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1 „Mit Handbuchwissen wäre Adriennes Theologie nicht aufzufangen gewesen“ Hans Urs von Balthasar und Adrienne von Speyr Thomas Krenski 1 Die Leidenschaft, mit der ich das Erhaltene weitervermittle 1.1 Adrienne von Speyrs Bücher auf sich beruhen lassen? Wir wären mit unserem Thema unversehens zu Ende, bevor wir begonnen hätten, wenn wir Ihrer Empfehlung, Pater Löser, folgten und „gegen Balthasars eigenen Rat (...) [Adrienne von Speyrs] Bücher auf sich beruhen ließen“, um uns ausschließlich“ mit seinen eigenen zu befassen.“ 1 Ich hoffe Sie gestatten uns, Ihrer Empfehlung vorerst nicht zu folgen, Ihre Äußerung aber doch insofern ernst zu nehmen, als sie die Irritation wiedergibt, die sich angesichts des „Phänomens Adrienne von Speyr“ unter jenen Theologen breit machte, die Balthasars Werke seit Mitte/Ende der 70er Jahre in ihren Vorlesungen und Seminaren erwähnten und universitär salonfähig zu machen versuchten 2 . Fragt man nach den Motiven dieser Irritation, so scheidet im Blick auf die angesprochene Theologengeneration von vornherein aus, dass sie ein Ressentiment gegen Balthasars und in folge Adrienne von Speyrs Theologie hegten. Das Gegenteil ist der Fall. Sie schätzten Balthasars Werk außerordentlich und waren bemüht, dem bisher im Schatten des Konzilstheologen Karl Rahner stehenden Schweizer in der theologischen Öffentlichkeit und im theologischen Lehrbetrieb jenen Platz einzuräumen, der ihm ihrer Auffassung nach gebührte. Sie hatten bereits mit dem Problem zu kämpfen, dass man Balthasar in weitestgehender Unkenntnis seines Werkes aus kirchenpolitischer Perspektive für einen „Konservativen“ hielt. Es war nur folgerichtig, taktisch einfühlsam und höchst verständlich, dass man Balthasars Hinweis auf Adrienne von Speyr überging, um nicht eine weitere Hürde im Blick auf die Rezeption seines Werkes aufzurichten. 3 Ich erinnere mich eines Domvortrages, den Balthasar zu 1 Werner Löser, Unangefochtene Kirchlichkeit – Universaler Horizont: Weg und Werk Hans Urs von Balthasars. In: HerKorr 42 (1988) 427-429, 479. In der dem Vortrag folgenden Diskussion stimmte Werner Löser der hier versuchten theologiegeschichtlichen Interpretation seines Votums ausdrücklich zu und sprach sich im Blick auf die fortschreitende Balthasar-Rezeption für eine nun mögliche kritische Sichtung des Phänomens aus. 2 Dazu: Thomas Krenski, Aus Opportunismus auf beiden Schultern getragen? Karl Lehmann im Gespräch mit Karl Rahner und Hans Urs von Balthasar. In: Raffelt, Albert (Hrsg.): Wegsuche FS Karl Lehmann. Freiburg (Herder) 2001, 387-401. 3 Werner Löser, Unangefochtene Kirchlichkeit 478f.: „Eine [im Blick auf die Rezeption des Werkes Hans Urs von Balthasars] für viele fast unüberwindliche Schwierigkeit tut sich auf, wenn man auf Bücher wie ‚Erster Blick auf Adrienne von Speyr’ (1968) oder ‚Unser Auftrag’ (1984) stößt. Das über Adrienne von Speyr und von Balthasars Beziehung zu ihr dort Mitgeteilte, das häufig die Grenzen des nicht nur in der Welt,

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„Mit Handbuchwissen wäre Adriennes Theologie nicht aufzufangen gewesen“

Hans Urs von Balthasar und Adrienne von Speyr

Thomas Krenski 1 Die Leidenschaft, mit der ich das Erhaltene weitervermittle 1.1 Adrienne von Speyrs Bücher auf sich beruhen lassen?

Wir wären mit unserem Thema unversehens zu Ende, bevor wir begonnen hätten, wenn wir

Ihrer Empfehlung, Pater Löser, folgten und „gegen Balthasars eigenen Rat (...) [Adrienne

von Speyrs] Bücher auf sich beruhen ließen“, um uns ausschließlich“ mit seinen eigenen zu

befassen.“1 Ich hoffe Sie gestatten uns, Ihrer Empfehlung vorerst nicht zu folgen, Ihre

Äußerung aber doch insofern ernst zu nehmen, als sie die Irritation wiedergibt, die sich

angesichts des „Phänomens Adrienne von Speyr“ unter jenen Theologen breit machte, die

Balthasars Werke seit Mitte/Ende der 70er Jahre in ihren Vorlesungen und Seminaren

erwähnten und universitär salonfähig zu machen versuchten2. Fragt man nach den Motiven

dieser Irritation, so scheidet im Blick auf die angesprochene Theologengeneration von

vornherein aus, dass sie ein Ressentiment gegen Balthasars und in folge Adrienne von

Speyrs Theologie hegten. Das Gegenteil ist der Fall. Sie schätzten Balthasars Werk

außerordentlich und waren bemüht, dem bisher im Schatten des Konzilstheologen Karl

Rahner stehenden Schweizer in der theologischen Öffentlichkeit und im theologischen

Lehrbetrieb jenen Platz einzuräumen, der ihm ihrer Auffassung nach gebührte. Sie hatten

bereits mit dem Problem zu kämpfen, dass man Balthasar in weitestgehender Unkenntnis

seines Werkes aus kirchenpolitischer Perspektive für einen „Konservativen“ hielt. Es war

nur folgerichtig, taktisch einfühlsam und höchst verständlich, dass man Balthasars Hinweis

auf Adrienne von Speyr überging, um nicht eine weitere Hürde im Blick auf die Rezeption

seines Werkes aufzurichten.3 Ich erinnere mich eines Domvortrages, den Balthasar zu

1 Werner Löser, Unangefochtene Kirchlichkeit – Universaler Horizont: Weg und Werk Hans Urs von Balthasars. In: HerKorr 42 (1988) 427-429, 479. In der dem Vortrag folgenden Diskussion stimmte Werner Löser der hier versuchten theologiegeschichtlichen Interpretation seines Votums ausdrücklich zu und sprach sich im Blick auf die fortschreitende Balthasar-Rezeption für eine nun mögliche kritische Sichtung des Phänomens aus. 2 Dazu: Thomas Krenski, Aus Opportunismus auf beiden Schultern getragen? Karl Lehmann im Gespräch mit Karl Rahner und Hans Urs von Balthasar. In: Raffelt, Albert (Hrsg.): Wegsuche FS Karl Lehmann. Freiburg (Herder) 2001, 387-401. 3 Werner Löser, Unangefochtene Kirchlichkeit 478f.: „Eine [im Blick auf die Rezeption des Werkes Hans Urs von Balthasars] für viele fast unüberwindliche Schwierigkeit tut sich auf, wenn man auf Bücher wie ‚Erster Blick auf Adrienne von Speyr’ (1968) oder ‚Unser Auftrag’ (1984) stößt. Das über Adrienne von Speyr und von Balthasars Beziehung zu ihr dort Mitgeteilte, das häufig die Grenzen des nicht nur in der Welt,

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Beginn der 80er Jahre in Mainz hielt. Zunächst erfuhren wir, daß die Basler Ärztin 1902 im

schweizerischen Jura geboren wurde, daß sie sich seit ihrer Kindheit auf eigentümliche

Weise auf der Suche nach Gott gewusst habe, von dem sie zeitlebens den Eindruck hatte, er

müsse ganz anders sein; daß sie nach dem frühen Tod des Vaters und krankheitsbedingten

Aufenthalten in diversen Sanatorien mit Mutter und Geschwistern in Basel lebte, sich

gegen den Willen der Mutter und ihres erziehungsberechtigten Onkels ihr Medizinstudium

erkämpfte; daß sie in erster Ehe mit dem Basler Ordinarius für Geschichte und

Schweizergeschichte Emil Dürr und nach dessen Tod mit seinem Schüler Werner Kaegi

verheiratet gewesen sei, sich als engagierte Ärztin innerhalb und außerhalb des Spitals

einen Namen gemacht und schließlich unter Balthasars Leitung 1940 konvertiert sei.4

Anschließend habe sich über sie ein unerhörter Strom der Gnade ergossen, der sie mit

Auditionen und Visionen förmlich überfallen habe. Die mutmaßliche „Leichtgläubigkeit“5

des großen Theologen gegenüber den visionären Erfahrungen der weithin unbekannten

Basler Ärztin hinterließ bei uns aufgeklärten Studierenden Ratlosigkeit.6 Die

Veröffentlichung des „Ersten Blicks auf Adrienne von Speyr“7 hatte bereits Jahre zuvor

entsprechende Reaktionen nach sich gezogen. Hans Küng gibt in seinen Erinnerung zu

wissen, dass sein Tübinger Kollege Joseph Ratzinger nach der Lektüre des Buches ihm

gegenüber erklärt habe, „jetzt sei es aber ‚aus mit Balthasar’“8. Ich glaube in diesen

Äußerungen eine gewisse Hilf- oder Ratlosigkeit wahrnehmen zu dürfen. Ein weiterer

Aufschrei erfolgte, als Balthasar 1984 seine Bekenntnisschrift „Unser Auftrag“

sondern auch in der Kirche Gewohnten und Bewährten verletzt, ruft eine Irritation hervor, die auch zu dem übrigen Werk von Balthasars den Zugang erschwert.“ 4 Zur Biographie Adrienne von Speyrs: Hans Urs von Balthasar, Erster Blick auf Adrienne von Speyr. Einsiedeln (Johannes) 1968; Adrienne von Speyr, Aus meinem Leben. Fragmente einer Selbstbiographie. Herausgegeben und eingeleitet von Hans Urs von Balthasar. Einsiedeln (Johannes) 1968; dies.: Geheimnis der Jugend. Einsiedeln (Johannes) 1966 (= NB VII); Guerriero, Elio: Hans Urs von Balthasar. Eine Monographie. Freiburg (Johannes) 1993, 129- 152. 223-228. Auch: Krenski, Thomas: Hans Urs von Balthasar. Das Gottesdrama. Mainz (Grünewald) 1995, 129-132. 5 Herbert Vorgrimler, Hans Urs von Balthasar. In: ders.: Wegsuche. Kleine Schriften zur Theologie. II Altenberge 1998 (MThA 49/2) 702-729, 711. Dazu Balthasar selbst: „Man wird vielleicht später meinen, mein Glaube und mein Vertrauen seien groß gewesen, menschlich gesehen. Das ist aber nicht wahr. Niemand wird je wissen, wie viel handgreifliche Beweise der übernatürlichen Wahrheit ich erhalten habe. Es ist, als habe man mir mit Keulenschlägen die Wahrheit einhämmern wollen. Eine Wolke von Zeugen, ein wahrer Regen von Beweisen ist von allen Seiten auf mich niedergeprasselt. Von außen her mag es wie ein Wagnis erscheinen, was ich getan habe oder tun werde. Aber von innen her war es dies keinen Augenblick. Alles war von vornherein getragen von einer unglaublichen Gnade, und nur einzelne Momente des Durchhaltens waren schwierig. Ich habe nie den geringsten Zweifel gehabt.“ (Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II. Die Zeit der Grossen Diktate. Herausgegeben und eingeleitet von Hans Urs von Balthasar. Einsiedeln (Johannes) 1975 (=NB VII) 200 / Nr.1579). 6 Vgl.: Marc Quellet, Adrienne von Speyr und der Karsamstag der Theologie. In: Adrienne von Speyr und ihre spirituelle Theologie. Symposion zu ihrem 100.Geburtstag. Herausgegeben von der Hans Urs von Balthasar-Stiftung. Freiburg (Johannes) 2002, 87-113, 88. 7Hans Urs von Balthasar, Erster Blick auf Adrienne von Speyr. Einsiedeln (Johannes) 1968. 8 Hans Küng, Erkämpfte Freiheit. Erinnerungen. München 2002, 165.

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veröffentlichte. Und zwar mit dem Ziel, „zu verhindern, dass nach meinem Tod der

Versuch unternommen wird, mein Werk von dem Adriennes von Speyr zu trennen“9.

Balthasar nötigte die theologische Öffentlichkeit, Stellung zu nehmen und verwies als

Anlaß dieser Veröffentlichung auf ein Symposion über die Theologie Adrienne von Speyrs,

das Papst Johannes Paul II. angeregt habe und das im Herbst 1985 in Rom stattfinden

werde10. Kopfschütteln machte die Runde. Balthasar selbst war sich im Blick auf die in

„Unser Auftrag“ beschworene Einheit beider Werke darüber im Klaren, dass man „über

diese Hinweise von vornherein mit einem überlegenen Lächeln hinweggehen kann“11. Im

universitären Milieu sah man sich mit ambivalenten Reaktionen konfrontiert. So

interessierte uns am Freiburger Lehrstuhl Karl Lehmanns dessen langjähriger Assistent

Wilhelm Maas im Sommersemester 1983 für die „experimentelle Dogmatik“12 Adrienne

von Speyrs13. Lehmann selbst fragte freilich an, ob Balthasar sich nicht doch besser auf die

damals noch ausstehende Vollendung seiner Trilogie konzentrieren solle14. Sein Nachfolger

Gisbert Greshake verfasste Ende der 90er nicht nur den entsprechenden Artikel für das neu

herausgegebene LThK15, sondern führt Adrienne von Speyr in seiner 1997 erschienen

Trinitätslehre16 immer wieder als Gewährsfrau an. Dagegen wiederholt und verschärft

Herbert Vorgrimler seine Polemik. Zuletzt in seiner 2004 erschienenen Monographie „Karl

Rahner. Gotteserfahrung in Leben und Denken“. Er unterstellt Balthasar im Blick auf seine

Zusammenarbeit mit Adrienne von Speyr ein elitäres Bewusstsein, das insbesondere darin

zum Ausdruck komme, „dass von Balthasar direkten Kontakt zum ‚Himmel’“ gesucht und

„durch Adrienne von Speyr (...) göttliche Botschaften erlangt haben wollte.“17

9 Hans Urs von Balthasar, Unser Auftrag. Bericht und Entwurf. Einsiedeln (Johannes) 1984,11. 10 Balthasar, Hans Urs: Unser Auftrag 7. Die Aken dieses Symposion finden sich in: Balthasar, H.U.v. / Chantraine, G. / Scola, A. (Hgg.): Adrienne von Speyr und ihre kirchliche Sendung. Einsiedeln (Johannes) 1986. 11 Adrienne von Speyr, Theologie der Geschlechter. Einsiedeln (Johannes) 1969 (= NB XII) 8. 12 Hans Urs von Balthasar, Erster Blick auf Adrienne von Speyr. Einsiedeln 1968, 75. 13 Veröffentlichungen: Gott und die Hölle. Studien zum Descensus Christi. Einsiedeln (Johannes) 1979; Unveränderlichkeit Gottes. Zum Verhältnis von griechisch-philosophischer Gotteslehre. München-Paderborn-Wien 1974; Das Geheimnis des Karsamstags. In: Balthasar, H.U.v. / Chantraine, G. / Scola, A. (Hgg.): Adrienne von Speyr und ihre kirchliche Sendung. Einsiedeln (Johannes) 1986, 128-137. 14 Lehmann stieß bereits als Student auf Adrienne von Speyr, an deren Ausführungen er sich „damals ziemlich rieb.“ (Karl Lehmann, Erinnerungen an Hans Urs von Balthasar. In: Reifenberg,P./van Hoof, A.: Gott für die Welt. Henri de Lubac, Gustav Siewerth und Hans Urs von Balthasar in ihren Grundanliegen. Mainz (Grünewald) 2001, 289-292, 290. 15 Gisbert Greshake, Speyr, Adrienne v. In: LThK3 836-837. 16 Greshake weist in seinem Standardwerk Der dreieine Gott. Eine trinitarische Theologie. Freiburg (Herder) 1997 im Blick auf Hans Urs von Balthasars Trinitätslehre ausgiebig auf Balthasars Rekurs auf Adrienne von Speyr hin und würdigt damit implizit die von ihm offensichtlich akzeptierte Tatsache, dass Hans Urs von Balthasars und Adrienne von Speyrs Werk zumindest in engstem Zusammenhang stehen (194. 198. 212). Insbesondere findet er Gefallen an Adrienne von Speyrs Sprach- und Bildwelt (210. 356). Ebenso in: Gisbert Greshake, Gottes Heil – Glück des Menschen. Theologische Perspektiven. Freiburg (Herder) 1983, 274. 17 Herbert Vorgrimler, Karl Rahner. Gotteserfahrung in Leben und Denken. Darmstadt (Wiss.Buchg.) 2004, 125. Erneut in: Herbert Vorgrimler, Hans Urs von Balthasar – 100 Jahre. In: Stimmen der Zeit (156) 2005,

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1.2 Die erste Begegnung am Münsterplatz war wenig glücklich

Nun kommt man als Studentenpfarrer, der ich bin und der Balthasar 1940-1948 in Basel

war, unversehens in den Ruf, sich mit einer intellektuellen Elite zu umgeben. Dazu trägt

weniger der Umgang mit den Studierenden bei als die Tatsache, dass man damals wie heute

nicht allein mit Studierenden, sondern mit Menschen zu tun hat, die sich im Umfeld

universitären Lebens bewegen. Dabei handelt es sich häufig um Personen, die sich auf

akademischem Niveau Fragen existentieller Natur stellen, über die sie sich mit dem der

Universität zugeordneten Seelsorger auszutauschen wünschen. Man erwartet seitens dieser

Klientel von einem Studentenseelsorger sowohl eine gewisse Bildung als auch eine

Sensibilität für Lebensläufe, in denen schmerzliche Brüche, offen gebliebene Fragen und

bisher ungedeutete Erfahrungen eine Rolle spielen. Mit einem Wort: man begegnet

Menschen, die „Gott oberhalb der verbrauchten Worte“18 suchen. In eben diesem Milieu

sah sich der 35 jährige Studentenseelsorger Hans Urs von Balthasar im Sommer 1940 mit

dem von dem Doktoranden Johannes Oeschger19 an ihn herangetragenen Ansinnen der

Professorengattin und angesehenen Basler Ärztin Adrienne Kaegi-von Speyr konfrontiert,

ihn kennen zu lernen und mit ihm ins Gespräch zu kommen. Oeschger war mit Adriennes

zweitem Ehemann Werner Kaegi20 bekannt. Der Tod ihres ersten Mannes Emil Dürr21, den

sie 1927 noch als Studentin geheiratet hatte, stürzte sie in eine lebensgeschichtliche und

521-532, 529. Jan Heiner Tück unterstellt Vorgrimler, er neige „seit einigen Jahren dazu, den Schweizer Theologen durch gallige Bemerkungen zu diskreditieren“ (Hans Urs von Balthasar – oder die Zukunft der Tradition. In: IkaZ 34 (2005), 95-102.) Jetzt auch: Jan-Heiner Tück, Mit dem Rücken zu den Opfern der Geschichte. Zur trinitarischen Kreuzestheologie Hans Urs von Balthasars. In: Magnus Striet (Hg.), Monotheismus Israels und christlicher Trinitätsglaube. Freiburg (Herder) 2004, 199-235, 214. Balthasar leistete in studentischen Kreisen diesem Vorwurf bereits 1945 Vorschub, indem er seine Schrift „Das Herz der Welt“ den auserwählten Freunden („electis dilectis“) widmete. Dazu: Krenski, Thomas: Hans Urs von Balthasar 165-168. 18 Balthasar, Hans Urs von, u.a.(Hgg.): Die kirchkiche Sendung Adrienne von Speyrs 22. 19 Johannes Oeschger (1904-1978). Adrienne von Speyr erklärt: „Ohne W.[erner Kaegi] kein Jean [Oeschger], ohne Jean [Oeschger] kein Hans Urs [von Balthasar]“ (Erde und Himmel I 155 / Nr.220). Auch: Geheimnis der Jugend 312-313. Oeschger promovierte 1942 mit einer Arbeit über Dantes Divina Commedia in Basel. (Antikes und Mittelalterliches bei Dante: Hinweise und Untersuchungen zur Commedia. Halle (Saale) 1944 / Basel Phil. Diss., 1942). 20 Werner Kaegi (1901-1979) heiratete 1936 die Witwe seiner Lehrers Emil Dürr. Er schuf eine monumentale Burckhardt-Biographie, die zwischen 1947 und 1982 erschien: Kaegi, Werner: Jacob Burckhardt. Eine Biographie. Basel (Schwabe) 1947-1982. Weitere Arbeiten findet man gesammelt in: Kaegi, Werner: Historische Meditationen. Basel (Schwabe) 1994. Zur Biographie Kaegis: René Teuteberg, Werner Kaegi. Versuch einer Biographie. In: Werner Kaegi, Historische Meditationen 9-22. Die Eheschließung zwischen Werner Kaegi und Adrienne von Speyr kommentiert: Manfred Welti, Ohne Frauen geht es nicht. Werner Kaegi 1901-1979. Basel (Eigenverlag) 1993, 107. 119. 127f. 191. Balthasar besuchte nach dem Tod Adrienne Kaegi-von Speyrs Werner Kaegi mehrmals wöchentlich und unterhielt mit ihm freundschaftliche Kontakte. 21 Emil Dürr (1883-1934). 1918-1934 Ordinarius für Geschichte und Schweizergeschichte Universität Basel. Zur Biographie: Felix Staehelin, Worte der Erinnerung an Prof. Dr. Emil Dürr. In: BZs (Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde) 33 (1954) 5-6. Dürr arbeitete am Nachlaß Jakob Burckhardts und als Erforscher der Schweizer Geschichte. Siehe: Andreas Amiet (Hg.). Hermann Bächthold, Emil Dürr und der historische Zirkel Basel. Basel (Univ.Bibl.) 1984.

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spirituelle Krise, die sie an den Rand des Selbstmordes22 brachte. Mit Emil Dürr teilte sie

die seit ihrer Kindheit gehegte Vermutung, dass Gott ganz anders sei, die in eine

unbestimmte Ahnung beider mündete, diesem ganz Anderen möglicherweise in der

katholischen Kirche näher kommen zu können.23 Daher ihr Wunsch, sich mit einem

katholischen Geistlichen zu besprechen. Balthasar rief sie im Mai 1940 offensichtlich

wenig begeistert an, sie verabredeten seinen Besuch im Hause Kaegi am Basler

Münsterplatz.24 Was mit dieser Begegnung seinen Anfang nahm – ihr gemeinsamer Weg:

sie die Visionärin, er der Notator und Interpretator des von ihr Geschauten und ihm seit

1944 Diktierten – bereitete nicht nur der nachgeborenen Generation derer, die sein Werk zu

rezipieren versuchten und zu versuchen im Begriff sind, sondern bereits der Öffentlichkeit

der 40er, 50er und 60er Jahre enorme Schwierigkeiten. Balthasar sah sich zunächst mit

Akzeptanzproblemen seitens der Basler Stadtöffentlichkeit, die an der Integrität seiner

Beziehung zu Frau Professor Kaegi zweifelte, ausgesetzt. Die vorgesetzten Jesuiten

bestehen auf einem „Entweder-Oder“: Entweder: er arbeite in dem Bewusstsein einer

gemeinsam erhaltenen Sendung weiter mit Adrienne von Speyr und verlasse den Orden.

Oder: er stelle im Gehorsam gegenüber seinen Gelübden diese Zusammenarbeit ein und

bleibe im Orden.. Balthasar seinerseits verlangt eine Prüfung des Phänomens25und zeigt

sich irritiert, dass “wenn sich die Dinge als echt erweisen ließen (...) keine Vereinigung der

Gehorsamformen [einerseits gegenüber seinen Ordensgelübden und andererseits der mit

Adrienne von Speyr empfangen Sendung gegenüber] möglich“26 sei. Die Plädoyers sowohl

der regionalen als auch der überregionalen Ordensleitung fallen negativ aus. In Basel

zirkuliert „das Geschwätz“27, „an dem“, so Balthasar, „unsere Patres den meisten Anteil

haben“28. Man spricht in kirchlichen Kreisen von einem „übertriebenen Verhältnis“29 und

22 Adrienne von Speyr, Geheimnis der Jugend 292. 23 Geheimnis der Jugend 288. Auch Werner Kaegi sagt man katholisizierende Tendenzen nach. Unzutreffend ist demgegenüber die von Michael Schulz (Hans Urs von Balthasar begegnen. Augsburg (St.Ulrich) 2002, 45) vorgetragene Behauptung, „Werner Kaegi sei zum Katholizismus übergetreten“. 24 „Als sie das erste Mal kamen, war alles sehr paradox. Im Mai hatten Sie mal angerufen. Ich: Ich freue mich, wenn Sie heute Abend kommen. Sie waren gekommen, obschon mein Mann fort war.“ (Adrienne von Speyr, Erde und Himmel III 275 / Nr. 2279). „Die erste Begegnung am Münsterplatz war wenig glücklich, das Gespräch stockend. A. begann von Aborten im Frauenspital zu reden, wozu ich nicht viel zu sagen wusste.“24 „Bei der zweiten Begegnung hatte ich Péguy gelesen und las eben Claudels ‚Soulier de Satin’“. Ich nahm mir allen Mut zusammen und sagte: Ich weiß, dass ich katholisch werden sollte. Sie schienen nicht sonderlich interessiert.“ (Adrienne von Speyr, Erde und Himmel III. Die späten Jahre. Herausgegeben und eingeleitet von Hans Urs von Balthasar. Einsiedeln (Johannes) 1976 (= NB IX) 275). 25 Balthasar schlägt als Prüfer den Abt von Engelberg und Pater Rast vor. (Erde und Himmel II 156 / Nr.1469) Der Abt, „der schon lange ‚Johannes’ liest, wünscht A. zu sehen. (...) Er ist erstaunt und wiederholt immer wieder, dass die Sache offenbar echt sei.“ (Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 193 / Nr.1575). 26 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 338 / Nr.1785. 27 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 384 / Nr.1874. 28 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel I 162 / Nr.239. 29 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel I 146 / Nr.206.

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hält selbst unter wohl gesonnenen Bekannten Adrienne Kaegi-von Speyrs Zustände für

„Illusionen“30, „Einbildungen“31 oder gar „Größenwahn“32 Balthasar und Frau Dr. Kaegi-

von Speyr stellen sich den „anstrengenden Auseinandersetzungen“33. Möglicherweise mit

Recht kritisieren Mitbrüder „Unklugheiten“34, die Balthasar begehe, indem er zu viele

Menschen35 ins Vertrauen ziehe. Man verbietet ihm seitens der Ordensleitung Frau Kaegi

weiter in ihrem Haus am Basler Münsterplatz aufzusuchen36. Man trifft sich seither im

Büro des Studentenpfarrers. Man erwägt Balthasar den Umgang mit Frau Kaegi

grundsätzlich zu untersagen und erklärt, dass man seitens der Jesuiten „jede Verantwortung

für den Fall der Frau K. grundsätzlich ablehnt“37. Unter den Kritikern: der Basler Bischof

Franziskus von Streng (1894-1970), der ihn unter diesen Umständen nicht weiter in Basel

zu dulden bereit ist.38 Nach einem Gespräch mit dem Jesuitengeneral Johann Baptist

Janssens im November 1947 und im Anschluss an die auf Geheiß des Generals in Lyon

absolvierten Exerzitien „war grundsätzlich alles entschieden“39. Im Januar 1950 erfolgt der

„endgültige Bruch“40: Austritt aus seiner ihm „geschenkte[n] und über alles geliebte[n]

Heimat“41, als die er die Gesellschaft Jesu zeitlebens empfand. Seine Gegner wussten, dass

sie ihn mit nichts mehr treffen konnten, als wenn sie ihn einen „Ex-Jesuiten“42 schalten.

Übersiedelung nach Zürich, zwei Nachmittage in der Woche ist er in Basel. Es folgte eine

Zeit der „Einsamkeit in der Kirche“43: „Keine Diözese in Sicht. Lyon nimmt mich nicht.

Ich weiß nicht, wohin.“44 1956 wird ihn der Churer Bischof Christianus Caminada (1876-

1962) inkardinieren. Er wird nach Basel zurückkehren, die „Gastfreundschaft von Professor

30 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel I 98 / Nr.127 31 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel I 337 / Nr.707 32 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 414 / Nr.1923 33 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 414. / Nr.1923 34 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel I 337 / Nr.707. 35 So etwa „Ludwig Derleth in Stabio“ (Adrienne von Speyr, Erde und Himmel I 365). Der Schriftsteller Ludwig Derleth gehörte dem Georgekreis an und war mit Balthasar seit seinen Berliner Studienjahren bekannt. Derleths Briefe an Balthasar finden sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach); „Pater Muckermann in Genf“ (Friedrich Muckermann SJ arbeitete als Publizist / Friedrich Muckermann, Im Kampf zwischen zwei Epochen. Lebenserinnerungen. Paderborn 31985), „M. Gr.“ (Adrienne von Speyr, Erde und Himmel I 463 / Nr.1045), Robert Stadler SJ (Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 458). 1947 bemerkt Balthasar, dass „man jetzt besser diskret“ (Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 410 / Nr.1919) sei. 36 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II160 / Nr.1483; 162 / Nr.1491; 166 / Nr.1507. 37 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 201 / Nr.1580. Auch: Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 435 Nr.1954). 38 Die Gespräche mit dem Basler Bischof kommentiert Balthasar in: Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 111 / Nr.1366; 323 / Nr.1759. 39Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 413 / Nr.1922. 40 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel III 47 / Nr.2089. 41 Hans Urs von Balthasar, Unser Auftrag 16. 42 Dazu: Herbert Vorgrimler, Hans Urs von Balthasar. In: ders.: Wegsuche. Kleine Schriften zur Theologie. II Altenberge (Oros) 1998 (=MThA 49/2), 702- 729 711. 43 Hans Urs von Balthasar, Pneuma und Institution. Skizzen zur Theologie IV. Einsiedeln (Johannes) 1974, 252-287. 44 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 463 / Nr.1998.

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Werner Kaegi am Münsterplatz in Basel an[nehmen]“45 und bis zum Tode Adriennes im

Jahre 1967 dort wohnen. Einstweilen verdient er seinen Unterhalt mit ausgedehnten

Vortragsreisen durch Deutschland.46 Unter denen, die ihm die Stange hielten, waren neben

Henri de Lubac47 und Erich Przywara48 Karl Barth49 und Karl Rahner. Karl Barth unterhielt

nicht nur zu Balthasar, sondern auch zu Adrienne Kaegi-von Speyr intensiven Kontakt.

Karl Rahner lernte Adrienne wohl im Zuge seiner Vortragstätigkeit im Rahmen des von

Hans Urs von Balthasar veranstalteten Semesterprogramms bereits in den 40er Jahren

kennen. Letztmals begegnete er ihr 1961. Rahner besuchte Adrienne Kaegi-von Speyr und

Hans Urs von Balthasar im Basler Haus der Eheleute Kaegi50. Der Gedankenaustausch sei,

so Herbert Vorgrimler, „offen und freundschaftlich“51 gewesen. Man weiß nicht, wie

Rahner das Phänomen Adrienne Kaegi-von Speyr beurteilte. Ich hatte bei der Lektüre

seiner 1948 erschienenen Aufsätze “Über Visionen und verwandte Erscheinungen“52 und

„Les révélations privées“53 den Eindruck, dass er sich mittels dieser kenntnisreichen

Arbeiten nicht unmittelbar, möglicherweise aber mittelbar positionierte. Schlicht und

einfach, indem er zu einer angemessenen Beurteilung bzw. Würdigung von „Visionen und

Prophezeiungen“ beizutragen versuchte. Dass dabei zumindest en passent die Erfahrungen

eine Rolle spielten, die sein Mitbruder und Freund mit Adrienne Kaegi-von Speyr und

infolgedessen mit seinem Orden und der kirchlichen Öffentlichkeit machte, darf vermutet, 45 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel III 227 / Nr.2235. 46 Im Februar 1950: Tübingen, Bonn, Laach, Andernach, Koblenz, Neuwied, Köln, Essen, Münster, Paderborn, Stuttgart (Adrienne von Speyr, Erde und Himmel III 55 / Nr.2101), Oktober 1950 Mainz (Adrienne von Speyr, Erde und Himmel III 75 / 2123), Januar 1951: Freiburg, Bonn, Walberberg, Köln, Düsseldorf, Hannover, Hamburg, Kiel, Göttingen, Marburg, Heidelberg, Baden-Baden (Adrienne von Speyr, Himmel und Erde III 89 / Nr.2135). Die Vorträge finden sich gesammelt in: Die Gottesfrage des heutigen Menschen Wien (Herold) 1956. 47 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 168 / Nr.1517: „Ich erhalte in diesen Tagen den Besuch von P. de Lubac, der bei A. logiert. Er ist sehr lieb. Er hat längere Gespräche mit A. und geht mit den besten Eindrücken von ihr fort, überzeugt von der Echtheit ihres Auftrags.“ Ähnlich äußert sich Gustav Siewert: „Die wenigen Stunden in Basel in Kaegis Haus und bei Ihnen sind unvergesslich. Mit Frau Adrienne von Speyr werde ich von nun an lesend in längerem Zwiegespräch bleiben. Solch liebevolles, frohes, ruhiges Wesen hat die Bürgschaft des Wahren und Echten bei sich“. (Gustav Siewerth an Hans Urs von Balthasar 16.6.1957 / zitiert nach: Andrzej Wierciński, Between Friends. A Bilingual Edition. The Hans Urs von Balthasar an Gustav Siewerth Correspondence 1954-1963. Konstanz 2005, 176). Balthasars Reaktion: “Bin auch so dankbar für die Worte über Frau von Speyr. Ich bin sicher, mich in ihr nicht zu irren, aber es ist nicht leicht, es andere sehen zu lassen, es gibt dichte Schleier, die wohl, wenn überhaupt, erst nach ihrem Tod fallen können.“ (Hans Urs von Balthasar an Gustav Siewerth 22.6.1957 / zitiert nach: Andrzej Wierciński, Between Friends 16). später 48 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel I 85 /Nr.113;. 111 / Nr.143;. 207 / Nr.347;. II 177 / Nr1543; 292-294 / Nr.1727; 391 / Nr.1888. 49 Karl Barth vermied weder den Umgang mit Balthasar und Adrienne Kaegi-von Speyr noch trug er seine Anfragen in der Öffentlichkeit vor. Er bot Balthasar an, ihm an der Basler theologischen Fakultät einen Lehrauftrag zu verschaffen. Dazu: Peter Henrici, Erster Blick auf Hans Urs von Balthasar 39. 50 Herbert Vorgrimler, Karl Rahner verstehen. Eine Einführung in sein Leben und Werk. Freiburg (Herder) 1985, 150. 51 Ebd. 52 In: Geist und Leben 21 (1948) 179-213. 53 In: Revue d´Ascétique et de Mystique 25 (1949) 506-514.

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kann aber nicht belegt werden. Möglicherweise sah er sich in Erinnerung an die

außergewöhnliche Solidarität, die Balthasar ihm nach dem „Maulkorb“, den die 1950 von

Pius XII. veröffentlichte Enzyklika „Humani generis“ den „neuen“ Theologen verpaßte,

entgegenbrachte54, verpflichtet, nun seinerseits Solidarität zu üben.

1.3 Der Ort der Gemeinsamkeit, an dem sich Gottes Wille kundtut

Aus dieser Zeit, in der sich Balthasar und Adrienne Kaegi-von Speyr massiven Anfragen

ausgesetzt sahen, rührt ihr Versuch, die Qualität ihres Miteinanders verstehen zu lernen.55.

Sie begriffen schließlich ihre „Zusammenarbeit“56 als eine gemeinsame oder besser eine

komplementäre Sendung. Mit anderen Worten als „ihrer beider Auftrag“57, der sich in

Balthasars Werk insofern niederschlägt, als es von eben diesem Bewusstsein „beauftragt zu

sein“58 getragen ist. Sie erfuhren ihr Miteinander als den „Ort der Gemeinsamkeit, an dem

sich Gottes Wille kundtut“59. Dabei spielt sicher auch die Geschlechterdifferenz eine Rolle.

Adrienne Kaegi-von Speyr äußert sich immer wieder dahingehend, dass sie eine

Einbruchschneise göttlicher Inspiration sein könne.60 Balthasar seinerseits scheint seit

seinen Lyoner Studienjahren von Teilhard de Chardins „Evolution der Keuschheit“61

54 In einem Brief vom Juli 1950 schreibt Balthasar an Henri de Lubac: „Je crains que Karl Rahner sera bien découragé maintenant, lui qui est à peu près notre seul espoir. Il faudra le soutenir, - vous aider les uns les autres“ (zitiert nach: Guerriero, Elio: Hans Urs von Balthasar. Eine Monographie. Freiburg (Johannes) 1993, 409). Dazu auch seine scharfe Replik auf einen in der NZZ erschienenen Artikel, in dem Balthasar und Rahner zu den mutmaßlichen Adressaten der Enzyklika ‚Humani generis’ gezählt wurden: „Es hat mir leid getan, feststellen zu müssen, dass in der Samstag-Morgen-Ausgabe der Neuen Züricher Zeitung vom 28. Oktober im Artikel von Herrn Mettler, Rom ein Passus zu lesen war, der – um von anderen Genannten zu schweigen – für mich und für Herrn Prof. Karl Rahner an der Universität Innsbruck, als eine offene Diffamierung zumindest in katholischen Kreisen gelten muss. Es heißt dort von der Enzyklika ‚Humani generis’: ‚auch Gratwandler wie Urs von Balthasar und Karl Rahner sind visiert’. Eine solche Behauptung ist dazu angetan, unser Ansehen als katholische Gelehrte aufs schwerste zu kompromittieren. (Hans Urs von Balthasar, Brief an die Chefredaktion der Neuen Zürcher Zeitung vom 30.10.1950 / Hans Urs von Balthasar-Archiv Basel). 55 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel 49 / Nr.58; . 92-93 / Nr.122. Zum Ganzen: Thomas Krenski, Hans Urs von Balthasar. Das Gottesdrama. Mainz (Grünewald) 1995, 132-137. 56 Hans Urs von Balthasar, Unser Auftrag 14. 57 Herbert Vorgrimler, Hans Urs von Balthasar. In: Herbert Vorgrimler / Robert Vander Gucht (Hgg.), Bilanz der Theologie im 20.Jahrhundert: Bahnbrechende Theologen. Freiburg (Herder) 1978, 122-142, 128. 58 Herbert Vorgrimler, Hans Urs von Balthasar 122. Balthasar selbst erklärt: „Wäre an meinem Werk Originales (was mich nicht erstaunte) so bliebe nur die Leidenschaft, mit der ich das Erhaltene, weil es so vielen unvertraut ist, weitervermittle, und die Anweisung zu diesem Tun; denn die Aufträge sind es, die den Christen mehr als seine Anlage individuieren.“ (Hans Urs von Balthasar, Zu seinem Werk. Freiburg (Johannes) 22000, 19) 59 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 86 / Nr.1319. 60 Adrienne von Speyr erklärt, der oder die Jungfräuliche solle „nicht so tun, auch nicht darauf hinstreben, ein (...) tonloses asexuelles Wesen zu sein“: „Gott hat den Menschen nicht nur mit der Geschlechterdifferenz ausgestattet, die sich durch das ganze körperliche und geistige Sein von Mann und Frau auswirkt, sondern darin auch viele Ansatzpunkte für die Anregung des menschlichen Geistes durch den göttlichen Geist hineingelegt.“ (Theologie der Geschlechter 15). 61 Pierre Teilhard de Chardin, Die Evolution der Keuschheit. Deutsch von Josef Sudbrack. In: GuL 67 (1994) 243-263. Erstmals erschienen im Februar 1934. Balthasar studierte von 1933-1937 in der Jesuitenhochschule Fourvière über Lyon. Dort begegnete er P.Teilhard de Chardin SJ.

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beeinflusst. Teilhard ist der Überzeugung, dass die Geistigkeit „nicht auf menschlichen

Monaden, sondern auf Dyaden beruhe“, so dass „die männlichen und weiblichen Teile der

Natur“ (...) nicht isoliert, sondern als vereinigte Paare (...) zu Gott aufsteigen“62. 1977

erklärt Balthasar in einer Meditation über die Gründe und Hintergründe der

Exerzitienbetrachtung vom Ruf Christi, die er unter dem Titel „Christlicher Stand“

veröffentlichte: Wo es sich um ausgesprochen subjektive Aufträge handelt, wie in der Mystik, die doch nur dann als echt und wesentlich katholisch anzusehen ist, wenn die geschenkten Erfahrungen und Zustände in die kirchliche Gemeinschaft hinein fruchtbar werden und sich nicht in sich selber erschöpfen, sorgt Gott für eine Zuordnung zwischen dem Schauenden und einem objektiv Auslegenden; er führt nicht selten die Berufenen paarweise so zusammen, dass sie nicht mehr zwei getrennte Berufene, sondern ‚zwei in einem Ruf’ sind. Solche Verbindungen können die gleiche Notwendigkeit und Dringlichkeit besitzen wie der Ruf selbst, und es kann von ihnen gelten, was von der natürlichen Verbindung durch Gott geschrieben steht: ‚Was Gott vereint hat, darf der Mensch nicht trennen’ (Mt 19,6).“63

Balthasar versucht die Sendung, die er mit Adrienne Kaegi-von Speyr glaubt erhalten zu

haben ihrer mutmaßlichen Singularität zu entheben und im Blick auf klassische

Doppelsendungen in die spirituelle Tradition der Kirche einzuordnen. In diesem

Zusammenhang kommt er auf „die Zusammenarbeit Johannes’ vom Kreuz und Theresias,

des hl. Johannes Eudes und Maries des Valées, Franz von Sales’ und Jeannes de Chantal“64

zu sprechen. Im Sommer 1946 gibt er zu bedenken, dass alles noch schief gehen könne,

wenn man nicht täglich aufpasse: „Also keine falsche Sicherheit, als ob irgend etwas

62 Pierre Teilhard de Chardin, Briefe an Frauen. Ausgewählt und erläutert von Günther Schiwy. Freiburg (Herder) 1988, 24. Jetzt auch: Schiwy, Günther: Eine heimliche Liebe. Lucie Swan und Teilhard de Chardin. Freiburg (Herder) 2005, 18-21(Teilhard de Chardin und das „Ewig-Weibliche“), 43-52 (Die Evolution der Keuscheit). Nicht von ungefähr übersetzte Hans Urs von Balthasar 1968 Teilhards „L’Eternel Féminin“: Hymne an das ewig Weibliche. Einsiedeln (Johannes) 1968. 63 Hans Urs von Balthasar, Christlicher Stand. Einsiedeln (Johannes) 1977, 367. 64 Hans Urs von Balthasar, Unser Auftrag 14. Balthasar versucht durch seine schriftstellerische und verlegerische Tätigkeit immer wieder auf das Umfeld und die traditionellen Vorgaben aufmerksam zu machen, innnerhalb derer das Phänomen Adrienne von Speyr einzuordnen sei. So die Monographien: Therese von Lisieux. Geschichte einer Sendung. Köln (Hegner) 1950; Elisabeth von Dijon und ihre geistliche Sendung Köln/Olten (Hegener) 1952. Später zusammengefasst in: Hans Urs von Balthasar, Schwestern im Geist. Therese von Lisieux und Elisabeth von Dijon. Einsiedeln (Johannes) 31978. Im Johannesverlag gab Balthasar jeweils mit einer Einleitung oder einem Nachwort versehen heraus: Mechthild von Hackeborn: Das Buch vom strömenden Lob. Einsiedeln (Johannes) 1955; Mechthild von Magdeburg. Das fließende Licht der Gottheit. Einsiedeln (Benzinger) 1955; Juliana of Norwich: Offenbarungen von göttlicher Liebe. Einsiedeln (Johannes) 1960; Angela von Foligno: Zwischen den Abgründen. Einsiedeln (Johannes) 1955; Angela Merici: Die Schriften. Einsiedeln/Trier (Johannes) 1988. Zum Ganzen: Lochbrunner, Manfred: Hans Urs von Balthasar als Autor, Herausgeber und Verleger. Würzburg (Echter) 2002, 75: „Nun geht es um Gotteserfahrung und Mystik. Man braucht nicht lange zu rätseln, warum diese Thematik bei unserem Autor in den Jahren nach 1940 solche Dominanz erhalten hat. Die mystischen Gnaden der Adrienne von Speyr, die sogleich nach ihrer Konversion wie ein wahrer Katarakt über sie hereinbrechen, drängen Balthasar nach Vergleichbarem in der mystischen Tradition zu suchen.“ Die ausführlichste Erörterung , die „ganz durch die Charismatik Adriennes veranlasst“ (Unser Auftrag 88) ist, liegt in Balthasars Kommentar zum Charismentraktat Thomas von Aquins vor: Hans Urs von Balthasar, Thomas und die Charismatik. Freiburg (Johannes) 1976, 251-586.

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garantiert wäre.“65 Man darf also durchaus von einem selbstkritischen Umgang beider mit

der entdeckten Sendung sprechen, der immer wieder zu gegenseitigen Infragestellungen

und Vergewisserungen führt.66

Dass Adrienne Kaegi-von Speyr die gemeinsame Sendung als einen kombinatorischen

Auftrag begriff, lässt sie im Zuge ihrer Auslegung des so genannten österlichen Wettlaufes

zwischen Petrus und Johannes erkennen: „Beide laufen, beide so schnell sie können, aber die Liebe läuft in der Kirche immer schneller als das Amt. (...) Die Liebe liegt in der Verschwendung, sie ist nichts als Verschwendung, darin ist sie das Schnellste. Sie gibt sich, ohne zu überlegen. (...) Das Amt muß prüfen, auch zurücksehen auf das Erreichte, um die nächsten Schritte besser zu machen. Die Liebe ist persönlich, sie hat keine andere Sorge als sich selbst. Das Amt ist unpersönlich und muß auf die Ordnung, den Stand der Dinge Rücksicht nehmen. Aber die Liebe ist keine Tolle, die sinnlos läuft. Denn beide laufen ja zusammen. Sie bleibt in Fühlung mit dem Amt, in Reichweite des Amtes. Aber sie ist es doch, die das Amt hinter sich herzieht.“67

Balthasar selbst beschreibt den komplementären Charakter der gemeinsamen Sendung,

indem er erklärt: „Mein Anteil an ihrer Theologie bestand vor allem darin, einen umfassenden theologischen Horizont bereitstellen zu können, um das Neue und Gültige ihrer Aussagen nicht zu verengen, zu verfälschen, sondern ihm den hinreichend weiten Platz einzuräumen, worin sie sich ausfalten kann. Mit einem bloßen Handbuchwissen wäre Adrienne von Speyrs Theologie nicht aufzufangen gewesen; es bedurfte einer Kenntnis der großen Tradition, um zu verstehen, dass das von ihr vorgetragene Orginelle in keinem Widerspruch zu dieser Überlieferung steht.“68

1.4 Wenn jemand A. liest und sagt: das ist purer H.U.

Wie aber begegnet er dem subkutan immer wieder erhobenen Vorwurf, er habe Adrienne

Inhalte suggeriert, die er bereits vor der Begegnung mit ihr favorisiert habe? Er notiert im

Rückblick auf die „Zeit der großen Diktate“69: „Hier kommt die Sendung des H.U. hinein. Diese ist für A. irgendwie Richtschnur beim Sprechen im Geist: sie muß sich so lange in das ‚Sprechen im Geist’ hineinbegeben, bis H.U. versteht. Jedenfalls so lange auslegen, bis er klar einsieht, was gemeint ist. Dabei beeinflusst H.U. sie nicht, sie zerlegt, zergliedert nur das Einheitliche, das sie sieht. A. glaubt nicht, dass dies stark damit zusammenhängt, dass ich theologisch gebildet bin und sie nicht; aber es ist oft so, dass die heutige Theologie nicht (oder noch nicht) so weit ist, zu begreifen, was gezeigt wird. Wenn jemand A. liest und sagt: das ist purer H.U., kann

65 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 197 / Nr.1597. 66 „Ich drücke ihr meine Unruhe darüber aus, ob ihr Verhältnis zu mir für sie nicht zu einer Art inneren Bindung werden könne, die ihr die völlige Freiheit für Gott nähme. Nicht im Sinn einer irgendwie sinnlichen Bindung, von der ich nie auch nur irgendeine Spur bemerken konnte, sondern in der Art einer herrischen ‚emprise’, zu der ihre zupackende Art irgendwie neigen könnte. Sie sagt, sie hätte sich darüber schon öfter geprüft und wolle es wieder tun.“ (Adrienne von Speyr, Erde und Himmel I 49 / Nr.58). 67 Johannes IV. Geburt der Kirche. Betrachtungen über Kapitel 18-21 des Johannesevangeliums. Einsiedeln (Johannes) 1949, 200. 68 Balthasar, Hans Urs: Prüfet alles, das Gute behaltet. Ein Gespräch mit Angelo Scola. Freiburg (Johannes) 2001, 88. 69 So der Untertitel von: Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II.

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er manchmal recht haben. Wo A. gelb sieht und H.U. blau, muß sie sich vielleicht gelegentlich an den Standort begeben, wo er das Blaue sieht, um ihn dorthin führen zu können, wo sie das Gelbe sieht. Es kann innerhalb des Sprechens im Geist Stadien geben, wo H.U. gewisse Konturen gibt. Das beeinflusst aber nicht das Gesamtergebnis, sondern nur den Weg.“70

Ausdrücklich nochmals in „Unser Auftrag“: „Der entscheidende Grund aber, weshalb die Diktate A’s keineswegs auf ‚Suggestion’ von meiner Seite beruhen können, ist die Originalität ihrer Theologie (meiner bisherigen gegenüber) und deren erstaunliche Kohärenz trotz so vieler verschiedenartiger Themen“71.

Damit ist freilich nicht hinreichend die Vermutung widerlegt, dass Balthasar ihr Gestalten,

wie Irenäus, Origenes und Gregor von Nyssa, denen sein besonderes Interesse bereits vor

der Begegnung mit ihr galt „untergeschoben“ habe. Im Gegenteil. Er selbst berichtet, dass

er eine Liste von Namen aufgestellt habe, aus der einer ausgewählt werde, „um ihn

Adrienne visionär zu zeigen.

Während er einerseits das Ineinander seines Interesses und ihrer Schau dahingehend

kommentiert, dass er „durch die Erfahrungen Adriennes [seine] Hauptinteressen an Irenäus,

Origenes, Gregor von Nyssa, Maximus Confessor fortgesetzt und die dort offen

gebliebenen Fragen erfüllt oder in ihrer Richtigkeit bestätigt“72 sieht, erklärt er andernorts,

dass Adriennes theologische Themen, in seinen „Büchern vor 1940 keine Rolle spielen, so

viele Kirchenväter und andere Theologen ich auch studiert haben mochte.“73 Hier sind

freilich Zweifel angebracht. Es wird sich zeigen, wie manches aus seinen patristischen, aber

auch philologisch-philosophischen Studien mit Adriennes Themen korrespondiert und

Aussageformen oder Konturen bereitstellt, die behilflich sein werden das ihr Gezeigte

einzuordnen und in Einklang mit der Tradition zum Ausdruck zu bringen. Aufschlußreich

scheint mir in diesem Zusammenhang eine in seiner Rechenschaft 1975 zu findende

Bemerkung, er lege Wert darauf, dass er in seinen „Büchern nicht einfach seine eigenen

Einfälle wiedergegeben“, sondern übersetzt habe, was Adrienne von Speyr in ihren Werken

weniger ‚technisch’ niedergelegt“74 habe. Er begreift sein Werk als „theologische

Transkription des von ihr unmittelbar Erkannten“75. Dabei liege sein Charisma liege auf

Seiten der der technischen Fertigkeiten: „Die Gedanken sind völlig klar. Nur der sprachliche Ausdruck muß oft gesucht werden, Dann bittet mich A., einen Augenblick nicht zu schreiben, sondern erst zuzuhören: sie

70 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 458 / Nr.1994. 71 Hans Urs von Balthasar, Unser Auftrag 52 72 Hans Urs von Balthasar, Unser Auftrag 81. 73 Hans Urs von Balthasar, Unser Auftrag 61. 74 Hans Urs von Balthasar, Zu seinem Werk 90. 75 Hans Urs von Balthasar, Zu seinem Werk 91.

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erklärt mir dann, vielleicht mit einigen Bildern und Gleichnissen die Sache, und ich schreibe dann einen zusammenhängenden Abschnitt, so treu als möglich nach diesen Schilderungen auf.“76 „Meine Ausbildung sollte sich einst als ein nützliches Werkzeug für die Zusammenarbeit erweisen.“77

Dieses Selbstbekenntnis gibt mir Anlaß das meines Erachtens tragfähigste Interpretament

ins Feld zu führen, das kein anderer als Joseph Ratzinger an das Phänomen „Adrienne von

Speyr – Hans Urs von Balthasar“ anlegt, indem er in einem 1999 gegebenen Interview

erklärt: „Hans Urs von Balthasar ist undenkbar ohne Adrienne von Speyr. Ich glaube, man könnte bei allen wirklich großen theologischen Gestalten zeigen, dass neue theologische Aufbrüche nur dann ermöglicht werden, wenn zuerst ein prophetischer Durchbruch da ist. Solange man nur rational weiterarbeitet, kommt nichts wesentlich Neues. Es wird vielleicht immer genauer systematisiert, es werden immer subtilere Fragen erfunden, aber die eigentlichen Durchbrüche, in denen dann wieder große Theologie neu entsteht, kommen nicht einfach aus dem rationalen Geschäft der Theologie, sondern aus einem charismatischen, prophetischen Anstoß heraus. Insofern - glaube ich - gehören Prophetie und Theologie eng zusammen. Die Theologie als wissenschaftliche Theologie im strengen Sinn ist nicht prophetisch, aber sie wird nur wirklich lebendige Theologie, wenn sie von einem prophetischen Impuls angeschoben und erleuchtet ist.“78.

1.5 Isebel oder Stephanus?

Nun fragt man sich freilich, ob solche prophetischen Impulse überhaupt denkbar und

theologisch verantwortet als solche eingestuft werden dürfen. In schöner Eindeutigkeit Karl

Rahner: „Die Möglichkeit einer Privatoffenbarung durch Visionen und damit verbundene Auditionen steht grundsätzlich für einen Christen fest. (...) Das Prophetische und Visionäre (im weitesten Sinn) ist aus der Geschichte des Christentums nicht wegzudenken. Wer alle solche Dinge zurückführen wollte auf natürliche oder gar krankhafte menschliche Zustände, würde konsequent leugnen, dass ein geschichtliches Handeln des sich im Wort offenbarenden persönlichen Gottes möglich sei. Damit aber würde er den Charakter des Christentums als einer übernatürlichen Offenbarungsreligion bestreiten. Hat es aber zur Begründung der alttestamentlichen und christlichen Offenbarungsreligion solche Phänomene gegeben, dann kann auch nicht a priori und grundsätzlich bestritten werden, dass es auch in nachchristlicher Zeit solche Erscheinungen geben kann.“79

76 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 51-52 / Nr.1225. 77 Hans Urs von Balthasar, Unser Auftrag 47. 78 Joseph Ratzinger, Das Problem der christlichen Prophetie. Niels Christian Hvidt im Gespräch mit Joseph Kardinal Ratzinger. In: IkaZ 27 (1999) 177-188, 183. 79 Karl Rahner, Visionen und Prophezeiungen 15.17. Auch Joseph Ratzinger widerspricht, nach eben dieser Möglichkeit prophetischer Äußerungen post Christum gefragt, der Auffassung, dass mit der Vollendung der Offenbarung in Christus das Ende der Prophetie besiegelt sei. Freilich könne man „nicht über den Logos hinaus etwas sagen“ aber der Geist könne prophetisch immer tiefer in die Wahrheit einführen. (Das Problem der christlichen Prophetie 180). Darüber hinaus erklärt Adrienne von Speyr, daß Mystik nicht „bloße Bestätigung von etwas schon ausdrücklich Gewusstem und Besessenen“, sondern „eine Verlebendigung dessen [sei], was in der Kirche erstarrt war. Ein frischer, ursprünglicher Hauch Gottes in das Vereiste hinein“ (Adrienne von Speyr, Das Wort und die Mystik I. Subjektive Mystik. Herausgegeben und eingeleitet von Hans Urs von Balthasar. Einsiedeln (Johannes) 1970 (= NB VI) 46).

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Ein oder gar das entscheidende Kriterium für die prophetische Qualität einer mystischen

Erfahrung sei, so Karl Rahner, die zu erweisende Tatsache, dass es sich „um Erscheinungen

handle, die nicht bloß unter einem ‚privaten Aspekt’ gesehen werden wollen“80, sondern

deren objektiver Nutzen für die Kirche außer Frage steht. Immer wieder äußert sich

Adrienne von Speyr im Sinne Rahners kritisch gegenüber einer falschen Mystik, die in

irgendeiner Weise die subjektiven Erfahrungen des Visionärs in den Mittelpunkt stelle, statt

das objektive Substrat des Gesehenen zum Nutzen der Kirche zur Verfügung zu stellen. Sie

ringt um ihre Rolle und wehrt sich gegen jeden Versuch, sie zu einer Mystikerin zu

stilisieren: „Sie fragt wieder nach ‚Mystik’. Nicht wahr, sie sei doch keine Mystikerin? Das sei doch etwas total anderes, habe mit ihr nichts zu tun. Sie habe vom Protestantismus her so einen Horror vor der Mystik. Obwohl sie sich nichts Genaues darunter vorstellen könne. Nur irgendwie eine unsaubere Geschichte.“81

Sie will „nichts zu tun haben mit irgendeiner Art bewusst kultivierter Mystik. Was in ihr

vorgehe, habe mit solcher nichts zu tun“82 Sie spricht von „Durchgabe“83 objektiver

Inhalte, deren Adressat die Kirche sei. Das Subjekt, dem dies und jenes gezeigt werde,

komme „als Empfänger gar nicht in Betracht“84. Adrienne polemisiert gegen die von

Friedrich Gogarten so genannte „Erleberei“85 und spricht im Blick auf methodische

Versenkungen, die dazu dienten, ein höheres Erlebnis aus sich herauszupressen,

unverblümt von „geistlicher Onanie“86. Sie entwickelt ihre Sicht von Mystik nicht

ausschließlich in dem von Balthasar vorgelegten und zusammengestellten Werk „Wort und

Mystik“, sondern vornehmlich im Rahmen ihrer Schriftauslegung87, so dass mittels des

Schriftbezuges die heilsökonomische Basis des Geschauten nicht nur gewahrt bleibt,

sondern als Voraussetzung einer neutestamentlich legitimierten Mystik verstanden werden

.darf. So erklärt sie im Blick auf die Steinigung des Stephanus: „Stephanus blickt in den Himmel und sieht das Unendlich Erhabene, von dem sein Ausruf zeugt. Er beachtet nicht, dass etwas mit ihm vorgeht, dass er ein Erlebnis hat, dass seine bisher beschränkten Einsichten sich erweitern, er macht deshalb keine Aussage über sich und sein Erlebnis; er sieht das Andere, das Neue. Er zeigt damit der kommenden Mystik den Weg: nicht über sich selbst zu reden, sondern über das Neue Gottes, das geschenkt wird und weitergegeben werden soll. Unendlich groß und offen

80 Karl Rahner, Visionen und Prophezeiungen 20. 81 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel I 140 /Nr.195. 82 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel I 52 / Nr.64. Weitere Einlassungen: Erde und Himmel I 72 /Nr.98. 83 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel III 274 / Nr.1700. 84 Adrienne von Speyr, Wort und Mystik I 45. 85 Gogarten, Friedrich: Die religiöse Entscheidung. Jena (Diederichs) 1921, 55.63. 86 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 75 / Nr.1289. 87 Alois Maria Haas, Adrienne von Speyrs Typologie der Mystik. In: Adrienne von Speyr und ihre spirituelle Theologie.. Die Referate am Symposion zu ihrem 100.Geburtstag. 12.-13.September 2002 in Freiburg im Breisgau. Freiburg (Johannes) 9-30, 29.

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soll Stephanus den Himmel zeigen, damit die Christen nicht in Versuchung kommen, ihn nach ihren eigenen Maßen vorzustellen“88

Ausgesprochen interessant legt sie folgenden Vers der Apokalypse aus: „Ich werfe dir vor,

dass du das Weib Isebel gewähren lässt; sie gibt sich als Prophetin aus und lehrt meine

Knechte und verführt sie“ (Apk 2,20): „Wo die Objektivität in der Mystik nicht vorhanden ist, das heißt, wo der Mystiker nicht weiß, dass er immer nur ein Durchgang ist und das, was er erhält, nicht letztlich für ihn bestimmt ist, da wird er sich an den erfahrenen Zustand klammern, und dieser wird ihm zur Hauptsache werden. (...) Der wahre Beauftragte wird dagegen auch in der höchsten Ekstase den Gehorsam nicht verlieren, er wird auch in einer Art letzten Sachlichkeit genießen.“89.

Echte Mystik sprengt Grenzen, so dass an sie die Meßlatte angelegt werden darf, die

Ignatius mit seinem „Deus semper maior“ aufrichtet: „Die Mystik ist aber auch dafür gespendet, das Leben der Christen zu erweitern, ihnen schon auf Erden einen Anteil am Himmel zu gewähren, ohne dass sie mit diesem Anteil fertig werden könnten. Mancher Christ, dem es auf Erden ordentlich geht, versucht, die Dinge der Offenbarung und der Kirche auf sein eigenes Maß zuzuschneiden, sie zu verkleinern, sie überraschungslos und alltäglich zu machen. (...) Vor allem dagegen richtet sich die Mystik. Die Dinge Gottes sollen Gottes Maß behalten. Jede Installation soll erschüttert werden. Die Neuheit Gottes soll nicht nur verkündet, sondern offenkundig werden. Dieses Neue liegt immer im Himmel und in der Ewigkeit; aber schon die kleinen Ausschnitte, die dem Mystiker davon zugänglich werden, sind so unerwartet und sprengend, dass jeder Glaubende versteht: es ist im Immer-Größeren der Ewigkeit noch viel Unfaßlicheres zu erwarten.“90

Letzten Endes überzeugt ein von Hans Urs von Balthasar selbst eingeführtes Kriterium, das

eine nicht nur formale, sondern inhaltliche Auseinandersetzung mit Adriennes von Speyrs

Theologie angeraten sein lässt: „Das Echtheitskriterium ihrer Mystik liegt ganz primär,

wenn nicht ausschließlich, in der Qualität dessen, was sie geleistet und was sie zu sagen

hatte und hat.“91

88 Adrienne von Speyr, Das Wort und die Mystik I 36. 89 Adrienne von Speyr, Apokalypse. Betrachtungen über die Geheime Offenbarung. Einsiedeln (Johannes) 1950, 168. 90 Adrienne von Speyr, Das Wort und die Mystik I 36-37. Bernhard McGinn weist in seinem Standardwerk Die Mystik im Abendland (Freiburg / Herder 1994) 414 ausdrücklich auf dieses von Balthasar eingeführte Kriterium christlicher Mystik hin. Leider fehlt jeder Hinweis auf Adrienne von Speyr. 91 Hans Urs von Balthasar, Unser Auftrag 61. Es bedürfte freilich einer Diskussion der von Karl Rahner eingebrachten Bedenken: „Die Gottgewirktheit (Echtheit) einer imaginativen Vision aus ihrem Inhalt zu beweisen, könnte nur gelingen, wenn es möglich wäre, darzutun, dass der konkrete Inhalt einer bestimmten Vision nicht aus den schon vorliegenden Möglichkeiten der sinnlich-geistigen Fähigkeiten (Gedächtnis, schöpferische Phantasie, Unterbewusstsein, parapsychologische Fähigkeiten, wie Telepathie usw.) des Visionärs ableitbar ist.“ (Visionen und Prophezeiungen 52).

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2 Mit Handbuchwissen wäre Adriennes Theologie nicht aufzufangen gewesen

2.1 Eine Behauptung, die sich erst später verifizieren lassen wird

Es steht völlig außer Frage, dass Hans Urs von Balthasars Arbeiten nach der Begegnung

mit Adrienne von Speyr von deren Erfahrungen geprägt und inspiriert sind. Ausdrücklich

die Descensus-Kapitel von „Das Herz der Welt“ (1945)92 und „Gottesfrage des heutigen

Menschen“ (1967)93. In besonderer Weise aber der Geniestreich „Theologie der drei Tage“

(1969)94, von dem Balthasar später sagen wird, dass er „den Versuch darstellt, der kühneren

Lehre Adriennes von Speyr einen Weg zu bahnen.“95 Die Trilogie mündet schon im letzten

Band der Theodramatik96, vollends aber im zweiten Band der Theologik97 in eine

Paraphrasierung Adriennes, so dass schon rein philologisch die Einheit beider Werke

offenbar wird. Bisher ist aus bereits angesprochenen Gründen in der Balthasar-Rezeption

nur sehr zurückhaltend auf Adrienne von Speyrs Einfluß auf Balthasars Werk bzw. ihren

Anteil am gemeinsamen Werk eingegangen worden. Man hat zwar auf den Zusammenhang

hingewiesen, ihm aber eher insofern Aufmerksamkeit geschenkt, dass man ihn als

Phänomen beschrieb und diskutierte. Eine eher inhaltlich akzentuierte Synopse steht noch

aus. Einen ersten Versuch unternahm Manfred Lochbrunner in seinem 2001

veröffentlichten Beitrag „Das Ineinander von Schau und Theologie in der Lehre vom

Karsamstag“98. Die Mainzer Theologin Daniela Mohr forderte bereits vor einigen Jahren

eine „synchrone Lesung beider Autoren“, die heute möglich, aber „nur in Anfängen

verwirklicht sei“99. Auch der in Washington lehrende Holger Zabrowski hat jüngst auf die

92 Hans Urs von Balthasar, Das Herz der Welt. Zürich (Arche) 97-113. Heute zugänglich: Freiburg 2002, 105-122. Dazu: Manfred Lochbrunner, Das Ineinander von Schau und Theologie in der Lehre vom Karsamstag bei Hans Urs von Balthasar. In: RTLu 6 (2001), 171-193, 184. 93 Hans Urs von Balthasar, Die Gottesfrage des heutigen Menschen. Wien (Herold) 1956, 187-204. 94 Hans Urs von Balthasar, Theologie der drei Tage. Freiburg 141-258. Erstveröffentlichung: Einsiedeln (Benzinger) Separatdruck aus: Feiner, Johannes / Löhrer, Magnus (Hgg.): Mysterium Salutis. Grundriß heilsgeschichtlicher Dogmatik III/2. Einsiedeln (Benzinger) 1970, 133-326. Dann: Mysterium Paschale. In: Feiner, Johannes / Löhrer, Magnus (Hgg.): Mysterium Salutis. Grundriß heilsgeschichtlicher Dogmatik III/2. Einsiedeln (Benzinger) 1970, 133-326. 95 Hans Urs von Balthasar, Zu seinem Werk 91. 96 Hans Urs von Balthasar, Theodramatik IV. Das Endspiel. Einsiedeln 1983, 12; 482. 97 Hans Urs von Balthasar, Theologik II. Wahrheit Gottes. Einsiedeln 1985, 314-329 (Hölle und Trinität). 98 Manfred Lochbrunner, Das Ineinander von Schau und Theologie in der Lehre vom Karsamstag bei Hans Urs von Balthasar. In: RTLu 6 (2001) 171-193. Weitere Versuche bei Roten, Johann G.: Die beiden Hälften des Mondes. Marianisch-anthropologische Dimensionen in der gemeinsamen Sendung von Hans Urs von Balthasar und Adrienne von Speyr. In: Lehmann, Karl / Kasper, Walter (Hgg.): Hans Urs von Balthasar. Gestalt und Werk. Köln (Communio) 1989, 104-132; Jacques Servais, Per una valutazione dell’influsso di Adrienne von Speyr su Hans Urs von Balthasar. In: Rivista Teologica di Lugano 6 (2001), 67-90. Rino Fisichella, Hans Urs von Balthasar e Adrienne von Speyr: l’inseparribilità delle due opere. In: Rivista Internazionale di Teologia e Cultura No.156(1997) 61-74. 99 Daniela Mohr, Existenz im Herzen der Kirche. Zur Theologie der Säkularinstitute in Leben und Werk Hans Urs von Balthasars. Würzburg (Echter) 2000, 58.

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„nicht zu vernachlässigende (aber – leider – oft vernachlässigte Zusammenarbeit mit der

Mystikerin Adrienne von Speyr“100 hingewiesen. Je länger man Adrienne von Speyrs und

Hans Urs von Balthasars Werke parallel, also komplementär liest, um so mehr sieht man

Balthasars Dictum bestätigt, ihr Werk und seines seien „weder psychologisch noch

philologisch zu trennen“101.

Hier soll nun nicht ein beliebiger Strang, sondern der zentrale rote Faden, der sich sowohl

durch die experimentelle Dogmatik Adrienne von Speyrs als auch durch die Theologie

Hans Urs von Balthasars zieht und sie verbindet, in einer vorläufigen Skizze verfolgt

werden. Ich versuche das Ineinander beider Werkhälften bezüglich der von den Kritikern

Balthasars in Frage gestellten Interpretation des innertrinitarischen bzw. extratrinitarischen

Mit- und Auseinanders der göttlichen Hypostasen in seiner genuinen Entwicklung zu

verfolgen. Dabei beschränke ich mich auf den Versuch, die von Balthasar in die

Zusammenarbeit mit Adrienne von Speyr eingebrachten Verstehenshorizonte zu erheben

und in ihrer Anwendung auf die Weitergabe bzw. Verschriftlichung des von ihr unmittelbar

Geschauten zu dokumentieren. Bereits in dieser von Hans Urs von Balthasar geleisteten

Transposition des von ihr unmittelbar Geschauten erkenne ich eine im wahrsten Sinne des

Wortes „theologische Transkription“102 ihrer Einsichten. An anderer Stelle wird zu belegen

sein, in welcher Weise Balthasar die von ihm verschriftlichten Erfahrungen Adrienne von

Speyrs mittels seines Werkes orchestriert und in eine unerwartete und erhellende

Korrespondenz zur theologischen und geistesgeschichtlichen Tradition bringt.

2.2 Von der Welt als dem Anderen Gottes zum Anderen in Gott

Wenn man fragt, welche Werkzeuge, Kategorien oder instrumentelle Konturen Balthasar

im Laufe seiner Studienjahre zuwuchsen, die ihn in die Lage versetzen sollten, „die Fülle

ihrer [Adriennes] Einsichten aufzunehmen und ihnen einen angemessenen Ausdruck zu

100 Holger Zaborowski, Katholische Integration. Zum Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Hans Urs von Balthasar. In: Magnus Striet / Jan-Heiner Tück (Hgg.), Die Kunst Gottes verstehen. Hans Urs von Balthasars theologische Provokationen. Freiburg 2005, 28. Das Desiderat benennt auch: Jan-Heiner Tück, dEr Abgrund der Freiheit. Zum theodramatischen Konflikt zwischen endlicher und unendlicher Freiheit. In: Magnus Striet / Jan- Heiner Tück (Hgg.), Die Kunst Gottes verstehen 82-116, 103. 101 Hans Urs von Balthasar, Zu seinem Werk 77. Pierangelo Sequeri ist der Auffassung, dass “die christliche Verbindung und der geistige Zusammenklang mit Hans Urs von Balthasar ... für die Erforschung des kirchlichen Charismas Adriennes eine besonders hilfreiche Vermittlung [bietet]“ (Der kirchliche Glaube als Gnade für die Andern. Die theologische Bedeutung der Mystik Adriennes von Speyr. In: Adrienne von Speyr und ihre spirituelle Theologie. Symposion zu ihrem 100.Geburtstag. Herausgegeben von der Hans Urs von Balthasar-Stiftung. Freiburg (Johannes) 2002, 115-122). 102 Hans Urs von Balthasar, Zu seinem Werk 91.

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geben“, wird man sich zunächst seines „umfangreichen Erstling[s]“103: der 1933-35

entstandenen und 1937-39 veröffentlichten „Apokalypse der deutschen Seele“104 bedienen.

Peter Henrici hat bereits darauf hingewiesen, daß „die ganz frühen Schriften noch

außerhalb dieser Verflechtung“ entstanden seien, so daß sich „an ihnen in etwa ablesen

[lasse], wie viel Eigenes Balthasar in sein späteres Werk eingebracht hat und wie sehr

dieses Werk Eigenstem treu bleibt, wenn auch manches vertieft oder anders betont wird“105

So empfiehlt es sich, in Balthasars Frühwerk gewissermaßen retrospektiv nach

Deutungsmustern zu suchen, mittels deren es Balthasar nach 1940 gelang, Adriennes

Einsichten zu deuten bzw. zum Ausdruck zu bringen. Dieses Vorgehen entspricht dem

Versuch Balthasars „nachträglich ... nach Ansätzen in der Theologiegeschichte [zu suchen],

um ihre [Adrienne von Speyrs] Lehre darin einzuführen“106 Man sieht sich bereits auf den

ersten Blick mit einem Philosophem konfrontiert, das im Rahmen der Zusammenarbeit mit

Adrienne von Speyr eine nicht zu unterschätzende Bedeutung erhalten sollte. Balthasar

widmet sich fortwährend dem Phänomen des Anderen, das ihm sowohl in der

personalistischen Philosophie Schelers, in Bergsons Rede von der „altérité pure“107 als auch

in der hegelschen Liebesdialektik begegnet. Dabei weist er darauf hin, dass das von

Bergson und Nietzsche als wertvoll qualifizierte Anderssein von Scheler weiterentwickelt

worden sei „zur Idee einer radikalen, qualitativen Verschiedenheit der Personen“108, die

ihrerseits die „absolute Je-Andersheit“ der Gottperson[en] wiederspiegelt“109 Balthasar

spricht in diesem Zusammenhang von einer ursprünglichen „Differenziertheit des Seins“,

das „der Differenzierung“ „der [endlichen] Geister“110 zugrunde liege. Dass Hegel der

eigentliche Adversarius Balthasars sei, erklärten und belegten Peter Henrici111, Elmar

103 So bezeichnet Balthasar seine „Apokalypse der deutschen Seele“ im Vorwort zur zweiten Auflage (Apokalypse der deutschen Seele. Studie zu einer Lehre von letzten Haltungen. I. Der deutsche Idealismus. Freiburg 31998, 735). 104 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele. Studie zu einer Lehre von letzten Haltungen. I-III. Freiburg 31998. Der erste Band (.Der deutsche Idealismus) erschien erstmals 1937, der zweite (Im Zeichen Nietzsches) und dritte (Die Vergöttlichung des Todes) 1939 bei Pustet. Bereits in seiner Promotion, die er 1930 unter dem Titel „Geschichte des eschatalogischen Problems in der modernen deutschen Literatur“ veröffentlichte, legte er ein „Bruchstück umfänglicherer Untersuchung“ vor. Wesentliche Teile der Apokalypse entstanden bereits in den Jahren 1928/29. Weitere Beachtung verdiente Balthasars 1933 veröffentlichter Aufsatz: Die Metaphysik Erich Przywaras. In: Schweizerische Rundschau 6 (1933) 489-499. 105 Peter Henrici, Erster Blick auf Hans Urs von Balthasar. In: Walter Kasper / Karl Lehmann (Hgg.), Hans Urs von Balthasar. Gestalt und Werk. Köln 1989, 18-77, 47. 106 Hans Urs von Balthasar, Unser Auftrag 34. 107 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele III 155. 108 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele III 155. 109 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele III 155. 110 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele III 155. 111 Peter Henrici, Zur Philosophie Hans Urs von Balthasars. In: Walter Kasper / Karl Lehmann (Hgg.), Hans Urs von Balthasar. Gestalt und Werk. Köln 1989, 237-259, 247.

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Salman112, Werner Löser113 und zuletzt Michael Schulz114 in seiner der Hegelrezeption in

der katholischen Theologie gewidmeten Dissertation. Balthasars Auseinandersetzung mit

dem Berliner Philosophen stellt meines Erachtens den entscheidenden Hintergrund dar, vor

dem die philosophische Aktualität, das denkerische Niveau und die interdisziplinäre

Relevanz der von Adrienne von Speyr vorgelegten Trinitätslehre erst wirklich erkennbar zu

werden verspricht. In Hegels Überzeugung, dass „das Wahre der Persönlichkeit also eben

dies [ist], sie durch (...) Versenktsein in das Andere zu gewinnen“115 zeichnet sich, so

Balthasar „das Trinitarische als Idee und Wahrheit alles Seins in und außer Gott ab“116. Der

absolute Geist bringt sich durch das Anerkennen seiner „Negativität“, die Balthasar als

„Antithesis zum Insichsein“117 verstanden wissen will, zu sich selbst. Er paraphrasiert

Hegel: „Aber tiefer ist es doch gerade dieses Sichverlieren, das den Geist zu sich bringt.“118

Indem der absolute Geist sich an das oder den Anderen seiner selbst verliert, bringt er sich

zu sich und erweist sich als Liebe, die als solche den Anderen als Anderes ihrer selbst

braucht, um an ihm und in Rückkehr zu sich selbst Liebe zu sein bzw. zu werden. Balthasar

spricht von „Gottes ‚Entfremdung’ innerhalb seiner Identität“119, die sich aber bei Hegel

nicht innertrinitarisch ereigne, sei doch der Sohn als Anderer, weil er gleichen Wesens mit

dem Vater sei „nur das Leuchten des Blitzes, der in seiner Erscheinung unmittelbar

verschwunden ist“120. Mit anderen Worten: „Gott ist die Liebe, d.i. das Unterscheiden und

die Nichtigkeit des Unterscheidens, ein Stück des Unterscheidens, mit dem es kein Ernst

ist, der Unterschied ebenso als aufgehoben gesetzt, d.i. die einfache, ewige Idee“121 Oder

noch anders mit Gustav Siewerth: „Die Differenz ist immer schon aufgehoben und kommt

gar nicht ins Walten: Sie ist nur ‚rational’ oder ‚ideel’“122. So sei das nicht nur ideele,

sondern das wirklich Andere Gottes die Welt. Der Sohn sei also seitens des Vaters ein 112 Elmar Salman, Urverbundenheit und Stellvertretung. Erwägungen zur Theologie der Sühne. In: MThZ 35 (1984) 17-31, 17. 113 Werner Löser, Rezension zu: Hans Urs von Balthasar, Herrlichkeit III/2 2.Teil: Neuer Bund. Einsiedeln 1969. In: ThPh 46 (1971), 119-122, 121. 114 Michael Schulz, Sein und Trinität. Systematische Erörterungen zur Religionsphilosophie G.W.F. Hegels im ontologiegeschichtlichen Rückblick auf J. Duns Scotus und I. Kant und die Hegel-Rezeption in der Seinsauslegung und Trinitätstheologie bei W. Pannenberg, E. Jüngel, K. Rahner und H.U. v. Balthasar. St.Ottilien 1997, 686-821. 115 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Religion (1840) II 330 (zitiert nach.: Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 87). 116 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele 587. 117 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 591. 118 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 591. 119 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 596. 120 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Religion II 252. (zitiert nach: Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 597). 121 Hegel; G.W.F.: Philosophie der Religion II/ 2 (Lasson). Hamburg (Meiner) 1966 (= PhB75) 75. 122 Gustav Siewerth, Gott in der Geschichte. Düsseldorf (Patmos) 1972, 178. Dazu: Michael Schulz, Überlegungen zur ontologischen Grundfrage in Gustaw Siewerths Werk ‚Das Schicksal der Metaphysik von Thomas zu Heidegger’. Freiburg 2003, 54-68 (Siewerths Antwort auf Hegel: Seinsdenken und Trinität).

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„Außersichsein, das als solches keine Wahrheit“123 habe. Weil also „im ewigen Kreislauf

der Dreieinigkeit“124 Vater, Sohn und Geist zusammenfielen, es also mit dem Unterschied

kein Ernst sei, „ist das Moment des Andersseins, die Welt notwendig“125. Ergo: „Ohne

Welt ist Gott nicht Gott“126. Damit aber Welt sei, muß Gott sich als Gott preisgeben, den

Tod des Insichseins sterben, so dass außerhalb seiner Welt wird und werden kann. Dieser

„Tod in Gott“127 avanciert zur Quelle allen geistigen Lebens. Die damit einhergehende

Negation des In-sich-seins, bewirkt einen Schmerz, den Balthasar den „Welt-Schmerz“128

nennt. Man könnte ihn als Geburtsschmerz ausgeben, den Gott erleidet, um in der Negation

des In-Sich-Seins aus sich die Welt zu entlassen, an die er sich verliert, um zu sich zu

finden. Das Andere, an dem Gott er selbst: also Liebe wird, also: „das Andere Gottes als

Anderes“129 ist die Welt. Liest man auf diesem in der „Apokalypse der Seele“

aufgemachten Hintergrund Adrienne von Speyrs trinitätstheologische Einlassungen, wird

man unschwer erkennen, dass Balthasars Studien die Kontrastfolie darstellen, die ihm

ermöglichte, ihre Ein-Sichten entsprechend einzuordnen bzw. ihr in Hegels Liebesdialektik

eine Kontur zu bieten, angesichts derer das positive Gegenstück, das sie mit einer

deutlichen Akzentuierung der innertrinitarischen Hypostasen einführt, Platz zu greifen

verspricht. So sieht Balthasar Adrienne fortwährend von einem Gegenüber der Personen

sprechen: „Wenn Gott, Gott gegenübersteht“130 / „Wenn Gott mit Gott spricht“131, „wenn er

sich als Vater, Sohn und Geist gegenübersteht“ / „Vater, Sohn und Geist sind ineinander

und doch im Abstand“132. Sie erklärt programmatisch: „Jeder in Gott soll er selbst sein und

nicht der Abklatsch des Anderen“133. Und weiter: „In jeder Liebe braucht es Abstand (...)

So auch im Innersten seiner [Gottes] Trinität“134. Sie spricht angelegentlich ihrer

Gebetslehre vom „Gebet in der Trinität“135 und sieht die Personen sich gegenseitig anbeten.

Nachdem sie darauf zu sprechen kommt, dass Anbetung insbesondere Ausdruck einer

qualifizierten „Ehrfurcht“ und Wertschätzung sei, stellt sie fest: „In der Anbetung erfindet

123 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Religion II 252 (.zitiert nach: Apokalypse der deutschen Seele I 597. 124 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 598. 125 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 598. 126 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Religion I 194 (zitiert nach: Apokalypse der deutschen Seele I 598). 127 Hans Urs von Balthasar, Theodramatik IV 221f. 128 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 597. 129 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 597. 130 Adrienne von Speyr, Welt des Gebetes 49. 131 Adrienne von Speyr, Welt des Gebetes 63. 132 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel III 285 / Nr. 2287. 133 Adrienne von Speyr, Welt des Gebetes 65. 134 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel 283 / Nr. 2287. 135 Adrienne von Speyr, Welt des Gebetes 21-65.

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und erschafft die Liebe den Abstand“136. Im Hintergrund dürfte das von Balthasar bei

Bergson und Nietzsche gefundene Prinzip der Wertschätzung oder der unbedingten

Positivität des Anderen stehen137, das sie im Gegensatz zu einem unitarischen „Ein-Gott“

als grundlegendes Fundament trinitarischer Theologie erkennt und einführt. Adrienne

entwickelt den Gedanken weiter, indem sie Gott, den sie als Liebe begreift,

„gottnotwendig“ die Sehnsucht hegen lässt, „seiner Liebe einen Gegenstand der Liebe zu

geben, der so wäre wie er“138. Diesen „Gegenstand“ findet der Vater im Sohn, der Sohn im

Vater und der Geist in Vater und Sohn. Sie spricht von einem wirklichen „Abstand“, der

gewährleiste, dass Gott Gott gegenüberstehe und in ihm den Anderen seiner selbst finde,

bemerkt aber, dass der Geist beider als principium unionis bewirke, „dass ihr Abstand nie

Trennung sein kann“139. Sie kann dennoch sagen: „Um der Einheit der Liebe willen

beschlossen Vater und Sohn sich zu trennen. Wäre diese Trennung nicht gewesen, so wäre

das gegenseitige Schenken nie so vollkommen geworden.“140 Indem sie die Personen in

Gott zwischen sich einen Abstand setzen sieht, wie er zwischen den innergöttlichen

Hypostasen nicht weiter gedacht werden darf und kann, sieht sie Gott der Notwendigkeit

enthoben, sich, um sich zu sich selbst zu bringen, an die Welt zu verlieren oder – in der

Diktion Hegels - sich in sie als dem Anderen seiner selbst zu versenken. Balthasar wird

später in Auseinandersetzung mit Hegel von einer „unendlichen Differenz zwischen Vater

und Sohn“141, „einem unendlichen Abstand“142, einer „Distanz zwischen Gott und Gott“143

und gar von einer „absoluten und [im Gegensatz zu Hegel nicht nur idealen, sondern]

wirklichen Trennung von Vater und Sohn“144 sprechen. Freilich hagelt es Proteste. Man

glaubt die Einheit des göttlichen Wesens gefährdet und fragt an, ob eine solche

Gegenständlichkeit der innertrinitarischen Hypostasen nicht Gefahr laufe, ins Fahrwasser

des Tritheismus zu geraten145. Man darf aber nicht übersehen, dass Adrienne von Speyr im

136 Adrienne von Speyr, Welt des Gebetes 47. 137 Balthasar wird später ausdrücklich auf den Zusammenhang dieser Trinitätskonzeption mit der dem Personalismus verwandten Dialogik aufmerksam machen. Die Dialektik qualifiziere das Andere demgegenüber als das Negative, durch das hindurch das Eine seiner wahren Positivität gelange. Dazu: Hans Urs von Balthasar, Theologik II. Wahrheit Gottes. Einsiedeln 1985, 40-43. 138 Adrienne von Speyr, Die Welt des Gebetes. Einsiedeln 1951, 24. 139 Adrienne von Speyr, Welt des Gebetes 41. 140 Adrienne von Speyr, Johannes II. Die Streitreden. Betrachtungen über das Johannesevangelium. Einsiedeln 1949, 353f. 141 Hans Urs von Balthasar, Theodramatik III. Die Handlung. Einsiedeln 1980, 303. 142 Hans Urs von Balthasar, Theodramatik 301 143 Hans Urs von Balthasar, Theodramatik II. Die Personen des Spiels 1.Teil: Der Mensch in Gott. Einsiedeln 1976, 242. 144 Hans Urs von Balthasar, Theodramatik III 302. 145 So etwa: Walter Simonis, Über das Werden Gottes. Gedanken zum Begriff der ökonomischen Trinität. In: MThZ 33 (1982) 133-139; Michael Stickelbroeck, Trinitarische Prozessualität und Einheit Gottes – Zur Gotteslehre H.U. von Balthasars. In: Forum katholische Theologie 19 (1994) 24-29. Besonders beachtenswert

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Geist als dem einenden Prinzip jeden Abstand in Gott zugleich offen gehalten, aber auch

immer schon überbrückt sieht. Auch hier vermute ich ein von Balthasar zur Verfügung

gestelltes Deutemuster. Schon im Hegelkapitel seiner Apokalypse spricht er im Blick auf

den „Geist“ von der „schöpferischen Negation, welche den ‚Vater’ und den ‚Sohn’

trennend eint und einend trennt.“146. Darüber hinaus darf man nicht aus dem Auge

verlieren, dass Balthasar im Rückgriff auf Adriennes interpersonale Trinitätstheologie mit

der freilich missverständlichen Rede von einer „Trennung“ in Gott klarzustellen versucht,

dass das immanente Leben Gottes nicht „erst im Durchgang durch eine geschaffene

zeitliche Welt seine Bewegtheit und Farbigkeit, durch Sünde, Kreuz und Hölle seinen Ernst

und seine Tiefe“147 erhält. Sohn und Geist seien in Gott eben „nicht nur im Wesen ‚der

Gleiche’, sondern ebenso der unendlich ‚Andere’“, so dass „Gottes Liebe , um jenseits des

Gleichen den Anderen (im Hegelschen Sinn) zu lieben, nicht erst den Menschen erfinden

muß“148. Da Gott also in sich den Ernst des Unterschieds kennt, findet er nicht erst durch

den Schmerz der Gezweiung zur Einigung. Er ist als Dreifaltiger immer schon er selbst ist.

Balthasar greift nahezu wörtlich auf Adrienne von Speyr zurück, wenn er erklärt: „Der Vater, der den Sohn zeugt, ‚verliert’ sich in diesem Akt nicht an ein anderes, um sich selbst zu ‚gewinnen’, er ist als der sich Schenkende immer schon er selbst, indem er sich zeugen und den Vater über sich verfügen lässt. Der Geist ist immer schon er selbst, indem er sein ‚Ich’ als das ‚Wir’ von Vater und Sohn versteht. (Nur, wer das versteht, entgeht der Maschinerie der Hegelschen Dialektik).“149

Adrienne stellt Balthasar eine Konzeption zur Verfügung, die ihm erlauben wird, dem

Impuls der Hegelschen Liebesdialektik insofern zu folgen, dass er Gott im Anderen zu sich

selbst kommen sieht. Andererseits bestärkt die von Adrienne von Speyr eingesehene

innertrintarische Qualität des Abstands der Hypostasen ihn, den wirklich Anderen, an dem

Gott Liebe ist und immerfort wird, in Gott und nicht erst außerhalb seiner in der Welt als

dem Anderen Gottes wahrnehmen zu können.150 Peter Henrici wies angesichts dieser von

scheint mir: Jürgen Werbick, Gottes Dreieinigkeit denken? Hans Urs von Balthasars Rede von der göttlichen Selbstentäußerung als Mitte des Glaubens und Zentrum der Theologie. In: ThQ 176 (1996) 225-240, der vorschlägt nicht von Teilung, sondern von einer „Selbst-Mit-Teilung Gottes“ (229) zu sprechen. Den Einwurf Karl Rahners referiert: Thomas Krenski, Passio Caritatis. Trinitarische Passiologie im Werk Hans Urs von Balthasars. Freiburg 1990, 150-154. Interessant scheint mir Werbicks Vermutung, Balthasars Versuch, Liebe als Selbstlosigkeit in Gott zu hypostasieren, rühre von einer bei ihm auszumachenden „asketischen Überanstrengung“ (237). Ich erkenne in dieser Tendenz eher einen Reflex der von Hans Urs von Balthasar geführten Auseinandersetzung mit der Liebesdialektik Hegels, die ihre Spuren in die von Werbick ausgemachte Richtung hinterlässt. Dazu auch: Steffen Lösel, Kreuzwege. Ein ökumenisches Gespräch mit Hans Urs von Balthasar. Paderborn (Schönigh) 2001, 171-182. 146 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele 595. 147 Hans Urs von Balthasar, Theodramatik III 304. 148 Hans Urs von Balthasar, Zu einer christlichen Theologie der Hoffnung. In: MThZ 32 (1981), 81-102, 100. 149 Hans Urs von Balthasar, Theodramatik II/1 232. Grundlage: Speyr, Adienne von: Welt des Gebetes 51. 150 Die von Werner Löser (Rezension zu: Hans Urs von Balthasar, Herrlichkeit III/2/NB In. ThPh 46 (1971) 119-122, 119), Elmar Salmann (Urverbundenheit und Stellvertretung. Erwägungen zur Theologie der Sühne.

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mir vorgetragenen These dankenswerter Weise darauf hin, dass Balthasar bereits im

Weltbild Maximus Confessors das Handwerkszeug gefunden habe, „den Hegelschen

Pantheismus aus den Angeln zu heben“151 So versteht sich von selbst, dass Adrienne von

Speyr nicht den, sondern einen Impuls gab, den Balthasar in der Auseinandersetzung mit

Hegel aufnahm. Dabei handelt es sich um einen Impuls, der an bereits zuvor bearbeitete

Argumentationsfiguren anknüpft und sie bestätigt.

Umgekehrt soll mit dem Versuch, in der Auseinandersetzung Balthasars mit Hegels

Trinitätslehre einen der Deutehorizonte auszumachen, mit Hilfe dessen er die Auditionen

Adrienne von Speyrs zu positionieren in der Lage war, nicht der Eindruck erweckt werden,

es handle sich um ein durchgängiges Interpretationsmuster, von dem aus Balthasar

Adriennes Erfahrungen deutete. Neben Hegel wären Origenes und Maximus, Gregor von

Nyssa, Nietzsche, Bergson, Scheler und viele andere Autoren zu nennen, die Balthasar

jenseits jeden Handbuchwissens in die Lage versetzen Adriennes Erfahrungen adäquat zum

Ausdruck zu bringen und in einen geistesgeschichtlichen Zusammenhang zu bringen. Pars

pro toto sei auf Balthasars Kommentar im Nachwort seiner ersten Nietzsche-Anthologie

hingewiesen: „Die christliche Distanz ... hat zu ihrem innersten Kern eine Liebe, die grundgelegt ist im Ewigsten selbst. Denn nur im Christlichen wird begreiflich, warum Liebe wirklich ‚Distanz’ ist und sein muß, und sie diese so wenig aufhebt, dass sie sie vielmehr auf immer bestätigt und erhalten wissen will: nur hier wird offenbar, dass Gott selbst als Distanz Dreier in Einheit der Natur ist und damit Urbild aller wahrhaften Einheit, die nicht ein Verschmelzen und Sich-Gemeinmachen ist, sondern das innere Licht der Ehrfurcht und Anerkennung des Du.“152

2.3 Von der heiligen Gott-losigkeit zur heilsamen Gott-losigkeit

In: MThZ 35 (1984), 17-31, 17) und Peter Henrici (Zur Philosophie Hans Urs von Balthasars. In: Lehmann, Karl / Kasper, Walter (Hgg.): Hans Urs von Balthasar. Gestalt und Werk. Köln (Communio) 1989, 237-259, 247) geäußerte Überzeugung, dass Balthasars Denken maßgeblich von Hegel inspiriert sei, findet sich in der bereits in der „Apokalypse der deutschen Seele“ im Anschluß an Franz von Baader gemachten Bekenntnis bestätigt: „Seit dem von Hegel das dialektische Feuer einmal angezündet worden, kann man nicht anders als durch dasselbige selig werden, d.h. indem man sich und seine Werke durch dieses Feuer führt, nicht etwa, indem man von selbem abstrahieren oder es wohl gar ignorieren möchte.“ (Apokalypse der deutschen Seele I 624-625). Balthasar selbst war wohl der Meinung man solle dem Einfluß des Deutschen Idealismus auf sein Werk nicht zuviel Bedeutung zumessen. (Markus Jöhri, Descensus Dei. Teologia della Croce nell’opera di Hans Urs von Balthasar. Rom 1981, 104.) Zur Hegelrezeption Balthasars: Schulz, Michael: Sein und Trinität. Systematische Erörterungen zur Religionsphilosophie G.W.F. Hegels im ontologiegeschichtlichen Rückblick auf J. Duns Scotus und I. Kant und die Hegel-Rezeption in der Seinsauslegung und Trinitätstheologie bei W. Pannenberg, E. Jüngel, K. Rahner und H.U. v. Balthasar. St.Ottilien (Eos) 1997, 686-821. Auch: Hans Urs von Balthasar, Evangelium und Philosophie. In: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 23 (1976) 3-12. 151 Hans Urs von Balthasar, Kosmische Liturgie 19. 152 Hans Urs von Balthasar, Nachwort: In: Friedrich Nietzsche. Anthologien. Vom vornehmen Menschen. Vergeblichkeit. Von Gut und Böse. Freiburg 2000, 105-111, 111.

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Noch greifbarer wird der Adrienne angebotene oder der von Balthasar bereitgestellte

hegelsche bzw. antihegelsche Deutungshorizont, wenn er ihre Karsamstagserfahrungen

wiederzugeben versucht: „A sagt, sie verstehe nun gut, warum der Herr hier hinunter musste. Es sei die letzte Konsequenz der Menschwerdung. Zuerst war er reiner Gott in sich selbst. Dann wurde er Mensch. (...) Nun fehlt ihm noch die Erkenntnis des reinen Nicht-Gott-seins, des puren Gegensatzes zu Gott.“153

Adrienne von Speyr sieht den innertrinitarischen Abstand, den Balthasar später als

„göttliche Gott-losigkeit der Liebe“154 beschreiben wird, sich angesichts der

Höllenerfahrung des Sohnes extratrinitarisch ins Unermessliche weiten, begibt sich doch

der Sohn mittels seiner Höllenfahrt an den „Ort“ der Gott-losigkeit und damit dorthin, wo

er den Vater keinesfalls finden kann. Der Abstand zwischen Vater und Sohn scheint zum

Zerbersten überspannt. Ich erinnere an Balthasars Hegelparaphrase: „Er gewinnt seine

Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet.“155 Aufgrund

dieses unendlichen Abstands zwischen Vater und Sohn zeigt sich der Dreifaltige in der

Lage, alle Abständigen insofern einzubergen, dass sie in den im Geist geeinten Abstand

zwischen Vater und Sohn heimgeholt scheinen. Ohne dass es zwischen Vater und Sohn

diesen ursprünglichen Unterschied der Liebe immer schon gegeben hätte, wäre eine solche

Einbergung der negativen Abständigkeit in den höchst positiven Abstand zwischen Vater

und Sohn nicht möglich gewesen. Adrienne kann in diesem Zusammenhang auch von

einem innergöttlichen „Sich-Trennen“156 sprechen, so dass man sich sowohl aufgrund der

Terminologie als auch im Blick auf den erlösenden Aspekt der innertrinitarischen und

heilsgeschichtlichen Differenz zwischen Vater und Sohn an eine Zeile Rilkes erinnert, mit

der Balthasar das Hegelkapitel seiner „Apokalypse der deutschen Seele“ einleitet:

Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert, drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt;

jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert, liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt.

Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte ; wähnt es sich sicher im Schutz des unscheinbaren Grau's?

Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte. Wehe - : abwesender Hammer holt aus !

Wer sich als Quelle ergießt, den erkennt die Erkennung ; und sie führt ihn entzückt durch das heiter Geschaffne,

das mit Anfang oft schließt und mit Ende beginnt.

153 Adrienne von Speyr, Kreuz und Hölle I. Die Passionen. Einsiedeln 1966, 79. 154 Hans Urs von Balthasar, Theodramatik III. Die Handlung. Einsiedeln 1980, 301. 155 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele 593. 156 Adrienne von Speyr, Das Hohelied. Einsiedeln 1972, 91.

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Jeder glückliche Raum ist Kind oder Enkel von Trennung,

den sie staunend durchgehn. Und die verwandelte Daphne will, seit sie lorbeern fühlt, dass du dich wandelst in Wind.

Rainer Maria Rilke157

Adrienne von Speyr jedenfalls erblickt im „Versenken in das Andere“158, durch das Hegel

der Meinung war, dass Gott zu sich selbst fände, weniger eine ontologische als eine

soteriologische Wirklichkeit und schafft dadurch die Grundlage für die von Balthasar

insbesondere im dritten Band der Theodramatik ausgeführte und orchestrierte „theologische

Transkription“159 dieses immer wieder geschauten und erlittenen karsamstäglichen

Versinkens Gottes in das Gegenteil seiner selbst160.Im Blick auf die heftig kritisierte und

diskutierte Rede Balthasars von einer „Trennung“ oder einem „Drama“ bzw. einer

„Kenose“ in Gott, sollte man nicht aus den Augen verlieren, dass Balthasar sich als

„Literaturtheologe“ der unbegreiflichlichen Wirklichkeit Gottes anzunähern versucht. Hin

und wieder kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Adrienne von Speyr in jenen

Passagen ihrer Trinitätstheologie, die die Grenze des Sagbaren überschreiten, in einer

Weise spricht, die ihr Balthasar möglicherweise in Gestalt der Lyrik Rilkes anbot. Ohne

Rilke trinitätstheologisch vergewaltigen bzw. vereinnahmen zu wollen, lässt nicht nur die

zitierte Zeile, sondern auch das französische Gedicht „maternité“ einen Spielraum offen,

innerhalb dessen man den Vater, aus dessen Mutterschoß der wesensgleiche Sohn geboren

ist, den von ihm unterschiedenen und ins Reich der Abwesenheit Gottes absteigenden Sohn

ansprechen hört: Ma vie, tu me l’as remplie de ton parfum d’absence, mon fils dans l’infini, ô ma substance.161

2.4 Von der Unveränderlichkeit zur „Über-Veränderlichkeit“

157 Rainer Maria Rilke, Gedichte 1910 bis 1926. Hrsg. von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn. Frankfurt/Leipzig 1996, 263. 158 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Religion II 246. 159 Hans Urs von Balthasar, Zu seinem Werk 91. 160 Zur Karsamstagstheologie Hans Urs von Balthasars: Thomas Krenski, Spekulativer Karsamstag – Hans Urs von Balthasars originärer Beitrag zur Relecture des Apostolischen Glaubensbekenntnisses im 20.Jahrhundert. In: Mariano Delgado (Hrsg.), Das Christentum der Theologen im 20.Jahrhundert. Stuttgart (Kohlhammer) 2000, 148-163. 161 „Mein Leben, du hast es mir erfüllt mit deinem Duft der Abwesenheit, mein Sohn in Unendlichkeit, o mein Wesen“ (Rilke, R.M.: Gedichte in französischer Sprache. Hrsg. von MEngel und D.Lauterbach. Übertragungen von R. Luck. Frankfurt (Insel) 2003, 272-273). Dazu: Krenski, Thomas: „Jeder glückliche Raum ist Kind oder Enkel von Trennung“. Zur „Wahrheits-Form“ der trinitarischen Gottes- und Erlösungslehre Hans Urs von Balthasars. In: Magnus Striet / Jan Heiner Tück (Hgg.), Die Kunst Gottes verstehen. Theologische Provokationen Hans Urs von Balthasars. Freiburg (Herder) 2005, 181-219.

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Neben der Philosophie des Anderen glaube ich in der „Metaphysik des Werdens“ einen

Deutehorizont wahrnehmen zu können, der sich aus Balthasars Beschäftigung mit dem

Deutschen Idealismus162, der Lyrik Rilkes163, der Lebensphilosophie164, aber eben auch und

in besonderer Weise seiner Auseinandersetzung mit der „Philosophie religieuse“165 eines

Gregor von Nyssa und dem Weltbild eines Maximus Confessors166 ergibt. Nicht nur, dass

er Bergson von Gott als einem „werdenden Wesen“, das im „Lebens-Rhythmus des

Seins“167 unaufhörliches Leben sei, sprechen hört. Nicht nur, dass er sich immer und immer

wieder mit dem „goethisch-hegelschen Begriff einer Metaphysik, die im Werden des Seins

und des Geistes sich selbst vollzieht“168 konfrontiert sieht. Er erklärt darüber hinaus: „Das durchgängige Leitmotiv des deutschen Denkens ist das Motiv des ‚Werdens’, genauer das Motiv der Potentialität des Seins, durch das es sich gegenüber dem eleatisch-platonischen, scholastischen Begriff des actus purus abhebt. Der Gottesbegriff des deutschen Denkens steht darum mit Notwendigkeit über Akt und Potenz, weil dieses Denken die unaufhebbare Positivität des Werdens betont“169.

Er hört Hegel nicht nur von der „unendlichen Elastizität der Substanz“170, sondern von

einem durch „Entwicklung sich vollendende[n] Wesen“171 sprechen. Er erkennt das Prinzip

einer „ontologischen Dynamik“172, die von einer „’flüssigen Natur’ des Seins“173 auf eine

„Werdensgeschichte des Geistes“174 schließt, so dass man im Blick auf den Geist von

einer„die Bewegung seines Gewordenseins“175 sprechen könne. Adrienne von Speyr wird

die innergöttlichen Personen als „die ewig-Werdend-Gewordenen“176 bezeichnen. Bei

162 Insbesondere in : Apokalypse der deutschen Seele I. Der deutsche Idealismus. Freiburg 31998. Auch: Herrlichkeit III ,1 Im Raum der Metaphysik. Teil 2 Neuzeit. Einsiedeln 1965, 879-921. 163 Insbesondere: Rilke und die religiöse Dichtung, in: SdZ 63 (1932) ; Apokalypse der deutschen Seele III 193-229 (Heidegger und Rilke); Herrlichkeit III,1/2 757-769. 164 Insbesondere in: Apokalypse der deutschen Seele III 84-151; ders; Von den Aufgaben der katholischen Philosophie in der Zeit. Freiburg 1998. 165 Hans Urs von Balthasar, Présence et pensée. Essai sur la Philosophie religieuse de Grégoire de Nysse. Paris 1939. 166 Hans Urs von Balthasar, Kosmische Liturgie. Höhe und Krise des griechischen Weltbildes bei Maximus Confessor. Freiburg 1941. Hier zitiert nach: Hans Urs von Balthasar, Kosmische Liturgie. Das Weltbild Maximus’ des Bekenners. Einsiedeln 21961. 167 Hans Urs von Balthasar, Von den Aufgaben der Katholischen Philosophie 68. 168 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele III 197. 169 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele III 155. 170Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Religion II 197 (zitiert nach: Apokalypse der deutschen Seele I 586). 171 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele III 566. 172 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 570. 173 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 570 174 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 567. 175 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie 157 (zitiert nach: Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 568). 176 Adrienne von Speyr, Welt des Gebetes 22.

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Gregor von Nyssa findet er eine „Metaphysik des Werdens“177, die ihn begeistert erklären

lässt: „Die Menschwerdung hat uns die Augen aufgetan dafür, was Gott in Sich ist. Und es fand sich, dass Er nicht die Starre der Ewigkeit ist, ewiger Fels für die Welle des Werdens, sondern dass Er als innergöttlicher Liebesstrom ebenso Über-Werden wie Über-Sein ist“178.

So habe Gregor eine Sicht des „innere[n] strömende[n] Leben[s] Gottes“179 vorgelegt, das

im Blick auf Gottes ewiges Leben nicht „Sattheit und Überdruß“180 erwarten lässt, weil in

ihm „Begierde in der Erfüllung sich nicht abspannt und Sehnsucht ihre Glut in der Lust

behält“181. Bei Adrienne wird es von Gott nahezu wortgleich heißen, dass er sich im

Andern und im Gleichen finde und erfülle, „ohne dass je Langweile entsteht, weil die

Spannung nicht erlahmt, immer neu im Ursprung ist.“182 Balthasar findet Gregors

Gedankengang bei Maximus Confessor, den er für einen „Mystiker [in der neuplatonischen

Tradition des Gregor von Nyssas] hält, der zugleich [aristotelisch gebildeter] Metaphysiker

ist“183 weiterentwickelt und gegen Missdeutungen gesichert. Was Balthasar Staudenmaier

mit Hilfe Scotus Eriugenas versuchen sieht, nämlich: „den hegelschen Pantheismus aus den

Angeln zu heben“184 scheint er selbst mit Hilfe Maximus’ des Bekenners versuchen zu

wollen. Dabei weist er fortwährend auf des Bekenners Nähe zu Hegel hin185, sei Maximus

doch der „einzig christliche Philosoph, der im Ernst die Notwendigkeit gesehen hat, die

Bewegung in eine Ontologie des (idealen) Seins selbst einzuführen“.186 Im gleichen

Atemzug weist er darauf hin, dass Maximus von Hegel „ein Abgrund“187 trenne, der sich

dadurch auftue, dass Hegel einer „Werdenstrunkenheit“188 verfalle, die alles Sein in

Werden auflöse189. Maximus hingegen synthetisiere Ruhe und Bewegung, indem er

177 Gregor von Nyssa: Der versiegelte Quell. In Kürzung übertragen und eingeleitet von Hans Urs von Balthasar. Salzburg 1939, 26. (Einsiedeln 31984, 19). Auch: Hans Urs von Balthasar, Présence et pensée 10-19. 178 Gregor von Nyssa: Der versiegelte Quell 1939, 33. (Einsiedeln 31984, 23) 179 Gregor von Nyssa: Der versiegelte Quell 33 (31984, 24). 180 Gregor von Nyssa: Der versiegelte Quell 20 (31984, 15). 181 Gregor von Nyssa: Der versiegelte Quell 20 (31984, 15). 182 Adrienne von Speyr, Welt des Gebetes 27. 183 Hans Urs von Balthasar, Kosmische Liturgie 51. 184 Hans Urs von Balthasar, Kosmische Liturgie 19. 185 Hans Urs von Balthasar, Kosmische Liturgie 57f. 76, 78, 79, 159f.166. 204. Dazu: Werner Löser, Im Geiste des Origenes. Hans Urs von Balthasar als Interpret der Kirchenväter. Frankfurt 1976, 202. 186 Hans Urs von Balthasar, Kosmische Liturgie 159. 187 Hans Urs von Balthasar, Kosmische Liturgie 266. 188 Hans Urs von Balthasar, Kosmische Liturgie 141. 189 Hans Urs von Balthasar, Kosmische Liturgie 78: „Während hier [bei Eriugena] die Hineinnahme der [werdenden] Welt in den göttlichen Prozeß zu beinahe pantheistischen Akzenten führt und das Positiv-Christliche fast ganz überblendet, bleibt bei Maximus die Theologie ganz vom christlichen Geiste der Unterscheidung von Gott und Welt beherrscht: sie ist weder ‚himmlische Liturgie’ wie bei Dionysius, noch ‚kosmische Gnosis’ wie bei Eriugena, sondern Kosmische Liturgie.“ Maximus hingegen überwinde Hegels Identitätsphilosophie durch das chalkedonische „Unvermischt“, das er zur Weltformel (Kosmische Liturgie

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jenseits, wörtlich: „über der Bewegung und der Beharrung“ / “ύπερ κίνησιν τε και στάσιν” /

„super motum et statum“190 von einer „Über-Bewegung“191 spreche. Balthasar zeigt sich

offensichtlich fasziniert vom Werdecharakter des Seins, das Gott ein Werden zuspricht,

„das noch nichts von Zeit enthält“192, so dass es immer schon ist, was es „wird“ bzw.

„wird“, was es immer schon ist. Er nennt dieses Werden „Über-Werden“193 Dieser

Terminus findet sich in der Niederschrift der 1949 von Adrienne von Speyr erlittenen

„Passionen“: „Nun erhält unbegreiflicherweise im Herzen der Unveränderlichkeit die Veränderung einen Platz. Man müsste sagen: jeder Veränderlichkeit der Schöpfung gegenüber gibt es in Gott von jeher eine Über-Veränderlichkeit. Wir nehmen zu kleine Maßstäbe, wenn wir mit unseren Maßstäben ‚veränderlich-unveränderlich’ operieren: die Wirklichkeit ist viel voller, als wir uns vorstellen können.“194

Adrienne beschreibt dieses „Über-Werden“ als „ein Werden, das je immer schon die

Eigenschaften des Seins trägt“195, so dass die Personen in Gott nicht einfachhin sind,

sondern werden, was sie immer schon sind: „der Vater ist immerfort am Erzeugen seines

Wortes, das sich dauernd erfüllt“: „Man kann davon nicht anders reden, als indem man gleichzeitig Aussagen des Seins und des Werdens macht. Gott ist, der dreieinige Gott ist, und das ‚Werden’ in ihm ist Zeichen seiner Lebendigkeit. Ewig zeugt der Vater den ewigen Sohn, aber in der Zeugung ‚wird’ der Sohn nicht, sondern ist. Das ‚Werden’ in Gott ist eine Bestätigung seines Seins. Auch weil Gott unveränderlich ist, kann die Lebendigkeit seines ‚Werdens’ nie etwas anderes sein als sein Sein.“196

In Balthasars „Apokalypse der deutschen Seele“ liest man im Blick auf Schelers

Personalismus: „Die Identität der Person in ihren Akten ist keine tote und formale

Einerleiheit. Sie ist ‚Variation’ und ‚pures Anderswerden’ vor und über allem

Zeitnacheinander. ‚Die Identität liegt hier allein in der qualitativen Richtung dieses puren

57) stilisiere. Die zentrale Argumentation des Bekenners gibt Werner Löser folgendermaßen wieder: „Wenn sie uns aber sagen, die Geister könnten zwar wohl [dem göttlichen Gut anhangen], sie wollten es nur nicht, um nämlich die Erfahrung des Gegenteils zu machen, dann wäre auch so das Schöne nicht durch sich selbst, als Schönes, sondern nur durch seinen Gegensatz für sie ein notwendig zu begehrendes Gut, nicht als ein durch seine Natur und absolut liebenswertes“, (Maximus Confessor, Ambigua ad Iohannem / Eduard Jeauneau. Turnhout 1988 / CCG 18, 22 Zeilen 36-41 / Übersetzung: Werner Löser, Im Geiste des Origenes 206.) 190 Maximus Confessor, Ambigua ad Iohannem / Eduard Jeauneau. Turnhout 1988 / CCG 18,122 Zeile 142 : “ύπερ πασαν ειναι κίνησιν τε και στάσιν” / „et quod iuxta super omnem sit motum et statum“. Der Textpassage findet sich übersetzt bei: Maximos der Bekenner. All-eins in Christus. Auswahl, Übertragung, Einleitung von Endre von Ivánka. Einsiedeln 1956, 15-24. Die hier zitierte Sentenz findet sich auf Seite 23-24. 191 Hans Urs von Balthasar, Maximus Confessor 137. 192 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele III 155. 193 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 437. 194 Adrienne von Speyr, Kreuz und Hölle I 252. 195 Adrienne von Speyr, Welt des Gebetes 25. 196 Das Wort und die Mystik II 82. 104-105.

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Anderswerdens selbst’“197. Ich vermute, dass Balthasar Adriennes trinitarische

Einlassungen mittels des schelerschen Personalismus zum Ausdruck zu bringen versuchte.

So wenn, er ihre Erfahrungen wie folgt wiedergibt: „Jede Person weiß, was in der anderen vorgeht, und der ganze Gott weiß, dass er Gott ist. Die Möglichkeiten von ‚Überraschungen’ liegen für Gott einzig innerhalb der Liebe, die ihrem Wesen nach, auch als ewige Liebe, das stets Überraschende ist. Das schließt selbstverständlich Gottes Allwissenheit nicht aus. Aber die Geheimnisse der Liebe sind in Gott vordringlicher als die Geheimnisse der Allwissenheit. Es gibt das Auseinander-Hervorgehen der Personen, und ewig das immer neue Aufeinander-Zukommen der auseinander hervorgegangenen Personen. Darin liegt die ewige und immer neue Überraschung.“198

Die plastische Diktion stammt sicher von Adrienne, die, so Balthasar, „weniger technisch“

spricht, sondern unmittelbar nachzuvollziehende Erfahrungen zur Erläuterung eines

abstrakten Sachverhaltes beiziehe: „Haben Sie je ein Versteckspiel mit kleinen Kindern gemacht? Das Kind geht hinter meinen Sessel und ich frage: Wo ist denn nur der Michel hingekommen? Ist er fort? Nun lacht er unbändig und kommt hervor; und ich bin schrecklich überrascht, wenn ich ihn sehe. Das ist ein Als-Ob. Aber der Trug wird von der Einbildungskraft des Kindes so überdeckt, dass er gar keine Rolle spielt. Und im Spiel liegt die Freude, die das Wichtigste und Echte ist. Und der Mutter geht es im Spiel um das gleiche Wichtige und Echte. Man würde beide, Mutter und Kind, verkennen, wenn man das Ganze nur als ein Als-Ob deuten wolle. Etwas davon gilt auch für Gottes ewiges Leben der Liebe.“.199.

Was Balthasar bekannte, als er 1984 erklärte, dass „die eigene Denkform durch das von

Adrienne Empfangene nicht ausgelöscht, sondern bereichert worden“ sei, „dass er „durch

die Erfahrungen Adriennes [seine] Hauptinteressen an Irenäus, Origenes, Gregor von

Nyssa, Maximus Confessor fortgesetzt und die dort offen gebliebenen Fragen erfüllt oder in

ihrer Richtigkeit bestätigt“200 sah, verifiziert sich im Blick auf Gregor von Nyssa an der von

Adrienne von Speyr fortgeführten und konkretisierten „Metaphysik des Werdens“.

Balthasar hat später insofern eine systematische Umsetzung dieser Einsichten betrieben als

er unter ständigem Verweis auf Adrienne von Speyrs Trinitätslehre einer Ontologie der

Liebe das Wort redete, von der er der Überzeugung war, dass sie die scholastische Akt-

Potenz-Lehre zu ihrer ursprünglichen Aussageabsicht zurückzuführen im Stande sei.201

197 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele III 155. (Zitate aus: Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Halle 1916, 400.) 198 Adrienne von Speyr, Kreuz und Hölle I 205. Sehr ähnlich: Welt des Gebetes 26-27, 42. 199 Adrienne von Speyr, Kreuz und Hölle I 205. 200 Hans Urs von Balthasar, Unser Auftrag 81. 201 So etwa TD IV 57-86. Dazu: Thomas Krenski, Passio Caritatis. Trinitarische Passiologie im Werk Hans Urs von Balthasars. Freiburg 1990, 175-191 (Ontologisches Implikat). Auch: Werner Löser, Das Sein - augelegt als Liebe. In: IkaZ 4 (1975) 410-424. Peter Blätter, Pneumatologia crucis. Das Kreuz in der Logik von Wahrheit und Freiheit. Ein phänomenologischer Zugang zur Theologik Hans Urs von Balthasars. Würzburg (Echter) 2004 (=BDS 38) 363-364; 394-400. 418-422.

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2.5 Den dreifaltigen Gott zum Eingott zusammenschmilzen?

Im Ganzen versteht sich Adrienne von Speyrs Trinitätsmystik als Korrektiv einer

weitgehend formalen, einer „intellektualistisch“ spekulativen Trinitätslehre, der „etwas

völlig Abstraktes, rein Begriffliches“202 anhänge. Andererseits will sie jenen Kräften

wehren, die den dreifaltigen Gott „zum Eingott zusammen[zu]schmilz[en]“203 in Gefahr

stehen: „Die Offenbarung Christi steht im Dienst der Offenbarung der Trinität. Wenn die Dogmatik diese Differenzierungen wieder verwischt oder verflacht, indem sie nur von äußeren Appropriationen reden will, wird man Acht geben müssen, dass nicht das ganze Credo in sich zusammenfällt, so weit, dass nur noch Pontius Pilatus als sicher erkennbare Größe übrig bleibt, während das übrige zu einer Gleichnisrede herabsinkt.“204

Indem sie zwischen den Personen eine Erwartung leben sieht, die immer schon erfüllt ist

und sich dennoch nie erschöpft, indem sie die Selbstbegegnung Gottes im jeweils Anderen

innertrinitarisch verortet, indem sie auf unbegreifliche Weise Überraschung zwischen den

Personen erblickt, die in keiner Weise Gottes Allwissenheit und sein Immer-schon

gefährde, sondern befeure und dynamisiere, wehrt sie dem Versuch der „Theologen, aus

den drei göttlichen Personen fixe Punkte [zu machen], die immer in gleicher Nähe

voneinander stehen sollen“205. Wieder wittere ich Hegel, mittels dessen Philosophie

Balthasar Adriennes Einsichten „in die großen Zusammenhänge“206 nicht nur der

Theologie, sondern der Philosophiegeschichte stellt: „’Sowohl das Fixe des reinen Konkreten, welches Ich selbst im Gegensatz gegen unterschiedenen Inhalt ist, als das Fixe von Unterschiedenen, die, im Elemente des reinen Denkens gesetzt, an jener Unbedingheit des Ichs Anteil haben’ ist im wahren Denken aufzugeben.“207

202 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel I 434 / Nr.969. 203 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel I 434 / Nr. 969. 204 Adrienne von Speyr, Das Wort und die Mystik II 97. 205 Adrienne von Speyr, Kreuz und Hölle I 216. 206 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel III 119 / Nr.2161. 207 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Hans Urs von Balthasar, Phänomenologie des Geistes 23f. (zitiert nach: Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 571).