehabilitation und Evaluation zur An-

wendung kommen. Dabei werden die Richtlinien zur Gleichstellung von Möglichkei-

ten für Menschen mit Behinderung verfolgt. Ein methodisch-standardisiertes As-

sessment-Instrument muss jedoch erst entwickelt werden.

Wie aus Grafik 2 ersichtlich ist die Klassifikation in 4 Ebenen gegliedert. Zunächst

werden die zwei Teile Funktionen und Behinderung – also nicht-problematische und

problematische Aspekte – und die Kontextfaktoren unterschieden. Der erste Teil

Health ConditionHealth Condition((disorder/diseasedisorder/disease))

Interaction of ConceptsInteraction of ConceptsICF 2001ICF 2001

EnvironmentalEnvironmentalFactorsFactors

PersonalPersonalFactorsFactors

BodyBodyfunction&structurefunction&structure

(Impairment(Impairment))

ActivitiesActivities(Limitation)(Limitation)

ParticipationParticipation(Restriction)(Restriction)

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wird in die Komponenten Körpersysteme und –strukturen sowie Aktivitäten und

Teilhabe aus sozialer und individueller Sicht gegliedert Die Kontextfaktoren beste-

hen einerseits aus den Umweltfaktoren die individuelle Umwelt und die allgemeine

Umwelt betreffend andererseits aus den persönlichen Faktoren. Unter letzterem ist

m. E. der psychologische Zustand einer Person gemeint, welcher das Verhalten mit

bestimmt. Diese Faktoren werden in der ICF leider nicht mehr näher beschrieben.

Gerade aber hier werden viele pädagogische und therapeutische Interventionen an-

setzen, so dass es überlegenswert erscheint, bei einer Anamnese diesen Bereich

trotzdem zu erfassen und einem zum Einsatz kommenden Diagnoseschema hinzu-

fügt. Als Ausgangspunkt soll hier auf das sehr brauchbare Instruments zur Erfassung

von Stärken und positiven Botschaften von Theunissen (1997) hingewiesen werden.

Diese Komponenten der Kontextfaktoren interagieren mit allen anderen Komponen-

ten im Sinne eines Prozesses.

Daraus ergeben sich die Konstrukte Erleichterung oder Barriere, die in physikali-

scher wie in sozialer Hinsicht etwas ermöglichen oder behindern. Sie haben auch

Einfluss auf die Gesellschaftsstellung als auch auf die Einstellung der Gesellschaft

zu Behinderung. Die Konstrukte der Aktivitäten und Teilhabe werden als Fähigkei-

ten, Kapazitäten sowie Ausführung und Leistung beschrieben. Bei den Körperkom-

ponenten sind Veränderungen von physiologischen Systemen oder anatomischen

Strukturen von Bedeutung.

Die untersten Einheiten der ICF sind letztlich Kategorien von Beschreibungen. Hier

werden nicht Personen sondern Situationen einer Person innerhalb bestimmter Um-

gebungsfaktoren beschrieben. Das Ausmaß und die Stärke der beschriebenen Kate-

gorie wird durch ein Beurteilungsmerkmal (qualifier) angegeben.. Die Kategorien

können in vier (full version) oder zwei (short version der ICF) Ebenen beschrieben

werden. Weitere Informationen finden sich in einem Artikel zur ICF von Seidel

(2003).

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StructureStructureClassificationClassification

PartsParts

ComponentsComponents

Constructs/Constructs/qualifiersqualifiers

Domains andDomains andcategoriescategories

at different levels at different levels

ICFICF

Part 1:Part 1:FunctioningFunctioning

and Disabilityand Disability

Part 2:Part 2:ContextualContextual

FactorsFactors

BodyBodyFunctionsFunctions

and Structuresand StructuresActivities andActivities andParticipationParticipation

EnvironmentalEnvironmentalFactorsFactors

PersonalPersonalFactorsFactors

Change inChange inBodyBody

Structures StructuresCapacityCapacity PerformancePerformance Facilitator/Facilitator/

BarrierBarrier

ItemItemlevels:levels:

11stst

22ndnd

33rdrd

44 thth

ItemItemlevels:levels:

11stst

22ndnd

33rdrd

44 thth

ItemItemlevels:levels:

11stst

22ndnd

33rdrd

44thth

Change inChange inBodyBody

Functions Functions

ItemItemlevels:levels:

11stst

22ndnd

33rdrd

44thth

ItemItemlevels:levels:

11stst

22ndnd

33rdrd

44 thth

Grafik 2: Ebenen der ICF

Funktional gesund ist nach Kriterien der ICF folglich derjenige, dessen

• Körperfunktionen und –Strukturen,

• Aktivitäten und die

• Teilhabe an den Lebensbereichen

• der Norm entsprechen.

è Funktionsfähigkeit ist gegeben.

Von Behinderung wird also in der ICF dann gesprochen, wenn Beeinträchtigungen

aus mindestens einem der vorgenannten Bereiche vorliegen. Also bei

• Funktionsstörung (auch mentale),

• Strukturschaden,

• Aktivitätseinschränkung oder

• Beeinträchtigung der Teilhabe in einem Lebensbereich

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5.2.3.5 Klinisches Assessment

Klinisches Assessment unterscheidet sich von einer herkömmlichen Diagnoseerstel-

lung dahingehend, dass zu den aktuellen Symptomen auch die Ernsthaftigkeit der

psychischen Störung, die aktuell zur Anwendung kommenden Behandlungen, der

Grad der Beeinträchtigung durch die Behandlungen und andere wichtige Stressoren

im Alltag des Klienten.

Dabei sind vier Techniken zur Informationsbeschaffung anzuwenden:

1. Befragung der Person selbst.

2. Befragung eines die Person gut kennenden Dritten.

3. Beobachtung des Verhaltens der Person in ihrer alltäglichen Umgebung.

4. Beobachtung der Person in standardisierten Testsituationen

5.2.3.6 Therapeutische Ansätze

Gemeinschaftliche Behandlungsansätze:

Psychiatrische Diagnose und funktionale Verhaltensanalyse werden kombiniert. Z.B:

• Multimodales, umgebungsabhängiges, verhaltensanalytisches Modell nach Gard-

ner

• Positiver, systemischer Ansatz nach Carey

=> Beide dienen der Einbindung und Kontrolle psychotroper Medikamente.

Psychopharmaka sollten nur nach eindeutiger psychiatrischer Diagnose eingesetzt

werden, wenn eine langfristige Therapieplanung vorliegt – nicht nur Akutmedikati-

on!

Beachtung ernsthafter/schädlicher Nebenwirkungen.

Vorgehen beim Einsatz von Psychopharmaka:

1. Kann das Problemverhalten Ausdruck einer psychischen Störung sein?

2. Genaue Erfassung und Beschreibung des Verhaltens

3. Formale Diagnose einer psychischen Störung

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4. Angemessene Behandlung mit Psychopharmaka

5. Nachuntersuchung um:

• Wirksamkeit der Medikamente festzustellen,

• auf mögliche Nebenwirkungen zu untersuchen,

• Nebenwirkungen zu behandeln,

• medizinische Untersuchungen durchzuführen bzgl. Anderer physiologischer

Funktionen, die durch langfristige Einnahme von Psychopharmaka beeinflusst

werden können.

Zusätzlich sollen individuelle Trainings zur Erhöhung der Sozialen Kompetenz er-

folgen (siehe detailiertes eigenständiges Konzept).

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5.3 Literatur