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I. Schröter H. Brumme, N. Schröter,: Supply Chain Management und Logistik
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1. Fallbeispiel: Supply Chain im technischen Großhandel
Ausgangssituation
Das Unternehmen war im Hinblick auf die Logistik stark dezentral organisiert. Neben zwei
Zentrallagern am Firmensitz wurden noch 8 Lager- und Verkaufsstandorte im Inland unterhalten.
Daneben waren im Ausland weitere Niederlassungen vorhanden, die teilweise noch zusätzliche Lager
innerhalb des jeweiligen Landes aufgebaut hatten.
Gegenüber dem Markt tritt das Unternehmen als Produzent auf, allerdings werden 100 % der
Produkte zugekauft und als Brand-Label-Produkte vertrieben – ein erheblicher Anteil dieser Produkte
wird dabei von wenigen Herstellern bezogen.
Die Kunden können in zwei Gruppen untergliedert werden: Zum einen die kleinen mittelständischen
Handwerksbetriebe mit vorwiegend Klein- und Kleinstaufträgen, zum anderen größere Unternehmen
und Arbeitsgemeinschaften, die große Industriekomplexe realisieren mit Großaufträgen, die z.T. über
Monate laufen.
Vor diesem Hintergrund und einem starken Unternehmenswachstum entstand das Problem, dass das
vorhandene Lagervolumen in den beiden Zentrallagern nicht mehr ausreichte und der
Personalbedarf für die beleggesteuerte Lagerabwicklung in der vorhandenen Infrastruktur als zu
hoch eingeschätzt wurde.
Die Istanalyse
Schon in den ersten Gesprächen wurde deutlich, dass der oben angeführte Denkansatz
„Lageroptimierung in den Zentrallagern“ zu kurz gegriffen war und es im Hinblick auf die Entwicklung
eines langfristig erfolgreichen Logistikkonzeptes erforderlich war, die gesamte Supply Chain vom
Lieferanten bis zum Endkunden in allen Ländern zu betrachten. Denn die Optimierung im
Zentrallager hätte nicht zu einer Zukunftslösung geführt.
In einer ersten Betrachtung wurden Warenströme und Bestände analysiert. Die vorhandenen
Warenströme stellten sich als nahezu undurchschaubares Geflecht dar. Da war zum einen die
dezentralisierte Disposition und Beschaffung. Jeder Standort konnte nach eigenem Ermessen direkt
beim Hersteller bestellen oder aus dem Zentrallager abrufen. Es gab keinerlei Regeln wie disponiert
und bevorratet wird, also welche Artikel in welchen Mengen als Lagerartikel vorgehalten werden
sollten. Dies führte zu völlig unterschiedlichen Beschaffungspreisen, derselbe Artikel vom selben
Lieferanten hatte, je nach Bestellmenge und Verhandlungsgeschick des Bestellers haus dem eigenen
Haus), unterschiedliche Preise. Daneben entstand ein enormer „Materialtourismus“. War ein Artikel
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in einer Niederlassung nicht vorhanden, so wurde erst einmal die Schwesterniederlassung
kontaktiert, da das Zentrallager „ja sowieso nicht funktioniert“. Dies bedeutete, dass ein Artikel der
vom Lieferanten an das Zentrallager geschickt wurde und von dort zur Niederlassung transportiert
worden war, dann exakt in der Bedarfsstückzahl an die Schwesterniederlassung weitergereicht
wurde. Um das Ganze noch zu toppen, wurde der Artikel, wenn er dann in der Bedarfsniederlassung
wieder verfügbar war, in der ursprünglichen Abrufmenge der Schwesterniederlassung wieder zurück
gegeben.
Abb. 1: Warenströme im Unternehmensnetzwerk
Im Endeffekt musste festgestellt werden, dass vielfach Artikel in den dezentralen Lagern vorgehalten
wurden, die keine Bewegung aufwiesen, dass die Bestände deutlich zu hoch waren und dass dennoch
keine befriedigende Lieferbereitschaft gegeben war – ein bedenkliches, aber leider sehr häufig zu
beobachtendes Worst Case-Szenario.
Die Kunden
Bei der Betrachtung der Kundenbedürfnisse wurde sehr schnell deutlich, dass der größere Anteil der
Bestellungen per Paketdienst oder Spedition ausgeliefert wurde. Lediglich ein geringer Umfang
wurde von den Kunden direkt in der Niederlassung abgeholt, es handelte sich dabei überwiegend um
Artikel, bei denen der Handwerker den Bedarf erst auf der Baustelle festgestellt hatte und diese nun
er sofort benötigte, damit es zu keiner Arbeitsunterbrechung kam.
Vor diesem Hintergrund wurde dann die Fragestellung untersucht, was muss eigentlich noch in der
Niederlassung an Artikeln vorgehalten werden, um die Kundenbedürfnisse zu erfüllen, sofern das
Lieferant 1 Lieferant 2 Lieferant n
Kunde 1GeSt 1
Kunde 2GeSt 1
Kunde nGeSt 1
Kunde 1GeSt 2
Kunde 2GeSt 2
Kunde nGeSt 2
Geschäfts-stelle 2
Geschäfts-stelle n
Geschäfts-stelle 1
ZENTRAL-LAGER
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Zentrallager eine funktionierende Logistik mit 24-Stunden-Service bieten kann. In Abbildung 2 wird
dies am Beispiel einer einzigen Niederlassung aufgezeigt. Die Grundidee dabei ist, dass nur noch die
Artikel am Abholstützpunkt lagern, die vom Kunden in der Selbstabholung benötigt werden. Alle
anderen Artikel werden vom Zentrallager aus direkt im 24-Stunden-Lieferservice an den Kunden
verschickt. Bei der aktuellen Laufzeit der Paketdienste war hier kein zeitlicher Unterschied zwischen
dem Versand ab Zentrallager und ab Niederlassung gegeben hsoweit dies das Inland betraf). Zum
Zeitpunkt der Untersuchung war in der repräsentativ untersuchten Niederlassung ein Warenwert zu
Einkaufspreis in Höhe von 411.000 € vorhanden. Im ersten Schritt wurde untersucht, welches ein
angemessener Bestand wäre, wenn man weiterhin das Vollsortiment bevorratete. Dabei konnte
festgestellt werden, dass nach sehr großzügig ausgelegten betriebswirtschaftlichen Schätzungen
ungefähr 170.000 € zu viel bevorratet wurde. Dies waren zum einen Angstbestände, aber auch
Bestände, die aufgrund von fehlenden Regeln „gefühlsmäßig“ bestellt worden waren. Und von
diesem Wert waren ca. 70.000 € in Ladenhüter gebunden, die über ein Jahr keinen Abgang in dieser
Niederlassung zu verzeichnen hatten.
Abb. 2: Bestandsbetrachtung eine Niederlassung
Bei der vertieften Betrachtung der Ladenhüter traten zwei unschöne Aspekte zutage. Erstens konnte
festgestellt werden, dass die Ladenhüter dieser Niederlassung von anderen Niederlassungen,
teilweise sogar mit Mindermengenzuschlag, beim Lieferanten bestellt wurden. Desweiteren wurde
festgestellt, dass ein nicht unerheblicher Anteil dieser Artikel, bedingt durch technische
Veränderungen des Lieferanten, absolut unverkäuflich war und nur noch verschrottet werden
411.302
236.712
138.670
87.912
Gesamt Ist Vollsortiment optimiert Abholsortiment optimiert Abholsortiment ab 4. Abgänge/Jahr
BESTANDSVERGLEICH ALS BEISPIEL
Intuitive SicherheitsbeständeDavon 68.000 EUR Ladenhüter
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konnte. Schon allein die Optimierung des Vollsortiments hätte einen dramatischen Bestandsabbau
im Gesamtunternehmen zur Folge gehabt.
Im zweiten Betrachtungsschritt wurde analysiert, welche Artikel die Kunden selbst abgeholt hatten.
Dies ergab nochmals ein zusätzliches Einsparungspotential von 100.000 €. Einmal angenommen, es
würden nur noch Artikel vorgehalten, die sich alle 3 Monate einmal bewegen, so wäre ein
Bestandsabbau von 411.000 € auf 88.000 € denkbar. Bezogen auf die gesamte Unternehmensgruppe
könnte damit ein zweistelliger Millionenbetrag eingespart werden. In diesem Zusammenhang wurde
noch ein zweiter, extrem wichtiger Aspekt deutlich. Durch die Selbstabholung war der potentielle
Kundenkreis generell nur auf einen geografisch überschaubaren Umkreis zur Niederlassung begrenzt.
Alle anderen potentiellen Kunden in entfernteren Gebieten waren damit nicht erreichbar. Dies hat
letztendlich zu einer tiefgreifenden Strategieumstellung geführt, die durch folgende Merkmale
charakterisiert wurde:
• Die vorhandenen Niederlassungen werden in Abholstützpunkte mit einem eingeschränkten
Artikelsortiment h„Abholsortiment“) umgewandelt. Soweit sinnvoll, erfolgt ein Umzug in
kleinere für die neue Aufgabe geeignete Räumlichkeiten hes ist kein Lager mehr erforderlich).
• Im ganzen Land werden flächendeckend Abholstützpunkte aufgebaut, deren jeweiliger
Standort sich am Umsatzpotential der regionalen Kunden orientieren soll. So werden
beispielsweise in Großstädten teilweise bis zu drei Abholstützpunkte realisiert.
• Jeder Abholstützpunkt wird mit qualifiziertem Fachpersonal besetzt, damit eine optimale
Kundenberatung und Kundenbindung gewährleistet ist.
• Die Abholstützpunkte werden optisch ansprechend gestaltet, die Ware wird dem Kunden für
die Selbstbedienung im Supermarktcharakter präsentiert, auch um Spontankäufe anzuregen
und Neuartikel zu fördern.
Nachdem derzeit schon eine Reihe der Stützpunkte realisiert sind kann dieser Denkansatz in vollem
Umfang bestätigt werden. Bei unternehmensweit deutlich reduzierten Beständen konnte der Umsatz
überproportional gesteigert werden.
Bestandsoptimierung
Auf Basis dieser Erkenntnisse wurden dann die Regeln der Bestandsoptimierung näher definiert. Die
erste wichtige Grundsatzentscheidung war die Zentralisierung von Disposition und Einkauf im
Stammhaus. Dies war nur vordergründig nicht ganz einfach, da ja in die Hoheit der regionalen
„Fürstentümer“ in den Niederlassungen massiv eingegriffen wurde, jedoch überzeugten die erhöhte
Versorgungssicherheit, die drastisch reduzierten Kosten, die Verantwortungsdelegation durch den
Wegfall atypischer Arbeiten wie Einkauf und Disposition, Lagerabwicklung usw. letztendlich die
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letzten Zweifler. Es stellte sich natürlich die Frage, was weiterhin und aus welchen Gründen in einem
Abholstützpunkt vorrätig sein sollte und in welcher Menge:
• Alle Artikel, die sich minimal sechsmal pro Jahr umschlagen, werden in einer Reichweite von
4 bis 12 Wochen vorgehalten hin Abhängigkeit von ABC-Kriterien, Volumen, Teileeinzelpreis
etc.).
• Geringpreisige Artikel mit kleinem Volumen werden in angepasster Lagerreichweite
vorgehalten, wenn diese in der Vergangenheit mindestens zweimal pro Jahr in der
Selbstabholung benötigt wurden.
• Ergänzungsartikel, wie z.B. ein Schraubendreher in einer kaum nachgefragten Größe, werden
nur in Stückzahl 1 vorgehalten, damit das gesamte Sortiment gezeigt werden kann.
• Neue Artikel oder Artikel, für die aktuell eine Promotion läuft, werden zeitweise vorgehalten
und bei entsprechender Nachfrage in der Abholung auch in Bestandsartikel umgewandelt.
Für die Zentraldisposition wurden daneben Regeln entwickelt, die sich an den Rahmenbedingungen,
hKostenoptimierung, Lagervolumenbedarf, Lieferantenlieferzeit, Beschaffungsrisiko usw.) orientieren.
Ferner wurden die Disponenten intensiv geschult, damit zum einen ein breites Grundlagenwissen
geschaffen, zum anderen aber auch das Gespür dafür gestärkt wurde, wann die Grenzen einer
maschinellen Disposition erreicht sind und wo Erfahrung in das Tagesgeschäft einfließen muss. Mit
dieser Maßnahme wurden folgende Effekte erzielt:
• Disposition und Einkauf erfolgen durch qualifizierte Mitarbeiter und sind nicht, wie bisher,
Teilaufgabe eines Verkäufers.
• Reduktion der Anzahl an Bestellpositionen um mehr als die Hälfte, das entspricht mehreren
zehntausend Positionen jährlich.
• Bündelung des Bedarfs und damit Optimierung der Transportbeziehungen.
• Verstärkte Nutzung von Mengenrabatten.
• Ermittlung derjenigen Artikel, bei denen ein Sicherheitsbestand erforderlich ist, und
Konzentration der deutlich abgesenkten Sicherheitsbestände am zentralen Standort hohne
negativen Einfluss auf die Lieferfähigkeit).
• Einführung eines professionellen, unternehmensweit greifenden Bestandsmanagements,
dadurch Sicherstellung optimierter und an den Bedarf angepasster Bestände.
• Entlastung aller Niederlassungen und Abholstützpunkte von dispositiven Aufgaben. Die
Zentraldisposition ist für die termingerechte und mengengerechte Versorgung aller
Standorte verantwortlich.
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Die Auswirkung auf den Lagerbestand und den Dispositions- und Bestellaufwand sind aus den
Abbildungen 3 und 4 ersichtlich.
Abb. 3: Ist-Soll-Bestandsvergleich
Abb. 4: Ist-Soll-Vergleich der Bestellpositionen
Betrachtet man etwa den Bestandswert bei A-Artikeln, so ist hier das größte Optimierungspotential
erkennbar. Es könnte angenommen werden, dass die Bestände daraus resultieren, dass zu selten und
mit zu großer Lagerreichweite bestellt wird. Betrachtet man die Anzahl der Bestellpositionen, so wird
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8.000.000
10.000.000
12.000.000
14.000.000
16.000.000
A-Artikel B-Artikel C-Artikel
Bestand Soll 70% von MaximalbestandBestand Ist
BESTANDSVERGLEICH IN EURO IST/SOLL
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10.000
20.000
30.000
40.000
50.000
60.000
70.000
80.000
A-Artikel B-Artikel C-Artikel
Bestellpositionen SollBestellpositionen Ist
ANZAHL BESTELLPOSITIONEN IST/SOLL 2008
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dies aber nicht bestätigt, aber auch hier ist eine deutliche Reduzierung möglich. Dies ist ein sehr
typisches Ergebnis, wenn ohne klare Regeln disponiert wird: Es wird nicht nur zu häufig, sondern bei
einzelnen Artikeln auch viel zu viel bestellt. Ausgelöst wurde dieses Problem durch die
Dezentralisierung der Disposition auf die Niederlassungen und durch nicht vorhandene
Dispositionsregeln. Dies ist auch bei den C-Artikel zu beobachten. Hier wurde zum einen zu häufig
bestellt, zum anderen jedoch auch in zu großer Reichweite. Einen besonders großen Einfluss hatten
hier die Aspekte Verpackungseinheit und Mindestbestellmenge – wenn jede Niederlassung in dieser
Verpackungseinheit bestellt, so ergibt dies u.U. eine Reichweite von mehreren Jahren und der
Bestandswert wird nach oben getrieben. Nur dieser Effekt allein verursachte nahezu die Hälfte des
Überbestands. Bei der Zentraldisposition, wo die Versorgung der Abholstützpunkte vorwiegend aus
dem Zentrallager erfolgt, ist dieser Effekt drastisch abgemildert, da eine Verpackungseinheit ja für
alle Verbraucher verwendet werden kann.
Nachbestückung der eigenen Standorte und Auslieferung an Kunden
Bei der Nachbestückung der Standorte wurde differenziert zwischen EU-Ländern und Drittländer, bei
denen die Verzollung noch eine Rolle spielt. Im Inland und im EU-Ausland werden die Stützpunkte, je
nach Mengenanfall entweder mit einer Tourauslieferung, bei der mehrere Standorte bedient
werden, oder per Direktauslieferung bedient. Dabei wird nochmals differenziert nach den
Entfernungen vom Zentrallager: Kurze Distanzen werden in der Regel zwei bis viermal wöchentlich
beliefert, wobei hier die Lagerreichweite auch entsprechend geringer ist; längere Distanzen und auch
das Nicht-EU-Ausland werden im Wochenraster beliefert. Sofern es sich um Mengen handelt, welche
eine Direktlieferung vom Hersteller an den Standort rechtfertigen, erfolgt ergänzend eine
Direktbelieferung durch Lieferanten bzw. auch eine Direktbelieferung von Kunden ab Lieferant.
Die Kunden werden über Paketdienste im 24-Stunden-Lieferservice oder bei Großsendungen per
Spedition beliefert. Dabei erfolgt die direkte Kundenbelieferung im Inland ab Zentrallager und auch
in die EU-Länder, in denen die Sendung maximal zwei bis drei Tage unterwegs sind. In Nicht-EU-
Ländern erfolgt die Kundenbelieferung, angepasst auf die länderspezifische Verkehrsinfrastruktur.
Dort, wo ab Landeszentrallager der Kunde in einer akzeptierten Zeit beliefert werden kann, erfolgt
die Zentralauslieferung. Bei sehr schlechter Verkehrsinfrastruktur wird nach dem Kundenbedarf
differenziert. Benötigt der Kunde einen Artikel sehr schnell, so kann auch der Abholstützpunkt per
Paket- oder Botendienst ausliefern. Akzeptiert der Kunde eine gewisse Lieferzeit, so wird vom
Länderzentrallager ausgeliefert.
Mit diesem Konzept konnte eine massive Entflechtung der Supply Chain im Hinblick auf die
Warenströme erreicht werden. Ein Großteil der Liefermengen fließt heute vom Lieferanten an das
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Zentrallager und von dort direkt zum Kunden. Die geringere Menge fließt vom Zentrallager
kostengünstig in die Abholstützpunkte, wo sich der Kunde selbst bedient.
Lieferanten
Ein Großteil der verkauften Produkte stammt, wie bereits ausgeführt, von wenigen unterschiedlichen
Lieferanten. In der ursprünglichen Organisationsform, wo jede Niederlassung teilweise selbst
bestellte oder den Bedarf vom Zentrallager anforderte, war für den Lieferanten nicht einmal eine
näherungsweise Kapazitätsplanung der Produktion möglich. Zudem entstand der Bullwhip- oder
Peitscheneffekt: Ein Regionallager bestellt beim jeweiligen Länderzentrallager, das
Länderzentrallager beim Lieferanten oder im Zentrallager des Unternehmens die größeren Mengen
für die Lagerauffüllung. Der Bestellzeitpunkt war naturgemäß nicht bekannt und es gab auch
Konzentrationsphasen, in denen mehrere Standorte innerhalb weniger Tage größere Mengen
bestellten, wofür weder beim Lieferanten die Produktionskapazität noch im Zentrallager ausreichend
Bestand vorhanden war. Der Lieferant war damit nicht in der Lage, kurzfristig zu liefern. Im
Zentrallager wurden die Bestände „abgeräumt“ und man war nicht mehr lieferfähig, obwohl dann im
dezentralen Lager wieder eine entsprechende Vorratsmenge vorhanden war. Die Folge war ein
unwirtschaftlicher Materialtourismus, das heißt, was eben noch an ein dezentrales Lager ausgeliefert
wurde, musste Tage später als Teilmenge wieder an das Zentrallager zurückgeschickt werden, damit
der Kunde befriedigt werden konnte.
Nach der neuen Organisationsform wird künftig eine durchgängige Supply Chain aufgebaut. Jeder
Verkauf, also jede Bestandsveränderung aus jedem Land bzw. aus jedem Stützpunkt wird im
Nachtlauf an die zentrale Disposition überspielt. Damit ist dann eine abgesicherte Langfristprognose
möglich, bereits Wochen oder Monate vor dem tatsächlichen Bedarf ist tendenziell die Entwicklung
bekannt und je näher der Bedarfstermin heranrückt, desto exakter werden die Prognosen und damit
Bestellmenge. In der ersten Realisierungsstufe erfolgt noch eine direkte Abstimmung zwischen dem
zuständigen Disponenten und dem Lieferanten über Zeitpunkt und Umfang der benötigten
Produktionskapazitäten. Im zweiten Schritt ist geplant, dass mit den Top-A-Lieferanten die Supply
Chain auf den Lieferanten ausgedehnt wird, d.h. die Verbräuche werden direkt an den
entsprechenden Lieferanten durchgereicht. Dieser kann nur, basierend auf den Bevorratungsregeln,
die entsprechenden Kapazitäten langfristig einplanen und ist somit in der Lage, bedarfsgerecht zu
produzieren und zu liefern.
Als weiteren Punkt zur Absicherung der Lieferfähigkeit werden in Zukunft die Angebote für
Großprojekte im Hinblick auf die Auftragschancen bewertet. Daraus abgeleitet, werden die
Hauptlieferanten über diese prognostizieren Bedarfsmengen informiert, so dass hier Reserven in der
Produktionskapazität eingeplant werden können.
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Die Lager
Da ursprünglich zwei Zentrallager am Firmensitz und praktisch in jeder Niederlassung und an jedem
Stückpunkt weitere Lager betrieben werden mussten, zeigt sich schnell, dass im Prinzip nur ein
Zentrallager erforderlich sein würde – im Hinblick auf Wert und Volumen ergaben sich in der Summe
bei zentralen Beständen deutlich geringere Werte. Mit der Realisierung des Zentrallagers waren
einige, ganz erheblichen Optimierungs- bzw. Einsparungsmöglichkeiten verbunden – hierzu einige
Beispiele:
• Lagervolumeneinsparung durch bessere Ausnutzung der Ladehilfsmittel und der
Regaltechnik.
• Weniger Wareneingangsbewegungen und -buchungen durch größere Mengen pro
Wareneingang.
• Deutlich weniger Mischpaletten mit Sortier- und Umpackerfordernis, durch größere Mengen
pro Artikel.
• Optimierung in der Kommissionierung durch mehrere Kundenaufträge pro
Kommissionierrunde.
• Bessere Mitarbeiterauslastung durch höhere aber machbare Leistungsanforderung.
• Optimierte Kapazitätsglättung durch die Kombination von zeitkritischen Kundenaufträgen
und planbaren Versorgungsaufträgen der Niederlassungen.
• Nachgewiesene Wirtschaftlichkeit für ein hocheffizientes LVS hLagerverwaltungs- und
Steuerungssystem) mit belegloser Lagerabwicklung aufgrund höheren Leistungsanfalls.
Dadurch drastische Optimierung aller Lagerprozesse.
• Einsatzmöglichkeit von temporären Arbeitskräften zur Kapazitätsglättung der
Kommissionierleistung.
• Höchste Bestandssicherheit durch MDE-Kommissionierung und Nulldurchgangskontrolle.
• Wegfall der Stichtagsinventur durch Einführung der permanenten Inventur während der
Kommissionierung.
• Wirtschaftliche Durchführung einer Direktkommissionierung in Versandkartons.
• Reduzierung von Versandpufferflächen durch Direktverladung von Paketen und Stückgut auf
Wechselbrücken. Durch das deutlich erhöhte Versandvolumen konnte eine Auslastung der
Wechselbrücken erreicht werden.
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Fazit
Durch die Entwicklung eines Gesamtkonzepts für die Supply Chain konnte die Wettbewerbsfähigkeit
des Unternehmens nachhaltig gestärkt werden – man gehört inzwischen zu den Marktführern. Die
drastische Bestandsreduzierung erhöhte die betriebliche Liquidität, welche zur Verbesserung der
Marktposition durch den Aufbau einer Vielzahl neuer Abholstützpunkte genutzt werden konnte. In
Verbindung mit einem ausreichend großem Lagervolumen konnten auch erhebliche Einkaufsvorteile
erzielt werden, da bei interessanten Preisen durchaus auch Großmengen eingekauft werden können.
Durch die optimierte Disposition und die Nutzung des Supply Chain Gedankens wurde eine deutlich
erhöhte Warenverfügbarkeit erreicht, die bis hin zum Lieferanten reichte. Umsätze, die früher wegen
Nichtverfügbarkeit der Ware verloren gingen hbaugleiche Produkte sind auch bei Wettbewerbern
erhältlich) können nunmehr getätigt werden. Durchgehend optimierte und deutlich aufwandsärmere
Prozesse versetzen das Unternehmen in die Lage, bei unverändertem Personalbestand erheblich
mehr Umsatz abzuwickeln.
Natürlich ist eine so umfassende Restrukturierung nicht in wenigen Wochen zu erledigen. Das neue
Zentrallager mit der entsprechenden Organisation konnte ein Jahr nach Projektstart in Betrieb
gehen. Ab diesem Zeitpunkt wurde die Umwandlung der Niederlassungen in Abholstützpunkte
umgesetzt und darüber hinaus neue Stützpunkte eröffnet. Das neue Versorgungskonzept wurde
ebenfalls ab diesem Zeitpunkt realisiert. Disposition und Einkauf wurde nach ca. 14 Monaten
zentralisiert. Die Einführung der Supply Chain wird in der Gesamtheit ca. 24 Monate in Anspruch
nehmen.
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2. Fallbeispiel: Serienfertige Baubeschläge
Ausgangssituation
Das Privatunternehmen ist seit Ende des 1D. Jahrhunderts organisch gewachsen. Die
technikorientierte Unternehmensführung investierte vorzugsweise in Produktionsmaschinen. Als
Organisationsform wurde, mit Ausnahme der Finanzbuchhaltung und einem älteren PPS-System, eine
Zuruforganisation praktiziert, zum Teil parallel zur EDV-Organisation. Die Gebäudesubstanz, speziell
für die logistischen Funktionen, war in weiten Bereichen überaltert und für die vorhandene Nutzung
schlecht geeignet. Logistik als Unternehmensfunktion war in keiner Weise gegeben. Rohmaterial,
Teile, Baugruppen und Fertigprodukte waren über das gesamte Werksgelände verteilt. Dies erzeugte
eine Vielzahl von Wareneingangs- und Warenausgangspunkten auf dem Werksgelände.
Bestandszahlen waren permanent unstimmig, Lagerbereiche platzten aus allen Nähten, Fahrwege
und Freiflächen in Produktion und Montage waren mit Material vollgestellt. Lieferverzögerungen und
Produktionsunterbrechungen aufgrund fehlender Teile oder Fertigprodukte waren an der
Tagesordnung. Eil- und Sonderaufträge zur Befriedigung von Kundenwünschen waren Normalität.
Selbst die Lieferzeiten für Standardartikel waren, trotz zum Teil sehr hoher Fertigwarenbestände, zu
lang. Der Marktanteil für die eigentlichen Serienprodukte reduzierte sich permanent und Kleinserien
mit ungünstigem Deckungsbeitrag nahmen zu. Die Unzufriedenheit der Kunden wurde trotz
qualitativ hochwertiger und durchaus wettbewerbsfähiger Produkte zum tagtäglichen Problem.
In dieser Situation entschied das Unternehmen ad hoc, ein vollautomatisches Hochregallager zu
bauen. Dies geschah in der Hoffnung, dadurch ausreichend Lagerkapazität zu schaffen und die
Transparenz im Unternehmen zu steigern. Ferner sollte durch eine massiv erhöhte Lagerkapazität die
Voraussetzung geschaffen werden, noch mehr Fertigwarenbestände am Lager zu führen, um damit
die hvermeintlichen) Kundenbedürfnisse besser befriedigen zu können. Die auf Sparsamkeit
ausgerichtete Denkweise führte dazu, dass das neue Hochregallager kostenlos durch einen Hersteller
geplant werden sollte. Mehrere Hersteller wurden zur Angebotsabgabe aufgefordert.
Glücklicherweise war die Situation für das Unternehmen jedoch so, dass mit ca. 25 unterschiedlichen
Ladehilfsmitteln hBehälter/Paletten) gearbeitet wurde, wodurch kein Lieferant in der Lage war, ein
funktionsfähiges automatisches Lager anzubieten. Auf Empfehlung eines Lageranlagenherstellers
wurde dann ein externer Logistikberater eingeschaltet. Eine ausführliche Werksbegehung zeigte
schnell, dass ein automatisches Lager zwar mehr Volumen schaffen und weniger personalintensiv
arbeiten, die eigentlichen logistischen Probleme dieses Unternehmens jedoch nicht lösen würde.
Man hätte also nur die Symptome kuriert und nicht an den eigentlichen Ursachen gearbeitet. Vor
diesem Hintergrund konnte die Unternehmensführung überzeugt werden, dass ein langfristig
befriedigendes Ergebnis nur durch eine ganzheitliche logistische Planung zu erreichen war.
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Schwachstellen und Optimierungspotentiale
Der Planungsablauf verlief dann in der klassischen Reihenfolge mit: Ist- und Schwachstellenanalyse,
Aufzeigen der Ursachen, Darstellung von Optimierungsansätzen, Planung eines ganzheitlichen
logistischen Konzeptes unter Berücksichtigung aller relevanten betrieblichen Funktionen,
Durchführung einer Werksentwicklungsplanung hBetrachtungszeitraum über 15 Jahre), Feinplanung
der Einzelgewerke und stufenweise Realisierung der Gewerke nach Kosten-/Nutzengesichtspunkten.
Unter dem Denkansatz, dass Logistik von nahezu allen Unternehmensbereichen beeinflusst wird,
wurden mit Ausnahme der Finanzbuchhaltung, des Personal- und Rechnungswesens und der
Forschung und Entwicklung alle Unternehmensbereiche in die Logistikanalyse eingebunden. Diese
Vorgehensweise hat sich auch im Nachhinein als richtiger Weg erwiesen, da eine Vielzahl von
Optimierungsansätzen sonst nicht erkennbar geworden wäre. Im Folgenden werden die
wesentlichsten Schwachstellen und Optimierungsmöglichkeiten, auch in ihrer gegenseitigen
Abhängigkeit, kurz verdeutlicht:
• Zu hohe Fertigungstiefe: In der eigenen Gießerei wurde in hohem Maße Standardguss
produziert, der allerdings preiswerter und in abgesicherter pualität am freien Markt zu
beschaffen war; der Denkansatz dominierte, dass ohnehin vorhandene Einrichtungen auch
genutzt werden sollten. Durch die Konzentration auf Spezialguss, der größeres Know-how
erforderte, konnte die halbe Gießereifläche freigestellt werden. Dadurch wurde es möglich,
den außerordentlich ungünstig platzierten Warenein-/ausgang für Stangenmaterial an der
optimalen Stelle neu zu errichten. Zusätzlich ergaben sich Kostenvorteile bei den
Gusseinstandspreisen.
• Zu hohe Losgrößen: Durch den personellen Engpass bei der Einrichterkapazität wurden die
Drehautomaten zu selten umgerüstet. Die Folge waren unwirtschaftlich hohe Stückzahlen.
Im Endeffekt platzten wiederum die nachgeschalteten Lager aus allen Nähten, ein weiterer
Nachteil ergab sich aus der durch die hohen Lagerbestände bedingten Kapitalbindung. Die
Analyse verdeutlichte, dass die Einrichter nahezu 50 % ihrer Arbeitszeit für
Transportaufgaben aufwenden mussten. Erschwerend kam hinzu, dass durch die sehr enge
Maschinenaufstellung praktisch jede einzelne Rohmaterialstange manuell über größere
Distanzen zum Drehautomaten getragen werden musste. Der Lösungsansatz war ein
fertigungsintegriertes, automatisches Stangenlager mit Direktanbindung der Drehautomaten.
Dadurch wurde eine automatische Stangenversorgung gewährleistet. Der Abtransport der
Drehteile in Behältern wurde über Fördertechnik automatisiert, so dass auch hier kein
personeller Aufwand erforderlich war. Die verfügbar gewordene Einrichterkapazität erlaubte
nun ein häufigeres Umrüsten ohne weiteren Personalaufbau und damit eine Produktion von
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wirtschaftlicher dimensionierten Losgrößen. Auch wurde der Lagervolumenbedarf für fertige
Drehteile und damit das gebundene Kapital reduziert.
• Fertigungsgliederung: Das Gesamtunternehmen war nach dem klassischen Werkstattprinzip
gegliedert. In der Analyse wurde deutlich, dass für das umsatzstärkste Serienprodukt ein
Drehautomat exakt die Kapazität produzieren kann, welche der nachgeschaltete
vollautomatische Montageautomat verarbeitet. Durch die Umstellung des Drehautomaten in
die Montage hin gekapselter Ausführung) wurden die komplette Lagerhaltung und das
Mehrfachhandling des Teils mit der höchsten Stückzahl vollständig vermieden.
• Qualitätssicherung: pualität hat in diesem Unternehmen höchste Priorität. So wird jede
Lieferung − unabhängig von der Lieferantenzuverlässigkeit − auf pualität kontrolliert. Eine
Dokumentation der Prüfungsergebnisse und die Lieferantenklassifikation nach
pualitätsmerkmalen konnten den Prüfaufwand verringern und die Wareneingangszeit
erheblich verkürzen. Die pualitätskontrolle von Eigenfertigungsteilen war wiederum einer
separaten Abteilung vorbehalten, die nach vollständiger Produktion einer Losgröße über
Stichproben die Maßhaltigkeit der Teile überprüfte. Dies hatte zur Folge, dass z. B. 100.000
Drehteile produziert wurden hvgl. Problem der Einrichterkapazität), nach wenigen Teilen
jedoch ein Toleranzproblem auftrat und somit die gesamte Charge an hochwertigen
Messingteilen nur noch Schrott war. Da dieser Bereich ebenfalls einen Engpass bildete,
entstand in der Folge ein weiteres Problem. Bei Fehlteilen in der Produktion wurden die frei
vor der pualitätskontrolle stehenden ungeprüften Teile ohne Buchungsvorgang entnommen
und in der Montage verbaut. Dies führte zu erheblichen Bestandsdifferenzen und bei
fehlerhaften Teilen zu Kundenreklamationen mit ganz enormen Folgekosten wie
Rückfrachten, Demontage der Endprodukte, Eilaufträge in geringen und unwirtschaftlichen
Stückzahlen zur Befriedigung der dringendsten Kundenbedürfnisse etc. Durch eine
Verlagerung der pualitätssicherung auf die Maschinenbediener wurden nicht nur die oben
beschriebenen Probleme gelöst, sondern eine erhebliche Entlastung des administrativen
Bereiches erreicht. Neben Kundenverärgerung generiert jede Reklamation in hohem Maß
personellen Aufwand. Der Vertrieb musste die Reklamation bearbeiten, die
Arbeitsvorbereitung anschließend Eilaufträge einplanen, die Fertigungsleitung neue
Prioritäten vergeben hmit der Folge der Verzögerung anderer Aufträge), in der Buchhaltung
mussten Gutschriften und neue Rechnungen erstellt werden usw. Typisch für solche
Reklamationen war zudem, dass meist die Führungskräfte damit belastet waren und so ihre
wertvolle und knappe Zeit verschwendet wurde.
• Teilehandling: Das Teile war extrem aufwändig und die vorhandene Lagertechnik nicht an die
Aufgabenstellung angepasst; die umfangreiche, flächige Teilebereitstellung in der Montage
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blockierte teure Montagefläche. Die Teile wurden zu oft in die Hand genommen – dazu ein
Beispiel: Ein Teil, das in der Dreherei in einem Behälter produziert wurde, musste manuell
zur Wäscherei transportiert werden, hier füllte man die Teile dann vom Wasch- in den
Lagerbehälter, von wo aus der Behälter in einen Puffer vor die pualitätssicherung gestellt
wurde. In der pualitätssicherung entleerte man den Behälter nochmals, um die Stückzahl
manuell festzustellen, da eine Zählwaage nicht vorhanden war. Anschließend wurde der
Behälter auf eine Palette gestellt und mit Gabelhochhubwagen in ein Palettenregal
eingestapelt. Für die Produktion fand eine stückzahlgenaue Kommissionierung statt, und
zwar durch die Entnahme der Palette mit dem Hochhubwagen aus dem Regal. Eine
abgezählte Entnahme und anschließende Wiedereinlagerung schlossen den Vorgang ab. Die
Behältergewichte waren so hoch, dass die Frauenarbeitsplätze nur durch einen männlichen
Transporteur versorgt werden konnten. Um beim Dreischichtbetrieb den Transporteur der
dritten Schicht einzusparen, wurden vor jedem Montageplatz außerordentlich platzintensive
Pufferrollenbahnen aufgebaut. Allerdings hatte niemand nachgeprüft, ob ein Transporteur in
Relation zur Investition in Rollenbahnen und zur verbrauchten Fläche nicht kostengünstiger
gewesen wäre. Als ganzheitlichen Lösungsansatz fand sich schließlich ein
montageintegriertes automatisches Behälterlager. Damit konnten die Behälter ohne
personellen Eingriff direkt vom Drehautomaten über die Wäsche im Behälterlager
eingelagert werden hdie Kontrolle war jetzt nicht mehr erforderlich). Die
Montagemitarbeiterinnen konnten sich die Behälter bedarfsorientiert selbst abrufen. Die
Behälterbereitstellung erfolgte auf so genannten Auszugsschublagen seitlich im Regal und
war somit im direkten Zugriffsbereich. Eine Kommissionierung entfiel komplett, da ein nicht
völlig entleerter Behälter wieder automatisch zurückgelagert wurde. Die Platzeinsparung an
wertvoller Montagefläche war enorm, da die Lagerung fortan in der Vertikalen und nicht auf
Rollenbahnen in der Fläche erfolgte. Der weitere Vorteil dieser Lösung war, dass ohne
bauliche Maßnahmen sofort freie Montageflächen für die Unternehmensexpansion
verfügbar wurden.
• Anordnung der Logistikbereiche: Durch die organisch gewachsenen Gebäudestrukturen und
die verteilten Lagerflächen waren insgesamt zwölf unterschiedliche Warenein- und -
ausgänge erforderlich. Jede dieser Stellen bildete zudem verkehrstechnisch eine Sackgasse,
die ein aufwendiges Rangieren der LKW erforderlich machte. Der Personalaufwand war
extrem hoch, da über das Rangieren erhebliche Wartezeiten für das eigene Personal
generiert wurden. Eine Veränderung wurde in der Vergangenheit mit dem Argument
abgelehnt, dass aus Gründen des Denkmalschutzes und nicht verfügbarer Fläche keine
Lösung möglich sei. Da bei der Analyse jedoch auch ein Baukörperkatalog erstellt wurde,
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konnte man nachweisen, dass ein vermeintlich unter Denkmalschutz stehender
Gebäudetrakt tatsächlich abgerissen werden konnte. Vereinfacht wurde diese Entscheidung
noch dadurch, dass dieser Trakt extrem schlecht genutzt wurde hvier Arbeitsplätze auf 200
qm Fläche). Des Weiteren war von Vorteil, dass durch freigewordene Flächen in der Gießerei
eine zusätzliche Durchfahrt geschaffen werden konnte. Unter diesen Ansätzen konnte eine
hervorragende Verkehrsführung erreicht und eine optimale Anbindung der neuen
zentralisierten Wareneingänge und -ausgänge geschaffen werden.
Weitere Schwachpunkte waren
Vertrieb:
• Keine klare Produktpolitik, dadurch überhöhte Produktvielfalt und zu geringe Abverkäufe.,
• Zu lange Lieferzeiten und dennoch sehr schlechte Liefertermintreue.
• Zunehmende Probleme bei der Durchsetzung eines markfähigen Verkaufspreises, da
Schlüsselwettbewerber über eine wesentlich kostengünstigere Produktion verfügten.
Planung und Steuerung der Fertigung:
• Zu geringe EDV-Unterstützung hArbeitsfortschritt, stimmige Stückzahlen, strategische
Steuerungskonzepte usw.).
• Zu hoher Planungsaufwand durch Eilaufträge und Fertigungsunterbrechung wegen
auftretender Fehlteile.
• Nur wenige Kennzahlen für Planungs- und Entscheidungsprozesse verfügbar.
Disposition und Einkauf:
• Nicht vorhandene Teilesegmentierung nach ABC-//XZ-Kriterien, dadurch zu hoher
Beschaffungsaufwand und zu viele Kleinsendungen im Wareneingang.
• Sehr hoher Anteil an Eilbestellungen durch Fehlteile in der Produktion.
• Keine Lieferantenklassifikation, dadurch zu hoher Aufwand in der pualitätskontrolle des
Wareneingangs.
Lagerung und Transport:
• Fehlende EDV-gestützte Lagerverwaltung, dadurch sehr schlechte Volumennutzung, höchste
Personenabhängigkeit, hoher Flächenverbrauch durch Vorkommissionierung, sehr ineffektive
Lagerung und Kommissionierung durch ungeeignete Lagertechnik, höchste Belegflut und
Belegbearbeitung, permanente Arbeitsunterbrechung wegen Nachfragen über Fehlteile,
nicht rechtzeitig bereitgestellte Teile etc.
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Das daraufhin erarbeitete Lösungskonzept umfasste folgende Einzelpunkte:
• Einführung eines Betriebsdatenerfassungssystems zur zeitnahen Erfassung der relevanten
Informationen.
• Einführung von EDV-gestützten Werkzeugen für eine optimierte Disposition und
Beschaffung.
• Einführung eines LVS mit der Möglichkeit zum Bestellabgleich schon direkt im Wareneingang.
• Realisierung eines fertigungsintegrierten Stangenlagers direkt am Bedarfsort mit optimaler
externer Verkehrsanbindung.
• Realisierung von montageintegrierten Behälterlagern.
• Realisierung eines zentralen automatischen Palettenlagers in materialflusstechnisch bester
Position ohne zusätzlichen Grundstücksverbrauch hsanierungsbedürftige Bausubstanz wird
abgerissen).
• Konzentration der gesamten Palettenware hKaufteile, Übermengen an Fertigungsteile,
Fertigprodukte, Packmittel) im Palettenlager.
• Generelle Kommissionierung „Ware zum Mann“, soweit Kommissionierung nicht vermieden
werden konnte.
• Reduzierung der Ladehilfsmittelvielfalt ohne negative Einflüsse auf den Ablauf bei insgesamt
fünf Typen.
• Teilweise Einführung von Fließfertigung.
• Einführung von Gruppenarbeit mit „Job enrichment“-Komponenten.
• Zentralisierung auf einen Wareneingang und -ausgang hmit Ausnahme von Stangenmaterial).
Die Umsetzung der vorstehenden Maßnahmen erbrachte für den Betrieb folgenden Nutzen:
• Absicherung des Unternehmensstandortes durch bessere Nutzung der vorhandenen
Betriebsflächen.
• Betriebsflächenfreisetzung als Reserve für weiteres Unternehmenswachstum.
• Massiver Personalabbau im administrativen und logistischen Bereich.
• Sicherstellung von stimmigen Beständen über Permanentinventur.
• Lückenlos stimmige, zeitnahe und belegarme logistische Informationsverfolgung.
• Massiver Bestandsabbau bei Rohmaterial, Teilen, Baugruppen und Fertigprodukten bei
gleichzeitiger Erhöhung der Lieferfähigkeit und Termintreue
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• Drastische Reduzierung der Durchlaufzeiten.
• Massive Verkürzung der Lieferzeiten.
• Erhebliche Vereinfachung der gesamten Ablauforganisation über den Logistik-Bereich hinaus.
• Schaffung maximaler Transparenz.
• Möglichkeit zur stufenweisen Einführung der Systemkomponenten entsprechend der
Investitionsbereitschaft, jedoch mit dem direkten Nutzen aus jeder Teileinvestition.
• Vermeidung von Fehlinvestitionen, auch bei Übergangslösungen, weil das Endziel eindeutig
dokumentiert ist und jede Maßnahme daran ausgerichtet werden kann.
3. Fallbeispiel: Serienfertige Kunststoffartikel für Endverbraucher
An diesem Beispiel vorgestellt, bei dem deutlich wird, wie wichtig der Supply Chain Gedanke auch
über die klassische Logistik hinaus ist, also vom Materiallieferanten bis hin zum Kunden. Es wird
deutlich, dass ein Logistik auch über den „Tellerrand“ hinaus schauen muss und wenn er es für
sinnvoll erachtet auch einmal die Auslöser für logistische Leistungen, wie Marketing und Vertrieb, zu
untersuchen hat. Und es wird deutlich, welchen enormen Nutzen für ein Unternehmen im direkten
Logistikbereich, aber auch in anderen Bereichen erreicht werden können, wenn dieser ganzheitliche
Denkansatz auch gelebt wird.
Ausgangssituation
Beim folgenden Beispiel handelt es sich um ein Privatunternehmen, das Ende des 1D. Jahrhunderts
gegründet wurde. Die vertriebsorientierte Unternehmensführung betrachtete Produktion und
Logistik als nachgeordnete Erfüllungsgehilfen des Vertriebs. Als besonderes Problem erwies sich
dabei die Distributionslogistik, da trotz überhöhter Bestände nur eine geringe Lieferfähigkeit und
Ausliefergeschwindigkeit möglich war. Das außerordentlich erfolgreiche Unternehmen war organisch
gewachsen und hatte dadurch die Lagerbereiche an materialflusstechnisch ungünstigen Positionen
platziert, stets dort, wo ist noch eine wenig Platz war. Auf diese Situation wurde schon in den 1D70er
Jahren mit der Installation eines fahrerlosen Transportsystems reagiert, um die weiten Strecken
heinfache Entfernung ca. 800 m) und den enorm hohen Materialfluss der relativ großvolumigen
Produkte vermeintlich wirtschaftlich bewältigen zu können. Diese Konstellation stellte bereits damals
eine Fehlinvestition im Millionenbereich dar.
Neben dem Firmenstammsitz wurde ein Zweigwerk aufrechterhalten, das für nahezu alle Produkte
Montageanteile produzierte – damit entstand ein intensiver Zwischenwerksverkehr über eine
Entfernung von nahezu 70 km. Die aktuelle Situation war dadurch gekennzeichnet, dass alle
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verfügbaren Lagerkapazitäten im Stammhaus und im Zweigwerk permanent ausgeschöpft waren und
deshalb zusätzliche externe Lagerkapazitäten in erheblichem Umfang angemietet werden mussten.
Daraufhin wurden durch zwei unabhängige Berater „Logistikplanungen“ durchgeführt, die beide zu
dem Ergebnis kamen, dass ein neues vollautomatisches Zentrallager mit einer Anbindung der
Produktion über das vorhandene fahrerlose Transportsystem eine Lösung darstelle. Das
Investitionsvolumen wurde auf ca. 1 Million Euro geschätzt. Allerdings waren diese Planungen nicht
umfassend genug und zu techniklastig: Es wurde…
• keine fundierte Bedarfsanalyse durchgeführt. Die Grundlage für die Lagerdimensionierung
war die verbale Einschätzung, dass mindestens 6.000 zusätzliche Palettenplätze benötigt
werden, dies aber ohne jede analytische Betrachtung.
• keine an der geplanten Unternehmensentwicklung orientierte Langzeitbetrachtung
angestellt.
• von vornherein nur die Alternative „automatisches Hochregallager“ betrachtet, weniger
technisierte Lösungsansätze wurden nicht geplant und bewertet.
• die vorhandene Logistik in der Untersuchung nicht berücksichtigt, auch wurde nicht
untersucht, welcher Nutzung die relativ großen, in Zukunft nicht mehr benötigten
Lagerbereiche zugeführt werden könnten.
• keine Wirtschaftlichkeits- und Amortisationsberechnung durchgeführt.
Schon hier zeigt sich, dass nicht jeder Berater bzw. Lagerplaner auch ein kompetenter Logistiker ist;
das weitverbreitete „Denken in Stahl und Eisen“ ist nicht in jedem Fall der richtige Weg.
Trotz dieser Mängel war die Realisierung des neuen Warenverteilzentrums vom Grundsatz her durch
den Inhaber genehmigt, da man im eigenen Haus keine logistische Erfahrung hatte und somit das
Ergebnis nicht korrekt bewerten konnte. Man ließ sich von der eindrucksvollen automatischen
Technik blenden. Zum Zeitpunkt des Projektbeginns war die Feinplanung des Anbieters fertiggestellt
und die Auftragsvergabe stand an. Durch die Einsetzung eines neuen, logistikerfahrenen
Hauptgeschäftsführers rückte jedoch ein neuer Aspekt in den Mittelpunkt des Interesses, nämlich die
Frage, ob das organisatorisch problematische und sehr kostenintensive Zweigwerk durch den
Lagerneubau in das Stammhaus integriert werden kann. Ferner wollte der neue Geschäftsführer die
bisherigen Planungen unter einem ganzheitlichen Logistikdenkansatz nochmals im Hinblick auf die
Optimierungsmöglichkeiten im Bereich der Fertigung hz.B. Losgrößenbildung) und des Lagers
hLagerreichweiten, Nutzung der vorhandenen Logistikeinrichtungen, Organisation, usw.) überprüft
haben, da er die bisherigen Planungsschritte bei der Höhe der Investition und der Bedeutung für das
Unternehmen als nicht umfassend genug einschätzte.
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Vorgehensweise
Über den ganzheitlichen logistischen Denkansatz wurde bei der Ist- und Schwachstellenanalyse auch
der in der Vergangenheit dominierende Bereiche Marketing und Vertrieb analysiert, da sich hier
weiterhin zentrale Anforderungen an die Logistik ergaben. Bei den klassischen Analysen wie ABC-,
Produktquantums- und Lagerreichweitenanalyse zeigte sich sehr schnell, dass die globale
Betrachtung des gesamten Sortiments und der Bestände in diesem Fall keine befriedigenden
Hinweise liefern konnte. Deshalb wurde das Sortiment erstmalig in der Firmengeschichte nach dem
Verkaufsverhalten untersucht und klassifiziert. Dabei wurden folgende Klassen gebildet:
• Klasse 1: Kontinuierlich laufende Standardartikel ohne bedeutende saisonale Schwankungen.
• Klasse 2: Standardartikel mit ausgeprägten saisonalen Schwankungen, in diesem Fall im
Frühjahr und Herbst.
• Klasse 3: Trendartikel mit einem Lebenszyklus zwischen 12 und 18 Monaten.
• Klasse 4: Sonderartikel als Auftragsfertigung.
Da diese Klassifizierung in hohem Maße den Vertrieb berührte, wurde die Klassifizierung, nach
Vorgabe durch den Logistiker und den Vertrieb selbst durchgeführt. Um die Aussagefähigkeit der
Analyse abzusichern, wurde ein Betrachtungszeitraum von zwei Jahren gewählt. Als Analyseergebnis
wurde vorgegeben: Verkaufte Stückzahlen pro Artikel, Umsätze pro Artikel zu Herstellkosten,
Umsätze pro Artikel zu Verkaufspreisen, Nettoerlöse pro Artikel sowie Deckungsbeitrag 1 und 2 in
Prozent der Nettoerlöse.
In Folge wurden die Ergebnisse dann wiederum nach ABC-Kriterien sortiert und aufbereitet. Ferner
wurde eine zusätzliche Analyse über die Entwicklung der Artikelvielfalt in Relation zum
Verkaufsumsatz durchgeführt und mit einer Aussage zur Häufigkeit der Modellwechsel im
Betrachtungszeitraum unterlegt. Desweiteren wurden Themen wie Anzahl Rüstvorgänge, Rüstzeiten,
Verweilzeiten in der Zwischenpufferung usw. betrachtet.
Erkenntnisse
Damit wurde zum ersten Mal im Unternehmen transparent, dass auf Erfahrung basierende
Zielvorgaben des Vertriebs über Mindestverkaufsmengen und Mindestumsätze im Ansatz zwar
richtig, aber für die operative Steuerung nicht ausreichend waren hnicht zuletzt deshalb, weil der
Ertragsaspekt und die Kundenbedürfnisse keine oder nur geringe Berücksichtigung fanden). Ferner
wurde erkennbar, dass selbst die eigenen, eingeschränkten Zielvorgaben in den seltensten Fällen
tatsächlich eingehalten wurden. Da jedoch eine systematische Betrachtung der Auswirkungen dieser
Vorgaben bisher nicht möglich war und auch die Kontrolle der Zielerreichung unterblieb, konnte man
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im Vertrieb die Folgen der eigenen Dispositionen für das gesamte Unternehmen nicht einschätzen.
Zudem sah man auch keine verstärkte Notwendigkeit, die eigenen Richtlinien einzuhalten. Besonders
interessant war, dass selbst bei Artikeln der Klasse 4, also einer kundenauftragsbezogenen Fertigung,
die Stückzahlen und Umsätze nicht eingehalten werden konnten – auch wurde noch festgestellt:
• Der größte Teil der wenigen A-Artikel h80 % Umsatzanteil) wurde über das
Standardsortiment, also Klasse 1 und 2, abgedeckt. h5 % Umsatzanteil entfiel auf das Nicht-
Standardsortiment der Klassen 3 und 4 in einer enormen Artikelvielfalt.)
• D0 % des gesamten Deckungsbeitrags wurde mit wenigen Standardartikeln erzielt. Dieser
hervorragende Deckungsbeitrag wurde in erheblichem Umfang durch Nicht-Standardartikel
aufgezehrt.
• Der Break-even-Point beim Deckungsbeitrag wurde erst erreicht, wenn Verkaufsstückzahlen
und Umsätze nach Verkaufspreisen erzielt wurden, die etwas über den eigenen Zielvorgaben
lagen.
• Mehr als 50 % der Lagerkapazität wurde durch Artikel blockiert, die einen negativen
Deckungsbeitrag auswiesen und weitestgehend als C-Artikel klassifiziert waren.
Reaktion
Diese Ergebnisse machten deutlich, dass das eigentliche Problem des Unternehmens nicht primär im
logistischen Bereich, sondern eher in der Produktpolitik lag. Deshalb wurde die Stoßrichtung des
Projektes im ersten Schritt verändert und als neue Fragestellung formuliert: „Ist es möglich, die
Produktpolitik ohne negative Auswirkungen auf den Absatz und den Kundennutzen zu verändern,
und welche Vorteile ergeben sich insgesamt daraus?“
Damit hatte sich das Logistikprojekt zu einem Marketing- und Vertriebsprojekt gewandelt. Vor dem
Hintergrund der Marktführerschaft dieses Unternehmens wurde festgestellt, dass eine massive
Eingrenzung der Variantenvielfalt problemlos möglich war. Den potentiellen Kunden bleiben nach
wie vor genügend Auswahlmöglichkeiten. Dieser Aspekt stellte sich sogar als insgesamt
außerordentlich positiv dar, da es für einen Verkäufer unmöglich war, 800 unterschiedliche Artikel,
davon regelmäßig ca. 200 Neuheiten, in der verfügbaren Beratungszeit von ca. einer Stunde dem
Kunden vorzustellen; dies wurde auch in direkten Gesprächen mit A-Kunden bestätigt. Die
Kundenverwirrung nahm ab und der Verkäufer konnte sich wirklich auf das Wesentliche
konzentrieren. Ein so genannter Artikel-Kannibalismus, d. h. die Konkurrenz zwischen eigenen
Artikeln, wurde somit weitestgehend ausgeschaltet. Also konnte man die Stückzahlen pro Artikel
massiv und überproportional steigern und damit auch bei modischen Artikeln sehr schnell in den
Bereich positiver Deckungsbeiträge gelangen.
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Lösungskonzept
Das daraufhin entwickelte Lösungskonzept umfasste folgende Hauptpunkte:
• Die Verkaufsstückzahlen und Umsätze nach Verkaufspreisen wurden in den vier Klassen fest
vorgegeben und werden in der Einhaltung konsequent überwacht.
• Neue Produktionslose werden selbst bei vorliegenden Aufträgen nur dann aufgelegt, wenn
sichergestellt ist, dass die wirtschaftlich zu produzierende Losgröße auch verkauft werden
kann hVermeidung von unverkäuflichen Restmengen bei Trendartikeln, Vermeidung von
Umrüstungen für Klein- und Kleinstmengen). Dies wurde auch von den Kunden akzeptiert, da
diese über Alternativartikel für den Verkauf an den Endkunden verfügen.
• Eine Prozesskostenanalyse für repräsentative Produkte wird als Maßstab für die Kalkulation
verwendet. Die bisher benutzte, stärker pauschalierte Kostenrechnung wird hier nicht
eingesetzt, da diese speziell bei Trendartikeln der Klasse 3 und Sonderfertigungen der Klasse
4 die tatsächlich erforderlichen Aufwendungen in keiner Weise berücksichtigt, z.B.
überproportional hohe Rüstkosten.
Resultate
• Die neue Marketing- und Vertriebsstrategie drückte sich in gesteigerten Umsätzen und
einem massiv verbesserten Deckungsbeitrag aus.
• Die Transparenz für den Kunden wurde erhöht, was von den Kunden sehr positiv gewertet
wurde.
• Die vorhandene Lagerfläche wurde zu 50 % frei, zusätzlich konnten noch weitere Flächen
geräumt werden, die vorher in Logistik und Produktion als Pufferflächen dienten.
• Ein Lagerneubau in zweistelliger Millionenhöhe wurde vermieden und auch die damit
verbunden, ganz erheblichen Betriebs- und Unterhaltskosten.
• Sämtliche logistischen Vorgänge in Beschaffung, Fertigungsplanung, Fertigungssteuerung,
Transport, Kommissionierung, Verpackung und Versand werden stark vereinfacht.
• Die Prozesse wurden weitgehend ohne Automatisierungstechnik gestaltet. Damit war eine
höchstmögliche Flexibilität in der Anpassung auf Leistungsschwankungen gewährleistet und
zugleich das Risiko eines Systemausfalls minimiert.
• Das Zweigwerk konnte komplett aufgelöst und dessen Produktionsanteil im Hauptwerk
produziert werden. Dadurch wurden die dort vorhandenen Produktionsmaschinen besser
ausgelastet hweniger Rüstvorgänge bei deutlich geringerer Artikelvielfalt). Durch
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freiwerdende Lagerflächen konnte die benötigte Montagefläche im Hinblick auf einen
optimalen Materialfluss neugestaltet werden. Mit der Auflösung des Zweigwerks war die
Einsparung von ca. 40 Mitarbeiterkapazitäten und des Transportdiensts verbunden. Der
größte Teil des Maschinenparks aus dem Zweigwerk konnte verkauft werden, die frei
gewordene Immobilie konnte zu interessanten Konditionen langfristig vermietet werden.
• Die Stückkosten in der Fertigung wurden deutlich gesenkt, da nach der Umgestaltung im
Regelfall wirtschaftlichere Losgrößen produziert und häufige Umrüstvorgänge vermieden
werden konnten. Eilaufträge, die früher an der Tagesordnung waren, stellen nunmehr die
absolute Ausnahme dar.
• Der Verschrottungsanteil, der früher bis zu 20 % der verkaufsfähigen Produkte betrug,
konnte nahezu auf null reduziert werden.
• Die Effektivität der Montage wurde wesentlich erhöht, da weniger unterschiedliche Typen
montiert werden müssen und die gesamte logistische Infrastruktur optimiert wurde.
Zusatznutzen über die Logistik
Die Intralogistik als eigentlicher Auslöser des Projekts wurde im zweiten Schritt umfassend überdacht
und hierbei nicht nur das geplante Lager betrachtet, sondern alle logistischen Komponenten,
angefangen von der Strategie, über Organisation bis hin zur Flächennutzung und zur Technik und
selbstverständlich auch dem Personalbedarf und der Personaleinsatzplanung in die Überlegungen
einbezogen. Davon profitierte die betriebliche Logistik in hohem Maße, nicht zuletzt dadurch, dass
ein teurer, letztlich aber wenig sinnvoller Lagerneubau verhindert werden konnte. Hier sind folgende
Punkte besonders erwähnenswert:
• Die bisher absolut „chaotische Lagerverwaltung“ ohne EDV-Unterstützung, die sich allein auf
das individuelle Wissen der Mitarbeiter stützte, generierte bei jedem Kommissionierauftrag
im Durchschnitt Wege von 400 m. Durch weniger unterschiedliche Artikel und eine
Artikelplatzierung nach Zugriffshäufigkeit, also keinerlei Veränderungen an der Lagertechnik,
konnte der Weg auf durchschnittlich ca. 30 m verkürzt werden.
• Die Kommissionierung wurde im nächsten Schritt über eine neue Software und den Einsatz
von MDE-Geräten auf ein belegloses Verfahren umgestellt und gleichzeitig eine
Permanentinventur bei Nulldurchgang eingeführt. Damit konnten die Abläufe noch weiter
optimiert, die enorme Papierflut beseitigt und die Stimmigkeit der Bestände auf nahezu 100
% gesteigert werden. Zusätzlich konnte die bisher aufwändige Stichtagsinventur komplett
entfallen.
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• Durch diese Organisationsform konnte die Anzahl der Lagermitarbeiter um über ein Drittel
reduziert und – was vorher nicht möglich war - zur Abdeckung von Schwankungen in der
Leistungsanforderung problemlos temporäre Arbeitskräfte eingesetzt werden.
• Die Versandabwicklung wurde über einfache Förderbänder beleglos und ohne manuelle
Sortierung gestaltet und in den lückenlosen Informationsfluss eingebunden.
• Die versandfertige Ware wird nun direkt in Wechselbrücken verladen, die bei Bedarf auch
tagsüber vom Dienstleister getauscht werden. Neben stark verringertem Handlingaufwand
wurden erhebliche Bereitstellflächen im Versand frei.
• Die manuelle Erstellung der Ladelisten wurde durch eine EDV-Übertragung der Ladelisten an
die beiden Dienstleister ersetzt. Der Paketdienst bzw. Spediteur verfügt damit über alle
Informationen zu einer Ladung, bevor diese noch bei ihnen eintrifft. Durch fortgeschrittene
EDV-Organisation der Transportdienstleister ist es heute dem Kunden möglich, nicht nur eine
Sendungsverfolgung durchzuführen, sondern auch den Auftragsstatus im Lager selbst
einzusehen. Der Kunde kann zu jeder Zeit ohne Aufwand feststellen, in welchem Stadium
sich sein Auftrag innerhalb des Unternehmens befindet und wann seine Sendung
voraussichtlich angeliefert wird.
• Die Flächenanordnung und Flächennutzung wurde so optimiert, dass das veraltete fahrerlose
Transportsystem stillgelegt werden konnte und die enorm hohen Betriebs- und
Unterhaltskosten dafür entfielen. Notwendige Rohstoffe werden in unmittelbarer Nähe der
Produktion gelagert. Halbfabrikate werden vor der Lackierung gepuffert und aufgrund
deutlich höherer Losgrößen in einer Art Fließfertigung bearbeitet.
• Die Montage konnte in einen frei gewordenen Lagerbereich zwischen Produktion und
Endproduktelager verlagert werden. Die Montagekomponenten werden im Kanban-Konzept
produziert/beschafft und den Montageplätzen angedient.
• Vorproduzierte Saisonartikel werden dagegen in der entferntesten Halle gelagert, die vorher
als Montagehalle mit weiten Versorgungswegen über das fahrerlose Transportsystem
angebunden war. Kommissionierung und Auslieferung der Saisonartikel erfolgt direkt aus
dieser Lagerhalle.
Die erforderlichen Investitionen lagen im Bereich von deutlich unter 1 Million Euro und hatten über
die Personalkosteneinsparung eine Amortisationszeit von 8 Monaten. Ferner konnte die ursprünglich
für das neue Automatiklager vorgesehene Fläche von ca. 5.000 m² als Erweiterungspotential frei
gehalten werden. Logistik war hier Auslöser für eine enorme Optimierung im Gesamtunternehmen.
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Logistik wurde dennoch in Folge als weiterer ganz erheblicher Verstärkungsfaktor wirksam. Auch in
diesem Fall hat sich die ganzheitliche logistische Denkweise in eindrucksvoller Form bestätigt.
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