1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

24
1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft

Transcript of 1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

Page 1: 1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

1

Fünftes Kapitel:

Orientierung an der Autonomie der

praktischen Vernunft

Page 2: 1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

2

1. Transzendentalphilosophische Normbegründung nach Immanuel Kant

- Moralische Normen werden nicht mehr aus dem Sein abgeleitet,

- sondern mit Hilfe eines Verfahrensprinzips (Kategorischer Imperativ) gefunden und begründet, das der praktischen Vernunft als ihr eigenes Gesetz (Autonomie) a priori innewohnt.

Page 3: 1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

3

1.1 Herleitung des Kategorischen Imperativs aus dem Begriff des guten Willens

Ausgangspunkt: Nur ein guter Wille besitzt unbedingten Wert:

„Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille,“

Alles andere ist nur in bestimmter Hinsicht gut.

Page 4: 1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

4

Worin besteht ein guter Wille?

- Als gut kann nicht der Wille gelten, der etwas zugunsten irgendwelcher Neigungen will.

- Moralisch gut ist nur der Wille, der etwas aus Pflicht tut,

d.h.: nicht um eines äußeren Zweckes willen, sondern allein deswegen, weil es geboten ist.

pflichtgemäß- Unterscheidung

aus Pflicht

- Moralischer Wert liegt nicht in der Absicht (Nutzen der Handlung)

sondern in der Maxime (Handlungsgrundsatz)

Page 5: 1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

5

Was ist möglicher Inhalt der Pflicht?

- Kann nur sein: Ein Gesetz, das die reine Vernunft, ohne Bezug auf die Neigungen, vorschreibt.

- Ein solches Gesetz gilt unbedingt (kategorisch).

hypothetisch (wenn … dann)

Imperative kategorisch (Du

sollst …!)

Page 6: 1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

6

Wie lässt sich das Gesetz der reinen Vernunft (kategorischer Imperativ)

formulieren?

„Denke ich mir aber einen kategorischen Imperativ, so weiß ich sofort, was er enthalte. Denn da der Imperativ außer dem Gesetze nur die Notwendigkeit der Maxime enthält, diesem Gesetz gemäß zu sein, das Gesetz aber keine Bedingung enthält, auf die es eingeschränkt war, so bleibt nichts als die Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt übrig, welchem die Maxime der Handlung gemäß sein soll, und welche Gemäßheit allein den Imperativ eigentlich als notwendig vorstellt.“D.h.:

→ Für das reine Gesetz ist die Form der Allgemeinheit

wesentlich.

Page 7: 1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

7

Der Kategorische Imperativ lautet daher:

„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

- Weitere Formeln:

„Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen

Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.“

„Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“

„Handle so, dass alle Maximen aus eigener Gesetzgebung zu einem möglichen Reich der Zwecke als einem Reich der Natur, zusammenstimmen sollen.“

Page 8: 1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

8

1.2 Anwendung des Kategorischen Imperativs auf einzelne Normen

Kategorischer Imperativ ist ein Verfahrensprinzip, mit dem man überprüfen kann, ob eine Maxime moralisch erlaubt ist oder nicht.

Beispiele:

1. Unerlaubtheit des Suizids

2. Verbot, falsche Versprechen zu geben

3. Die eigenen Anlagen aus Bequemlichkeit brach liegen zu lassen, ist verwerflich.

4. Verwerflichkeit mangelnder Hilfsbereitschaft

Page 9: 1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

9

1.3 Problematisierung des Kategorischen Imperativs

1.3.1 Mangelnde Leistungsfähigkeit

Grundprinzip des Kategorischen Imperativs:

- Eine Maxime darf bei Verallgemeinerung nicht in sich widersprüchlich werden, so dass man sie nicht wollen kann.

In den meisten seiner Beispiele vermag Kant diese Widersprüch-lichkeit aber nicht ohne weitere Zusatzannahmen zu zeigen.

1. Beispiel: Natur hat den Zweck der Lebensförderung

3. Beispiel: Mensch will die Entfaltung seiner Vermögen

4. Beispiel: Ist für einen Egoisten nicht zwingend

Page 10: 1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

10

1.3.2 Mangelnde Begründetheit

Frage:

- Wie lässt sich der Sollens-Anspruch des Kategorischen Imperativs begründen?

- Warum sollen wir nach diesem Prinzip handeln?

Kants Antwort:

- Man kann nicht auf ein äußeres Interesse verweisen.

- Aber der Imperativ lässt sich auch nicht aus einem vorausliegenden Prinzip ableiten. Warum?

Page 11: 1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

11

Ein möglicher Versuch der Begründung wäre:

- Wir sollen den Kategorischen Imperativ befolgen, weil wir so autonom und damit wahrhaft frei handeln.

- Aber: dies führt in einen Zirkelschluss:

FreiheitAutonomie

Befolgung des Kate-gorischen

Imperativs

besteht in

führt zu

Page 12: 1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

12

Kant spricht daher von einem Faktum der Vernunft.

- Dieses Faktum kann man nicht beweisen, nur aufweisen.

- Aber: Kant selbst weist dieses Faktum nicht methodisch- reflektiert auf, sondern behauptet es nur.

→ Vorwurf des Begründungsabbruchs (etwa bei P.

Singer)

Page 13: 1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

13

3. Die Alternative des Utilitarismus

3.1 Der Grundgedanke des Utilitarismus und seine Entfaltung

Handlungen sind moralisch richtig, wenn

sie nützlich (utilis) sind im Blick auf das

Ziel, das größtmögliche Glück für die

größtmögliche Zahl der Menschen zu

verwirklichen.

Jeremy Bentham

John S. Mill

Henry Sidgwick

Page 14: 1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

14

Entscheidend sind die Folgen einer Handlung, die Handlung ist nicht in sich richtig oder falsch.

- Teleologische (konsequentialistische) Normbegründung

Teleologisch (ausschließlich von den Folgen her)

Deontologisch (nicht nur von den Folgen her)

Das Ziel ist nicht individuell, sondern gemeinschaftlich.

- Nutzen wird von einem universalen, unparteilichen Standpunkt aus beurteilt.

- Inhaltliche Zielvorstellung nicht einheitlich im klassischen Utilitarismus und im Präferenzutilitarismus.

- quantitativ - qualitativ - Freude / Lust - Präferenzen

Page 15: 1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

15

Handlungsutilitarismus und Regelutilitarismus

- Handlungsutilitarismus:

Für jede einzelne Handlung muss man feststellen, ob sie dem größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl dient.

- Regelutilitarismus:

Nützlichkeitsprinzip ist nur auf Regeln (Normen, Gesetze), nicht auf jede einzelne Handlung anzuwenden.

Page 16: 1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

3.2 Problematisierung des Utilitarismus

1. Problem:

Wenn das oberste Ziel die Förderung des Gesamtnutzens ist, kann dies zur Benachteiligung von Minderheiten führen.

Dazu: John Rawls, Gerechtigkeit als Fairness:

Nur diejenigen Grundstrukturen der Gesellschaft sind gerecht, auf die sich alle Mitglieder in einem Urzustand unter dem „Schleier des

Nichtwissens“ einigen würden.

Page 17: 1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

Im Urzustand würden sich die Menschen auf folgende Grundsätze einigen:

Erster Grundsatz

Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist.

Zweiter Grundsatz

Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein:

a) Sie müssen den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen

b) Sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen.

Page 18: 1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

Regel 2a = Unterschiedsprinzip

Soziale Unterschiede können zugelassen werden, aber nur dann, wenn die Besserstellung der Privilegierten die Situation der am schlechtesten Gestellten auch verbessert oder zumindest nicht verschlechtert.

Aber auch der Utilitarismus hat utilitaristische Argumente gegen den Vorwurf der Ungerechtigkeit und Benachteiligung von Minderheiten entwickelt.

- Prinzip des abnehmenden Grenznutzens

- Benachteiligung führt zu Unmut und Umsturz der Machtverhältnisse

Page 19: 1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

19

2. Problem:

Normen gelten nur aus Nützlichkeitsgründen, nicht von der

„Sache“ selbst her.

3. Problem:

Utilitarismus geht von der Forderung zur Universalisierung aus.

- Damit wird das faktische Interesse einer Gesellschaft zum letzten Bezugspunkt aller Güterabwägungen, ohne dies noch einmal rational zu begründen. → Der Einzelne wird verrechenbar

- Gültigkeit der Universalisierungsvorschrift selbst ist eine Voraussetzung, deren Gültigkeit nicht weiter begründet wird.

Page 20: 1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

20

2. Normbegründung in der Diskursethik von Jürgen Habermas

2.1 Der Universalisierungsgrundsatz

Moralprinzip des Kategorischen Imperativs fordert die

Universalisierbarkeit von Handlungsweisen und Interessen.

- Alle Betroffenen müssen zustimmen können.- Dazu ist ein realer Diskurs notwendig.- Nur so kann man zu einem reflexiven

Einverständnis finden.

Wie lässt sich die objektive Gültigkeit des Universalisierungs-prinzips als Moralprinzip zeigen?

Page 21: 1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

21

2.2 Transzendentalpragmatische Begründung des Universalisierungsgrundsatzes

Die transzendentalpragmatische Begründung baut auf der Figur des performativen Widerspruchs auf.

Beispiel:

Wer sagt „Ich existiere nicht“ widerlegt diesen Satz, indem er ihn ausspricht.

Frage:

Lässt sich zeigen, dass die Ablehnung des Universalisierungs-prinzips in Widerspruch mit den unausweichlichen Voraus-setzungen des Argumentierens gerät?

Page 22: 1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

22

Unausweichliche Argumentationsvoraussetzungen sind:

1. Logische und semantische Regeln

2. Regeln der kooperativen Wahrheitssuche

3. Ideale Sprechsituation: frei von Repression und Ungleichheit, reziprok-egalitäres Verhältnis aller

Diskursteilnehmer; es gilt nur das bessere Argument.

Begründung der Unausweichlichkeit der 3. Ebene:

„Ich habe A durch eine Lüge von p überzeugt“

Wer die Wahrheit dieses Satzes argumentativ verteidigen will, macht damit schon die Voraussetzung, dass man niemanden durch eine Lüge überzeugen kann.

Page 23: 1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

23

Sind die Diskursregeln unausweichliche Voraussetzung der

Argumentation, ist damit auch das Universalisierungsprinzip begründet.

Denn:

Jeder, der normative Ansprüche im Diskurs einlösen will, lässt sich damit auf Bedingungen ein, die den Universalisierungsgrundsatz beinhalten.

Warum?Wenn ich voraussetze, dass ich alle anderen als freie und gleichberechtigte Partner des Diskurses behandle, denen gegenüber nur das bessere Argument zählt,

dann ist darin enthalten, dass eine allgemeine Norm nur gilt, wenn alle Betroffenen frei zustimmen.

Page 24: 1 Fünftes Kapitel: Orientierung an der Autonomie der praktischen Vernunft.

24

2.3 Problematisierung der Diskursethik

Normbegründung durch Konsens:

- In den meisten Fällen gibt es mehrere Möglichkeiten

des richtigen Handelns → kein Konsens möglich.

- Der Konsens über eine Norm kann kein Grund für ihre objektive Gültigkeit sein.

Begründung des Universalisierungsprinzips

- Die Unausweichlichkeit der Voraussetzungen des Diskurses bedeutet noch nicht deren Anerkennung.