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Mary Bruce Schwimmen in Villa Hügel

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To the Father of Hannah

Für Hannahs Vater

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Mary Bruce

Schwimmen in Villa HügelEin amerikanisches Mädchen

im Nachkriegsdeutschland

Aus dem Englischen von Sascha Pflüger

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Titelabbildung: Mary Bruce und ihr Vater

Autorin und Verlag danken dem Monmouth College und der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung

für die Unterstützung bei der Drucklegung.

1. Auflage November 2013

Satz und Gestaltung: Klartext Medienwerkstatt GmbH, Essen

Umschlaggestaltung: Volker Pecher, Essen

Druck und Bindung: Drukkerij Wilco BV., Amersfoort (NL)

ISBN 978-3-8375-0958-8 Alle Rechte vorbehalten

© Klartext Verlag, Essen 2013

www.klartext-verlag.de

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Inhalt

Von Georgia nach Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Der erste Winter und Heinz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

Vertrauliche Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

Ärger mit Sauerbraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

Bildteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

Irmgard, die Villa Hügel und ein Balg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

Dr. Korts Säbel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

Schulverweis von der Calvert-Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

Britische Schulabenteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

Argentinien und die Abwesenheit wahrer Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

Villa Hügel und die feinen Künste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

Ein Frosch-Omen und irische Wichtel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

Krystal-klar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

Ein Trichter in die Traurigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

Die Überfahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

Thomas Dupke Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

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Ich möchte

Volker Troche, Berthold Beitz, Dirk Aschendorf, Karl und Renate Linder, Anna Froemgen,

dem Deutsch-Amerikanischen Freundeskreis Niederrhein e. V., Professor William Urban am Monmouth College

und dem Monmouth College

danken für all die Hilfe bei der Realisation dieses Buches.

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Kapitel 1 Von Georgia nach Deutschland

Von Georgia nach Deutschland

Als der Bus das zweite Mal anhielt, pflückte ich ein paar Gänseblümchen, die ich auf einem verlassenen Grundstück entdeckte. Wieder zurück im Bus, sang ich: »Wir gehen nach Deutschland, wir gehen nicht. Wir gehen nach Deutschland, wir gehen nicht«. Dazu ließ ich jedes Mal ein Blütenblatt aus dem Busfenster fallen. Falls Daddy den Job bekäme, würde Mommy sich keine Sorgen mehr machen und Daddy würde wieder anfangen zu essen. Davon war ich überzeugt, da sich die Sorgenfalten auf Mommys Gesicht jedes Mal glätteten, wenn sie »diese Arbeitsstelle in Deutschland« erwähnte. Ich wünschte mir diese Arbeits-stelle für meinen Daddy so sehr, dass ich die Angewohnheit entwickelte, kleine Blütenblätter von den Gänseblümchen zu zupfen und dazu »Wir gehen nach Deutschland, wir gehen nicht« zu singen, um nachzuhelfen.

Um zu meiner Schule zu gelangen, musste ich fünf Häuserblocks laufen und einen Bus nehmen, der mich zu einem anderen Bus brachte. Beim zweiten Bus musste ich dann einen pinkfarbenen Zettel, meinen »Transferschein«, vorzeigen, um endlich zur Schule zu kom-men. Da ich in Washington laut meinem Lehrer wohl auf einer schlechten Schule gewesen war und seiner Meinung nach rein gar nichts gelernt hatte, war ich in Atlanta nur »fast auf dem Niveau einer Viertklässlerin«. Daddy hatte immer noch keine Arbeit in Atlanta und bis heute weiß ich nicht, warum wir damals umgezogen sind.1 Ich weiß nur, dass mich der Duft der rosafarbenen und weißen Hartriegelsträucher und der Gräser aufheiterte.

Die Schule lag ein Stück entfernt, da wir in Decatur,2 am Ponce-de-Leon Boulevard, wohnten. »Boulevard« bezeichnete hier eine Straße mit einem breiten, grasüberwachsenen Mittelstreifen. Auf der anderen Seite des Boulevards lebten Kinder, die so reich waren, dass sie sogar einen Fernseher zu Hause hatten. Ich stellte mir manchmal vor, auf Black Beauty über den Grünstreifen in der Mitte zu galoppieren. Das brachte mich ihnen wenigstens in meiner Vorstellung näher, weil sie auch Pferde hatten.

Das Leben in Decatur war besser als in Washington, weil wir dort in einem winzigen und schmutzigen Apartment wohnen mussten. Hier hingegen teilten wir uns ein großes Haus mit einer anderen Familie, bestehend aus Mamie und Albert und deren erwachsenen Kindern Pat und Bill. Genau wie Daddy schlief auch Mamie fast jede Nacht mit dem Kopf auf dem Küchentisch ein. Der Unterschied war, dass das bei ihr wenigstens erst nach dem Abendessen geschah, nicht wie bei Daddy noch vor dem Abendessen. Manchmal stolperte er die Treppe zum Schlafzimmer sogar noch vor mir hoch.

Mommy kochte abends immer, weil sie hoffte, dass Daddy vor dem Zubettgehen noch eine »Erfrischung« zu sich nehmen, ihr Essen verspeisen und sie anschließend dafür loben würde. »Dein Vater ist etwas Besonderes, er ist so brillant und einfühlsam«, sagte sie mir oft. »Kein Wunder, dass seine Kollegen eifersüchtig werden, wenn sie hören, dass er noch nicht mal zwanzig war, als er seinen Abschluss in Rechtswissenschaften in Harvard machte. Eine

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8 Kapitel 1

gute Mahlzeit wird ihn entspannen und ihm neuen Schwung bei seiner Suche nach Arbeit geben.« Dann fing sie an zu kochen. »Das ist das Mindeste, was ich tun kann«, sagte sie. Ihre Hoffnung, dass er mit uns zu Abend essen und ihre Kochkünste loben würde, erfüllte sich jedoch nicht. Als Daddy schließlich die Arbeitsstelle bekam, lachte Mommy überglücklich und nahm mich in den Arm.

Daddys neuer Job hatte mit dem Krieg zu tun. Damals hatte ich viel von Hitler, den Nazis und den »Japsen«3 im Radio und den Wochenschauen im Kino gehört, doch im Grunde bedeutete Krieg für mich nur Sirenengeheul und dass Mommy jedes Mal die Rollläden herunter ließ, wenn jemand »Verdunkelung« rief.4 Krieg bedeutete auch Rationierung, was für Mommy zur Folge hatte, dass sie statt Nylonstrümpfen Strümpfe aus Kunstseide tra-gen musste5 und dass man statt Butter nur weiße Margarineklumpen mit einem winzigen gelben Klecks in der Mitte kaufen konnte. Es machte mir Spaß, den gelben Klecks so lange zu zerdrücken, bis der ganze Margarineklumpen die gelbe Butterfarbe angenommen hatte.

Aber der Krieg hatte doch schon vor langem aufgehört, damals, als ich erst fünf war. Mein Daddy sollte irgendetwas mit Krupp anstellen, wer oder was immer das auch war. Eines Nachmittags kam ich gerade vom Spielen zurück, als ich meine Eltern im Wohnzimmer reden hörte. Normalerweise war Mommy in der Küche mit Kochen beschäftigt. Ich ging ins Wohnzimmer und setzte mich sogar unerlaubterweise auf Tante Natalies Schemel, nur um beiden nah zu sein.

»Die Briten haben bei der Entnazifizierung schon gute Fortschritte erzielt. Wir würden sie natürlich etwas anders angehen.«6 Daddy wedelte mit den Händen. Der Diamantring an seiner linken Hand glitzerte in der Nachmittagssonne, die durch das Fenster herein schien. »Davon abgesehen wäre jetzt ein guter Augenblick, um dorthin zu ziehen. Alfried ist im Gefängnis, und der alte Mann ist gerade erst im Januar gestorben. Das macht es leichter, an Informationen zu kommen.«

»Welcher alte Mann?« Mommy rührte ihren Drink mit dem Finger um, was sie mir nie erlaubt hätte. »Gustav Krupp natürlich. Ich bin überrascht, dass du das nicht weißt.«7 Er zog seine Augenbrauen etwas nach oben. »Der alte Gustav wurde in der Gegend sehr respektiert, er hat sich um die Menschen gekümmert. Die Familie Krupp hat eine lange Tradition, man könnte sie eigentlich eine Dynastie nennen.«8 Er hielt ihr sein leeres Glas hin. »Da sie aus dem Weg sind, wird uns die Entnazifizierung in Zukunft leichter fallen.« Sie ging zur Bar, die etliche Whiskeyflaschen und einen Eiskübel enthielt, um sein Glas nachzufüllen. »Frances, du solltest dich bei diesen Themen wirklich mal auf den neuesten Stand bringen.«

Mir kam es komisch vor, eine Reise zu planen, weil jemand gestorben war, doch sagte ich das nicht. Sie würden mich sonst vielleicht ins Bett schicken, vor allem da ich verbo-tenerweise auf Tante Natalies Schemel saß. Stattdessen fragte ich: »Warum ist der eine im Gefängnis? Hat er jemanden erschossen?«

Darüber mussten beide lachen. »So könnte man sagen«, sagte Daddy. »Alfried hat für die Nazis Waffen und Munition hergestellt.« Die Nazis waren böse Menschen, soviel wusste ich. »Also deswegen sitzt er im Gefängnis.«

Daddy schaute auf mich herunter, aber er bemerkte nicht, dass ich auf dem Schemel saß. »Im Grunde genommen ja, Mary Hanford, aber es gibt noch andere Gründe.« Dann begann er von den Russen, dem Ruhrgebiet und anderen Dingen zu reden. Ich hörte zu, bis

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9Von Georgia nach Deutschland

ich vor lauter Müdigkeit vom Schemel fiel. »Ab ins Bett, Mary Hanford!«, trällerte Mommy mir zu. Als ich ging, hatte Daddy erst drei Drinks zu sich genommen, und der Eiskübel war noch nicht leer.

Vor unserem Wegzug aus Georgia veranstalteten drei meiner reicheren Freunde, näm-lich Carrie, Sara und Bob, eine Abschiedsparty für mich. Ich hatte vorher noch nie von Abschiedspartys gehört und dachte, Menschen verschwinden einfach so, ohne Feier. Die Party fand im Garten neben einem Picknick-Tisch statt. Der Tisch war mit pinkfarbenem Papier bedeckt. Darauf standen große Krüge mit Limonade. Carries Mutter servierte uns Vanilleeis mit kleinen Schokoladenküchlein und als es dämmerte, gab sie uns kleine Ein-machgläser mit Löchern in den Deckeln, damit wir Glühwürmchen fangen konnten. Wäh-rend wir auf der Jagd waren, kam Carries Vater nach Hause. Beide Eltern setzten sich auf die Gartenstühle, rauchten Zigaretten und genehmigten sich ein paar »Erfrischungen«. Carries Vater fragte mich, worin denn die Aufgaben meines Vaters in Deutschland bestehen würden.

»Nun, Daddy ist Anwalt, also wird er sich mit Anwaltsdingen beschäftigen.«»Wirklich?«, fragte Carries Vater und drückte seine Zigarette im leeren Glas aus.»Ja. Er wird wahrscheinlich dafür sorgen, dass die Deutschen vor Gericht gestellt werden,

Handschellen tragen und für ihre Verbrechen bezahlen müssen.« Vor meinem inneren Auge erschienen riesenhafte Bestien, die ihre Hosentaschen nach außen kehrten, damit Daddy die Scheine und Münzen einsammeln konnte.

»Ist das so?« Er hatte ein tiefes Lachen, als käme es vom Grunde eines Brunnens.»Hm, ehrlich gesagt weiß ich es nicht.«»Er wird wahrscheinlich in Frankfurt für die Alliierte Hohe Kommission arbeiten«, sagte

er und ließ seinen Blick gedankenverloren über den Rasen schweifen.Ich hatte keine Ahnung, was hinter der Alliierten Hohen Kommission9 steckte oder ob

Frankfurt und Essen Städte waren. Trotzdem klangen diese Namen beeindruckend, also sagte ich »Klar«.

»Also, dann sag’ mal …«Carries Mutter unterbrach ihn: »Oh, lass doch das Kind in Ruhe! In der Zeitung steht

alles, was du wissen willst.«In diesem Moment kam Carrie zu uns gerannt. Ihr Glühwürmchenglas leuchtete in der

Abenddämmerung. Sie sang: »Es ist Howdy-Doody-Zeit, Howdy-Doody-Zeit. Komm mit rein, sonst verpassen wir die Sendung. Kennst du die Sendung Howdy Doody?«10

»Nein, wir haben keinen Fernseher.« Da auf einmal alle nach drinnen rannten, schloss ich mich ihnen an, um fernzusehen.

Nachdem die Sendung »Howdy Doody« vorbei war, verteilte Carries Mutter Geschenke. Ich bekam ein kleines Spielzeugboot. Während ich über den Ponce-de-Leon Boulevard nach Hause galoppierte, dachte ich über das Fest nach, das man für mich, ein Mädchen, veranstal-tet hatte, das nicht einmal ein ganzes Haus sein Heim nennen konnte. Es sah so aus, als hielte man uns auf einmal für etwas Besonderes, bloß weil wir nach Deutschland zogen. Zuerst waren wir niemand, und jetzt konnte man vielleicht bald etwas über uns in der Zeitung lesen. Auf Tante Natalies Schemel lernte ich, dass Krupp ein Familienname war, dass ein alter Mann tot war und dass ein Kind im Gefängnis saß, weil es jemanden erschossen hatte. Auf dem Nachhauseweg beschäftigte mich die Frage, ob ich Carries Dad etwas Besseres hätte

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10 Kapitel 1

antworten können, doch der Duft der Hartriegelsträucher und die Strahlen der Abendsonne sorgten schnell dafür, dass ich mir keine Gedanken mehr machte.

Am nächsten Morgen saß Daddy in seinem blauen Sessel und las die New York Times,11 während er eine Chesterfield-Zigarette rauchte.12

»Hallo Daddy«, sagte ich.Er nahm seine Zeitung herunter. »Also Mary Hanford, was hast du auf dem Herzen?«

Vorsichtig legte er seine Zigarette auf den Rand des runden Bronze-Aschenbechers neben ihm.

»Wie sieht deine Arbeit in Deutschland aus? Was tust du da?«, fragte ich.»Hmm.« Er legte seine New York Times auf den Beistelltisch neben den Aschenbecher,

ohne sie zusammenzulegen. »Du weißt, dass wir mit Deutschland einen schlimmen Krieg hatten?«

»Ja, und wir haben gewonnen.« Ich konnte mich noch gut an den »Tag des Sieges« erinnern.13 Damals kamen alle Nachbarn glücklich aus ihren Häusern gelaufen. Manche umarmten sich, manche weinten. Jeder sagte, dass Amerika das stärkste und beste Land der Welt sei und ich war sehr froh, ein Teil davon zu sein.

»Nun ja, das stimmt. Jetzt müssen wir dafür sorgen dass so ein Krieg nicht noch einmal ausbricht.« Daddy lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander. Unter seinem braunen Morgenmantel kam ein blau gestreiftes Pyjamahosenbein mit Ziga-rettenbrandloch zum Vorschein.

»Zwei Wochen, bevor du geboren wurdest, nämlich am 5.  Juni, teilten die Alliierten Deutschland unter sich auf.«14

»Was sind Alliierte?«»Das sind wir. Die, die gekämpft und gewonnen haben.«»Du meinst so was wie Freunde, Menschen, die auf deiner Seite stehen?«»Genau. Also diese Freunde haben Deutschland aufgeteilt. Es besteht nun aus einem

amerikanischen, einem britischen, einem französischen und einem russischen Teil. Jedes Land arbeitet gerade daran, seinen Teil Deutschlands wieder aufzubauen, damit kein neuer Krieg ausbricht. In Deutschland gibt es eine reiche Familie namens Krupp, mit der wir uns befassen müssen, und noch mit ein paar weiteren Problemen. Und genau dabei will ich helfen.«

Also hatte man Deutschland zerteilt, so wie man einen Kuchen in Stücke aufteilt. Ich fragte ihn, ob denn alle Stücke gleich wären, und falls nicht, ob manche nicht neidisch wer-den und sich wie Kinder um das größte Stück zanken würden.

»Vielleicht, Mary Hanford, vielleicht.« Er zog an seinem Kinn. »Solche Streits hatten wir bereits, zum Beispiel mit den Russen und manchen Franzosen. Es gibt da etwas, das nennt sich Marshall-Plan. Damit hoffen wir, alle zur Zusammenarbeit zu bewegen und Deutsch-land wieder aufzubauen.«15

»Warum sollten Marshmallows helfen? Da bräuchte man eine ganze Menge davon.«Sein gellendes Lachen überraschte mich. »Nein, nein. Es heißt Marshall, wie Mar-schall.

Es ist nach dem Mann benannt, der den Plan entworfen hat. Der Marshall-Plan sieht vor, dass die Alliierten, hauptsächlich wir, die USA, Deutschland wieder aufbauen.«

»Warum habt ihr es dann überhaupt zerstört?«

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11Von Georgia nach Deutschland

»Wir hatten keine Wahl, die Nazis waren sehr böse Menschen. Sie mussten aufgehalten werden.«

»Warum es dann wieder aufbauen?«»Damit die Deutschen unsere Freunde werden und nicht Feinde bleiben.«»Das verstehe ich, aber wenn man es wieder aufbaut, kann es dann nicht wieder anfan-

gen, Ärger zu machen?«»Die Russen dachten wohl genau das gleiche, da sie nicht mitmachen wollten. Sie haben

ihren Teil abgeriegelt und Deutschland damit in einen Ost- und einen West-Teil gespalten. Wir haben immer noch eine Vertretung in West-Berlin, aber vom Ostteil sind wir abge-schnitten.«

Er schien den Faden verloren zu haben.»Aber warum es dann wieder aufbauen?«Daddy sprach jetzt sehr schnell. »Natürlich müssen wir sicherstellen, dass die bösen

Menschen, die den Krieg angefangen haben, dort nicht mehr an die Macht kommen. Jegliche Vermögenswerte, die sie noch besitzen, müssen konfisziert werden, und das gehört dort zu meinen Aufgaben.«

Ich konnte weder mit dem Begriff »Vermögenswerte« noch mit »Konfiszieren« etwas anfangen, doch begriff ich, worauf er hinaus wollte. »Also werden die bösen Menschen aufgehalten, obwohl ihr alles wieder aufbaut?«

Er nickte. »Natürlich hängt es davon ab, wie das jedes Land bewerkstelligen will.«»Ich dachte, es geht um Deutschland?«Daddy kicherte. »Ich meine doch die Teile, die den anderen Ländern gehören.« Er drückte

seine Zigarette aus, die in den Aschenbecher gefallen war. »Also begreifst du es jetzt?«»Ja«, sagte ich, doch das tat ich nicht. Deutschland war ein eigenes Land, das wegen

Russland eigentlich aus zwei Ländern bestand, und dennoch gehörte es anderen Ländern? In diesem Fall wäre es nicht mehr Deutschland, weder als ganzes noch als geteiltes Land. Viel-leicht konnte man es sich auch wie ineinander verschachtelte Kartons vorstellen: Deutsch-land innerhalb eines Kartons der USA und gleichzeitig innerhalb eines Kartons der Englän-der? Das konnte einem Kopfzerbrechen bereiten. Die Situation ähnelte unter Umständen auch einem sogenannten »Schatzball« aus Krepppapier.16 Wenn man einen Schatzball aus Krepppapier auswickelte, kamen nach und nach, Schicht für Schicht, andere Geschenke zum Vorschein. In diesem Fall käme vielleicht zuerst England, dann Russland und dann Amerika. Und schließlich, wenn das ganze Krepppapier einmal abgewickelt war, würde am Ende Deutschland kommen.

Aber nichts davon spielte eine große Rolle für mich, denn das einzige, was für mich zählte, war, dass Mommy wieder glücklich war. Ich wusste, dass alles gut werden würde, als ich sie mit einem neuen, roten, silbern umrandeten Hut mit herunterhängender Quaste sah. Und mein Gefühl hatte mich nicht getäuscht. Als Daddy nach Washington ging, um sich mehr Informationen über seine Arbeit in Deutschland zu holen, gingen Mommy (natürlich mit ihrem roten Hut) und ich »Hausbesuche« machen. Wenn jemand nicht zu Hause war, hinterließen wir kleine weiße Kärtchen mit ihrem Namen darauf. Oft bat man uns herein, um eine Tasse Tee zu trinken. Während ich in meinem gestärkten Kleid still dasaß, würde Mommy sagen: »Frank wird mit seinem juristischen Fachwissen den Alliierten gute Dienste

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12 Kapitel 1

leisten. Es war auch höchste Zeit, dass endlich mal jemand auf ihn aufmerksam wurde.« Bei diesem Satz spreizte sie ihren kleinen Finger von der Teetasse ab.

Ein Abflug mit SeesternenDie Sitze im Flugzeug erinnerten mich an Sitze in einem Kino, nur waren es hier weniger. Wir saßen ziemlich weit vorne. Auf den zwei Sitzen uns gegenüber saßen zwei Männer. Einer trug einen Trenchcoat und der andere wirkte sehr müde. Mommy flüsterte mir zu, dass der müde Mann »abgeschoben« wurde. Da er etwas Schlechtes getan hatte, wurde er jetzt aus den USA hinausgeworfen.

»Was hat er denn Schlechtes getan?«, fragte ich Mommy.Sie sagte nur: »Pst, er kann dich sonst noch hören!«Heutzutage hört man in den Medien viel von Terroristen und Booten voller illegaler

Einwanderer, die zurückgeschickt werden, aber damals wurden solche Sachen vertraulicher behandelt. Damals fragte ich mich, was der Abgeschobene denn verbrochen haben konnte. Ein Spion konnte er nicht sein, denn der Krieg war ja schließlich vorbei. Also vermutete ich, dass er ein Einbrecher war, der Juwelen oder Whiskey gestohlen oder ein Kind beim Schlafen beobachtet hatte.

Ich hatte damals keine Vorstellung davon, was hinter dem Begriff Kriegsverbrecher steckte, und der breiten Öffentlichkeit ging es genauso. Viele Dinge waren damals nicht publik gemacht worden. So z. B. die »Operation Keelhaul«. Dieses Abkommen sah u. a. vor, dass die Briten und Amerikaner Gefangene russischer Abstammung, die für die Deutschen gekämpft hatten, den Sowjets übergaben.17 Andere Geheimnisse waren z. B. die UKUSA-Vereinbarung über die Zusammenarbeit der Geheimdienste18 oder die Massenvergewalti-gung japanischer Frauen durch GI’s auf Okinawa.19 Solche Dinge wurden unter den Teppich gekehrt und man durfte nicht darüber reden, so wie Mommy es mir gerade verboten hatte.

Aber ich hatte genug über den Krieg und seine chaotischen Nachwirkungen aufge-schnappt, um zu befürchten, dass in Deutschland alles völlig anders wäre, sogar Weihnach-ten. Es konnte dort bestimmt noch ein paar Nazis geben.

»Traut sich der Weihnachtsmann mit seinen Rentieren überhaupt nach Deutschland rein, um den Kindern Geschenke zu bringen?«

Mommy nickte mir mit ihrem typischen »Das kriegen wir hin«-Lächeln zu, und ich fühlte mich besser. Schließlich hatte unser Flugzeug einen Stern auf der Seite, und wir, Ange-hörige der Siegermacht, waren auf dem Weg, um mit den »verfluchten Krauts« abzurechnen. Daddy sollte den Alliierten helfen, Krupp zu liquidieren, was immer das auch bedeutete, denn wie konnte man einen Namen liquidieren? Die Soldaten an Bord scherzten darüber, wie sie die Nazis so richtig fertig gemacht hatten. Diese Amerikaner waren für mich Super-männer, die die Menschen vor den Nazis gerettet hatten, und Nazi war für mich ein Syno-nym für Deutscher, also ein wirklich böser Mensch. Die Deutschen waren wilde Bestien, so wie feuerspeiende Drachen.

Ich wusste damals noch nicht, dass der Begriff Nazis nur die Anhänger der Partei bezeichnete, die in Deutschland während des Kriegs an der Macht war, und nicht die Nati-onalität. Den Unterschied kannte ich nicht, genauso wenig wie die meisten meiner Lands-

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13Von Georgia nach Deutschland

leute. Ich wusste nur, dass die Deutschen groß, blond und manchmal spießig waren. Ich hatte Aufnahmen von ihnen in den Wochenschauen gesehen. Sie liefen, nachdem die Orgel zu Ende gespielt hatte, aber noch vor dem Hauptfilm. Vermutlich zeigte man die Nazis in den Wochenschauen nicht so, wie sie wirklich waren. Ich stellte sie mir schlimmer vor, mit Adleraugen und Klauen anstatt Händen, so wie der ägyptische Gott Osiris welche hatte. Viel-leicht waren sie auch wie diese hünenhaften Nordmänner, die in England eingefallen waren und dort wertvolle Manuskripte vernichtet hatten. Davon hatte ich Bilder im Kunstunter-richt gesehen. Wie konnte sich der Weihnachtsmann in solch gefährliches Gebiet wagen? Davon abgesehen, fragte ich mich, ob es den Weihnachtsmann überhaupt gab. Ich hatte schon gehört, dass es ihn gar nicht gibt, aber dass die Eltern wollten, dass man an ihn glaubt. Also spielte ich mit.

Mein Gedankengang wurde durch ein plötzliches Absacken des Flugzeugs unterbro-chen. Der Pilot zog das Flugzeug hoch, aber dann ging das Flugzeug kurzzeitig in einen Sturzflug über. Mommy wurde etwas nervös und überprüfte meinen Sicherheitsgurt. Ein Mann sagte uns, dass ein Triebwerk ausgefallen war. Wir sollten uns aber keine Sorgen machen, da wir noch ein paar andere hätten. Ich machte mir auch keine Sorgen, aber durch das Auf und Ab des Flugzeugs wurde mir schlecht. Zu den Kapriolen des Flugzeugs kamen dank mir jetzt noch ein übler Geruch und eine Sauerei hinzu. Das Auf und Ab ging solange weiter, bis wir in einen richtigen Sinkflug übergingen und hart auf einer Landebahn auf-setzten.

Als die Maschine zum Stehen gekommen war, löste der Mann im Trenchcoat den Sicher-heitsgurt des Abgeschobenen. Sie verließen das Flugzeug als erste. Nachdem sie fort waren, erzählte uns der Mann, der uns das mit der defekten Turbine erzählt hatte, dass das Flugzeug hier an diesem Ort repariert werden würde.

»Sind wir jetzt in Deutschland?«, fragte ich Mommy.»Nein«, sagte Daddy. »Wir sind auf den Azoren, das sind Inseln, die zu Portugal gehö-

ren.«Am Flughafen gab es ein kleines Restaurant mit sehr wenigen Tischen und Stühlen, und

davon waren manche sogar kaputt. Da keine Gäste da waren, standen die Kellner nur herum. Wir gingen trotzdem hinein, da Daddy sagte, die Reparaturen würden eine Weile dauern. Davon abgesehen war der Abgeschobene wohl geflohen, und es würde eine Weile dauern, bis man ihn wieder eingefangen hat. Am schlimmsten war es auf den Toiletten. Fliegen summten dort herum, es lag Kot neben den Toiletten und die Klobrillen und der Fußboden waren schmutzig. Ich wollte dort nicht aufs Klo gehen, doch Mommy sagte, es gebe keine anderen Toiletten. Also verkniff ich es mir, so lange ich konnte. Letztendlich hielt ich es nicht mehr aus und ich benutzte eines der Klos. Ich fing an zu weinen, denn ich war sicher, dass ein paar Käfer in meine Hose gekrabbelt waren. Sogar nachdem Mommy geschaut und mir versichert hatte, dass keine Käfer in meiner Hose waren, weinte ich weiter. Um mich zu beruhigen, gab sie mir ein bisschen Geld, damit ich mir im Souvenirladen etwas kaufen konnte. Sie hoffte, ich würde mich dadurch besser fühlen.

In der Auslage lag eine goldene Anstecknadel, die eine Verzierung in Form eines blauen Seesterns (oder Gänseblümchens?) hatte. Sie gefiel mir am besten. Ich meine, es war ein Gänseblümchen, denn die Enden waren abgerundet. Nach dem Kauf fühlte ich mich aber

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Page 15: 0958-8 Bruce Schwimmen-in-Villa-Huegel final...Mary Bruce Schwimmen in Villa Hügel Ein amerikanisches Mädchen im Nachkriegsdeutschland Aus dem Englischen von Sascha Pflüger 0958-8_Bruce_Schwimmen-in-Villa-Huegel___final.indd

14 Kapitel 1

auch nicht besser. Da Mommy fälschlicherweise dachte, diese Anstecknadel würde mir hel-fen, konnte sie ihr vielleicht helfen, also gab ich sie ihr.

Als wir zurück zum Flugzeug gingen, war der Abgeschobene auch wieder da, und zwar in Handschellen und mit einem sehr traurigen Gesicht. Er tat mir leid. Ich schlief, bis mich ein weiteres heftiges Aufsetzen auf einer Landebahn aufweckte. »Mir ist eine harte Lan-dung immer noch lieber als ein Bauchplatscher auf dem Wasser«, grinste Daddy. Er schaute Mommy an, so als wollte er eine Bestätigung für seinen Witz. Mommy brachte nur ein gequältes Lachen zustande. Erst nach seinem Witz wurde mir bewusst, dass wir auch hät-ten abstürzen können. Ich bekam eine Gänsehaut und fragte mich, ob unser Aufenthalt in Deutschland auch in einer Bruchlandung enden könnte. Aber da wir noch am Leben waren, dachte ich bald nicht mehr darüber nach.

Dieter und die KirschenSpäter schaute ich aus dem Fenster des Wagens, mit dem man uns am Frankfurter Flughafen abgeholt hatte. Ich wollte mir diese berüchtigten »deutschen Bestien« etwas genauer anse-hen. Damals hatte ich mir die Deutschen als Mischwesen vorgestellt, halb Mensch, halb Tier, so wie Werwölfe.20 Daddy sagte, ihre Anführer waren »kaltblütige Arier«, was sich irgendwie nach Reptilien anhörte.21 Die Soldaten im Flugzeug nannten sie »Krauts« oder »Hunnen«.22 Dabei lachten sie entweder oder regten sich über sie auf. Ich hatte schon etwas über die Hunnen gelesen, vor allem über Attila den Hunnenkönig. Also waren die Nazis sicherlich wie sie gewesen, nämlich wilde Bestien.

Doch sahen die Deutschen auf den Straßen nicht wie Ungeheuer aus, und ich sah auch keine Klauen an ihren Händen. Stattdessen waren sie bleich und sprachen eine mir fremde Sprache. Es war nicht Französisch, die einzige Fremdsprache, die ich kannte. Sie trugen dunkle Kleidung und hielten ihre Köpfe beim Gehen gesenkt. Ein paar fuhren auf Fahrrä-dern, doch die meisten liefen mit einer etwas gebückten Haltung durch die Gegend. Obwohl es draußen kalt war, trugen manche keine Hüte. Vielleicht sahen sie so nach unten, um nicht über die Trümmer der Gebäude zu stolpern. Überall lagen große Brocken, mittelgroße Steine oder kleine Trümmerstücke, entweder einzeln oder zu großen Haufen aufgetürmt. Es sah so aus, als hätten gewaltige Riesen hier gewütet, die Kirchtürme zerschmettert und die Dächer von den Häusern geschlagen hatten. Mich hätte es nicht überrascht, wenn ich hier ein paar der verwunschenen Bäume aus dem Disney-Film »Schneewittchen« gesehen hätte, die nach den Menschen griffen und mit ihren Wurzeln die Passanten festhielten.23 Es hätte gut zu der Atmosphäre in Frankfurt gepasst.

Wir hielten neben einem Gebäude, das wie eine große Schachtel meiner gesalzenen Lieblings-Cracker aussah. Doch anstatt weiß mit lustigen roten Buchstaben darauf war das Gebäude grau. Ein weißes Schild mit der Aufschrift »I. G. Farben« war an der Außenseite angebracht.24 Im Inneren trugen Menschen eilig Papiere und Dokumente hin und her. Die Büroräume sahen aus wie die Büros von Schulleitern, nur kleiner. Hier gab es keinen Platz für Sekretärinnen oder Vizerektoren.

Anschließend fuhren wir weiter zu einem Hotel. Die Deutschen dort waren zuvorkom-mend und lächelten wie ein Doktor, der einem gleich eine Spritze geben würde. Ein großer,

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