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Alles im Universum befindet sichin Schwingung: Der Stuhl, aufdem Sie gerade sitzen; dasNatürlich, das Sie in den Hän-

den halten; die Organe, Knochen, Mus-keln, Sehnen und Bänder Ihres Körpers –alles schwingt und vibriert in einernatürlichen Frequenz, die man als «Re-sonanz» bezeichnet.

Auch Klang ist Schwingungsenergie.Das wird offensichtlich, wenn ein Sängermit seiner Stimme ein Glas zum Zer-brechen bringt. Überhaupt lässt sich dieso genannt unbelebte Materie mit Hilfevon Klängen zu ungeahnten Aktivitätenbewegen, wie bereits der deutsche Phy-siker Ernst Florens Friedrich Chladni(1750–1827) entdeckte. Chladni stelltefest, dass sich auf einer frei schwingen-den Platte, die man mit einem feinenPulver bestreut, interessante, regelmäs-sige Muster bilden, wenn man sie inmusikalische Schwingung versetzt.

In den 50er-Jahren griff der Schwei-zer Arzt und Forscher Dr. Hans Jennydiese Experimente auf und machteweitere erstaunliche Entdeckungen. So

brachte er Wassertropfen allein durchKlangschwingungen dazu, die Formeines pulsierenden Fünfecks zu bilden.Er demonstrierte, dass Eisenspäne beiverschiedenen klassischen Kompositio-nen unterschiedliche Muster bilden, undkonnte sogar zeigen, dass Pulver aufeiner Gummi-Membran die Form desBuchstabens «O» annimmt, wenn maneben diesen Vokal O singt. Die Arbeitenvon Chladni und Jenny wurden in denletzten Jahren durch Alexander Lauter-wasser weitergeführt: Der SchweizerForscher hat an Hunderten von Beispie-len demonstriert, dass Wasser durch dasFormen unterschiedlicher Bilder und Fi-guren auf Töne, Klänge und Musik rea-giert (Fotos auf Seite 9).

Auch Pflanzen reagieren auf Musik.Mancher Natürlich-Leser wird sich viel-leicht noch an die Experimente vonDr. T. C. Singh erinnern. Der indischeBotaniker sorgte in den 50er-Jahren des20. Jahrhunderts für Schlagzeilen, als erseinen Balsampflanzen der Gattung tere-binthales täglich während 25 MinutenRaga (klassische indische Musik) vor-

spielte und nach einigen Wochen fest-stellte, dass die Versuchspflanzen mehrBlätter entwickelt und höher gewachsenwaren als ihre Artgenossen, die keineMusik «gehört» hatten.

Nahrung fürs Gehirn Im Verlauf der letzten 100 Jahre wurdedie Wirkung von Tönen und Klängenauf den Menschen eingehend unter-sucht. Einer der bedeutendsten Forscherin diesem Bereich war der französischeHals-Nasen-Ohren-Arzt und ChirurgDr. Alfred Tomatis (1920–2001). DerSohn eines bekannten Opernsängerswidmete 45 Jahre seines Lebens derErforschung des menschlichen Ohres. Ergelangte zur Überzeugung, dass das Ohrnicht nur Sitz des Hör- und des Gleich-gewichtsinns ist, sondern dass es dasGehirn mit Nahrung versorgt. Töne,Klänge, Geräusche, Sprache und Musik,so Tomatis, sind energetische Nahrungfür das Hirn. Fehlt diese feinstofflicheNahrung, zum Beispiel durch Fernhaltenjeglicher Schalleinwirkung, hat dies gra-

mitKlängen «Der Klang taucht am tiefsten hinab in die menschliche Seele»

sagte der berühmte Wahlschweizer Dirigent Kurt Pahlen. Dieses Phänomen

macht sich die Musiktherapie zu Nutze. Ähnlich einer Angelschnur

holt sie aus der Tiefe des Menschen Verborgenes, Vergessenes und

Verdrängtes an die Oberfläche des Bewusstseins. Die Konfrontation mit

dem «seelischen Angelgut» lässt den Menschen wachsen und gesunden.

Text: Willi Dommer

Naturheilkunde GESUNDHEIT

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MusiktherapieGESUNDHEIT

vierende Störungen der Gehirnfunktio-nen zur Folge.

Eine weitere Besonderheit des Ohrsbesteht darin, dass die Hörkanäle direktmit dem Gefühlszentrum des Gehirnsverbunden sind (mit dem Thalamusim Zwischenhirn und dem LimbischenSystem). So wird verständlich, warumdas Hören viel inniger mit dem menschli-chen Gefühlshaushalt verbunden ist alsdas Sehen und weshalb Emotionen amdirektesten durch akustische Reize aus-gelöst werden.

Die Komplexität des sensiblen Hör-sinnes steigert sich zusätzlich durch dieTatsache, dass die Verarbeitung akusti-scher Reize eine intensivere, hirnphysio-logische Tätigkeit auslöst als das Verar-beiten optischer oder taktiler Reize. Soreagieren Hörzellen bereits auf Aussen-reize, die viel kleiner sind als diejenigeeiner Berührung. Nicht umsonst war dasOhr bereits bei den Steinzeitmenschendasjenige Sinnesorgan, das auch imSchlafzustand als zuverlässiger «Warn-sinn» funktioniert.

Zwiegespräch mit dem Körper Jede Mutter weiss, dass sich Babys bei me-lodischen Harmonien beruhigen und dasssie bei Dissonanzen strampeln. Die musi-kalische Grundlagenforschung spricht indiesem Zusammenhang auch von «tropho-troper» und «ergotroper» Musik.

«Trophotrope Musik zeichnet sich ausdurch schwebende, wenig akzentuierte

Rhythmen, vorwiegend Moll-Tonarten,eine geringere Lautstärke und ein sanftesFliessen der Melodie», erklärt der Musik-therapeut Hans-Helmut Decker-Voigt inseinem Buch «Aus der Seele gespielt».Solche Musik senkt den Blutdruck, sieverlangsamt den Puls, entspannt dieSkelettmuskulatur, verengt die Pupillen,senkt den Hautwiderstand, fördert alsodie Entspannung und Somnolenz. EinParadebeispiel der trophotropen Musik(von griech. trophos = Wendung, Rich-tung, Art und Weise) ist das Wiegenlied.

Im Gegensatz zur beruhigenden Wir-kung der trophotropen Musik erhöht«ergotrope Musik» die Anspannung.Diese Musik kennzeichnen u.a. «harteRhythmen, die sich im Verlauf desStückes beschleunigen, Dur-Tonarten,Dissonanzen und höhere Dezibelstär-ken». Sie steigert den Blutdruck, be-schleunigt Atmung und Puls, erweitertdie Pupillen, erhöht den Hautwiderstandund führt zur rhythmischen Kontraktionder Skelettmuskulatur. Typische Beispielefür ergotrope Musik (von griechisch«ergon» = die Tat, Arbeit) finden wir inDiskotheken und an Festveranstaltun-gen, wo die Gäste akustisch «mitgeris-sen» und «in Stimmung» versetzt werdensollen.

Forschungsergebnisse weisen daraufhin, dass hohe Töne (ab 4000 Hertz) denGeist anregen und energetisierend wir-ken, tiefe Töne (unter 1000 Hertz) dieGrobmotorik stimulieren und sehr tiefeTöne (unter 100 Hertz) ermüden bis läh-

men. Die mittleren Töne (1000–4000Herz) sind der bevorzugte Frequenz-bereich der menschlichen Sprachlaute.Die Ohrmuschel des Menschen ist so ge-baut, dass sie Töne aus diesem Bereichbevorzugt «einfängt».

Ein weiterer Aspekt, weshalb Musikauf den Menschen wirkt, besteht imRhythmus. Der Mensch selbst ist Rhyth-mus: Sein Herz schlägt rhythmisch, Puls,Atmung und Durchblutung verlaufenrhythmisch. Auch die Organfunktionenund Hormonausschüttungen gehorchenbestimmten Rhythmen. So kann derRhythmus von Klängen und Musik überdas Ohr auf den Rhythmus des Körperseinwirken.

Musik in der Medizin Aufgrund ihrer heilsamen Wirkungenhat die Musik mancherorts einen festenPlatz im medizinischen Alltag erobert.Laut Schätzungen von Dominik Traub,Sekretär des Schweizerischen Fachver-bands für Musiktherapie SFMT, besitzenin der Schweiz gegen 100 Spitäler, Klini-ken und Pflegeheime ein musiktherapeu-tisches Angebot.

Ein wichtiges Einsatzgebiet derMusiktherapie ist die Rehabilitation vonSchädel-Hirn-Trauma-Patienten infolgeeines Schlaganfalls oder Unfalls. DominikTraub, der solche Patienten als Musik-therapeut am Reha-Zentrum in Basel be-treut, stellt fest, dass «Musiktherapie denHeilungsprozess fördert und die Patien-

Die Legenden und Mythen der Erde sind voll

von Hinweisen auf die heilende Wirkung der

Musik. Der griechische Held Orpheus soll die

Bestien der Unterwelt mit Hilfe seiner Lyra

bezwungen haben. Der biblische David lin-

derte mit seinem Harfenspiel die Schwermut

von König Saul. Und bei Samuel (16,16) lesen

wir: «Sie werden jemanden suchen, der sich

auf das Zitherspiel versteht. So oft dann der

böse Geist über Dich kommt, spielt er mit

seiner Hand, dann wird dir wohl zumute.»

In den Heilungstempeln des alten Griechen-

lands wurden Körper und Geist mit musi-

kalischer Hilfe in Harmonie gebracht. Der im

6. Jahrhundert vor Christus lebende Pythago-

Klangbewusst: Die in den Mandara-Bergen Kameruns lebenden Kirdi unterstützen den Erntesegen seit Jahrhunderten mit ihrem Flötenspiel.

Musiktherapie in der Geschichte

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ten motiviert». Für Patienten, die nichtmehr sprechen können, ist sie zudemoft eine der wenigen Möglichkeiten, umsich auszudrücken und in Beziehungmit der Umwelt zu treten. Am Rehab-Zentrum wird auch mit komatösenPatienten gearbeitet, zum Beispiel durchSingen auf ihren Atemrhythmus – einVersuch, um mit den Patienten in Kon-takt zu treten.

Im Bereich der Palliativmedizin kannder Einsatz von Musik die Dosierungvon Schmerz- und Beruhigungsmittelndrastisch senken – ohne unerwünschteNebenwirkungen für den Patienten. Stu-dien am Kantonsspital Brig zeigen, dasPatienten, denen vor oder während einerOperation Musik vorgespielt wird, bis50 Prozent weniger Beruhigungsmittelbrauchen. Genauso kann Musik mitunterdas Schmerzmittel ersetzen, das esnormalerweise vor schmerzhaften Ein-griffen und Injektionen an besonders sen-siblen Körperstellen braucht.

An der Klinik für Tumorbiologie inFreiburg wird das Wohlbefinden derKrebs-Patienten seit 1997 mit der Mu-siktherapie gefördert. Bereits 4 Klang-meditationen genügen, damit sich diemeisten Patienten gelassener, ausgeruh-ter und seelisch ausgeglichener fühlen,wie eine Studie an 134 Patienten zeigt.

Auch gegen Schlaflosigkeit, Hyper-aktivität und Konzentrationsmangel vonKindern wird die «Arznei Musik» mitErfolg eingesetzt. Die in Zug arbeitendeTherapeutin Verena Eichenberger hat

ras war mit der therapeutischen Wirkung der

Musik so innig vertraut, dass er seine Schüler

in der Mysterienschule von Crotone (Unter-

italien) in die Geheimnisse der seelischen

Wandlung mittels Klang und Musik einweihte.

Pythagoras gilt übrigens auch als Vater des

Monochords (griech. Einsaiter), das noch

heute eine Rolle in der Musiktherapie spielt.

Das Monochord von Pythagoras war ver-

mutlich ein einfacher Holzkasten mit einer

darüber gespannten Saite und einem ver-

schiebbaren Steg, mit dem man die Länge der

Saite variieren konnte. Die heutigen Mono-

chorde dagegen weisen bis zu 30 Saiten auf.

Über musikalische Heilwirkungen berichten

auch spätere Epochen. An europäischen Uni-

versitäten war Musik bis 1550 Pflichtfach der

Medizinstudenten. Im Mittelalter wurde der

Dudelsack gegen Geisteskrankheiten einge-

setzt, und vom melancholisch veranlagten

König Philipp V. von Spanien (1683–1746)

wird berichtet, dass er in tiefer Nacht den

berühmten Sänger Farinelli in den Escorial zu

rufen pflegte, dessen meisterhaft vorgetra-

gene Arien den Regenten zur Fortsetzung der

Regierungsgeschäfte befähigten.

Im alten Tibet flöteten oder trommelten die

Mönche zu klangtherapeutischen Zwecken

oft wochenlang bestimmte Töne. Noch heute

wissen die alten Medizin-Mönche genau,

auf welchen Ton einer Trommel oder eines

Kupferkessels die Nerven dieses oder jenes

Kranken reagieren.

Auch die Naturvölker Asiens, Afrikas und

Australiens haben ihre alten klangthera-

peutischen Geheimnisse: So wird das Didgeri-

doo bei den australischen Ureinwohnern seit

Urzeiten für therapeutische Zwecke eingesetzt,

während die Musik der afrikanischen Kirdi den

Erntesegen fördert: Das Bergvolk im Norden

Kameruns pflegt heranwachsende Hirse-

pflanzen mit Flötenmusik zu begleiten. Bis zur

Ernte wird auf das Schlagen schwerer Trommeln

verzichtet, weil die Tamtam-Klänge den zarten

Hirsepflanzen Schaden zufügen könnten.

Klänge formen das Wasser:Wasserklangbilder des SchweizerFotografen Alexander Lauterwasser,fotografiert in runden und eckigenSchalen (von oben nach unten):Wasserbild entstanden bei einerTonfrequenz von 33,17 Hertz (1), beiDidgeridoo-Klängen (2), Saxophon-Musik von Jan Garbarek (3) undbei Sitarmusik von Ravi Shankar (4). Fo

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dies an etlichen Kindern erfahren. Dievon ihr praktizierte Horchtherapie nachDr. Alfred Tomatis schult das Ohr mitHilfe des Musikhörens. Dabei werdendie Mittelohrmuskeln so trainiert, dassdas Kind lernt, selektiv zu horchen undsich durch Störgeräusche nicht ablenkenzu lassen. Verena Eichenberger: «Nachzirka 60 Stunden Horchtherapie habendie meisten Kinder ihre Konzentrations-fähigkeit wesentlich verbessert.»

In englischen Pflegeheimen gehörtder «didge man» für autistische undschwerstbehinderte Kinder vielerortsdazu. «Der Klang des Didgeridoo», er-zählt der australische Therapeut GaryThomas, «hat eine unglaubliche Wirkungauf die Kinder. Sie tun oft plötzlichDinge, die ihre Pfleger nie zuvor beob-achtet haben. Kinder, die sonst nur

apathisch da sitzen, bewegen sich undreagieren auf den Klang.»

Abtauchen in die eigene Seele Die Anwendung von Musik im medi-zinischen Alltag geht in der Regel davonaus, dass eine bestimmte Musik auch eineklar abzuschätzende Wirkung auf denPatienten hat. Diese Ansicht teilt diepsychotherapeutisch orientierte Musik-therapie nur bedingt. Ihre Vertreter ver-ordnen Klänge nicht wie eine musikali-sche Hausapotheke nach dem Rezept«Vivaldi bei Depressionen, Haydn beiZwangsvorstellungen» usw., sondern ge-hen davon aus, dass Klänge und Musikauf jeden einzelnen Menschen indivi-duell wirken.

Das klingt logisch: Für meinen Onkelist die h-Moll-Messe von Bach eine musi-kalische Offenbarung, für meinen 15-jährigen Neffen ein Schlafmittel. MeineNichte fühlt sich durch Rockrhythmenangenehm stimuliert, meine Tante ent-

Genialer Forscher: Der Hals-Nasen-Ohren-Arzt Dr. Alfred Tomatis(1920–2001) entdeckte, dass Töne und Musik energetische«Lebensmittel» fürs Gehirn sind. Die von ihm entwickelte Horch-methode mit dem elektronischen Ohr wird bei einer Vielzahl vonBeschwerden erfolgreich eingesetzt, u.a. bei Hyperaktivität, Stot-tern, Konzentrationsproblemen und Gedächtnisschwäche.

Das Ohr: Tor zur Welt Bereits in der 8. Woche nach der Empfängnis

nimmt das äussere Ohr des Fötus Gestalt an.

Ab dem 4. bis 5. Monat nimmt es die «Körper-

musik» seiner Umgebung wahr: Das Brodeln

im Darm der Mutter, das Rauschen des

Blutflusses in den Gefässen, das Schlagen

des Herzens sowie Klänge, Geräusche und

Stimmen aus der Aussenwelt.

Hören ist ein hochdifferenzierter Vorgang, der

vereinfacht wie folgt abläuft: Die Schallwellen

treffen am Ende des Gehörgangs (1) aufs

Trommelfell (2) und versetzen dieses in

Schwingung. Dadurch geraten die mit dem

Trommelfell verwachsenen Gehörknöchelchen

Hammer (3), Amboss (4) und Steigbügel (5)

in Schwingung und leiten rund 60 Prozent der

Schallenergie weiter auf die Membran des

ovalen Fensters (6), das «Tor zum Innenohr».

Von hier aus laufen die Schallwellen weiter

entlang den Windungen der «Schnecke» (7),

in der die Hörsinneszellen (sog. Haarzellen)

sitzen. Diese nehmen die Schwingungen auf,

wandeln sie in bioelektrische Impulse um

und führen sie über 30 000 Nervenfasern zum

Hörnerv (8), der die akustischen Reize ans

Gehirn weiterleitet, das 1500 Tonhöhen-

unterschiede und über 300 Stärkestufen

unterscheiden kann.

Gemäss der dänischen Ärztin und Musik-

therapeutin Madelaine Calame hört das

linke Ohr «ganzheitlicher», aber langsamer.

Dagegen nimmt das rechte Ohr «analytischer»

und neurologisch rascher wahr, was mit der

Asymmetrie des menschlichen Nervensystems

zusammenhängt.

Der grösste Feind des Ohrs ist der Lärm.

Länger anhaltende Beschallung zwischen

65 und 90 Dezibel führt zur andauernden

Hörbeeinträchtigung. Allgemein gilt, dass der

Körper nach 60 Minuten Lärmeinwirkung

(über 60 Dezibel) rund 45 Minuten Erholung

braucht. Zum Vergleich: Ein startendes Düsen-

flugzeug erzeugt 145 Dezibel. Ein Schalldruck

von 155 Dezibel verbrennt die menschliche

Haut. Bei 185 Dezibel stirbt der Mensch.

Zahlen: Hans-Helmut Decker-Voigt, «Aus der Seele gespielt», Goldmann Taschenbuch 2000

Innenansicht des menschlichen Ohrs

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Musiktherapie GESUNDHEIT

nervt. Ein- und dieselbe Musik kannalso unterschiedliche Wirkungen erzie-len – entsprechend den individuellenVorlieben, Abneigungen und der Bio-grafie des Zuhörers.

Mit der Berücksichtigung dieser Er-kenntnis gibt die Musiktherapie demMenschen ein Werkzeug in die Hand,um hinabzutauchen in seine Seele. DerTherapeut begleitet den Patienten aufdiesem Weg, indem er mit ihm Musikhört, nach bestimmten Regeln musiziertoder den Patienten frei auf einem Instru-ment seiner Wahl improvisieren lässt.Das Hören und Spielen von Musik wecktErinnerungen, Assoziationen, Gefühleund Emotionen, die mit professionellerHilfe ausgelotet, besprochen und verar-beitet werden. Letzteres geschieht in derRegel im Rahmen eines bzw. mehrererGespräche. Es gibt aber auch Therapien,die das Gespräch nur am Rande nutzen –zum Beispiel die anthroposophischeMusiktherapie, die in der Schweiz amParacelsus-Spital in Richterswil sowie ander Ita-Wegmann-Klinik und der Lukas-Klinik in Arlesheim praktiziert wird.

Eine Therapie für CouragierteWie jeder Therapie geht auch der Musik-therapie eine Anamnese voraus. DerTherapeut fragt den Ratsuchenden nachseinen Lebensumständen und demGrund für seinen Besuch. Um demPatienten zu helfen, arbeiten mancheTherapeuten mit Musik, zu der sich derPatient hingezogen fühlt. In anderenFällen wird Musik eingesetzt, die demPatienten fremd ist oder sogar Abwehr-reflexe auslöst. Dass ein solcher Prozesskein Sonntagsausflug ist, bestätigt dieSchweizer Therapeutin Monika Renz:«Musiktherapie ist ein komplexes Unter-fangen. In ihrem Verlauf werden auchÄngste intensiv durchlebt – unter Um-ständen gerade bei den Klängen vonGong, Klangschale oder elektronischgenerierten Soundflächen.»

Das musikalische Abenteuer lohntsich, weil es dazu beitragen kann, vielfäl-tige Störungen und Beschwerden zu lin-dern und zu kurieren. So stellt zum Bei-spiel die Musiktherapeutin Johanna vonSchulz fest, dass Patienten mit Kontakt-schwierigkeiten durch «die intensiveKlangwirkung auf einem Weg tiefster Iso-lierung nach aussen, auf die Umwelt zu,

geführt werden». Und Monika Renz hatbeobachtet, dass sich die Energien ihrerPatienten neu konstellieren: «Übertrie-bene Abwehr verwandelt sich in Kraft,Wut findet Kanäle, um sich anders aus-zudrücken, Traurigkeit verwandelt sichin Sehnsucht.»

Wie viele ihrer Kollegen in der Schweizgehört Monika Renz dem Schweizeri-

schen Fachverband für Musiktherapiean. Der 1981 gegründete SFMT hat etwa120 ordentliche Mitglieder, die eine4-jährige, berufsbegleitende Ausbildungabsolviert haben und aktiv in der Musik-therapie tätig sind – überwiegend als Teil-zeitkraft in Spitälern und Kliniken. Dieallerwenigsten betreiben aber eine eigenePraxis.

Gegensätze: Die in Discotheken und Festhallen besonders beliebte «ergotrope» Musiksteigert Blutdruck, Puls und Anspannung (oben). Ganz anders die «trophotrope» Musik: Sie wirkt beruhigend, entspannend, blutdruck-und pulssenkend (unten).

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MusiktherapieGESUNDHEIT

Musik am Sterbebett Grundsätzlich unterscheidet man zwi-schen der aktiven Musiktherapie, bei derein Patient selber spielt bzw. frei improvi-siert, und der rezeptiven Musiktherapie,bei der Musik auf einem Instrument odervom Tonträger vorgespielt wird. Letzteregeniesst in der Sterbebegleitung einebesondere Bedeutung, wie Monika Renzerfahren hat. Als Leiterin der Psycho-onkologie am Kantonsspital St.Gallenbegleitete sie schwerkranke Patientenu. a. auf «Klangreisen», bei denen sieselbst Leier, Harfe und Monochordspielte. Sie durfte dabei erfahren, dassMusik Schmerzen lindert, die Gelöstheitfördert und das Einschlafen bzw. Los-lassen erleichtert. «Musik erreicht dasUnerreichbare im Menschen, das narzis-tisch Gehütete und Gefangene, dasDepressive und Abgespaltene», erklärtdie 42-Jährige. «Manchem Sterbendenvermittelt sie zudem eine tiefe, spirituelleErfahrung.» Was damit zusammenhän-gen mag, dass sich der Mensch in leidvol-len Grenzsituationen am stärksten überdas Ohr orientiert und dass der Gehör-sinn in der Regel als letzter der physi-schen Sinne erlischt.

Die Wirkung von Musikinstrumenten Musiktherapeuten verwenden eine Viel-zahl von Instrumenten. Bereits einedurchschnittlich grosse Praxis ist mitrund 60 Instrumenten ausgestattet, in dermusiktherapeutischen Abteilung einerKlinik kann diese Zahl rasch auf 100Klangwerkzeuge verschiedenster Gattun-gen ansteigen – inklusive Tasteninstru-mente (Klavier, Handorgel, Hackbrett),Perkussionsinstrumente (z.B. Trommel,Pauke, Schlagzeug), Streichinstrumente(Geige, Cello u.a.) und Blasinstrumente(Blockflöte, Panflöte usw.)

Viele Therapeutinnen und Therapeu-ten schreiben den verschiedenen Instru-menten unterschiedliche Heilwirkungenzu. So wirken laut Johanna von SchulzBlasinstrumente eher auf die Kopfregion,das Denken und die Wahrnehmung,Streich- und Zupfinstrumente mehr aufdie Körpermitte – Atmung, Kreislauf,Fühlen, Sensorik –, während Schlagwerkstärker in die Glieder geht, also das Wol-len und die Motorik beeinflusst.

Auch die anthroposophische Musik-therapie ordnet die Instrumente aufgrundihrer spezifischen, heilenden Wirkung

bestimmten Organen, Körperregionenund seelischen Leiden zu. Die anthropo-sophische Therapeutin Susanne Reinholdz. B. setzt Naturtonflöten bei bestimmtenAtembeschwerden ein, das Krummhornbei Depressionen und niedrigem Blut-druck, den gestrichenen Sopran-Psalterbei chronischen Entzündungen derNasennebenhöhlen und die Leier beiSchmerzzuständen und Verkrampfungen.

Zu den «Markenzeichen» anthro-posophischer Therapeuten gehört auch,dass sie den Einsatz von elektronischerMusik ablehnen, während E-Musik undMusikkonserven (z. B. Heavy metal,Punk, Hardrock usw.) andernorts ganzselbstverständlich zum Zug kommen,etwa in der Suchtarbeit mit Jugendlichen.Viele Musiktherapeuten arbeiten zudemmit Gesang – hier wird die Stimme desPatienten zum Instrument.

Ein esoterisches Tummelfeld Was klangtherapeutische Experimentebetrifft, geniessen esoterische Klangheilerdie grössten Freiräume. Da gibt es «ober-tonreiche Klangliegen und -wiegen»,«Klangstühle» und «Sound Tubes», diedarum wetteifern, den Klang möglichstdirekt und intensiv auf den Behandeltenwirken zu lassen. Und immer stärker

Obertöne, ein natürliches PhänomenStellen Sie sich vor, Sie schlagen auf einem

Klavier einen Ton an, zum Beispiel ein C.

Dieses C schwingt 262-mal in der Sekunde.

Auch wenn Sie nur diese eine Taste an-

schlagen, erklingen neben dem Grundton

viele weitere Töne – die so genannten Ober-

töne.

Obertöne sind wichtig für die Klangfarbe.

Sie färben die einzelnen Töne und verleihen

ihnen Eigenart. Dank den Obertönen können

wir eine Trompete von einem Klavier und ein

Klavier von einer Geige unterscheiden. Filtert

man die Obertöne im Tonstudio elektronisch

heraus, tönen alle Instrumente gleich, egal

ob Trompete, Klavier oder Geige.

Bei manchen Musikinstrumenten treten die

mitschwingenden Obertöne stärker hervor

als bei anderen, zum Beispiel beim Didgeri-

doo, beim Monochord und bei diversen

Obertonflöten (z.B. der slowakischen Fujara).

Auch die menschliche Stimme erzeugt bei

jedem Ton Obertöne, die der Stimme Indi-

vidualität verleihen. In den Steppen Zentral-

asiens nutzen Schamanen einen speziellen

Obertongesang, den mongolischen

«Choomii», seit alters für ihre Trancereisen

und Heilrituale. Choomii-Gesang, bei dem bis

zu 4 Obertonmelodien gleichzeitig erklingen,

gilt als heilig und heilend.

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kommt die Elektronik zum Zuge, etwabei den «Prima Sounds», die auf heiligeHarmonien alter Kulturen zurückgreifenund gezielt alle Chakras gleichzeitigansprechen sollen.

Da esoterisch orientierte Musikthera-peuten meist nicht nur den «Einklang»von Geist, Körper und Seele im Augehaben, sondern die Einbindung desMenschen in die Natur (den «Kosmos»),stossen wir in diesem Umfeld auf weitereForschungen und Theorien, zum Beispielauf hörbar gemachte «Schwingungen derHimmelskörper» (Urtöne nach Berendt),auf die «kosmische Oktave» (Cousto),auf Klangakupunktur sowie viele weitereKonzepte und Methoden.

Eins steht fest: «Die Musiktherapie»gibt es nicht. Zu gross ist die Zahl dermusiktherapeutischen Spielarten. Diesist aber kein Grund, sich verwirren zulassen. Dem Patienten eilt nämlich dergesunde Menschenverstand zu Hilfe:Weder das Hören einer CD noch dereinmalige Besuch eines Klangworkshopswerden seine gesundheitlichen oderpsychischen Beschwerden wegzaubern.Dagegen ist eine einfühlsame und pro-fessionelle Musiktherapie durchaus inder Lage, die inneren und äusseren Oh-ren für eine Fülle heilender Impulse zuöffnen. ■

Nützliche Adressen

Die meisten Krankenkassen zahlen Patientenmit einer Zusatzversicherung 10 bis 20 StundenMusiktherapie pro Jahr, wenn der behandelndeTherapeut Mitglied des EMR und des Schweizeri-schen Fachverbands ist.

• Schweizerischer Fachverband für Musik-therapie, Sternengasse 1, 4125 Riehen, Telefon 0041/61/6417970E-Mail: [email protected],www.musictherapy.ch (auf der Homepagebefindet sich eine Liste der SFMT-anerkanntenMusiktherapeuten)

• Anthroposophische Musiktherapie: – Orpheus Schule für Musiktherapie,

c/o Marlise Maurer, Ankerstr. 14, CH-3006 Bern, Telefon 031 352 41 79. Frau Maurer ist Musiktherapeutin und Präsi-dentin des Schweiz. Verbandes für Anthro-posophische Kunsttherapie SVAKT.

• Musiktherapie nach Dr. Alfred Tomatis: – Institut für Audio-Psycho-Phonologie,

Klosterstrasse 2a, 6300 Zug, Telefon 041 710 22 24, [email protected]

– Horchzentrum, Patricia Anklin, Hugistrasse 3,2502 Biel, Telefon 032 323 54 57, E-Mail: [email protected]

– Schweizerischer Berufsverband für Audio-Psycho-Phonologie. Postfach 847, 3000 Bern,E-Mail: [email protected], www.a-p-p.ch

• Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie, c/o Hannelore Allers, Libauer Strasse 17, D-10245 Berlin, Telefon 0049/30/29492493, E-Mail: [email protected], Homepage: www.musiktherapie.de

Buchempfehlungen:

• Hans-Helmut Decker-Voigt: Aus der Seelegespielt. Eine Einführung in die Musiktherapie.Mosaik Taschenbuch 2000.

• Hans-Helmut Decker-Voigt: Schulen der Musik-therapie, Ernst Reinhardt Verlag 2001.

• Fritz Hegi: Improvisation und Musiktherapie.Möglichkeiten und Wirkungen von freier Musik.Junfermann Paderborn 1986.

• Kate und Richard Mucci: Heilende Klänge –Die Kraft der Musik, Ennsthaler Verlag 2001.

• Monika Renz: Zwischen Urangst und Ur-vertrauen – Therapie früher Störungen überMusik-, Symbol- und spirituelle Erfahrungen,Junfermann Verlag 1996.

• Monika Renz: Grenzerfahrung Gott – SpirituelleErfahrungen in Leid und Krankheit, Herderspektrum 2003.

• Johanna von Schulz: Heilende Kräfte in derMusik, Drei Eichen Verlag 1981

• Aldridge, David: Musiktherapie in der Medizin,Verlag Hans Huber 1999.

• Kurt Pahlen (Hrsg.): Musiktherapie – Behand-lung und Heilung seelischer Störungen durchMusik, Heyne 1973.

• Paul Madaule: Die Kunst zu hören. Pendo Verlag 2002.

Klänge in Grenzsituationen: Die Musiktherapeutin Monika Renz begleitet Schwerkranke und Sterbende auf einem Monochord.

Wann kann Musiktherapiehelfen?– Musiktherapie wird erfolgreich eingesetzt

bei: – Schlaf- und Einschlafstörungen – Suchtproblemen– Konzentrationsschwierigkeiten– Hyperaktivität – Kontaktproblemen, Beziehungskrisen und

sozialen Störungen – Sprachstörungen (z.B. Stottern, Lese- und

Rechtschreibestörungen) – Aggressionen– Ängsten und Depressionen – Verarbeiten von Verletzungen und

Kränkungen– Zur Linderung von chronischen Schmerzen

und in der Anästhesie– Als Begleittherapie bei verschiedenen

Nervenkrankheiten– In der Sterbebegleitung– Autismus – Rehabilitation von Herzinfarkt- und

Schlaganfallpatienten– Als physisches und psychisches

Entspannungsmittel– Zur Unterstützung anderer Therapien.

Die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.