1 Zwangsarbeit in Frankfurt Oder

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Zwangsarbeit in Frankfurt (Oder) 1940–1945 Frankfurt (Oder) 2009

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Zwangsarbeitin

Frankfurt (Oder)1940–1945

Frankfurt (Oder) 2009

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Inhalt

Vorwort 5

Das System der faschistischen Zwangsarbeit 7

Zwangsarbeit in Frankfurt (Oder) 21

Das Arbeitserziehungslager „Oderblick“ 39

Das Krankensammellager Güldendorf 53

Briefe von Zwangsarbeiterinnen 67

Die Reise 109

Nachwort 127

Impressum:c./o. Arbeitsstelle für evangelische Kinder- und Jugendarbeit im Kirchenkreis An Oder und Spree, Steingasse 1 a, 15230 Frankfurt (Oder)Auflage: 500 ExemplareUmschlag: Gerhard Hoffmann, Frankfurt (Oder) ©Collage: Burkhard Koller, Frankfurt (Oder) ©Fotos: Sammlung Bernhard Klemm, Frankfurt (Oder) (1), Privat (28)Repros: Burkhard KollerSatz: Satzstudio Schneider, 15537 Erkner, Tel./Fax (0 33 62) 2 31 45Druck: Buch- u. Offsetdruckerei Häuser KG, 50829 Köln, Tel. (02 21) 95 65 03-0

Herausgeber: Arbeitsstelle für evangelische Kinder- und Jugendarbeit

im Kirchenkreis An Oder und Spree

Arbeitsgruppe Zwangsarbeit

im Rahmen des Lokalen Aktionsplanes der Stadt Frankfurt (Oder), der aus Mitteln des vom Bundesministerium für

Familie, Senioren, Frauen und Jugend aufgelegten Bundes-programms

„VIELFALT TUT GUT. Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie“

gefördert wird.

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Vorwort

„Das Geheimnis der Versöhnung ist die Erinnerung.“

Als am 27. Januar 2009, am Internationalen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, eine Junge-Gemeinde-Theater-gruppe mit Mitgliedern des Seniorentheaters „Spätlese“ Briefe ehemaliger Zwangsarbeiterinnen aus der Ukraine in Szene setzte, ging dieser Moment uns Frankfurtern unter die Haut.

Auch 65 Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft darf dieses schreckliche Kapitel unserer Geschichte nicht im Dunkel der Vergangenheit versinken.Diese Frauen konnten noch vor ihrem Lebensende vom erlitte-nen Unrecht und von Demütigungen während ihrer Zwangsar-beitszeit in Frankfurt (Oder) erzählen. Sie stehen für Millionen Opfer eines menschenverachtenden Systems, dessen Gräueltaten wir nie vergessen dürfen.

Mit den in dieser Broschüre veröffentlichten Briefen bekommt das Grauen ein Gesicht. Es geschah hier in unserer Stadt. Die Orte des Geschehens können wir betreten, aber die Spuren des Unrechts sind für uns nicht mehr erkennbar. Sie dauerhaft sicht-bar zu machen bedarf einer engagierten Erinnerungsarbeit.

Für wen sollten wir das überhaupt tun? Ich denke besonders an junge Leute, die ohne Kenntnisse der Geschichte, ohne emoti-onales Begreifen menschlichen Leidens sehr leicht die Gruppe derer vergrößern können, die aus Blindheit und Gleichgültigkeit heraus die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen im Stande sind. Dazu dürfen wir es nicht kommen lassen.

Ich unterstütze jedes Bemühen, das auf Versöhnung zielend sich der Erinnerungsarbeit widmet. Für das hohe Engagement der Recherchegruppe über die Zwangsarbeit in Frankfurt (Oder),

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Gerhard Hoffmann

Das System der faschistischen Zwangsarbeit

Das System der Zwangsarbeit war für den faschistischen deut-schen Staat ein bedeutsames Mittel für die politische und wirt-schaftliche Herrschaftssicherung.Insbesondere während des Krieges sollte mit der Zwangsarbeit fehlende Arbeitskraft kompensiert werden. Diesem Ziel dienend, arbeiteten staatliche Apparate und entwickelten vielfältige For-men der Zwangsarbeit.Der Arbeitszwang für exakt definierte soziale oder rassische Gruppen in der Gesellschaft gehörte dazu. Und der Arbeitsdienst für Menschen in den von der Wehrmacht besetzten Ländern war ebenso Bestandteil des Systems wie der Einsatz von Häftlingen der Konzentrationslager in der deut-schen Industrie.

Bereits vor Beginn des Krieges erfolgte durch die Nazis eine staatliche Regulierung auf dem Arbeitsmarkt. So war geplant, dass „alle Personen, die sich dem Arbeitsleben der Nation“ nicht anpassten, zwangsweise für die Aufrüstung beschäftigt werden.So genannte „Arbeitsscheue“, Landstreicher und mehrfach Vor-bestrafte, wurden gejagt, oft denunziert, von den Nazis in groß angelegten Razzien festgenommen. Man brachte sie in die Kon-zentrationslager und stigmatisierte sie als so genannte „Asoziale“. Zu dieser Häftlingsgruppe gehörten nicht selten Sinti und Roma, die keinen festen Wohnsitz hatten.Zum Ende des Jahres 1938 begann der von den deutschen Ar-beitsämtern organisierte „geschlossene Arbeitseinsatz“ zunächst

angesiedelt bei der Arbeitsstelle für evangelische Kinder- und Ju-gendarbeit, möchte ich danken. Ein Ergebnis ihrer Projektarbeit ist diese Broschüre, die dazu beitragen möge, dass die Erinne-rung an das Geschehene für immer wach bleibt.

Ich wünsche mir, dass besonders junge Menschen diesen Teil un-serer lokalen Geschichte als Impuls verstehen, ihr Bemühen um Versöhnung, Anerkennung und Verständnis zwischen Menschen und Völkern durch eigenes Engagement zu verstärken.

Peter FritschVorsitzender der Stadtverordnetenversammlung Frankfurt (Oder)

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vielfach unter unsäglichen Bedingungen vegetierenden Arbeits-sklaven unterlagen dem Polensonderstrafrecht, mit dem absolu-ter Gehorsam erzwungen werden sollte.Jede Widersetzlichkeit, wozu zum Beispiel auch eine als deutsch-feindlich verstandene Äußerung gehören konnte, zog erhebliche Bestrafung nach sich.4

In allen okkupierten Ländern wurden aufwändige Kampagnen durchgeführt, die zur Gewinnung von Arbeitskräften für den „Reichseinsatz“ führen sollten. Schließlich konnte jede(r) Ar-beitsfähige aus den besetzten Ländern in die Zwangsarbeit ge-presst werden.

Ab 1942 begannen die Einsatzstäbe der deutschen Wehrmacht systematisch mit der zwangsweisen Rekrutierung von Millionen Zivilisten aus der Sowjetunion. Zuvor hatten deutsche „Herrenmenschen“ die meisten sowjeti-schen Kriegsgefangenen in Kriegsgefangenen- und Konzentrati-onslagern unter Bruch international verbindlichen Rechts durch Unterernährung und brutale Misshandlungen für einen Arbeits-einsatz unbrauchbar gemacht. Ersatz sollte durch Zivilpersonen geschaffen werden.5

In einer Verordnung Hitlers erhielt am 21. März 1942 die Rüs-tungswirtschaft

„[…] den unbedingten Vorrang beim Arbeitskräfteeinsatz und bei der Verteilung von Rohstoffen und Erzeugnissen […] Gau-leiter Fritz Sauckel erhält als Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz weitgehende Vollmachten, um Fremdarbeiter aus den besetzten Gebieten auch zwangsweise nach Deutschland bringen zu können.“6

4 Vgl. Ebenda5 Vgl. Peter Widmann: Fremdarbeiter. In: Benz, Grammel, Weiß a. a. O.,

S. 470 f.6 Martin Broszat / Norbert Frei (Hrg.): Das Dritte Reich im Überblick. Mün-

chen 1989. S. 270 f.

für Juden, die Sozialunterstützung erhielten, später für alle Ju-den.1

Nach Kriegsbeginn und dem Überfall auf Polen ordnete die deut-sche Besatzungsmacht bereits im Oktober 1939 Zwangsarbeit für alle polnischen Juden an. Bei der Durchsetzung der drakoni-schen Maßnahmen, die teilweise in Gewaltexzesse ausarteten, spielten Wehrmachts- und SS-Einheiten eine wesentliche Rolle.Anfang 1941 gab es in Polen und im Großdeutschen Reich ca. 800000 jüdische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. In al-len von den Deutschen okkupierten Ländern und Gebieten war für Juden Zwangsarbeit verfügt. Das betraf sogar das so genannte Wehrmachtsgebiet Tunesien.2

In das System der Zwangsarbeit waren auch die von den Nazis so bezeichneten Fremdarbeiter integriert.Anfänglich handelte es sich um den freiwilligen Arbeitseinsatz „arischer“ Österreicher. Zum Teil kamen Freiwillige aus westeu-ropäischen Ländern zum Arbeitseinsatz nach Deutschland.Schrittweise folgten dann die „Verschickung“ österreichischer Juden, die Verpflichtung von Tschechen zur Zwangsarbeit, schließlich auch der Arbeitseinsatz polnischer Kriegsgefangener, was einen eklatanten Bruch international anerkannten Rechts darstellte.3

Nach dem Überfall auf Polen wurden zunächst Arbeitskräfte für den Einsatz in Deutschland angeworben. Die Ergebnisse entsprachen nicht den Vorstellungen, sodass später Einheiten der deutschen Wehrmacht und der SS groß angelegte Aktionen durchführten, um Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter mit Gewalt zu rekrutieren und nach Deutschland zu verbringen.Im Sommer 1940 waren bereits über eine Million Polen als Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Deutschland. Diese

1 Vgl. Wolf Gruner, Zwangsarbeit. In: Wolfgang Benz, Hermann Graml, Her-mann Weiß (Hrg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997, S. 813 f

2 Vgl. Ebenda3 Vgl. Ebenda

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In der Richtlinie des Reichsführers – SS und Chef der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern vom 20. Februar 1942 wurde zur Kennzeichnung der „Ostarbeiter“ festgelegt:

„3. KennzeichnungDie Kennzeichen sind von mir zentral in Auftrag gegeben. Der zzt. bestehende Bedarf – für jeden Arbeiter sind fünf Abzeichen vorgesehen – ist sofort durch die Kreispolizeibehörden zu ermit-teln und von diesen der Fa. ‚Berliner Fahnenfabrik Geistel und Co., Berlin C 2, Wallstraße 16, unmittelbar aufzugeben. Die Firma übersendet die bestellten Mengen sofort aus den vorhan-denen Lagerbeständen durch die Post, portofrei und ohne Berech-nung der Verpackung. Die Kennzeichen sind durch die Ortspoli-zeibehörde in Streifen zu fünf Stück zum Preis von RM –,10 je Streifen – gegebenenfalls unter Hinzuziehung der Bewachungs-mannschaften – an die Arbeitskräfte auszugeben […] Für die Anbringung der Kennzeichen ist neben dem Arbeiter auch der Arbeitgeber verantwortlich […]“8

Ostarbeiter waren besonderer Ausbeutung, Drangsal und Ernied-rigung unterworfen. Die Versorgung mit Lebensnotwendigstem hatte die deutsche Bürokratie auf ein Minimum reduziert, sodass vielfach nicht einmal die Arbeitskraft erhalten werden konnte.Allein der Begriff Ostarbeiter, angewendet für die zwangsde-portierten Sowjetbürgerinnen und Sowjetbürger, ist Ausdruck von Geringschätzung. Durch diese Wortwahl erfolgte gezielt die Beseitigung jeglicher Individualität und somit die Charakterisie-rung dieser Menschen als dumpfe Masse, deren höchster Wert die Arbeitskraft ist.

Der nazistische Reichspropagandaminister Joseph Goebbels führte auf einer Ministerkonferenz im Juli 1942 aus:

8 Zitiert nach: Helmut Fritsch: Zwangsarbeit in Hennigsdorf 1940 bis 1945. Hennigsdorf 2001. S. 35.

Die polnischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter bilde-ten gemeinsam mit den aus der Sowjetunion nach Deutschland gezwungenen „Ostarbeitern“ und den Juden das untere Ende der menschenverachtenden rassischen Hierarchie.7

Polnische und sowjetische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsar-beiter waren zumeist in Lagern untergebracht und so von Kon-takten zu Deutschen nahezu isoliert. Gleichwohl sah die deut-sche Bevölkerung die bejammernswerten Gestalten, wenn sie zur oder von der Arbeit geführt wurden.

Polnische Zwangsarbeitskräfte mussten an ihre Kleidung eine spezielle, weithin erkennbare Kennzeichnung, ein großes P, tra-gen. Dieses Kennzeichen hatten sie von ihren erbärmlichen Ein-künften selbst zu bezahlen.

Die aus der Sowjetunion Kommenden waren durch das überdi-mensionierte Kennzeichen „OST“ stigmatisiert.

7 Vgl. Ebenda

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Im Verlauf des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsver-brecher ermittelten die Alliierten die Zahl von 12 bis 14 Milli-onen Menschen, die bis Kriegsende Fronarbeit leisten mussten. Spätere Untersuchungen nennen die Zahl von mehr als 20 000 Zivil- und Arbeitslagern, in denen 10 bis 12 Millionen Arbeits-sklaven unter unsäglichen Bedingungen vegetieren mussten, um für die deutsche Kriegswirtschaft zu schuften.10

Diese Menschen waren in ihren Heimatländern oft brutal zu-sammengetrieben worden. Züge der Deutschen Reichsbahn brachten sie in großen Transporten nicht selten auf den längsten Strecken „ins Reich“, wie es hieß. Ausgehungert, Durst leidend, verdreckt, nach entwürdigender Behandlung verstört und verunsichert, unkundig der alles beherr-schenden deutsche Sprache, eingeschüchtert durch die bewaffne-te Bewachung und zerfressen von Heimweh und Zukunftsangst, gerieten sie in das unmenschliche System der Zwangsarbeit, von der „Herrenrasse“ erdacht und ohne Skrupel durchgesetzt.Alles, was Freude am Leben ausmacht, war den zumeist jungen Frauen und Männern unter Androhung schärfster Strafen unter-sagt. Vielen von ihnen war durchaus bewusst, dass sie mit ihrer Arbeit dazu beitrugen, den Krieg gegen ihre Heimatländer zu ermöglichen und zu verlängern. So, wie die Kriegsfurie immer neue Länder schluckte, kamen neue Kinder, Jugendliche, Frauen, Männer, sofern sie nur als ausbeutungsfähig angesehen wurden, nach Deutschland zur Zwangsarbeit. Für die oft schwersten und fast unzumutbaren Arbeiten bekamen sie ein Entgelt, das eher Symbolwert hatte. Eine Entlohnung erhielten sie nicht.

Wer sich an diesen beklagenswerten Menschen irgendwie berei-chern konnte, tat es.In Einzelfällen gab es Zuwendung von Deutschen. Das war un-bedingt die Ausnahme.

10 Vgl. Helmut Fritsch: a. a .O. S. 3.

„Es gibt Lebewesen, die deshalb so widerstandsfähig sind, weil sie so minderwertig sind. Ein Straßenköter ist auch widerstands-fähiger als ein hochgezüchteter Schäferhund. Deshalb ist aber der Straßenköter nicht wertvoller. Eine Ratte ist auch widerstands-fähiger als ein Haustier, weil sie unter so schlechten sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen lebt, dass sie sich schon eine gesun-de Widerstandkraft aneignen muss, um überleben zu können. Auch der Bolschewist ist widerstandsfähig.“9

Derartige menschenverachtende Gedankengänge eines führen-den Nazis fanden natürlich Aufmerksamkeit bei Verantwor-tungsträgern, wurden in den Gliederungen der Nazipartei re-flektiert und bestimmten in der Konsequenz Verhaltensweisen vieler Menschen.

Für die Organisation der Zwangsarbeit waren die Arbeitsverwal-tungen verantwortlich. Polizei, Wehrmacht, SS und zivile Besat-zungsbehörden waren in das System integriert.

Den Nutzen aus der Zwangsarbeit zog in erster Linie der faschis-tische Staat. Besonders profitierten Rüstungskonzerne und an-dere Großbetriebe vom massenhaften Einsatz billigster Arbeits-kräfte. Gleichermaßen hohen materiellen Nutzen zogen private und öffentliche Unternehmen aller Bereiche, zum Beispiel auch die Kirche. Oftmals war es der Handwerksmeister oder der Bau-er, aber auch die Offizierswitwe, die sich, wie es hieß, „ihren Iwan“ oder „ihre Mascha“ hielten. Insofern war der Einspruch berechtigt, der 1999 erfolgte, als in den Medien eine seit den frühen 1950er Jahren bekannte Liste mit Namen von 2 498 Unternehmen veröffentlicht wurde, die in der Nazizeit Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ausgebeu-tet hatten. Diese Liste konnte nicht vollständig sein.

9 Zitiert nach: http://www.zwangsarbeit.rlp.geschichte.unimainz.de/Zwangsar-beiterinnen_MZ-WI... Willi A. Boelcke (Hrg.): „Wollt Ihr den totalen Krieg?“ Die geheimen Goebbels-Konferenzen 1939-1943. Stuttgart 1967.

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VI. Es sind bei der Staatspolizeistelle […] zu melden1.) Flüchtige Ostarbeiter […] Vermerk, ob Rückführung er-

wünscht ist.2.) Aufgegriffene Ostarbeiter. Bericht. – Zuführung an das

Arbeitsamt oder sonstiger Arbeitseinsatz sind unzulässig.3.) Ermittlungsvorgänge zu Straftaten. – Sie sind keinesfalls

den Justizbehörden vorzulegen.4.) Fälle von Geschlechtsverkehr mit Reichsdeutschen. […]11

Wer gegen solche Festlegungen verstieß, wurde hart bestraft. Prügelstrafe, Arbeitserziehungslager, Konzentrationslager, Hin-richtungen gehörten zu den Strafen. Der Verweis darauf, Er-mittlungsvorgänge keinesfalls den Justizbehörden zukommen zu lassen, ist durch das Sonderstrafrecht, das das Standrecht ein-schloss, zu rechtfertigen gewesen.

Es ist inzwischen unbestrittene Tatsache, dass die deutsche Kriegswirtschaft auch durch die skrupellose Ausbeutung der Ar-beitssklaven höchste Gewinne erzielte.

Für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter wurde erst der 8. Mai 1945 zum Tag ihrer Befreiung.

Nach zähen Debatten kam es in der Bundesrepublik Deutsch-land fünfundfünfzig Jahre nach der Befreiung, im Jahre 2000, zur Bildung einer Bundesstiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Durch diese Einrichtung sollten Leistungen an Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter bereitgestellt werden. Eine Auszahlung der Leistungen war davon abhängig, ob Doku-mente oder andere Beweise dafür erbracht werden konnten, die belegten, dass tatsächlich Zwangsarbeit geleistet wurde. Vielfach konnten von den alten, oft kranken und hinfälligen Menschen diese Beweise nicht erbracht werden, sodass sie keine Leistungen erhielten. Kriegsgefangene, die Zwangsarbeit leisten mussten,

11 Zitiert nach: Helmut Fritsch, a. a. O. S.4 ff.; BLHA, Rep. 2, Reg. Potsdam, Abt. I, Nr. 2894, Blatt 8/9.

Jegliches Unrechtsbewusstsein war getilgt, die ideologische Be-einflussung wirkte massiv auf die Menschen.Dort, wo in irgendeiner Weise Beziehungen zwischen Deutschen und Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern entstanden, lie-fen die Beteiligten Gefahr, nachhaltig bestraft zu werden.In einem Dokument der Geheimen Staatspolizei heißt es:

III. Es ist verboten:1.) Verlassen des Ortspolizeibezirks […] 2.) Beurlaubung während der Nacht. Ausgang muss spätestens

bis 21.00 Uhr beendigt sein.3.) Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel über den Ortspolizei-

bezirk hinaus.4.) Teilnahme an deutschen Veranstaltungen.5.) Besuch von Theater und Kino, wenn Reichsdeutsche daran

teilnehmen.6.) Besuch von Gaststätten […]7.) Besuch deutscher Kirchen, auch der bestehenden orthodo-

xen.8.) Besitz und Benutzung von Fahrrädern.9.) Besitz und Benutzung von Fotoapparaten.10.) Besitz von Führerscheinen. […]11.) Bedienung eines Rundfunkgerätes.12.) Besuch von Friseurgeschäften.

IV. Grundsätzlich ausgeschlossen sind:1.) Eheschließungen zwischen Reichsdeutschen und Ostar-

beitern. – Eheschließungen von Ostarbeitern mit anderen Ausländern sind unerwünscht. […]

2.) Schulbesuch von Ostarbeiterkindern und Berufsschule für Jugendliche.

V. Nicht zulässig sind1.) Urlaub-und Familienheimfahrten.2.) Verkauf von Mangelware an Ostarbeiter […] 3.) Erweisung des „Deutschen Grußes“ durch Ostarbeiter […]

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blieben von den Leistungen ausgeschlossen. Für die Leistungen wurde der Begriff „Zwangsarbeiterentschädigung“ angewendet. Eine Entschädigung für zugefügtes Leid, für ertragene Schmach, für unmenschliche Behandlung, Erniedrigung und gewissenlose Ausbeutung kann es nicht geben.

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Zwangsarbeit in Frankfurt (Oder)

Wendet man sich dem Thema Zwangsarbeit in Frankfurt (Oder) zu, offenbart sich eine eigenartige Zurückhaltung. Die Jahre 1940 bis 1945, in denen ausländische Arbeitskräfte nachweisbar an verschiedenen Stellen der Stadt arbeiten mussten und unter-gebracht waren, erscheinen im Hinblick auf dieses Thema unter-belichtet.

Wenn überhaupt, fand die Problematik in ihrer Breite in den Jah-ren 1945 bis 1990 nur selten Erwähnung. Den Schwerpunkt his-torischer Betrachtungen bildeten die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, der antifaschistische Widerstandskampf und die Aufbauleistungen der Deutschen Demokratischen Republik.Da in der Sowjetunion die Zwangsarbeit in Deutschland eher ein Tabu war, weil stets mit Verdächtigungen verbunden, die sowje-tischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter könnten mit den Deutschen kollaboriert haben, wandte man sich in der DDR dem Thema nicht oder nicht öffentlichkeitswirksam zu.Überdies verstand sich die DDR als Erbe des antifaschistischen Widerstands und somit als Sieger der Geschichte. Materiell schien durch die erheblichen Reparationsleistungen, die von der DDR für ganz Deutschland an die Sowjetunion zu ent-richten waren, auch Unrecht, das an Menschen begangen worden war, abgegolten. Aus diesem Verständnis wurde keine Veranlas-sung gesehen, sich der Zwangsarbeit intensiv zuzuwenden.Die dadurch entstandenen Zeit- und Informationsverluste sind nicht mehr zu kompensieren.Die Aktenlage ist spärlich, Zeitzeugen sind kaum noch zu befra-gen, Sachzeugnisse und authentische Orte sind fast nicht mehr zu finden.

Nach 1990 entstandene beachtenswerte Publikationen zur Lo-kalgeschichte der Stadt Frankfurt (Oder) tangieren Zwangsarbeit nicht. Das erstaunt insofern, als durchaus eine Sensibilisierung

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staurationen wie „Sanssouci“, dort, wo die Markendorfer Straße auf die Hindenburgstraße (heute August-Bebel-Straße) traf , fan-den in dem großen Saal noch Tanzveranstaltungen statt, ebenso im „Tivoli“ in der Kliestower Straße 4112 und an anderen Orten.

Tanzsaal „Sanssouci“

In der Dammvorstadt, dem am östlichen Ufer der Oder gelege-nen Stadtteil mit seinem Ostmarkstadion und dem Gesellschafts-haus, pulsierte das Leben. Das „modernste Tonfilmtheater am Platze“ – Skala – in der Richtstraße zeigte Filme, auch die Wo-chenschauen mit den Kriegserfolgen. Die Kirchenglocken riefen die Gemeindeglieder zu den Gottesdiensten. Normalität überall.

Überall?Von den Beamten in der Reichsbahndirektion „Osten“ in der Litzmannstraße (heute Logenstraße) muss doch wahrgenommen worden sein, dass aus dem von der Wehrmacht besetzten Polen Güterzüge mit Menschen nach Deutschland rollten. Es ist nicht

12 Kliestower Straße ab 1941 Küstriner Straße, heute wieder Kliestower Straße, Verlängerung der Herbert-Jensch-Straße

der Öffentlichkeit stattgefunden hatte – nicht zuletzt durch die politische Thematisierung und das würdelose Feilschen um ma-terielle Entschädigungsleistungen für Zwangsarbeit in Deutsch-land.

Dennoch: Auch für Frankfurt (Oder) ist zu belegen, dass hier durch nach Deutschland Verschleppte Zwangsarbeit geleistet werden musste.Verschiedene Anlässe boten in den letzten Jahren Möglichkei-ten, Schicksale von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern der Öffentlichkeit nahe zu bringen.Weitere Spurensuche darf nicht mehr unterlassen werden, sich ihr zuzuwenden, ist dringlich geboten.Frankfurt (Oder) – eine beschauliche Stadt am Fluss, hatte ihren Lebensrhythmus nach dem Kriegsbeginn 1939 kaum zu verän-dern brauchen. In den Ämtern und Verwaltungen, in den Ka-sernen, bei der Deutschen Reichsbahn mag es Veränderungen gegeben haben. Für die Bevölkerung muss das nicht unbedingt wahrnehmbar gewesen sein.

So, wie das Leben nach dem Boykott jüdischer Geschäfte und Praxen am 1. April 1933 weiterging, ohne dass es, bis auf wenige Ausnahmen, Einhalt gebietende Reaktionen gegeben hätte, war die brennende Synagoge am 9. November 1938 hingenommen worden. Neugierige konnten sehen, dass die Feuerwehrleute Dä-cher nebenstehender Häuser nässten, die Synagoge aber brennen ließ. Dass laut Fragen gestellt worden wären, ist nicht überliefert. Schülerinnen und Schüler wunderten sich, dass jüdische Klas-senkameraden plötzlich nicht mehr solche sein durften und eines Tages wegblieben. Wo sie geblieben waren, schien nicht besonderes Interesse hervorgerufen zu haben. Das Leben verlief in den normalen Bahnen. Die Badeanstalten, das Damen-, Herren-, das Familienbad und die Badeanstalt auf dem Ziegenwerder luden zu Sport und Spaß ein, in der Großen Scharrnstraße und in der großen Oderstraße ließ es sich trefflich flanieren, die Cafés und Restaurants hatten Gäste. Größere Re-

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Obwohl den „Fremdarbeitern“, zumeist aus Frankreich, Belgi-en, Italien, der Tschechoslowakei einige wenige Freizügigkeiten zugestanden wurden, waren sie keine Freien. Die meisten von ihnen lernten schnell, dass sie, als Arbeitssklaven missbraucht, dazu beitragen mussten, dass der Krieg gegen ihre Heimatländer weitergeführt werden konnte.Dass sich französische Kriegsgefangene als „Fremdarbeiter“ in Güldendorf Frösche fingen und sich Froschschenkel als Natio-nalgericht bereiteten, ist als Episode überliefert und wird als Indiz dafür genannt, dass es ihnen so schlecht doch gar nicht ging.14

Von „Liebschaften“ mit Deutschen ist gelegentlich die Rede. Dass bei Bekanntwerden das Konzentrationslager oder gar die Todesstrafe drohten, findet seltener Erwähnung.

Den „Fremdarbeitern“ sei es gut gegangen, sie seien gut behan-delt worden. Musste das hervorgehoben werden, weil die Be-handlung in Gänze miserabel war?Sie wären frei gewesen, hieß es. So frei, schamlos ausgebeutet zu werden, in Baracken unter menschenunwürdigen Bedingungen hausen zu müssen und sich unter Androhung drakonischer Stra-fen einem extra für sie festgelegten Reglement zu unterwerfen.

Nicht selten wird erwähnt, „die“ hätten beim Essen gleichberech-tigt mit am Tisch gesessen. Das wird in Einzelfällen so gewesen sein. Hervorhebenswert scheint es zu sein, weil es Ausnahmen waren. Schließlich gab es ein striktes Verbot, derartige Kontakte zu pflegen.

„Fremdarbeit“ war in den Rang des Selbstverständlichen erho-ben, nichts Bemerkenswertes war daran. Deutschland hatte ei-nen Krieg entfesselt und brauchte dazu massenhaft Soldaten. Die wurden dem Produktionsprozess entzogen, der wiederum kriegs-

14 Vgl. Festschrift anlässlich der 775-Jahrfeier Tzschetzschnow seit 1937 Gülden-dorf. Heimatverein Tzschetzschnow-Güldendorf e. V. (Hrsg.), 2005, S. 47, Fußnote 12.

auszuschließen, dass hier gewissenhaft geplant wurde, wie viele Waggons welcher Art, wie viele Lokomotiven, welches Personal zu welchem Zeitpunkt bereitzuhalten waren, um die Transport-leistung erbringen zu können. Einiges spricht dafür, dass „nor-male Geschäftsvorgänge“ abgewickelt, dass wie gewöhnlich „auf Weisung von oben“ gearbeitet und verwaltet wurde.Lokomotivführer, Heizer, Zugbegleitpersonal aus der Siedlung Paulinenhof oder aus den Häusern in der Hindenburgstraße [s.o.] gingen sicher wie gewöhnlich ihrer Arbeit und ihren Frei-zeitbeschäftigungen nach. Warum sollte der Lokführer nach der Fracht fragen, wenn es gut rollte? Obwohl Krieg war, schien es keinen Grund zur Beunruhigung zu geben.

In den Verwaltungen, in den Arbeitsämtern trafen die Beamten Entscheidungen und der Begriff „Fremdarbeiter“ gehörte nach Kriegsbeginn zu den geläufigen.Das Bauamt prüfte Anträge zur Errichtung von Barackenlagern und genehmigte sie für Gelände an der Markendorfer Chaussee, für Güldendorf, Booßen. Erweiterungsbauten zur Unterbrin-gung von „Fremdarbeitern“ genehmigten sie. Die Bauten wurden ausgeführt, die Baracken errichtet.

Der „Fremdarbeiter“, so der Eindruck, kam durchaus willig nach Deutschland, um zu arbeiten. Sicher, es kamen welche freiwillig. Die waren deutschen Werbern gefolgt. Der ab 1942 eingesetzte „Generalbevollmächtigte für den Ar-beitseinsatz in Deutschland“, Fritz Sauckel, erklärte, dass

„von den fünf Millionen ausländischen Arbeitskräften, die nach Deutschland gekommen (sic!) sind, keine 200 000 freiwillig“

da waren.13

13 Zitiert nach: http://www.mdr.de/geschichte/2009/sauckel/6471436.html, 30. 11. 2009. Diese Quelle gibt als Zeitpunkt für die Äußerung eine Konferenz aus dem März 1942 an. Andere Quellen ordnen diese dem 1. März 1944 zu, was wahrscheinlicher ist.

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• Rücktransport von Arbeitsunfähigen, Kindern unter 15 Jahren und Schwangeren

• Verbot der Freizügigkeit und des Verlassens des Lagers außer zur Arbeit,

• Freizeitbetreuung durch die DAF• Ausflüge mit deutschem Begleitpersonal als Belohnung möglich• Arbeit in möglichst geschlossenen Gruppen• Verhinderung jeglichen Solidaritätsgefühls zwischen Deutschen

und Russen• Bewachung durch Werkschutz, Bewachungsgewerbe und Hilfs-

werkschutzmänner• Führung der Lager durch vom politischen Abwehrbeauftragten

des Betriebes ernannte Lagerleiter• Striktes Kennzeichnungsgebot („Ost“)• Einsatz von russischen V-Männern und Lagerältesten• Zweimal monatlich Möglichkeit zum Postverkehr• Verbot der seelsorgerischen Betreuung• Rücksichtsloses Durchgreifen – auch Waffengebrauch – bei Un-

gehorsam• Eigenes Strafsystem (Ordnungsstrafen wie Stubendienst, Zutei-

lung zu Straftrupps, Entziehung der warmen Tagesverpflegung bis zu drei Tagen, Arrest bis zu drei Tagen

• Züchtigungserlaubnis für Lagerleiter, alle anderen Strafen nur durch Gestapo

• Einweisung in ein Arbeitserziehungslager oder Konzentrations-lager bei Arbeitsflucht.

• Todesstrafe bei Kapitalverbrechen, politischen Delikten und Ge-schlechtsverkehr mit Deutschen

Insgesamt sind die ‚Ostarbeitererlasse‘ als nahezu vollständige Umsetzung des rassistischen Prinzips der Unterteilung in ‚Her-renmenschen‘ und ‚Untermenschen‘ in die Praxis des Arbeitsein-satzes anzusehen.“15

15 Zitiert nach: Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge. München 2001, S.139.

notwendig aufrechterhalten werden musste. Mit Arbeitskräften aus den besetzten Gebieten ließen sich die fehlenden ersetzen.

Die scheinbare Normalität erfuhr einen Bruch mit den so ge-nannten „Polenerlassen“ vom März 1940, wodurch ein Sonderar-beitsrecht entstand. In den Betrieben kam es zu verstärkten Kon-trollen, die Lebensführung der polnischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter wurde erheblich eingegrenzt.

Ab Februar 1942 waren für alle Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus den besetzten Gebieten der Sowjetunion der „Ostarbeitererlass“ mit seinen vielen Richtlinien verbindlich.

Allein die Verwendung des Begriffs „Ostarbeiter“ für die zur Ar-beit in Deutschland gezwungenen Menschen aus der Sowjetuni-on macht die Geringschätzung gegenüber diesen deutlich. Schon mit Wortwahl wurden durch die Propagandisten der Zwangs-arbeit eine Entindividualisierung vorgenommen und die Men-schen klassifiziert als dumpfe, nicht zu unterscheidende Masse, deren höchster Wert die Arbeitskraft ist.

Ab 1942 kamen auch nach Frankfurt (Oder) immer mehr Frauen aus den von der deutschen Wehrmacht besetzten Teilen der So-wjetunion. Sie waren in groß angelegten „Fangaktionen“ zusam-mengetrieben worden. Umfangreiche Transporte sowjetischer Frauen und Mädchen durchliefen so genannte Quarantänelager, wo sie unter entwürdigenden Bedingungen „entlaust“ und „des-infiziert“ wurden, um dann in die entsprechenden Einsatzgebie-te aufgeteilt zu werden.Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass über die Hälfte der sowjetischen Zwangsarbeiter Frauen waren, deren Durchschnittsalter unter zwanzig Jahre lag. Für alle war der „Ostarbeitererlass“ verbindlich, der folgendes festlegte:

• „Unterbringung in geschlossenen Wohnlagern, umzäunt, nach Geschlechtern getrennt.

• Gemeinsame Unterbringung von Ostarbeiterfamilien

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zwei Abortanlagen mit sechs Sitzen. Für die Wasserversorgung musste eine Pumpe in der Nähe der Unterkunft genutzt werden.17

Barackenlager befanden sich südlich von Booßen und in Gül-dendorf. Für Notunterkünfte waren Erweiterungsbauten geplant, was darauf weist, dass einerseits die Unterkunftsbedingungen nicht ausreichten und andererseits mit der weiteren Zuführung von Zwangsarbeiterinnen gerechnet wurde.18

Vom Besitzer der Gastsstätte „Reichsgarten“ in der Großen Müll-roser Straße 1 wurden Anfang April 1943 Baupläne eingereicht, um Umbaumaßnahmen zur Schaffung von „Schlafraum für aus-ländische Arbeiter“ zu beantragen.19

Es ist davon auszugehen, dass ohne Aussicht auf ein profitables Geschäft Investitionen für umfangreichere Baumaßnahmen un-ter den Bedingungen des Krieges nicht getätigt worden wären.

17 BLHA Rep3B/Med 103318 BLHA Rep3B/Hb 575/119 BLHA Rep3B/Hb 575/1

In den „Allgemeinen Bestimmungen“ der „Ostarbeitererlasse“ heißt es:

„Für die gesamte Behandlung dieser Arbeitskräfte ist ausschlag-gebend, daß sie jahrzehntelang unter bolschewistischer Herr-schaft gestanden und systematisch zu Feinden des nationalsozi-alistischen Deutschlands und der europäischen Kultur erzogen worden sind.“16

Mit diesen Erlassen war die Grundlage dafür geschaffen, die „Ost-arbeiter“ wie Sklaven, wie minderwertiges Material zu behandeln.

Untergebracht, zunächst in Notunterkünften, später in Sammel-unterkünften, zwangen Deutsche die aus ihrer Heimat Zwangs-verschleppten bei völlig unzureichender Ernährung und unsäg-lichen hygienischen Bedingungen zu leichten Hilfsarbeiten bis zu schwerster körperlicher und oft unzumutbarer Arbeit. Wie sie behandelt wurden, hing von dem jeweiligen Arbeitgeber ebenso ab wie von Vorgesetzten, Lagerführern und nicht unwesentlich von den deutschen Kollegen.

Für Frankfurt (Oder) ist nachweisbar, dass Frauen in Sälen der genannten Gaststätten „Sanssouci“ und „Tivoli“ untergebracht waren.

Im Saal des „Lagers ‚Tivoli‘“, wie es jetzt genannt wurde, standen zweiundvierzig Betten und ein Kinderbett. Zu jedem Bett gehör-ten ein Stroh- bzw. Holzwollesack und zwei Decken. Bettwäsche gab es nur in Ausnahmefällen. Neben dem Saal befanden sich

16 Erlass des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei vom 20. Februar 1942, Allgemeine Bestimmungen über Anwerbung und Einsatz von Arbeits-kräften aus dem Osten; dazugehöriger Runderlass an die höheren Verwal-tungsbehörden und an die Stapo(leit)stellen. Zitiert nach: Ulrich Herbert, Fremdarbeiter – Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegs-wirtschaft des Dritten Reiches, Berlin/Bonn 1985, S. 400.

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Ein zweites Lager war als „Entlausungsstation“ bekannt. Dieses Lager war offiziell ein Krankensammellager für „Ostarbeiter“.21

Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, so erinnert eine Zeit-zeugin, waren in der Ziegelstraße untergebracht und in einer gro-ßen Unterkunft am Beginn der damaligen Küstriner Straße, in unmittelbarer Nachbarschaft der Firma Paetsch.22

Die Aufzählung der Unterkünfte erhebt keinesfalls einen An-spruch auf Vollständigkeit. Sie macht deutlich, dass im Stadtbild von Frankfurt (Oder) Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter nicht unbemerkt bleiben konnten.

Darüber hinaus waren viele von ihnen bei Bauern individuell untergebracht, wenn sie Bauernwirtschaften zur Arbeit zugeteilt waren.

Wie überall in Deutschland sollte auch in Frankfurt (Oder) mit den Ergebnissen der Arbeit von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern möglichst noch einträglicher Profit erzielt wer-den. Demzufolge gab es überall Bedarf an diesen Arbeitskräf-ten, die schonungslos geschunden werden konnten, ohne dass sie größere Kosten verursachten. Unterbringung in primitiven Massenunterkünften in fremder Umgebung und weitestgehende Isolierung, fehlende Sprachkenntnisse, erbärmlichste, einfachste Bekleidung, unzureichende und einseitige Ernährung, Unterbin-dung jeder kultureller Teilhabe und, wenn überhaupt, eine Ent-lohnung, die zumeist nur symbolischen Wert hatte, waren allein darauf gerichtet, die Arbeitskraft möglichst zu erhalten. Ohne Arbeitskraft waren Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter im Verständnis der Nazis eine nutzlose Masse.

21 Vgl. zu Güldendorf: Festschrift anlässlich der 775-Jahrfeier Tzschetzschnow seit 1937 Güldendorf, a. a. O. S.48

22 Vgl. Erika Klatt-Marquardt, Gesprächsprotokoll vom 8. Dezember 2009, beim Autor.

Für ein Territorium an der Müllroser Landstraße war im Oktober 1943 ein „Lager Frankfurt (Oder)“ geplant worden. Dort sollten Unterkünfte für

„1000 Polen, die z. Zt. in Privatquartieren untergebracht sind [… geschaffen werden] Hiervon finden 260 Mann in Holz- und 740 Mann in Steinbaracken Aufnahme.“20

Für beim Autobahnbau Beschäftigte geschaffene Barackenla-ger wurden nach Einstellung des Autobahnbaus als Lager für Zwangsarbeiter genutzt. So entstand in unmittelbarer Nähe des Dorfes Schwetig ein so genanntes Arbeitserziehungslager der Gestapo.

In Güldendorf existierte ein Lager mit sechs Holzbaracken, das als ehemaliges Lager für den Autobahnbau nach Kriegsbeginn für die Unterbringung von Kriegsgefangenen sowie polnischen und sowjetischen Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen ge-nutzt wurde.

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• Dreiring Werke, Werk Frankfurt (Oder)• Küstriner Straße 10• H. Jungclaussen• Baumschulen, Samen-Kulturen und Stauden• Jungclaussenstraße 5• Gemeinschaftsküche der Regierung• Fernverpflegung Frankfurter Betriebe• Regierungsgebäude• Rittergut Kliestow

Ebenso wie die von Unterkunftsorten für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ist die Aufzählung von Betrieben und Ein-richtungen, in denen sie arbeiten mussten, unvollständig. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass der Arbeitseinsatz in erster Linie im produzierenden Bereich erfolgte, wobei die Produktion kriegswichtiger Erzeugnisse den Vorrang hatte.

Befördert von ständiger ideologischer Einflussnahme, gesteu-ert von Ämtern und Verwaltungen, ließen sich die unwürdigen Unterkunfts- und Arbeitsbedingungen der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter so wie ihre nahezu uneingeschränkte Aus-beutung bei der deutschen Bevölkerung in den Rang des Nor-malen erheben.Dass „Minderwertige“ für die „Herrenrasse“ schufteten, war im Verständnis der Nazis und dem übergroßen Teil der Deutschen nichts Ehrenrühriges.

Das Menschenverachtende der Zwangsarbeit in Rechnung stel-lend ist hervorzuheben, dass die so Erniedrigten ihre Menschen-würde bewahrten. Entgegen der behaupteten Minderwertigkeit mühten sie sich, ihre Kultur zu pflegen. Berichtet wird, dass so genannte Ostarbeiterinnen peinlichst auf Sauberkeit bei sich und in ihren Unterkünften achteten. Unter den herrschenden unzu-länglichen hygienischen Bedingungen war das eine Vorausset-zung zur Verhinderung von Krankheiten, zum anderen diente das der Selbstbehauptung.

Charakteristisch für die Grundeinstellung ist die Aussage des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, Sauckel, auf einer Tagung der Arbeitsstäbe für den Arbeitseinsatz am 6. Ja-nuar 1943:

„Freilich, vor Maschinen stelle ich, solange ich sie von Ihnen be-komme, Russinnen. Was da drüben in Sowjetrussland lebt, ist gesund. Ich werde diese Russinnen zu Hunderten und Tausenden ansetzen. Sie werden für uns arbeiten. Sie halten zehn stunden durch und machen jede Männerarbeit. Die Russinnen brauchen keine besondere Freizeit, um ihren Haushalt in Ordnung zu hal-ten; sie brauchen keinen Waschtag […]“23

Als Arbeitseinsatzorte in Frankfurt (Oder) sind solche Betriebe zu nennen wie

• Friedrich Heine & Co. KG• Konserven, Marmeladen- und Malzkaffeefabrik• Georg-Richter-Straße 5• Stärke – Zuckerfabrik A. G. vormals C. A. Koehlmann & Co.• Küstriner Straße 104 (Sitz der Geschäftsleitung)• Märkische Maschinenbauanstalt „Teutonia“ GmbH• Beeskower Straße 11-12• Karl Schierbaum • Herstellung und Instandsetzung von Elektromotoren und Ma-

schinen, Bosch-Dienst• Bahnhofstraße 22• Steingutfabrik Th. Paetsch• Küstriner Straße 1–4• Textilwerke Winkler• Goepelstraße

23 Bernhild Vögel: „Wir haben keinen angezeigt“. Sowjetische Zwangsarbei-terinnen in Nazi-Deutschland. In: Lust und Last. Sowjetische Frauen von Alexandra Kolontai bis heute. Hrsg. Kristine von Soden, Berlin 1990, S. 66. Zitiert nach: http://www.zwangsarbeit.rlp.geschichte.unimainz.de/Zwangsar-beiterinnen_MZ-WI, Lehrerhandreichung zum Thema „Zwangsarbeiterinnen im Raum Mainz-Wiesbaden in der Zeit des Zweiten Weltkrieges“.

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Gruppenfoto von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern aus der Sowjetunion

Rückseite des Fotos mit Datum 24. 11. 1943

Ihre spärlichen, bescheidenen eigenen Bekleidungsstücke pfleg-ten sie und trugen diese zumeist aus Anlass selbst geschaffener besonderer Höhepunkte. Frauen fanden erfindungsreich Mög-lichkeiten sich zu schminken. Zu Feiertagen schmückten sie mit primitivsten Mitteln ihre Behausungen. Sie sangen ihre Lieder, rezitierten ihre Gedichte – oft schwermütig, aber auch lebensbe-jahend und froh. Sie tanzten ihre Tänze und schufen sich Au-genblicke der Unbeschwertheit. Von dem äußerst geringen Entgelt, das sie für geleistete Arbeit erhielten, gelang es, den Fotografen zu bezahlen, der von ihnen Fotos machte, die sie Freundschaftsfotos nannten. Und sie lä-chelten in die Kamera. Auf die Rückseite des Fotos schrieben sie ermunternde Erinnerungstexte. Dass die außerordentlich schwie-rigen Bedingungen zur Herausbildung solidarischen Verhaltens und starken Zusammengehörigkeitsgefühls führten, belegen teilweise heute noch vorhandene Fotos. Aufbewahrt von den Menschen, die, obwohl nach dem Krieg wieder in der Heimat, zumeist unter sehr schwierigen Bedingungen leben mussten.

Freundschaftsfoto Antonia Porutschnik, 1944.24

24 Zum Andenken schenke ich es meiner Schwester von Antonina Porutschnik während des Aufenthaltes in Deutschland. Stempel: Handwerkliches Licht-bild – Walter Fricke – Photographenmeister, Frankfurt (O.), Bahnhofstr.16, 19. 03. 1944

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Nadja Galja Matwitschuk Maria

links: Natascha

rechts: Name nicht bekannt

Galja Olga Michajlo Wamez

Freundschaftsfoto Nata-scha Danai, 1943.Rückseitentext: Zum Andenken für Shenja Suchezka von Natascha Danai. Meine liebe Freundin! Ich bitte Dich, falls unsere Wege aus-einander gehen sollten, vergiss mich nicht, wie ich Dich nicht vergesse,

solange ich am Leben bin. Ich schenke es für das liebste Töchterchen am 13. 11. 43. Frankfurt (Oder), Konservenfabrik

Galja

links:Maria Tschech

rechts:Natascha Sawtschuk

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Das Arbeitserziehungslager „Oderblick“

Arbeitserziehungslager wurden ab 1940 eingerichtet. Sie waren direkt den jeweiligen Gestapo-Leitstellen angegliedert.Dieses Unterstellungsverhältnis ist eine wesentliche Ursache für fehlende schriftliche Dokumente, da auf lokaler Ebene von der Gestapo zu Kriegsende gründlich die Beseitigung von Spuren der vielfältigen Verbrechen betrieben wurde.25

In die Arbeitserziehungslager wurden ausländische Arbeitskräf-te eingewiesen, die nach deutschem Verständnis ihre Arbeits-pflichten verletzt hatten. Das heißt ausländische Zwangsarbeiter konnten wegen geringfügigster Vergehen belangt werden, dar-unter fielen z. B. Bummelei, Verweigerung, Unwilligkeit, alles, was sich als „Arbeitsvertragsbruch“ interpretieren ließ. In den Arbeitserziehungslagern sollte ihnen „deutsches Verhalten“ bei-gebracht werden.

Die Einrichtung der Arbeitserziehungslager ging auf Erfah-rungen mit so genannten Sonderlagern zurück, die bei wirt-schaftlichen oder militärischen Schwerpunktobjekten (wie z. B. Autobahnbau, Schwerindustrie, Westwall) zur Disziplinierung widersetzlicher Arbeiter geschaffen worden waren. Die in Sonderlager Eingewiesenen waren weder Justizgefangene, noch Schutzhäftlinge, sondern Polizeigefangene, denen die Haft nicht als Vorstrafe eingetragen wurde. Mit den Sonderlagern hatten die Nazis ein Instrument geschaf-fen, den Widerstandswillen des Gefangenen zu brechen und zu-gleich andere Arbeiter von widerständigem Handeln abzuhalten. Mit Bildung der Arbeitserziehungslager schufen die Nazis neben Sonderlagern und betrieblichen Erziehungslagern eine weitere

25 Vgl. Gabriele Lotfi: KZ der Gestapo. Arbeitserziehungslager im Dritten Reich. Stuttgart/ München, 2000

Name nicht bekannt

KatjaFoto: Schulz Frankfurt (Oder)

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Geführt wurde das Lager von SS-Angehörigen. Lagerkomman-dant war SS-Obersturmführer Schneider, stellvertretender Lager-kommandant SS-Stabsscharführer Willi Dietrich.Zur Struktur gehörten der Leiter der politischen Abteilung, La-gerarzt, Sanitäter, Dolmetscher (beide Dolmetscher hatten kei-nen SS-Dienstgrad), Arbeitsdienst- und Rapportführer, Führer vom Dienst, Verwaltungsführer (5), Blockführer (4) sowie wei-tere SS-Leute.

Der Standort Schwetig erwies sich insofern als günstig, als er sich in unmittelbarer Nähe von Frankfurt (Oder) befand und schnell von der Gestapo-Leitstelle zu erreichen war.

Einer Ausarbeitung des polnischen Historikers Dr. Wiktor Le-miesz zufolge, wurden die Häftlinge vielfach unter Polizeibewa-chung mit der Deutschen Reichsbahn zum Frankfurter Bahnhof gebracht. Von dort fuhren sie mit der Straßenbahnlinie 2 zum Wilhelmsplatz und dann weiter über die Oderbrücke zum Ost-markstadion. Bis zum Lager mussten noch ca. drei Kilometer marschiert werden Die Gefangenen betraten das Lager durch ein Tor mit der zynischen Aufschrift „Arbeit macht frei“.26

Andere Häftlinge wurden zunächst in das Gestapo-Gefängnis am Oderbollwerk (heutige Musikschule) eingeliefert, dort ver-hört und misshandelt und dann nach Schwetig gebracht.27

Auf dem Lagergelände befanden sich mehrere Häftlingsba-racken, Baracken für Büro, Wache, Magazine, die Küche, ein „Baderaum“, eine Lazarettbaracke, eine Werkstattbaracke und

26 Vgl. Wiktor Lemiesz: „Oderblick“ – zynischer Name für eine Stätte des Grau-ens. In Märkische Oderzeitung, 25./26. Januar 1997. Wochenendjournal. Eine maschinegeschriebene Ausarbeitung von Lemiesz trägt den Vermerk „nur für den persönlichen Gebrauch“. Sie wurde dem Autor von Horst Joachim übergeben. Die Ausarbeitung ist im Wesentlichen identisch mit dem Zeitungs-artikel. Vermutlich handelt es sich um das Manuskript.

27 Vgl. Ra lf Dahrendorf: Über Grenzen. Lebenserinnerungen. München 2002 Und Nikolai Liwkowski: Aussagen bei einer Konferenz über das Lager Schwe-tig. Collegium Polonicum, Słubice, 19. Februar 2000.

Form, um jetzt ausländische Arbeitskräfte einzuschüchtern und zu disziplinieren.

Deutlichster Unterschied zu den Konzentrationslagern war die begrenzte Haftdauer von etwa sechs bis acht Wochen in den Ar-beitserziehungslagern. Danach mussten die erschöpften, ausge-mergelten, misshandelten und oft völlig verängstigten Häftlinge an ihre früheren Arbeitsstellen zurückkehren.

Ab 1942 wurden in die Arbeitserziehungslager immer häufiger so genannte Ostarbeiter, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus Polen und aus der Sowjetunion eingewiesen. Viele der Lager entwickelten sich zu Todeslagern, weil Hunger und Fleckfieber die Sterblichkeit in die Höhe schnellen ließen. Überdies mordete die Gestapo in diesen Lagern ohne jede Hem-mung.

Ab Juli 1944, nach dem Attentat auf Hitler in der Wolfsschanze, bis zum Kriegsende wurden in die Arbeitserziehungslager auch Deutsche eingewiesen. Dazu hatte man die Arbeitserziehungsla-ger zu „Erweiterten Polizeigefängnissen“ erklärt. Somit war die Möglichkeit geschaffen, Einweisungen aus politischen Gründen vorzunehmen. Im Rahmen der Aktion „Gitter“ (auch „Gewitter“) erfolgte die Inhaftierung potentieller Verantwortungsträger für ein Nach-kriegsdeutschland.In der Kriegsendphase führte die Gestapo in den Arbeitserzie-hungslagern Vernichtungsaktionen durch.

Das Arbeitserziehungslager „Oderblick“ in Schwetig entstand im Oktober 1940.Bei Einrichtung des Lagers war an die Unterbringung von ca. vierhundert Häftlingen gedacht. Unterstellt war es, wie alle anderen Arbeitserziehungslager den örtlichen Organen, also der Gestapo-Leistelle Frankfurt (Oder).Eingerichtet hatte man es auf dem Gelände eines nicht mehr genutzten Arbeiterwohnlagers für den Reichsautobahnbau.

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Unterbringung, völlig unzureichender Ernährung, Bekleidung, Hygiene ebenso wie von Schwerstarbeit, ständiger Schikane und Misshandlungen, die an Menschenverachtung kaum übertrof-fen werden können. Im Arbeitserziehungslager Schwetig wurden Menschen ermordet.Wenn es am Lagertor tatsächlich die Inschrift „Arbeit macht frei“ gegeben hat, wäre das ebenso nazistischem Zynismus zuzu-ordnen, wie der Name des Lagers „Oderblick“ oder der Begriff „Arbeitserziehungslager“. Hier wurde keineswegs erzogen, hier wurden Menschen ernied-rigt, gequält, geschunden, getötet, hier offenbarte sich die Perver-sion des gewöhnlichen Faschismus. Wozu hätten Hunger und Tod erziehen sollen? Menschen, die hier waren, wollten nichts als frei sein und ihre Arbeitsleistung hätte Freiheit mehrfach gerechtfertigt.

In der Anfangsphase des Arbeitserziehungslagers wurden haupt-sächlich polnische Zwangsarbeiter hier gefangen gehalten. Sie hatten sich unterschiedlichst ihren deutschen Dienstherren oder Arbeitgebern gegenüber verdächtig gemacht. Verdachtsgründe wie Aufsässigkeit, Arbeitsunwilligkeit, Unpünktlichkeit, unan-ständiges Benehmen, Widersetzlichkeit wurden bei der Gestapo gemeldet und oft wurde mit der Anzeige die „Arbeitserziehung“ verlangt. Es reichte, wenn „Herrenmenschen“ einen Verdacht äußerten. Ohne jede Rechtgrundlage erfolgte die Einweisung in ein Lager. Und ohne jedes Recht vollzog sich der Lageralltag für die gefangenen Sklaven.

Mit Ausweitung des Krieges erweiterte sich der Häftlingskreis. Zu den polnischen Zwangsarbeitern kamen Franzosen, Belgier, Holländer, Italiener und nach Kriegsbeginn gegen die Sowjet-union immer mehr Zwangsarbeiter von dort. Juden sollen im Arbeiterziehungslager gewesen sein.28

28 Wiktor Lemiesz, a.a.O

die Latrinen. Das Lagergelände war mit Stacheldraht umzäunt und wurde von mehreren Wachtürmen aus von bewaffneten SS-Leuten bewacht.Unterkunft fanden die Häftlinge in den leeren Barackenräumen. Dort schliefen sie auf dem Barackenboden, Strohschütte oder Strohsäcke gab es nicht. Mit einem Gegenstand, der einer Decke ähnelte, konnten sie sich zudecken. In den Räumen gab es Öfen, für die die Häftlinge jedoch nur spärlich Heizmaterial zugeteilt bekamen. Die Baracken waren nachts verschlossen. Die Notdurft musste in den Baracken verrichtet werden, die Holzkübel wur-den morgens in die Latrine entleert.

Im Lager befand sich eine nicht besonders abgeteilte Frauenab-teilung, in der hauptsächlich deutsche Frauen gefangen waren, die verbotenen Umgang mit Ausländern gehabt hatten. Sie wa-ren Häftlinge des Erweiterten Polizeigefängnisses, ihr Status un-terschied sich von dem der Häftlinge im Arbeitserziehungslager.

Harte Arbeit hatten die Häftlinge beim Straßenbau, in der Kies-grube, bei der Melioration, in der Marmeladenfabrik und bei der Firma Trowitzsch zu verrichten. Nicht auszuschließen ist, dass man sie zu Fertigstellungsarbeiten beim Autobahnbau heranzog.

In jedem Fall war schwere körperliche Arbeit zu leisten, denn es sollte durch Arbeit „erzogen“ werden, was im Verständnis der SS-Leute bedeutete, die Menschen zu demütigen, zu quälen und bis aufs Blut auszubeuten.

Nach der Arbeit ordneten die Bewacher zumeist „Leibesübungen“ an, um die letzten Kraftreserven der Häftlinge auszuschöpfen.

Diesem gewaltigen, kräftezehrenden Arbeitsdruck stand äußerst spärliche Ernährung gegenüber. Zu essen gab es wenig und das wenige war so schlecht zubereitet, dass es oft ungenießbar war.

Von Beginn der Existenz des Lagers „Oderblick“ bis zu seinem Ende am 31. Januar 1945 ist stets die Rede von verheerender

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geworfen und nach kurzer Ansprache in deutscher und polni-scher Sprache wurde der gefesselte Kaminski von den SS-Leuten erhängt.29

„Die Mehrzahl der ins Lager ‚Oderblick‘ eingewiesen Menschen erfuhr bereits vorher eine brutale Misshandlung im Dienstge-bäude der Geheimen Staatspolizei in Frankfurt (Oder). Hier fällte man in der Regel das Urteil, den Delinquenten in diese Lager bringen zu lassen. In ‚Oderblick‘ machte man den neuen Häftling mit abscheulichem Prügeln gefügig, wobei er gleichzei-tig zu forcierten Leibesübungen gezwungen wurde. Die Abfol-ge dieser Phase war bisweilen achttägig, sie konnte aber auch vierzehntägig sein, was als ‚Quarantäne‘ bezeichnet wurde. Die Zeit dieser schweren Schikanen schloss seinen Zugang zum Ar-beitskommando solange aus, bis die Strafe durch die erwähnten Leibesübungen erfüllt war. In dieser ganzen Zeit wurde weiter geprügelt, bei jeder sich bietenden Gelegenheit und ohne ersicht-lichen Anlass …“30

Arbeit, Folter, völlig unzureichende Ernährung, fehlende Hygie-ne, permanenter physischer und psychischer Druck, verweigerte medizinische Grundversorgung führten zu hoher Sterblichkeit in Schwetig. Viele Häftlinge fanden schon nach kurzem Lager-aufenthalt den Tod. Ende 1941 brach im Arbeiterziehungslager Schwetig eine Fleck-typhusepidemie aus. Ab dem 3. November 1941 musste das ge-samte Lager isoliert werden, es durfte niemand das Lager betre-ten oder verlassen. Die totale Isolierung wurde erst am 7. Mai 1942 wieder aufgehoben.31

Wincent Janowski, der für vier Wochen im Lager war, berichtete:

29 Horst Joachim, Historiker Frankfurt (Oder), ohne Quellenangabe, sinnge-mäße Wiedergabe G. H.

30 Wiktor Lemiesz, a. a. O. (Manuskript)31 Vgl. Wiktor Lemiesz, a. a. O (Manuskript)

Immer häufiger kamen Menschen in das Lager, die versucht hat-ten, den schlimmen Verhältnissen der Zwangsarbeit zu entkom-men. Wenn sie hier gequält, erniedrigt, misshandelt worden wa-ren, mussten sie an die ursprünglichen Arbeitsorte zurück und sich wieder der Sklavenarbeit zur Verfügung stellen.

War das Lager in Schwetig anfangs für ca. vierhundert Häft-linge ausgelegt, wurde die Zahl in der Folgezeit ständig erhöht, schließlich wurden ca. achthundert gefangen gehalten. Je mehr Gefangene ins Lager kamen, desto drakonischer wurden die so genannten Erziehungsmaßnahmen.

Der Bauer B. in Lichtenberg hatte 1942 mehrere polnische Zwangsarbeiter auf seinem Hof, darunter den achtzehnjährigen Eugeniusz Kaminski. An einem Sommerabend hatten die Bau-ersleute den Hof verlassen. Als sie in ihr Haus zurückkehrten, stürzte ihnen, von der Bodentreppe springend, der junge Mann entgegen und verließ fluchtartig das Haus. In einem Zimmer auf dem Dachboden war ein deutsches Mädel einquartiert, das sein Pflichtjahr bei dem Bauern B. absolvierte.Am nächsten Morgen zu Arbeitsbeginn fehlte der junge Pole. Entsprechend der Kriegsgesetzgebung meldete die Bauersfrau das Fehlen dem Amtsvorsteher. Vor dem Wecken am nächsten Morgen verrichtete Kaminski wieder seine Arbeit auf dem Hof. Da er normal und fleißig ar-beitete, benachrichtigte die Bäuerin den Amtsvorsteher, dass der Pole wieder da sei und sie die Meldung zurückziehe.Als die Arbeiter am Abend vom Feld kamen, wurde Kaminski von Polizisten erwartet, festgenommen und abgeführt.Nach sechs Wochen, es hatte keine Nachricht über den Verbleib Kaminskis gegeben oder eine Vernehmung des Mädels, wurden alle, die Zwangsarbeiter beschäftigten, angewiesen, denen am Abend ab 17.00 Uhr frei zu geben. Von bekannt gegebenen Sam-melplätzen wurden alle zu einem Feld bei Markendorf gebracht, es sollen etwa dreitausend gewesen sein. Schließlich kam ein geschlossener Lastwagen mit SS-Wachmannschaften aus dem Lager Schwetig. Ein Strick wurde über den Ast eines Baumes

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lager brachte. Er wurde hier von SS-Leuten erschossen. Um eine Selbsttötung vorzutäuschen, befahlen sie eine Suchaktion. Die Leiche wurde aus der Latrine geborgen, der Kopf war durch-schossen.34

Im Zusammenhang mit dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 erfolgten umfangreiche Verhaftungen von Angehörigen jener Personen, die in irgendeiner Beziehung zum Attentat standen. Gleichzeitig verhaftete die Gestapo im Rahmen der Aktion „Git-ter“ (auch „Gewitter“) potentielle Verantwortungsträger für ein Nachkriegsdeutschland.Nach Schwetig kamen im Rahmen dieser Aktion Ende Septem-ber 1944 sechsundzwanzig Sozialdemokraten und Kommunis-ten aus dem Raum Cottbus und Frankfurt (Oder). Unter ihnen befand sich der bekannte Frankfurter Sozialdemokrat Oskar Wegener, ehemaliger Landtagsabgeordneter.Diese Häftlinge hatten insofern einen Sonderstatus, als sie Häftlinge des Erweiterten Polizeigefängnisses und so genannte „vorbeugende Schutzhäftlinge“ waren. Sie waren dem Lagerkom-mandanten direkt unterstellt, wurden gesondert untergebracht und durften Besuche empfangen, Post- und Paketempfang war gestattet.Diese Häftlingsgruppe formierte sich schnell, wählte einen Häft-lingsvertreter (Stubenältester), der mit dem Kommandanten ver-handeln durfte. Infolge der guten Organisiertheit in der Gruppe gelang es, auf die Verhältnisse im Lager Einfluss zu nehmen. Sie konnten erwirken, dass vier alte und kranke Mithäftlinge aus ihrer Gruppe wegen Haftunfähigkeit aus dem Lager entlassen wurden. Einfluss nahmen sie auf die Versorgung. Durch per-sönlichen Einsatz ließ sich die Qualität des Essens verbessern. Es gelang Oskar Wegener zeitweilig das Lager zu verlassen, Ver-bindung nach Frankfurt (Oder) herzustellen und Informationen

34 Vgl.: Alfred Donath: Bericht über das Konzentrationslager Schwetig bei Frankfurt (Oder) …, Cottbus 31. Dezember 1958, Museum Viadrina Frank-furt (Oder) VI 4/66. Hammerschmidt, Elisabeth: Brief an Horst Joachim, Cottbus, 9. November 1958. Museum Viadrina Frankfurt (Oder) VI-4/68

„Man empfing mich so wie alle anderen Neuzugänge. Der Kommandant führte uns in einen Raum, an dessen Wänden eine ganze Sammlung von Ochsenziemern aufgehängt war. Die-se schweren Peitschen waren aus unterschiedlichem Material und von unterschiedlicher Form und Länge. Der Häftling hatte sich selbst den Ochsenziemer auszusuchen, mit dem er ausgepeitscht werden sollte. Ich erhielt fünfundzwanzig Schläge, bei jedem Schlag hatte ich laut mitzuzählen. Schon beim ersten Schlag lief das Blut. Beim dritten oder vierten Schlag verlor ich das Bewusstsein. Man bespritzte mich mit kaltem Wasser und ich wurde weiter geschlagen.Die Wachmannschaften machten sich ein Vergnügen daraus, mehrere Häftlinge in einem kleinen Kreis herumlaufen zu las-sen. In jeder Ecke stand ein Posten mit einem Kabelende in der Hand, der uns durch Schläge weitertrieb, dabei führten sie oft noch eine Unterhaltung. Viele verloren bei einem solchen Lauf die Besinnung. Bei mir wurde durch einen derartigen ‚Wettlauf ‘ die linke Niere losgeschlagen.“32

Jan Gzelka kam im August 1943 ins Lager „Oderblick“. Die An-schuldigung lautete: „Ein aufsässiger Pole“. Zu Beginn seiner La-gerhaft erhielt er fünfundsiebzig Peitschenhiebe. Bewegungsun-fähig musste er in die Krankenbaracke gebracht werden. Bereits nach zwei Tagen meldete er sich zur Arbeit, weil ein längerer Aufenthalt im Revier den sicheren Tod bedeutet hätte.33

Der Rechtsanwalt und Notar Hermann Hammerschmidt aus Cottbus war bis Dezember 1944 noch als jüdischer Konsulent tätig. Eine so genannte Mischehe hatte ihn bis dahin vor dem KZ bewahrt. Bis auf einen Bruder, dem die Flucht ins Ausland gelungen war, befanden sich alle seine Verwandten bereits in Konzentrationslagern. Hammerschmidt wurde von der Gesta-po anhaltend drangsaliert, bis man ihn am 11. Dezember 1944 zur Gestapo bestellte und nach Schwetig ins Arbeitserziehungs-

32 Zitiert nach Wiktor Lemiesz, a. a. O. (Manuskript)33 Vgl. Wiktor Lemiesz, a. a. O. (Manuskript)

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erschossen worden oder an Entkräftung verstorben. In den Stra-ßengräben waren sie liegen gelassen worden oder in Kiesgruben verscharrt.36

Ein letztes Massaker richteten die Nazis in Schwetig am 31. Janu-ar 1945 an. Im Krankenrevier des Lagers befanden sich ca. sieb-zig Häftlinge, die auf Grund ihres Gesundheitszustands nicht auf den Todesmarsch geschickt wurden. SS-Leute verschlossen die Baracke und setzten sie in Brand. Die Menschen verbrann-ten, wer zu entkommen versuchte, wurde erschossen.Um von den Verbrechen kein Zeugnis zu hinterlassen, soll auch der Aktenbestand des Lagers in dieser Baracke mit verbrannt worden sein.37

36 Vgl. Josef Thomas, Bericht. Cottbus, 27. Oktober 1958. Museum Viadrina Frankfurt (Oder) VI/4/69.

37 Vgl. Alfred Donath und Wiktor Lemiesz, a. a. O.

über den Verlauf des Krieges ins Lager zu bringen. Umsichtig hatte man sich einen Nachschlüssel für die Waffenkammer des Lagers beschafft.Von dieser Gruppe gingen wichtige Aktivitäten aus, als Mitte Dezember 1944 Schüler aus Buckow/Märkische Schweiz ins La-ger gebracht wurden. Einzelhaft, Hunger, sinnlose Arbeit sollten sie zermürben. Zu ihnen gehörte der heute weltbekannte Sozio-loge Lord Ralf Dahrendorf.Durch die den Jugendlichen entgegengebrachte Häftlingssolida-rität wurde ihnen das Überleben ermöglicht.35

Im Januar 1945 mehrten sich im Lager „Oderblick“ die Anzei-chen für das Näherrücken der Front. Die Nervosität der SS und Wachmannschaften nahm in den Tagen Ende Januar 1945 spür-bar zu. Ständig wurden Hinrichtungen durchgeführt. Zu den Häftlingen des Arbeitserziehungslagers kamen weitere ca. siebenhundert Häftlinge aus einem Arbeitslager in Bratz bei Benschen.

Am 30. Januar 1945 begann die SS mit der Liquidierung des Lagers, indem ca. eintausendsechshundert Häftlinge auf „Trans-port“ geschickt wurden, wie die SS den Todesmarsch nannte. Den ohnehin geschwächten Häftlingen wurde ohne witterungs-gemäße Bekleidung, ohne angemessene Verpflegung der Fuß-marsch mit dem Ziel Konzentrationslager Sachsenhausen be-fohlen. Über Frankfurt (Oder) marschierten die Kolonnen nach Treplin, wo eine erste Rast eingelegt wurde. So ging es weiter, zwanzig bis dreißig Kilometer am Tag, vorbei an Müncheberg, durch Straus-berg, nach Sachsenhausen bei Berlin. Im KZ Sachsenhausen wurden die Gruppen neu formiert und der Marsch ging nach einer Nacht Aufenthalt in Sachsenhausen weiter nach Buchenwald bei Weimar. Wie viele in Buchenwald ankamen, ist nicht sicher. Ungezählte waren auf dem Marsch

35 Vgl.: Alfred Donath, a. a. O. und Ralf Dahrendorf, Über Grenzen, Lebens-erinnerungen, München 2002.

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Interview38

mit Herrn Nikolai Liwkowski, wohnhaft in Staroszyn bei Rzepin, Häftling im Arbeits­erziehungs lager Schwetig von Juni bis November 1942

Herr Liwkowski (1924) wurde von der deutschen Besatzung als „Fremdarbeiter“ nach Deutschland verschleppt und arbeitete in einer Gerberei in Berlin Wittenau.

Projekt: Wie kamen Sie nach Schwetig?Liwkowski: Wegen schlechter Verpflegung bin ich aus dem Berli-ner Betrieb geflohen und wollte nach Hause. An der Oder wurde ich gefangen und in das Gestapo-Gefängnis Frankfurt (Oder) gesperrt.

Projekt: Trafen Sie dort auf weitere Landsleute?Liwkowski: Nein, während des einwöchigen Aufenthaltes ( Juli 1942) sah ich dort nur etwa zwanzig russische Kriegsgefangene, die tagelang in einer großen Zelle im Wasser stehen mussten.

Projekt: Wie war es im Lager Schwetig?Liwkowski: Ich lebte mit ca. fünfundzwanzig Männern in einem Barackenraum. Es waren Polen und Russen. Am Tag arbeiteten wir entweder auf dem Flugplatz bei Kunersdorf oder beim Bau-

38 Das Interview wurde im vorliegenden Wortlaut anlässlich einer Geschichts-konferenz in Słubice am 19. Februar 2000 verteilt. Foto: Nikolai Liwkowski, 19. Februar 2000 anlässlich einer Geschichtskonfe-renz in Słubice (Gerhard Hoffmann)

Skizze vom Arbeitserziehungslager Schwetig aus der Erinnerung

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Das Krankensammellager Güldendorf

Krankensammellager unterstanden den Gauarbeitsämtern. Sie wurden eingerichtet für Zwangsarbeiterinnen und Zwangs-arbeiter. Ließ sich die Arbeitskraft nicht mehr in vollem Umfang einset-zen, weil Schwäche, Krankheit, Verletzung oder andere Ursachen das verhinderten, hatte das zumeist furchtbare Folgen. War die Arbeitskraft innerhalb kürzester Zeit nicht wieder herzustellen, galten die Betroffenen als auf Dauer nicht mehr „arbeitseins-atzfähig“. Somit wurden sie für wertlos gehalten und beiseite geschafft.In den Anfangsjahren des Zwangsarbeitereinsatzes erfolgte viel-fach in solchen Fällen noch die Rückführung in die Heimatlän-der. Mit der Eskalation des Krieges ließen sich für derartige Maß-nahmen keine Transportkapazitäten mehr binden und für eine Rückführung gab es keinen organisatorischen Aufwand mehr. Die Menschen wurden in die Krankensammellager abgeschoben, deren Bezeichnung als Sterbelager eher gerechtfertigt erscheint.Zu den nicht Arbeitseinsatzfähigen gehörten Kinder von Zwangsarbeitern ebenso wie Schwangere.Vielfach kamen Schwangere zur Entbindung in die Lager. Da zu erwarten war, dass Mütter über absehbar längere Zeit nicht voll einsatzfähig sein würden, unterblieb eine angemessene Ver-sorgung von Mutter und Kind zumeist, sodass die Sterblichkeit sehr hoch war.39

Auch in diesen Krankensammellagern litten Menschen unter schlimmsten und menschenunwürdigen Bedingungen. Völlig unzureichende medizinische Versorgung, das Fehlen jeglicher Fürsorge, ungenügende Ernährung, unzumutbare hygienische

39 Vgl.: Bernhild Vögel: „Entbindungsheim für Ostarbeiterinnen“ Braunschweig, Broitzemer Straße 200. PDF-Ausgabe 2005, S. 4. www.birdstage.net/images/entbindungsheim.pdf, 4. Januar 2010

ern in Kliestow. Wegen Missverständnissen oder Fluchtversu-chen wurden wir den ganzen Abend bis in die Nacht hinein schikaniert und geschlagen. Die Verpflegung war schlecht. Für sieben Männer gab es täglich ein kg Brot, eine Tasse Milchkaf-fee und abends einen Teller Kohlsuppe, ohne Fleisch natürlich. Am Schlimmsten war ein kleiner deutscher Wachmann. Wenn er abends bei jemandem einen Zigarettenstummel fand, gab es fünfundzwanzig Schläge.

Projekt: Welches Leben führten Sie nach der Entlassung?Liwkowski: Im November 1942 wurde ich entlassen. Eine Bauers-frau holte mich als zukünftige Chefin ab. Dokumente erhielt ich keine. Ich arbeitete am Rande der Stadt Frankfurt (Oder). Mein Vater starb an den Kriegsfolgen, zwei Brüder waren als polnische Soldaten in der russischen Armee gefallen, einer lebt heute noch in der Ukraine. Meine Mutter starb vor zwanzig Jahren im Alter von neunzig Jahren. Nach dem Kriege bekam ich einen leer ste-henden Hof ohne Vieh und Inventar hier in Staroszyn zugewie-sen (acht ha Acker). Bis 1990 arbeitete ich hier als Einzelbauer, ich hatte vier Kinder und habe drei Enkel. Meindeutscher Schwiegersohn arbeitet im Sägewerk Rzepin.

Projekt: Wie geht es Ihnen heute?Liwkowski: Aus gesundheitlichen Gründen konnte ich den Hof nicht weiter führen. Ich übergab ihn 1990 dem Staat und erhalte dafür eine monatliche Rente von vierhundert Złoty (zweihun-dert DM). Wie Sie sehen, bin ich sehr krank.

Das Gespräch führten Herr W. Przybylski und Herr H. Racz-kowski als Dolmetscher am 6. März 1998 in der Wohnung von Herrn Liwkowski.

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die Ostarbeiterinnen jetzt in der Rüstungsproduktion arbeiten. Sich um die Zahl zukünftiger Ostarbeiter und -arbeiterinnen Gedanken zu machen, besteht angesichts der bevölkerungspoliti-schen Lage nicht die mindeste Veranlassung […]“ 42

Das Zitat unterstreicht die grundsätzliche Auffassung, dass Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ausschließlich zum Arbeiten, zum maximalen Ausbeuten ins Land geholt worden, rechtlos und nicht gemäß der Normen menschlichen Zusam-menlebens zu behandeln waren.

Was sich tatsächlich im Krankensammellager Güldendorf ab-spielte, blieb bis heute verborgen.Hinweise auf die Belegungsstärke des Krankensammellagers Güldendorf sind bisher nicht gefunden worden, ebenso fehlen Hinweise zum Ende des Lagers.Untersuchungen des Historikers Horst Joachim aus dem Jahr 1973 lassen den Schluss zu, dass hier Hunderte so genannte Ost-arbeiter umkamen, darunter Kinder. Die Opferzahlen sind nicht genau belegbar, es wird davon ausgegangen, dass zwischen 360 und 400 Tote zu beklagen sind, darunter Kinder. Eintragungen im Sterberegister weisen darauf, dass sich im Lager viele Frauen mit Säuglingen, befanden, Kinder und Jugendliche ebenso wie an Tuberkulose Erkrankte und alte Menschen.43

Mit großer Wahrscheinlichkeit wurde an den Insassen des Kran-kensammellagers Güldendorf zum Ende des Krieges ein weiteres Verbrechen begangen.

42 Zitiert nach: Bernhild Vögel: Entbindungsheim a. a. O. S.50. In: http://www.zwangsarbeit.rlp.geschichte.uni-mainz.de/Zwangsarbeiterinnen_MZ-WI…, Lehrerhandreichung zum Thema „Zwangsarbeiterinnen im Raum Mainz-Wiesbaden in der Zeit des Zweiten Weltkrieges“. 4. Januar 2010

43 Vgl.: Brief von Horst Joachim an der Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt (Oder), Fritz Krause, 26. Januar 1974, Kopie, Archiv der VvN-BdA Frankfurt (oder) e. V.

Bedingungen erhöhten zwangsläufig die Leiden der bereits Hin-fälligen.Die Ernährung der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter war darauf gerichtet, mit minimalstem Einsatz von zumeist min-derwertigen Nahrungsmitteln die Arbeitskraft zu erhalten. Dem-zufolge konnte die Versorgung der Lager, in denen sich nicht Arbeitsfähige befanden, nur völlig unzureichend sein.

Ein in Güldendorf befindliches, ursprünglich für den Autobahn-bau eingerichtetes Lager wurde zu einem Krankensammellager für den Gau Mark Brandenburg. Es befand sich zwischen Pferdegasse und dem Müllerberg (ober-halb des jetzigen Sportplatzes).40

Die Zustände im Krankensammellager Güldendorf unterschie-den sich nicht im Geringsten von den verheerenden in anderen vergleichbaren Lagern. Im Oktober 1944 wurde für das Güldendorfer Lager angegeben, dass sich dort fünfundzwanzig Kinder befinden würden. Anga-ben zum Alter der Kinder, ihrem körperlichen und gesundheit-lichen Zustand wurden nicht bekannt.41

Dass prinzipiell kein Interesse daran bestand, das Leben der Kin-dern von Zwangsarbeiterinnen zu beschützen und zu erhalten, wird in einem Schreiben des Reichsgesundheitsführers Conti vom 26. Februar 1944 deutlich, in dem es heißt:

„Im Hinblick auf die Schwangerschaftsunterbrechungen bei Ost-arbeiterinnen taucht immer wieder die Ansicht auf, dass ein In-teresse an dem Geborenwerden zukünftiger Ostarbeiterhilfskräfte bestehe. Hierzu muss betont werden, dass diese Ansicht völlig abwegig ist. Es besteht ein dringendes Kriegsinteresse daran, dass

40 Vgl.: Festschrift anlässlich der 775-Jahrfeier Tzschetzschnow seit 1937 Gülden-dorf, Heimatverein Tzschetzschnow-Güldendorf e. V. (Hrsg.), 2005, S. 47,

41 Vgl.: www.kriegskinder.de/cgi-bin/search.cgi?v=36847, 4. Januar 2010

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seit 3 Jahren in deutschen Diensten gestanden und ihre Arbeit gut verrichtet. Sie sind während ihres Aufenthaltes in Deutschland erkrankt und befanden sich zuletzt in ihrem Krankenlager unter Beschuss. Ich bitte, sie in weitere Befürsorgung zu nehmen. gez. Unterschrift Oberfeldarzt u. Festungsarzt“ 45

Auf dem Oder-Spree-Kanal schwamm demzufolge im kalten Frühjahr 1945 ein Lastkahn mit 187 Personen, vorwiegend Kran-ken, in Richtung Potsdam.Der Festungskommandant Oberst Biehler hatte

„die Abschiebung dieser Leute unter allen Umständen verlangt […] widrigenfalls sie auf anderem Wege beseitigt werden müss-ten“ 46

Nachdem der Kahn bereits einen Tag unterwegs gewesen war, gelangte dem Landesmedizinalrat Dr. Baumann der Sachverhalt zur Kenntnis. Er erfuhr, dass der Kahn zwar in Richtung Pots-dam schwimme, dort aber niemand bereit sei, die Kranken auf-zunehmen. Der Potsdamer Bürgermeister erklärte, dass er den Lastkahn in Potsdam nicht landen lassen würde. Andere zentrale Stellen sahen sich außer Stande, den Transport aufzunehmen. Das für die Kranken in Frage kommende Lager in Potsdam Reh-brücke erwies sich als vom Stab des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, Saukel, besetzt.Der Landesmedizinalrat sah sich einer nicht lösbaren, kompli-zierten Situation gegenüber.

Inzwischen war in den Abendstunden des 29. März 1945 der Lastkahn in Potsdam gelandet und in der Nähe der Langen Brü-

45 Zitiert nach: BLHA Rep 55IX/1655, Abschrift, Schreiben leitender Sanitätsof-fizier der Festung Frankfurt/Oder, 28. März 1945, Betr.: Ostarbeiter-Abtrans-port.

46 Zitiert nach: BLHA Rep 55IX/1655, Abschrift, Vermerk Landesmedizinalrat Dr. Baumann, 29. März 1945.

Frankfurt (Oder) war durch Hitler zur Festung erklärt worden, was zur Folge hatte, dass die Einwohner der Stadt diese verlassen mussten. Sie wurden mit Zügen in westliche Richtung gebracht.

Ein Dokument vom 5. Februar 1945 besagt, dass der „Präsident des Gauarbeitsamts […] Mark Brandenburg“ vom „Oberpräsi-denten der Provinz Mark Brandenburg“ verlangte, dass dieser das Krankensammellager Güldendorf entgegen seinem Widerspruch in seine Verantwortung zu übernehmen hätte.44

Das Schicksal der Insassen des Lagers war demzufolge im Ge-spräch und es wird deutlich, dass zum Ende des Krieges keiner die Verantwortung für die Kranken zu übernehmen gedachte. Da in Richtung Güldendorf ein Angriff der Roten Armee erwar-tet wurde, wäre die Existenz des Lagers für Kampfhandlungen erheblich hinderlich gewesen.Unabhängig davon, wer letzten Endes die Verantwortung für das Krankensammellager trug, erteilte der Festungskommandant der Festung Frankfurt (Oder), Oberst Biehler, den Befehl einen Krankentransport zusammenzustellen und in Marsch zu setzen.Der Leitende Sanitätsoffizier der Festung Frankfurt (Oder) teilte am 28. März 1945 dem Landesrat des Gaufürsorgeamtes in Pots-dam mit,

„dass am 28. 3. 1945 ein Krankentransport von Ostarbeitern (Russen, Ukrainer und einzelne Polen) mit Lastkahn von Müll-rose abgegangen ist, der auf Befehl des Festungskommandanten der Festung Frankfurt /Oder nach Rücksprache mit 2 Vertretern des Reichsministeriums […] in Marsch gesetzt wurde. Marsch-ziel ist Potsdam.Der Transport besteht aus 187 Personen (darunter 3 russ.[ische] Ärzte, 12 Heilgehilfen und Schwestern, 1 Schwangere, 10 Säug-lingen mit ihren Müttern, 7 Kleinstkinder bis zu 3 Jahren, eine Anzahl Kinder bis zu 10 Jahren, 30 Tuberkulöse sowie Greise). Bis auf das Pflegepersonal sind alle nicht einsatzfähig. Sie haben

44 Vgl.: BLHA, Rep 55IX/ 1655, Schreiben an den Oberpräsidenten der Provinz Mark Brandenburg, Berlin, 5. Februar 1945.

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Die übrigen rd. [rund] 140 des an der Langen Brück in Pots-dam liegenden Kahns mit zugeteiltem Pflegepersonal (transport-unfähige alte Leute, Mütter mit Säuglingen und Kindern) kön-nen von mir nicht untergebracht werden […] Die Stadt Potsdam […] lehnt ebenfalls die Übernahme in die eigene Fürsorge ab und hat sich mühsam dazu verstanden, vor-läufig Verpflegung zu liefern. Die Angelegenheit droht zu einem öffentlichen Skandal zu werden, da jede Gelegenheit zu einer geregelten Verpflegung und vor allen Dingen die einfachsten sa-nitären Anlagen völlig fehlen […]“ 47

Da dieses Schreiben gefertigt wurde, vegetierten die Kranken und Kinder bereits drei Wochen auf dem Lastkahn. Als am 14. April 1945 Bomben auf Potsdam fielen und die Stadt zerstört wurde, lag auf der Havel, festgemacht nahe der Langen Brücke, ein Lastkahn mit 140 schutzlos ausgelieferten Menschen.

Auch das gehört zu den Verbrechen der Nazis.

Es ist nicht eindeutig zu belegen, dass der Transport aus dem Krankensammellager Güldendorf kam. Indizien sprechen da-für. Die spärliche Aktenlage lässt eine endgültige Aussage bisher nicht zu.Über das Schicksal der Menschen auf dem Lastkahn sind bis heute keine schlüssigen Aussagen bekannt.

Unabhängig davon, ob ein direkter Bezug zum Krankensammel-lager Güldendorf besteht oder nicht, belegen die aufgefundenen Dokumente einmal mehr die verbreitete menschenfeindliche Grundeinstellung zu Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern.

47 Zitiert nach: BLHA Rep 55IX/1655, Schreiben an den Reichminister des In-nern, 20. April 1945

cke festgemacht. Die Kranken konnten an der Landungsstelle nicht an Land gehen. Möglichkeiten die Notdurft zu verrichten gab es nicht. Ebenso war ausgeschlossen, eine wärmende Mahl-zeit zuzubereiten. Es war nur Kaltverpflegung an Bord gegeben worden.

Der Schlepper, der den Kahn gezogen hatte, war nach dessen Festmachen sofort weitergefahren. Damit war weiterer Transport bis zur Bereitstellung eines neuen Schleppers ausgeschlossen. So ergab sich die hoffnungslose Situation, dass der Lastkahn in Potsdam festlag, ohne dass ein Ziel erreicht war.

Auch unter diesen Bedingungen lehnten Oberbürgermeister und Bürgermeister von Potsdam es ab, irgendetwas für die beklagens-werten Menschen zu tun. Weder der Amtsarzt noch der Vertreter des Polizeipräsidenten sahen sich veranlasst, Hilfe zu leisten.Der Präsident des Landesarbeitsamtes – jener Institution, die für den Zwangsarbeitereinsatz verantwortlich war – erklärte am 30. März 1945, er habe mit der Angelegenheit nichts zu tun, sie kümmere ihn nicht. Während Zuständigkeiten diskutiert, geleugnet, abgelehnt wur-den, blieb der Lastkahn an der Langen Brücke in Potsdam liegen. Jene Menschen, die noch dazu in der Lage waren, versuchten bei Regen und Kälte auf kleinen provisorischen Kochstellen Wär-mendes zu schaffen.

Am 20. April 1945 [!] schrieb der Landesmedizinalrat und teilte dem Reichsinnenminister mit,

„dass es mir nach erheblichen Auseinandersetzungen mit militä-rischen Dienststellen gelungen ist, 81 Tuberkulöse mit Arzt und Pflegepersonal in der Brandenburgischen Pflegeanstalt Rotes Luch bei Dahmsdorf-Müncheberg unterzubringen – übrigens ein Ort, wo es ihnen bei weiterem Zurückweichen der Front so gehen kann, wie es ihnen in Frankfurt /O. auch nur gegangen wäre […]

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Kopie: BLHA, Rep 55IX/1655

Kopie: Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), Rep 55IX/1655

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Kopie: BLHA Rep 55IX/1655

Kopie: BLHA, Rep 55IX/1655

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Kopie: BLHA, Rep 55IX/1655

Kopie: BLHA, Rep 55IX/1655

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Briefe von Zwangsarbeiterinnen

Im Folgenden werden Briefe veröffentlicht, die von ehemaligen Zwangsarbeiterinnen die geschrieben und nach Frankfurt (oder) geschickt wurden.Diesen Briefen waren Kontaktaufnahmen über den Ukraini-schen Fonds „Gegenseitiges Verständnis und Versöhnung“ vo-rausgegangen.Die Briefe sind handschriftlich von sehr alten Menschen in Uk-rainisch oder Russisch geschrieben. Das komplizierte manchmal den ohnehin schwierigen Prozess der Übersetzung. Wo diese Probleme nicht lösbar erschienen, sind eckige Klammern gesetzt worden. An den übersetzten Briefen sind keine inhaltlichen Korrekturen vorgenommen worden.Mit eckigen Klammern sind notwendige sachliche Ergänzungen und Auslassungen gekennzeichnet, die Persönlichkeitsrechte be-treffen. Großer Wert wurde darauf gelegt, so nahe wie möglich am Origi-nal zu bleiben, um auch die Ursprünglichkeit der Sprache wirken zu lassen. Aus diesem Grund sind bei Zweitbriefen Wiederholun-gen nicht ausgespart geblieben.Anredeformeln sind mit eckigen Klammern ersetzt.Aufgenommen in den Briefteil ein Brief, den die Tochter einer Verstorbenen schrieb sowie eines Mannes, der an Stelle der ihm gut bekannten, aber verstorbenen Nachbarin schrieb.

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Heute bin ich allein und lebe von meiner Rente in einem alten Haus mit schlechten Bedingungen.

Damals wurde zusammen mit mir noch Tscheredko, Christina Mikolaewna aus unserem Dorf nach Deutschland gebracht, sie ist bereits verstorben.

Tekla Owsiewna Adaminska

Ich, Adaminska, Tekla Owsiewna, bin am 18. 8. 1918 in dem Dorf Jakiwzi in einer Bauernfamilie geboren.Die Familie lebte in ärmlichen Verhältnissen, deshalb musste ich seit meiner Jugend in anderen Familien arbeiten.

1942 wurde ich im Alter von 23 Jahren nach Deutschland depor-tiert. Wir wurden nach Frankfurt gebracht und mussten dort in einer Konservenfabrik arbeiten. Während dieser Arbeit ist eine Hand unheilbar verletzt worden. Wir haben in Baracken gelebt. Wir wurden geschlagen, Mitleid gab es nicht. Wir wurden im Konvoi zu den Feldern gebracht und mussten dort Spinat und Spargel ernten und verarbeiten. Außerdem mussten wir Bunker graben. Im ersten Jahr haben wir ganz schlechtes Essen bekommen, tro-ckene Kartoffeln und Karotten, die in Fässern aufbewahrt wur-den und schon verdorben waren. Viele Leute sind von diesem Essen gestorben. Eine von uns konnte Deutsch, sie hat einen Brief an Hitler ge-schrieben und dann wurde der Konvoi und das schlechte Essen abgeschafft.

Als der Krieg dorthin gekommen ist, wurden wir nach Berlin gebracht. Dort wurden wir bombardiert, und ich wurde verschüt-tet. Als man mich ausgegraben hatte, hatte ich mein Gehör ver-loren und kann bis heute nur sehr schlecht hören. Dann wurden wir zu einem Sammelpunkt nach Schwiebus ge-bracht. Dort haben wir Getreide und Kartoffeln geerntet und wurden dafür bis heute nicht bezahlt.

Im Frühjahr 1946, vor Ostern, kehrte ich nach Hause zurück. Nach der Rückkehr war ich 2 Jahre lang sehr stark erkrankt. Da-nach bin ich zur örtlichen Kolchose gegangen und habe dort bis zu meiner Rente gearbeitet.

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gab überwiegend Steckrüben zu Essen. Wir waren sechs Mäd-chen im Zimmer, man ließ uns nirgends hin, wir arbeiteten für 5 Mark im Monat und dort gab es nichts zu kaufen. Aber in Magdeburg war es nur halb so schlimm.

1944 kamen wir nach Frankfurt (Oder) und hier lernten wir das Leid kennen. Hier sagten uns schlechte Leute, was wir tun sollen. Man gab uns zweimal am Tag zu essen.Solche Menschen, wie mich, die klein von Wuchs waren, stellte man zu sechst an eine Karre und die wurde von einem Kran beladen. Wir fuhren die Karre in den Wald. Mit uns kam ein Deutscher, der uns zeigte, wo wir ausladen sollten. Nach jeder Fahrt fuhren wir Motoren von zerstörten Flugzeugen und Ma-schinen. Als die Amerikaner anfingen zu bombardieren, brachte man uns in Bunker.

Am 9. Oktober 1945 kam ich nach Hause, dort war mein kranker Vater und die Mutter war auch krank, das Haus zerstört. Was konnten wir tun, Pässe gab man uns nicht, auch keine Papiere, damit wir wegfahren könnten. Wir arbeiteten in der Kolchose. Ich arbeitete dort 20 Jahre, dann, 1960, wurde eine Nachrichten-abteilung gegründet und der Vorsitzende schickte mich in die Schule und ich arbeitete dann in diesem Bereich 21 Jahre. 1960 heiratete ich Jarow, Nikolai Ignatowitsch und 1967 wurde unser Sohn Borja geboren. 1991 schickte man meinen Mann junge Pferde einzureiten und er wurde erschlagen. Mein Sohn hat eine eigene Familie und 2 Kinder, er wohnt im Zentrum des Gebietes. Ich kann dort nicht hinfahren. 1995 gab man uns ein Zertifikat auf ein Stück Land und ich ging zum neuen Vorsitzenden und ich zeigte das Papier, damit ich nach Kam-Brodsk gehen kann. Sie behielten aber das Papier und ich blieb. Ich erhalte 620 Gri-ben Rente. Jetzt legt man eine Gasleitung in mein Dorf und ich spare, damit ich das bezahlen kann. Das ist mein Leben.

Motrja Jakiwna Jarowna

Ich Nimerytsch, Motrja Jakowna, wurde am 15. 6. 1926 geboren. Bis zum Krieg wohnte ich bei meinen Eltern, ich hatte noch 2 Schwestern und einen Bruder, ich war die Jüngste und half im Haus. Als der Krieg 1941 begann war ich 15 Jahre alt. 1942 nahmen sie meine Schwester Marina mit, sie lebt jetzt noch. Sie kam zu einem Bauern, der sehr gut zu ihr war. Er gab ihr Marken, damit sie Brot bekam und sie unterstützte mich damit. Jetzt wohnt sie in der Stadt Belaja Zerkow, im Kiewer Gebiet, Strastowskaja 62a Wohnung 1, Nimerytsch M. J. (Wusinnja).

Im Juni 1943 holten sie mich und noch ein paar Mädchen aus meinem Dorf gewaltsam nach Deutschland. Aus unserem Dorf waren dort 12 Mädchen. Man setzte uns auf Fuhrwerke und ne-ben jedem Fuhrwerk war Polizei, man brachte uns nach Koreun-Schewschenkowsk. Dort hat man uns durchnummeriert und setzte uns dann in Gü-terwagen und brachte uns nach Kiew. Von dort fuhren wir nach Peremeschel. Von dort brachte man uns nach Deutschland, in jedem Waggon fuhr ein Deutscher mit.

Wir kamen nach Erfurt zu einer Sammelstelle. Dort waren sehr viele Menschen von unserem Volk. Hierher kamen die Deut-schen und kauften uns für 5 Mark das Stück.

Dann kam man uns mit einem Auto abzuholen und fuhr uns nach Magdeburg und mich und die Mädchen aus meinem Dorf brachte man zum Arbeiten auf einen Flugplatz. Dort säuberten wir Flugzeugteile mit Benzin. Es gab dort die verschiedensten Menschen, einige waren gut und gaben uns zu essen und andere waren wieder sehr streng. Am Arbeitsplatz waren die Deutschen gut, Paul, Marta, Elli und Barbara und der Belgier Remi. Wir gingen alle in eine Kantine, aber uns gab man das schlech-teste Essen. Man gab uns einen Laib Brot in der Woche, aber es

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Maria Maximowna Kalasch

Geborene TschernorukCharkow

Guten Tag allen!

Ich erhielt den Brief aus Deutschland und möchte nun antwor-ten.

Ich, Maria Maximowna Tschernoruk (heute Kalasch), wurde im Dorf Wolochow Jar im heutigen Tschugujewsker Kreis im Char-kower Gebiet am 18. Januar 1926 geboren. Bis zum Krieg beendete ich die 7. Klasse und lernte auf einer medizinischen Fachschule. 1942 erkrankte ich an Typhus und am Ende des Jahres, als ich noch nicht einmal 17 Jahre alt und nach der Krankheit noch nicht wieder zu Kräften gekommen war, brachte man mich nach Charkow zu einem Sammelpunkt zum Abtransport nach Deutschland.Dort behielt man uns so lange, bis wieder ein Transport von Menschen „voll“ war. Gesunde Mädchen konnten entkommen, aber mich ließ man mit etwas Essen zurück. Ich konnte nicht weglaufen, war noch zu schwach. Direkt Anfang 1943, nach der Ankunft in Deutschland, kam ich am 21. Tag in ein Quarantänelager, wo man uns auf einem gefrorenen Platz mit eisigem Wasser übergoss. Wer sich nicht auf den Beinen halten konnte, wurde weggebracht und von uns nie mehr gesehen. Es gab auch andere Schikanen.

Später brachte man uns nach Frankfurt (Oder) in eine Fabrik, in der wir Fallschirme nähten. Wir waren in einem Wohnheim untergebracht. Dort wurden wir sehr schlecht versorgt: zwei kleine Kartoffeln, 100 g Brot,

Ich kenne eine Frau, die in Watuschino lebt, Schukjaka, Anna Dabudowna. Ich weiß, wir hatten es schwer, aber wir waren jung, wir haben alles überlebt. Aber jetzt brauche ich Unterstützung, wir alten sind niemandem nötig. Ich bitte um Entschuldigung für meine Fehler, ich bin schon 82 und vergesse schon viel.

Motrja Jakiwna Jarowna

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Danach wurde ich nach Petersdorf zu Paul Nitschke gebracht. Hier musste ich von morgens um 5 Uhr die Kühe melken, da-nach ging es zur Arbeit aufs Feld, dann wieder Kühe melken und danach erneut aufs Feld, so bis 10 Uhr abends. Bei Paul lebten seine Frau und seine alte Mutter. Beiden Frauen versuchten mich zu schonen, wo immer sie konnten. Die Ehefrau wollte mich vor allzu schwerer Arbeit bewahren. Einige Male schickte sie mich auf den Dachboden, um immer wieder ein- und dieselbe Wäsche zu bügeln, nur um mich vor den Augen ihres Mannes zu verste-cken. Er war so hart und grausam, dass er nicht einmal seiner alten Mutter ein Glas Milch am Tag gönnte. Die Großmutter gab mir ein Halblitergefäß und heimlich, beim Melken der Kühe, goss ich etwas Milch hinein und brachte sie ihr. So lebten wir friedlich zusammen. Sie brachte mir auch Deutsch bei.

Der Bauer hatte mir ebenfalls vorgeschlagen, die Schwanger-schaft abzubrechen, aber ich tat es nicht. So zwang er mich zu körperlich sehr schwerer Arbeit; schwere Säcke mit Getreide und anderen Dingen zu schleppen. Aber ich war von Natur aus kräf-tig und gesund, weshalb ich das überlebte. Noch im neunten Monat meiner Schwangerschaft ließ er mich den ganzen Tag Mist auf das Fuhrwerk stapeln. In der Nacht bekam ich Blutungen. Als die Bäuerin am Morgen zu mir kam und fragte, warum ich nicht arbeiten würde, zog ich die Bettdecke weg und zeigte ihr, was mit mir los war. Sie rannte wie ein Blitz aus dem Zimmer und nach fünf Minuten kamen schon die Ärzte. Sie gaben mir eine Spritze und beschimpften den Bauern ziemlich heftig. Mich und das Baby konnten sie ret-ten.

Doch schon am nächsten Tag ließ mich Paul Nitschke wieder arbeiten. Mein Töchterchen wurde von der Großmutter betreut. Einige Zeit später wollte der Bauer mir das Baby erneut nehmen. Es kam eine Frau in Begleitung von Polizisten und einem Notar und erklärte, dass sie das Mädchen adoptieren möchte, weil sie keine eigenen Kinder habe. Der Mann wäre an der Front gestor-ben und sie wäre bereits 40 Jahre alt. Die Frau glaubte, dass ich

schwarzer Kaffee ohne Zucker und ein kleiner Teller Suppe aus Kohlrüben oder Möhren zum Mittag – das war die Tagesration. Wir hungerten schrecklich, obwohl man uns Geld für die Arbeit gab. Aber außer einer Art Zitronenlimonade durfte man keine weiteren Nahrungsmittel kaufen. Mit der örtlichen Bevölkerung lebten wir friedlich zusammen.Einige Deutsche verkauften uns heimlich 3–4 Kartoffeln, aber das konnte uns auch nicht retten.

Im Frühling kamen die Bauern und suchten diejenigen aus, die kräftig genug für landwirtschaftliche Arbeiten waren. Ich kam nach Heinersdorf zu Otto Krienke. Nach der Zeit des Hungerns in der Fabrik gab mir der alte Bauer drei Tage keine feste Nahrung, damit ich nicht sterbe, weil der Magen das Essen nicht verarbeitet hätte. Die Verpflegung hier war gut, aber ich arbeitete für drei Männer auf einmal. Es war so schwer, dass ich mich sogar erhängen wollte. Hier lernte ich meinen späteren Mann Iwan Iwanowitsch Ka-lasch kennen, der auch dort arbeitete. Mit ihm zusammen arbei-tete Nikolai Kowaltschuk aus der Ostukraine (mein Mann kam aus der Westukraine). Kowaltschuk war auf eigenen Wunsch nach Deutschland gefahren, nicht zur Zwangsarbeit. Der Bauer, bei dem mein Mann war, war sehr brutal. Nikolai Ko-waltschuk durfte nicht auf die Straße gehen, weil er keine langen Hosen hatte. Ich gab ihm meine (die meines Vaters). Als ich schwanger wurde und der Bauer davon erfuhr, wollte er mich zu einer Abtreibung überreden, doch ich stimmte nicht zu. Dann wollten sie Iwan zwingen, dass er mich dazu bringen sollte, es zu tun, aber auch er weigerte sich. Und eine gesetzliche Ehe zu schließen war uns nicht möglich, weil ich die Aufschrift „OST“ an der Kleidung trug. Die Bauern brachten mich heimlich zum Arbeitsamt. Als Iwan davon erfuhr, suchte er mich ohne Erlaubnis. Dafür wurde er bestraft und musste für 24 Stunden in den „Steinsack“. Aber er hatte mich gefunden.

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geworden ist. Die Kinder waren etwa 10 oder 12 Jahre alt, eins ein bisschen älter als das andere.

Vor etwa 20 Jahren kam im Dorf Wolochow ein Päckchen, ge-richtet an meinen Mädchennamen, an. Doch dort wohnte nur noch meine Tante, denn ich war bereits ins Dorf Michailowka gezogen, wo ich auch heute noch lebe. Man erzählte mir von dem Päckchen, den Inhalt haben wir geteilt, aber die Tante hatte keinen Absender. Ich würde gern erfahren, wer uns dieses Päck-chen geschickt hat.

Das Schicksal in Deutschland war mir auch in der danach fol-genden Zeit nicht gerade fröhlich gesonnen.Bevor die Bombardierungen begannen, wurden alle Gefangenen in ein Lager gebracht. Dort waren auch Kriegsgefangene, weil irgendwo daneben eine Munitionsfabrik war.Es waren dort Menschen verschiedener Nationalitäten. Polnische Frauen hatten hysterische Angst vor den Bombenangriffen und alle schrieen “Mutter Gottes“. Einem Polen und zwei Russen ge-lang es, aus der Stadt herauszukommen und Hilfe zu holen, um alle zu befreien. Dann kamen die russischen Panzer und befreiten uns. Nach Hause zu gelangen war sehr schwierig: Wir waren hungrig und es war kalt. Ich sah viele Tote, Soldaten Zivilisten. Ein grausames Erlebnis.

An der Grenze zu Noworod Wolensk kontrollierte alle der KGB: Wer ist wie und unter welchen Umständen nach Deutschland verschlagen worden. Am Ende des Krieges, am 18. März, kehrte ich mit meiner Tochter Nadeshda nach Hause zurück.Und nach dem Krieg haben mein Mann und ich gesetzlich ge-heiratet. Uns wurden noch fünf Kinder geboren. Sie sind alle bereits Rentner. Meine Hände sind gekrümmt, die Beine wollen nicht mehr ge-hen. Das Alter macht sich bemerkbar. Das Schreiben fällt mir schwer, daher schreibt meine Tochter, die in Deutschland gebo-

das Baby nicht haben wollte. (Das könnte ihr der Bauer so gesagt haben). Als ich laut zu weinen anfing und um Hilfe rief, sagte sie, dass sie das Baby mir nicht gewaltsam nehmen werde. Die Großmutter weinte und kümmerte sich um das Baby. Als meine Tochter drei Wochen alt war, wollte mich Paul Nitsch-ke erneut von meiner Tochter trennen. Nachdem ich die Kühe gemolken hatte, ging es aufs Feld. Sonst sind wir immer nur mit den Pferden gefahren, doch dieses Mal nahm er das Motorrad und ich das Pferdegespann. In der Mittagspause setzte er sich aufs Motorrad und fuhr davon. Irgendwie merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Ich spannte die Pferde an und fuhr ihm hinterher. Er glaubte, ich könnte die Pferde nicht einspannen, doch da ich auf dem Dorf aufgewachsen bin, habe ich es dort gelernt. Als ich direkt nach dem Bauern ankam, lief ich zur Großmutter. Die-se weinte bitterlich und sagte, dass ihr Sohn der Kleinen gleich Gift verabreichen wird. Ich fing auch an zu weinen, ergriff das Baby und fuhr nach dem Mittag nicht wieder zur Arbeit. Die Großmutter riet mir wegzulaufen und sagte mir auch, wie ich es machen könnte.

Am Morgen melkte ich die Kühe und erzählte alles dem Fahrer, der jeden Morgen die Milch holte. Der Fahrer, so hatte auch die Großmutter gesagt, sei ein guter Mensch. Er war entrüstet über das Verhalten von Paul und brachte mich mit dem Kind zum Arbeitsamt.

Von dort aus kam ich nach Burschen und dort arbeitete ich bis zu der Zeit als die Russen kamen. Hier war das Verhalten mir gegenüber menschlich. Ich musste nicht hungern und brauchte keine schwere Arbeit zu verrichten. Die Leute waren wohlha-bend und trotzdem arbeitete die Ehefrau die ganze Zeit. Sie ging über den Hof, beobachtete die Arbeitenden und dann strickte sie, fast ununterbrochen. Mir hat sie Wollsocken gestrickt, damit meine Füße nicht frieren und auch eine Strickjacke aus Wolle hat sie mir geschenkt. Sie hatte zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Ich wüsste gern, wo sie sind und was aus ihnen

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alles brannte. Drei Tage brannte es und wir blieben zurück, in dem was wir anhatten, aber alle überlebten.

Aber damit war es nicht zu Ende. Ich erkrankte an Typhus und lag 40 Tage ohne Essen, trank nur Wasser, aber ich überlebte und der Vorsitzende bestimmte mich nach Deutschland zu fahren, ich war nur Haut und Knochen und die Haare fielen aus. Man fuhr uns in Transportwaggons. In Polen zog man uns nackt aus, wir standen im Schnee und man begoss uns aus breiten Schläuchen mit einer Lösung, die Augen schlossen wir um nicht blind zu werden und dann stan-den wir und warteten, dass unsere Kleidung aus der Desinfekti-on wiederkam. 21 Tage Quarantäne und dann nach Frankfurt (Oder) in die Fabrik. Sie gaben uns schlechtes Essen für die Arbeit, gaben Geld (Mark), doch wir konnten nichts dafür kaufen, nur Selters. Als die Arbeit in der Fabrik zu Ende war, verteilte man uns an Bauern in die Dörfer. Ich kam nach Heinersdorf zu Otto Krinke und seiner Frau, sie waren schon älter. Am Dorfrand war die Post, der Name des Leiters war Sommer, er war Invalide und mein Iwan arbeitete bei ihm, er trug die Post aus. Der Chef sortierte die Post und Iwan trug sie zu den Adres-sen, er verstand deutsch. Dort lernten wir uns kennen und trafen uns, unseren Chefs ge-fiel das nicht und man trennte uns. Man schickte mich nach Petersdorf zu Paul Nitschke und dort gebar ich eine Tochter. Ich habe Iwan einen Brief geschrieben, erhielt aber keine Antwort. Sommer hat meine Briefe Iwan nicht gegeben. Iwan fuhr nach […] zum Arbeitsamt um zu erfahren, wo ich bin und dort erhielt er meine Adresse, dafür steckte man ihn in einen Ziegelraum, ich habe diesen Raum gesehen, dort konnte man nicht sitzen oder liegen, nur stehen. Paul Nitschke wollte mein Baby einer kinderlosen Deutschen geben und es kamen zwei Polizisten und die Deutsche um die Papiere auszustellen. Ich lief dem Baby nach und den Polizisten, sie sagten, ich solle nicht schreien, Nitschke aber sagte, dass ich

ren wurde. Sie ist Invalidenrentnerin. Die Renten sind bei uns nicht hoch (mild ausgedrückt). Sie wohnt in Charkow.

P. S. Mama ist sehr schwach und krank.

Auf Wiedersehen.

Maria Maximowna Kalasch

Ein Gruß aus der Siedlung Schkalowska […] Ich wünsche Ihnen Glück, Gesundheit und einen friedlichen, lichten Himmel auf Erden. Entschuldigen Sie bitte, dass ich Ihnen so spät antworte. Ich erkrankte und meine Tochter hat mich zu sich geholt. Meine Adresse hat sich geändert und deshalb erhielt ich Ihren Brief erst kürzlich.

Ich kann Ihnen auch nichts Neues berichten, denn wir hatten nicht das Recht irgendwohin zu gehen und zu lesen. Zur Fabrik wurden wir im Konvoi geführt, vorn und hinten gingen Polizis-ten. In der Fabrik nähten wir Fallschirme, aber in welcher Straße sie sich befand, weiß ich nicht. Ich wurde im Dorf Wolochow im Jahr 1926 geboren, dort ging ich auch zur Schule, beendete 7 Klassen und begann 1940 am medizinischen Technikum zu lernen, aber der Krieg 1941 been-dete mein Studium und ich besuchte einen Kurs für Traktoristen und Kombinefahrer. Alle Männer zog man zum Krieg ein und im November kamen die Deutschen. Es fand ein Kampf statt und unser Haus brannte, es war lang und alle waren unter einem Dach, alles brannte und die Kühe, Schweine, Hühner, das Lager mit den Produkten und Getreide,

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brachte man die Gefangenen in (Oswentien?), so sagten die Po-len. Den anderen Teil der Gefangenen überflutete man, zusammen mit den Deutschen, an dem Platz mit Wasser an dem sie arbei-teten. Die Fabrik wurde geheim gehalten. Uns Arbeiter brachte man in ein Lager zu den Gefangenen und bereitete unseren Abtransport vor, doch es gelang einigen mu-tigen Männer einen Durchgang unter den Zaun zu graben und sie gelangten vor dem Abtransport zu den Russen. Die Panzer kamen sofort nach Burschen. Wir Ukrainer nahmen Pferd und Wagen und fuhren nach Osten. Ich trug das kleine Baby an der Brust, damit es warm war und so erreichten wir Tomaschew. Die Pferde nahmen uns die Soldaten weg und man brachte uns nach Wladimirowolynsk. Dort überstand ich die Folter, drei Mal brachte man mich zum Verhör, fragte, mit wem ich war, was ich gemacht habe. Sie nahmen mir mein Arbeitsbuch weg, mit dem man mich nach Deutschland gebracht hatte und das andere nach einem Jahr beim Abtransport. Ich hatte eine Fotografie, war nur Haut und Knochen, die Haare kurz geschoren, die nach dem Typhus ausgefallen waren und die neuen Haare waren wie bei einem jungen Lamm. Und jetzt war das Gesicht weiß und sauber und ich war rund, ich war gerade 18 Jahre alt. Immer wieder die Fragen, wo ich war und was ich gemacht habe. Ich antwortete, in Frankfurt (Oder) in der Fabrik, an der Nähma-schine und dann beim Bauern in Heinersdorf bei Krinke und in Petersdorf und in Burschen. Und das drei Mal und sie fragten, warum ich lüge. Warum ich damals dünn und geschoren war und heute rund und lockig. Aus der Ukraine brachte man mich nach dem Typhus nach Deutschland in die Fabrik und in Heinersdorf hungerte ich nicht, ich aß Brot und trank Milch, wenn die Hausherren es nicht sahen. Bei Nitschke in Petersdorf hungerten wir, wir stahlen bei den Schweinen die Kartoffeln und aßen sie. In Bur-

das Baby nicht brauche, aber wenn du so weinst und leidest, wirst du eine gute Mutter und sie gingen. Einen Monat später brachten wir die Pferde weit hinaus aufs Feld zum Arbeiten und nahmen zur Fahrt ein Motorrad. Mittags nahm der Chef das Motorrad und fuhr fort, er sagte mir, dass ich nach den Pferden sehen soll und er mir das Essen bringen wird. Meine Tochter war doch erst einen Monat alt und die Milch floss mir aus der Brust. Ich ging zu den Pferden, sattelte auf und ins Dorf fuhr der Chef auf dem Motorrad und ich ritt. Nitschke schimpfte auf Deutsch: Donnerwetter, und ich antwor-tete auf Russisch. Ich ging in mein Zimmer und dort weinten die Mutter von Nitschke und der Großvater und ich fragte, warum sie weinten und sie sagten, dass Paul Nadja, meine Tochter, Gift zu trinken geben will. Ich erschrak und begann zu weinen und fragte die Großmutter, was ich tun kann. Sie antwortete: „Lauf weg!“ „ Es ist Krieg, wo soll ich hin laufen?“ Sie sagt: „Wickle das Kind sehr früh. Es kommt der Fahrer die Milch von den Kü-hen holen, er ist ein sehr guter Mensch. Bitte ihn um Hilfe, du kennst die deutschen Worte und er bringt dich zum Arbeitsamt. Auf dem Arbeitsamt wirst du Leute finden, die dich und das Kind nehmen.“ Gottes Segen für die Großmutter und Frau Nitschke, sie war sehr gut. Kann sein, ihre Kinder leben noch, ein Junge und ein Mäd-chen, Gott gebe ihnen Gesundheit.

Mich schickte man nach Burschen zu Willi Sauer. Die Arbeit war schwer, aber niemand hat mich gekränkt und Kartoffeln konnte ich essen, so viel ich wollte. Frau Sauer (ihren Vornamen kenne ich nicht, sie hat ihn mir nicht gesagt und ich habe nicht gefragt) hat mir geholfen bei der Pflege des Kindes. Sie hatte auch zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Als die russischen Soldaten näher kamen, gingen sie fort, wohin weiß ich nicht. Im Dorf blieben nur zwei Alte, ein Dorf ohne Menschen. Hier gab es ein Kriegsgefangenenlager für Russen, viele, ich weiß nicht wie viel. Man teilte sie in zwei Gruppen, vielleicht 100 oder 200 und trieb sie zur Arbeit, sie arbeiteten an Loren in irgendeiner unterirdischen Fabrik. Am letzten Tag

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Larissa Borisowna Kornejewa

Charkow

[…] Ich möchte Ihnen auf Ihren Brief antworten. Zu meinem größten Bedauern starb O. A. Kornejewa im Januar 2006 im Al-ter von 83,5 Jahren.

Ich bin die Tochter Larissa Borisowna Kornejewa.

Mama hat sich ihr ganzes Leben lang mit allen Einzelheiten an ihren Aufenthalt in Deutschland erinnert; ihren Alltag, ihre Ar-beit in der Stadt Frankfurt (Oder) und darüber erzählt. Meine Mutter erlernte vor dem Krieg der Beruf Fräser. Ihr Mädchenname war Korschowa, geboren wurde sie 1922.

Im Mai 1942 wurde sie von Charkow nach Deutschland abtrans-portiert. Zusammen mit ihr wurde auch ihre jüngere Schwester Nadjeschda Aleksandrowa Korschowa (1924 geboren) abtrans-portiert. Sie kamen in das Arbeitslager Frankfurt (Oder). Sie arbeiteten in der Fabrik „Teutonia“ unter Direktor Deine [Dähne]. Im Mai 1945 wurden sie befreit.

Mama hat erzählt, dass sie in Baracken lebten. Es waren dort auch sehr viele Leute aus Charkow, eine Menge […] Zur Arbeit wurden sie in Kolonnen unter Bewachung mit Hun-den geführt, ungefähr 3–4 km. Wer zurückblieb, wurde mit Stö-cken geschlagen. Mit solchen Holzpantinen zu gehen, wie sie diese Holzschuh-sohlen mit einem Stück Stoff (Pantoffeln) nannten, war sehr schwierig. Besonders schwierig war es im Winter.Die Bekleidung war spärlich – leichte, graue Kleider. Hunger hatten sie immer, es gab wenig zu essen. Winzige Stück-chen Brot, Margarine und – für ihr gesamtes verbleibendes Le-ben in Erinnerung geblieben – Suppe aus Mehl, Wasser, Steckrü-ben und darin schwimmenden Würmern.

schen aß ich Kartoffeln, so viel ich brauchte. Das ist die ganze Geschichte.

Auf die Anfrage nach Hause kam, dass ich wirklich 1926 geboren bin, an Typhus erkrankte und das Haus brannte und man ließ mich nach Hause. Ich kam am 18. März in dem mir Fremden an, es gab nichts. Mama hat das abgerupfte Gras gegessen, es war sehr schwer, aber wir haben überlebt.

Aber jetzt gibt es in unserer unabhängigen Ukraine sehr viele Millionäre und Milliardäre und noch mehr Arbeitslose und Ha-benichtse, man muss ans Überleben denken. Meine 6 Kinder sind alle Rentner, sie zahlen das Gas, das Was-ser, die Heizung, das Telefon, die kommunalen Dienste und dann bleibt nicht sehr viel zum Leben. Je länger es dauert, umso schlechter wird es, es wird alles teurer. Entschuldigt, dass ich schlecht schreibe. Meine Hände können den Füller schlecht halten und ich sehe auch schlecht und ich mache viele Fehler. Ich wohne bei der Tochter. Ich weiß nicht, ob ihr jemanden findet, der meinen Brief lesen kann. Wenn sie die Möglichkeit haben zu kommen, wir wohnen sehr arm. Die neue Adresse schicke ich ihnen.

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[… Übersetzungsproblem] Gott hat es wohl so gut gefunden. Die Listen für die Abfahrt hängten sie jeden Tag aus. Es kam der Oktober 1945. Mama war beunruhigt, was tun und fuhr in die Ukraine ohne Papiere. Zu Hause in Charkow wurde sie von ihren Eltern empfangen. Am 28. November 1945 wurde ich in Charkow geboren. Der Vater schrieb der Mutter aus Deutschland. Er wusste es und er-innerte sich, dass er nun eine Tochter hat.Nach der Entlassung erblickte er mich das erste Mal 1948. Die Eltern heirateten und Mama und ich wurden Kornejews.

1950 erkrankte der Vater an der offenen Form der Tuberkulose. Er starb 1999 an […] Mama wurde mit 40 Jahren eine Niere entfernt und lebte nur noch Dank der Medizin. Ich half, soweit es mir möglich war, den Eltern.

Mit HochachtungKornejewa, Larissa Borisowna22. 06. 2008

Mama arbeitete an einer Drehbank. Sie schleppte schwere, me-tallische Teile. Ich kann nicht sagen, dass sie gute Erinnerungen an diese Zeit hatte. Jedoch arbeiteten in der Fabrik auch deutsche Arbeiter. Und ob-wohl es aufs strengste verboten war mit den Unseren zu reden, hat ein Deutscher mittleren Alters – er hatte gesehen wie Mama arbeitete und wie schwer es ihr fiel – eine Entdeckung riskierend, manchmal von weitem Zeichen gegeben, wo er einen Teil seines Frühstücks für sie liegen ließ.Direktor Otto Deine war immer mit allem unzufrieden; war bös-artig, unbarmherzig.

In der Freizeit war Mama froh, sich erholen zu können und hat gelesen. Im Lager hat sie den Charkower Boris Sergejewitsch Kornejew (1923 geb.) kennengelernt. Er war ein guter Arbeiter, sprach deutsch. Deutsch lernte er noch in der Schule und im Technikum. Sie hatten eine freundschaftliche Beziehung, die ganzen 3 Jahre ihres Aufenthalts im Lager. Jung, abgemagert, hungrig, aber das Leben ging weiter …

1945 begannen die Bombenabwürfe. Das Lager hielt sich bis März, April, das System zerfiel natürlich, aber die Menschen lebten nach wie vor in den Baracken. Wie viele Male hat Mama erzählt, dass der Vater sie nach der Bombardierung ausgrub, wie schrecklich es war und dass die Flugzeuge sehr niedrig flogen und die Bomben fast nebenan nie-derfielen. Einheimische gab es nur noch wenige, alles ringsum stand leer, alles zerstört.

Am 9. Mai 1945 war Mama noch im Lager und den Vater zogen sie zur Armee ein. Sie wussten bereits, dass sie ein Baby bekom-men würden – mich. Der Vater diente bis 1947 in Deutschland, in Berlin. Mutter wartete auf die Abfahrt nach Hause. Sie arbei-tete für Essen, dort, wo man sie hinschickte.

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Tscherkassi. Es waren da noch Frauen aus Poltawa und der west-lichen Ukraine. Es waren in der Fabrik ungefähr 180 Menschen. Wir arbeiteten in der Konservenfabrik, schnitten und trockneten Kartoffeln und andere Früchte und Gemüse.Aber essen durften wir nicht. Wenn wir uns etwas in den Mund steckten, hat man uns sehr geschlagen.

Sofort waren bei uns die Meister, ein Mann und seine Frau, sehr böse und widerwärtig. Dafür ist er erblindet und ihr haben sie die Hand gelähmt.

Aber unter Euren Leuten waren auch gute. Wir hatten Pantoffeln aus Holz, feucht und modrig. Es kam vor, dass uns Deutsche Strümpfe mitbrachten.

Wir lebten in Baracken. Man gab uns Steckrüben und Mohrrü-ben und ein Stück Brot am Tag. In der Freizeit waren wir in den Baracken – am Sonntag, sonst haben wir von früh bis spät gearbeitet. Wer bei Wirtsleuten war, konnte sich frei bewegen, aber wir wurden im Konvoi zur Arbeit und zurück geführt. Jede Nacht gab es Alarm und man hat uns hinausgetrieben in Bunker.

Als die sowjetische Armee näher kam und die Bomben fielen, hat man uns fortgebracht.Wir blieben alle zusammen, aber eine von uns wurde getötet. Eine Frau aus Ruischaniwko wurde dort auf dem Friedhof begra-ben. Sie hatte Tuberkulose. Jetzt sind wir noch zu zweit. Ich und meine Cousine Laskawa Romanenko Ewdokija Kindrotowna und aus Ruischaniwko noch eine. Die Kleinsten und Dümmsten blieben übrig. Wir erinnern uns oft an unser Leben in Deutschland. Als die Bomben fielen, hat man uns nach Landsberg, Brandenburg, Küst-rin, gebracht. Dort wurden wir befreit. Aber ich arbeitete noch ein Jahr zusammen mit einer anderen von unseren Mädchen (sie ist bereits gestorben), die anderen schickte man nach Hause.

Paraskowija Musejewna Kutowa

Schurawka

Guten Tag […]!Mit Achtung und sehr vielen guten Wünschen für Sie schreibt eine alte Ukrainerin Kutowaja, Praskowaja Musejewna.

Ihr Brief hat mich natürlich sehr erstaunt.

Ich bin geboren am 10. 11. 1925 im Dorf Schurawka, Olschanski Gebiet, jetzt Gorodschuenskij, Gebiet Tscherkassi.

Mein Leben bis zum Krieg war schlecht, arm, wir waren 5 Kin-der. Unsere Mama war sehr krank – Trauma der Wirbelsäule und der Rippen. Das bedeutete damals in einer armen Familie den Tod. Vater war Schmied. Mit 10 Jahren weißte ich die Stube, wusch die Wäsche, habe gesponnen, die Kuh getränkt. Die Schule habe ich nach zwei Klassen beendet.

Man hat mich überall versteckt, in Kisten, auf dem Boden, unter dem Bett, sogar im Schornstein, damit sie mich nicht mit nach Deutschland nehmen. Für mich nahmen sie meinen jüngeren Bruder mit. Aber im Frühling 1943 nahmen sie mich auch mit. Die älte-ren Brüder gingen zur Armee. Zu Hause blieb nur der Jüngste. Mama hat das alles nicht ertragen und starb mit 45 Jahren.

Wir wurden nach Deutschland im Güterwagen transportiert, alle zusammen, Frauen und Männer. Dort mussten wir auch unsere Notdurft verrichten – in einer Ecke des Waggons machten sie ein Loch.

Wir wurden nach Frankfurt an der Oder gebracht. Aus unserem Dorf waren wir 7 Frauen und aus dem Nachbarort Ruischaniw-ka, Gebiet Swenigorodskaj 5 Frauen. Die waren aus dem Gebiet

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Maria Nikonowna Ljubarskaja

Tschernowni

Guten Tag, […]es wendet sich an Sie die ehemalige Zwangsarbeiterin in Frank-furt (Oder) Ljubarskaja, Maria Nikowna.

Ich erhielt Ihren Brief mit der Bitte, meine Erinnerungen an die Zwangsarbeit in Deutschland in den Jahren des 2. Weltkrieges mit Ihnen zu teilen. Riesigen Dank Ihnen für diese Arbeit, die sie mit dem Ziel begonnen haben, die Gerechtigkeit wiederher-zustellen, die Wahrheit zu berichten über die Sklavenarbeit in den Jahren des Krieges.

Ich, Ljubarskaja, Maria Nikonowna, wurde am 28. 4. [19]25 im Dorf Bagwa, im Bezirk Bugski, Kiewer Gebiet, in der Ukraine geboren. In diesem Dorf lebte ich zusammen mit den Eltern und einer jüngeren Schwester. Im Juli 1941 wurde das Gebiet durch deutsche Soldaten eingenommen.Im Sommer 1942 kamen Polizisten in das Haus und wiesen an, sich auf der Straße zu sammeln und die dringendsten persönli-chen Sachen sowie Lebensmittel mitzunehmen. Wir lebten in Armut und ich nahm auf den Weg nur ein Stück Brot mit. Vor dem Dorfrat versammelten sich ungefähr 30 junge Leute. Man verlud uns auf einen Lastwagen und brachte uns zur Station Po-tasch. Hier war schon viel Jugend aus den umliegenden Gebieten versammelt. Man packte uns in Güterwagen und fuhr uns in eine nicht be-kannte Richtung. Wie sich später herausstellte nach Deutsch-land. In jedem Waggon waren 40 Menschen. Wir wurden be-wacht, es gab nichts zu essen, aus den Waggons wurden wir nicht herausgelassen (es war sommerliche Hitze), wir schliefen auf dem Boden auf Stroh, wie Vieh. Ungefähr 4 Tage fuhren wir nach Frankfurt (Oder).

Nach Hause kam ich im Herbst 1946. Aber welches Schicksal hat schon eine arme Waise? Ich heiratete, gebar ein Mädchen, das nach einem halben Jahr starb. Dann bekam ich Zwillinge. Der Mann ging zur Armee, hat mich verlassen, fand die Tochter des Kommandanten. Ich zog die Mädchen selbst groß. Mit 6 Jahren starb eine an Herzleiden. Dann heiratete ich erneut, bekam noch eine Tochter. Mit diesem Mann lebte ich 30 Jahre. Mein ganzes Leben arbeitete ich im Kolchos, erntete Rüben, bereitete sie in der Küche zu, auf dem Boden. Jetzt bin ich nicht mehr gesund, Mikro-Infarkt. Bewege mich nur an Krücken. Ich lebe halt. Lebe neben meiner Tochter; von den Zwillingen, habe 6 Enkel, 4 Urenkel und das 5. unterwegs. Erhalte 544 Griben Rente, bei Euch sind das nicht einmal 100 Dollar.

Lehrt Eure Jugend, dass sie nicht länger Krieg machen soll. Da-mit das Schicksal sie nicht durch die ganze Welt treibt, wie uns, ja und jetzt unsere Enkel, auf der Suche nach einem besseren Leben und Erleben.

So raffen unsere Herren jetzt alles für sich, sie können nicht ge-nug kriegen. Damals hat die Diktatur Stalins alles gedrückt, ins Gefängnis gesperrt, verbannt. In den restlichen Jahren zwischen den 70ern und 90ern begann man zu leben, zu bauen, auch Krankenhäuser und das Studium war umsonst. Und jetzt, wenn du krank wirst und kein Geld hast, dann stirb!

Kann sein – es ist nicht so, dann entschuldigt bitte.Auf Wiedersehen

Kutowa

Ihren Brief erhielt ich am 22. 6. 200824. 6. 2008

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des Lagers „Balandu“ – eine Suppe aus getrocknetem Kohl, 50 g Brot, sie gaben auch geriebene Steckrüben, gekochten Rettich, Spinat, zum Abendbrot – 2 gekochte Pellkartoffeln. Sehr oft schwammen in der „Ballandu“-Suppe Würmer. Einige weiger-ten sich das zu essen. In diesem Fall brachten sie das Essen weg und die Menschen blieben hungrig. Einmal hat ein Mädchen auf dem Hof eine Steckrübe genommen und versteckt. Dafür wurde sie von der Polizei die ganze Nacht festgehalten, sie musste mit erhobenen Händen knien.

Kleidung bekamen wir nicht. Wir nähten sie selbst aus Lappen, die in der Fabrik zu Produktionszwecken ausgeteilt wurden. Wir bekamen Pantoffeln mit Holzsohlen („Schutschi“). Wenn sie uns zur oder von der Arbeit führten, ertönte ein lautes Pochen in der ganzen Umgebung. Die Deutschen sahen aus dem Fenster auf uns und schrieen „Russen“. Auf dem Weg lagen zerschlagene Steine verstreut und oft haben sich die Steinchen an der offenen Seite in die Schuhsohlen und Beine gebohrt.

In der Fabrik hatte der Hausherr eine Badestube, unser Badetag war der Sonnabend. Man gewährte uns auch medizinische Hilfe. Einmal hatte ich die Hand verletzt und im Sanitätspunkt machte man mir einen Verband für eine Woche. In dieser Zeit brauchte ich nicht in der Fabrik arbeiten.

In der Fabrik, in unserer Halle arbeiteten 2 deutsche Meister (wir nannten sie „Chef“). Sie lebten in nahegelegenen Dörfern und kamen mit Fahrrädern zur Arbeit. Sie wurden nicht zur Front eingezogen, da sie krank waren. Einen nannten sie „Spetchek“ und der andere war ein Feldscher von Beruf. Einmal erkrankten meine Augen, sie tränten so sehr, dass ich nichts mehr sehen konnte. Der Meister kam und schmierte ir-gendein Gemisch in die Augen, am nächsten Tag war die Krank-heit weg.

Nach der Ankunft auf der Station hat die Polizei 50 junge, kräf-tige Mädchen für die Arbeit in der Fabrik ausgewählt, zu denen gehörte auch ich. Uns brachte man zur Arbeit in eine Fabrik, wo kriegswichtige Teile für Kriegstechnik hergestellt wurde[n]. Die Fabrik lag außerhalb der Stadt. Es war ein zweistöckiges Ziegel-haus mit einem großen Hof, in dem sich Lager befanden. In der Fabrik arbeiteten – neben Ukrainern – Russen, Polen, Griechen und Italiener. Das Verhältnis zu ihnen war aber besser. Nach den Reden der Leute, die zur Arbeit kamen, war bekannt, dass der Besitzer der Fabrik ein „harter“ Mensch war und die Bedingungen der „Ostarbeiter“ (aus den ehemaligen Sowjetre-publiken) die schlechtesten waren. Der Besitzer schrie ständig „Schwein“. Ich musste an einer Drehmaschine arbeiten. Nach einer Zeich-nung, die mir der Meister (wir nannten ihn „Chef“) zeigte, schliff ich metallische Rohlinge. In der Halle standen Schleif- und Fräs-maschinen. Hier wurden die Teile aus Metall zum fertigen Pro-dukt verarbeitet. Ich habe mich angestrengt, um nicht bestraft zu werden, aber es war eine schwere Arbeit für junge Mädchen. Der metallische Staub kam in die Augen, die oft schmerzten.

Die Zwangsarbeiter lebten im Arbeitslager. Das war ein 2-stöckiges, langes Gebäude. In einem Raum schlie-fen 100 Menschen. Wir schliefen in 3-Etagenbetten auf Stroh-matratzen. Um das Lager war ein Stacheldrahtzaun. Die Polizei bewachte uns. Wir wurden für das geringste Vergehen bestraft. Nach der schweren Arbeit in der Fabrik wurden wir auch zur Reinigung der Toiletten eingeteilt.

Um 5.30 Uhr standen wir auf, wir arbeiteten 12 Stunden in 2 Schichten: 1. Schicht von 6.00 bis 18.00, 2. Schicht von 18.00 bis 6.00 Uhr früh. Zur Arbeit wurden wir unter Bewachung in Kolonnen geführt.

Das Essen war dürftig. Ich weiß nicht, wie wir überlebt haben. Wegen der schweren Arbeit wollte man ständig essen. Früh gab es 50 g Brot mit Margarine. Mittags brachten sie aus der Kantine

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gebiet geschafft. Von dort gelangten wir mit den Autos, die auf dem Weg waren, nach Hause.

Ich kam im August [19]45 nach Haus. Die Eltern waren froh, mich lebend zu sehen. Das Verhalten im Dorf von Seiten des Vorsitzenden des Dorfrates war jedoch schlecht zu mir. Man nannte mich „Feind des Volkes“, „deutsche Unterlage“. Ich konn-te dort keine Arbeit finden. Man gab mir keinen Ausweis. Ich schrieb mich in Tschernowni am „Ernährungstechnikum“ ein und erhielt eine Zulassung zum Studium, sodass man gezwun-gen war, mir einen Ausweis zu geben. So bin ich aus dem Dorf weggefahren. Nach Abschluss der Fachschule arbeitete ich als Laborantin in einer Getränkefabrik (Bier) und im Werk für nichtalkoholische Getränke in Tschernowni.

Zurzeit erhalte ich eine kleine Rente, bin krank.

Mit Hochachtung Ljubarskaja, M.N.20. 6. 2008 Tschernowni

Sie waren nicht schlecht zu uns, teilten ihr Essen mit uns und brachten Pakete mit Kleidung. Ich habe von ihnen Strümpfe, ein Kleid, einen Arbeitskittel und Unterwäsche bekommen. Damit ich mit ihnen reden konnte, lernte ich etwas deutsch.Für die Arbeit erhielten wir wenig Geld, konnten uns dafür aber nichts kaufen. Alle Waren und Dienste verkaufte man auf Mar-ken, die man uns nicht gab. So habe ich dieses Geld unbenutzt behalten. Ich nahm es mit nach Hause und habe es, weil ich es nicht brauchte, weggeworfen.

An den Sonntagen hat man uns der Reihe nach zu 3-5 Leuten für einige Stunden in die Stadt gelassen, man musste aber rechtzeitig zurück sein. Auf dem Weg zur Fabrik, hinter der Stadt, waren Gärten. Nach der Ernte gingen wir dort hin, um verdorbene Äp-fel zu sammeln, die auf der Erde lagen. An den Sonntagen kamen zu uns ins Lager Deutsche, die uns einluden, in ihrem Haus einmalige Arbeiten zu machen (Kar-toffeln ausgraben, im Haus saubermachen, die Löcher von Bom-benabwürfen zuschütten). Wir waren einverstanden, da man uns ein Abendbrot gab – Kartoffeln und Quark. Ich liebte es zur Arbeit beim „Großvater“ zu gehen. Er lebte 30 Min[uten] Fußweg vom Lager entfernt, hatte ein großes Haus, unten war eine Bäckerei und ein Brotladen. Wenn wir Marken hatten, gab er uns für diese Marken statt 200 g Brot ein ganzes Brötchen. Weil wir immer essen wollten, gingen wir, wenn wir vom Lager weg konnten, in die Stadt um Almosen bitten („Bittescheen“) und erhielten einige Marken. Manchmal, sehr selten, erlaubten wir uns in den Park zu gehen; Eis essen und Karussell fahren.

Als das Kriegsende sich näherte, häuften sich die Bombenangrif-fe auf die Stadt und wir versteckten uns jedes Mal in unterirdi-schen Einrichtungen. […] 1945 […] wurden [wir] freigelassen. Der Krieg war aber nicht zu Ende, man musste überleben. Wir gingen auf die umlie-genden Dörfer und machten jede Arbeit für Essen. […] Mit dem Eintreffen der russischen Soldaten wurden wir in das Kampf-

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Man gab uns nicht sehr reichlich zu essen, 300g Brot am Tag, Suppe, Kartoffeln, Brei. Wir aßen in der Fabrik; wer das essen mochte.

Drei Jahre Arbeit, ohne Bezahlung, Sklaven, zweitklassige Men-schen.Die Einheimischen haben wir fast gar nicht gesehen, weil wir uns nicht vom Lager entfernen durften. Unsere Fabrik blieb unversehrt während der Bombenabwürfe, es war irgendwie alles ruhig.

Im Sommer 1945, nach Beendigung des Krieges, kehrte ich nach Haus zurück. Einige Zeit traf ich mich noch mit den Mädchen, die mit mir in Deutschland waren. Jetzt lebt keine mehr von ihnen. Ich bin allein übrig geblieben, bin schon 83 Jahre alt.

Mein Schicksal: Ich heiratete, zog in einen anderen Ort im glei-chen Bezirk. Ich habe 3 Kinder (1 Tochter, 2 Söhne) erzogen. Alle haben bereits ihre eigene Familie. Ich lebe allein. Nicht weit von mir lebt meine Tochter; sie ist oft krank, kann mir nicht hel-fen. Ich erhalte eine Rente von 615 Rubeln. Alles ist teuer. Einen großen Teil des Geldes gebe ich für Medizin aus. So lebe ich.

Ich danke Ihnen […], dass sie uns, die ehemaligen Zwangsarbei-ter, nicht vergessen haben. Sie möchten der Jugend die Wahrheit erzählen über das Leid, das die Faschisten uns gebracht haben, uns 3 Jahre unserer Jugend gestohlen haben und unsere Gesundheit.

Gebe Gott Ihnen Gesundheit und Glück. Möge Frieden sein, niemals mehr sollen unsere und Eure Leute den Krieg erleben müssen.

Mit den besten Wünschen IhnenAntonia Michailowna

Antonia Michailowna Maistruk

Wopejenska

Guten Tag, […]Es schreibt Ihnen die ehemals in Frankfurt arbeitende Antonia Michailowna Maistruk, geboren am 20. Dezember 1924 im Dorf Ljubtsche, im Gebiet Roschitscheiskis, Wolinskai Bezirk.

Den Vater holten sie zur Front. Mein Bruder Pawel und ich und noch ungefähr 20 Menschen wurden gezwungen, das Elternhaus zu verlassen und in Deutsch-land zu arbeiten. Zu Hause bei der Mutter blieben noch 4 Kin-der. Natürlich schmerzt es immer noch, sich an diese Zeit zu erin-nern.

Im Frühling 1942 hat man uns nach Frankfurt geschickt, wir arbeiteten in einer Konservenfabrik. Wir trockneten Kartoffeln, Zwiebeln, wir kochten Konfitüre. Wir arbeiteten 20 Stunden am Tag in 3 Schichten. Der Meister, ein älterer Mann namens Wal-ter, hat uns menschlich behandelt.

Wir lebten in einer großen Kaserne. In einem großen Zimmer schliefen mehr als 50 Mädchen in Doppelstockbetten. Wir heiz-ten einen Ofen und froren deshalb nicht. Man hat uns in Ko-lonnen zur Arbeit geführt, wir arbeiteten 8 Stunden und gingen dann zur Kaserne zurück. Man zahlte uns sehr wenig. Es reichte gerade, um Selters zu kau-fen. Man ließ uns in der Freizeit zu fünft in den Laden gehen, um billige, von Deutschen bereits getragene Kleidung zu kaufen. Mit einem Wort: Sklaven. Nur Arbeit und Briefwechsel mit den Daheimgebliebenen. Wir sehnten uns nach Haus.

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Nach der Befreiung gab man uns keinerlei Dokumente. Damals waren wir noch jung, hofften auf Besserung. Aber jetzt gibt uns das Alter die Möglichkeit zu erkennen. Die linke Hand bewegt sich nicht, die Knochen schmerzen und der Rücken. Die Rente ist klein und im Land ist auch noch eine Krise, ein großer Teil der Rente wird für Krankenhaus und Medikamente verwen-det. Entschuldigen Sie, wenn ich irgendetwas nicht richtig schrieb, es sind viele Jahre vergangen, aber so etwas kann man niemals vergessen. Danke, dass sie die junge Generation an die Ereignisse erinnern. Hochachtungsvoll Antonina Michailowna

Antonia Michailowna Maistruk

Wopejenska

Guten Tag, verehrte Mitglieder der Gruppe zur Untersuchung der Schicksale von ehemaligen Zwangsarbeitern in Frankfurt (Oder). Es schreibt Ihnen die Teilnehmerin an der Widerstandsbewe-gung Maistruk, Antonina Michailowna. Entschuldigen Sie bitte, dass ich so spät geantwortet habe, ich bin hingefallen und habe mir die Hand gebrochen und bin auch schon 84 Jahre alt. Ja, wirklich, unsere Jugend verging mit Leid und Angst, der Fa-milie entrissen und von zu Hause weit entfernt. Uns 10 Mäd-chen und 6 Jungs hat man aus dem Dorf in Güterwagen nach Deutschland gebracht. Ich schicke ihnen eine Fotografie von mir aus dieser Zeit und ein Foto meines Bruders Pawel, der auch in Deutschland war. Wir hatten zweimal im Monat Kontakt; er arbeitete in einem Dorf, sah nach den Tieren, der Bruder hat mich manchmal be-sucht. Leider hat niemand von denen, die mit mir zusammen dort gearbeitet haben überlebt, auch nicht mein Bruder. Ich schi-cke noch eine Fotografie von russischen Soldaten, die wir im Krankenhaus pflegten. Wir lebten im Lager „Sanssouci“ in der Hindenburgstraße, nicht weit entfernt von der Konservenfabrik. In der Fabrik arbeiteten alte deutsche Männer und Frauen, wir redeten nur mit dem alten Meister Walter. Wir arbeiteten in drei Schichten zu acht Stunden. Das Essen war nicht nahrhaft, aber wir hungerten nicht. 130 Mädchen lebten in einem Saal, schliefen in Doppelstockbetten. Wir sangen ukraini-sche Lieder, weinten, halfen einander die Seelen zu stärken, wir konnten uns nicht damit abfinden, dass wir Menschen zweiter Klasse waren. Wir wollten lieben, wollten geliebt werden, doch es gab nur Arbeit und Schlafen. Von zu Hause bekamen wir Briefe, das waren glückliche Minu-ten. Die vergossenen Tränen wandelten sich in Freude - Nach-richten von der Heimat.

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Wir fuhren 3 Tage. Wir kamen in der deutschen Stadt Frankfurt (Oder) an. Man schickte uns zum Arbeitsamt, wohin auch deut-sche Arbeitsgeber kamen. Mich nahmen sie, um in der Konservenfabrik zu arbeiten. Mein Chef war Friedrich Heine. Ich arbeitete dort 3 Jahre. Wir lebten im Lager „Sansusi“ [Sanssouci]. Insgesamt arbeiteten dort un-gefähr 300 Mädchen, jeder gab man ein Holztäfelchen mit der persönlichen Nummer. Meine Nummer war 272. Die Tafeln wurden mit einem Faden um den Hals gehängt. Mit der Nummer wurde kontrolliert, ob die Arbeiter im Werk waren, wurde das Essen und Bettwäsche ausgegeben, ja und man wurde nicht mit Namen, sondern mit der Nummer gerufen.

Später, als alle Mädchen ihre Nummern kannten, wurde uns allen auf die Kleidung ein Aufnäher „Ost“ gegeben. Im Werk arbeiteten auch deutsche Frauen. Wir erhielten 3-mal am Tag Essen, aber es reichte nicht, oft blieben wir hungrig. Zum Früh-stück gab es Brot und Tee, mittags Suppe, Abendbrot - Milch-brei. Das Essen bereiteten unsere Mädchen. Vom Lager bis zum Werk war es eine Strecke von rund 2 km und wir gingen immer im Konvoi mit bewaffneten Soldaten. Im Werk stellten wir Produkte her – Konserven, wir trockneten Kartoffeln, Rüben für deutsche Soldaten. Wir hatten einen Auf-seher, der die Qualität der Arbeit kontrollierte. Wir bemühten uns gut zu arbeiten, weil wir Angst vor ihnen hat-ten. Wenn die Mädchen sich Früchte oder Beeren in den Mund steckten, schlugen die Aufseher sie.

Das Verhältnis der Deutschen zu uns, den ukrainischen Mäd-chen, war nicht ganz schlecht. Wenn wir gut arbeiteten und nicht stahlen, hat uns niemand geschlagen. Mit uns arbeiteten auch deutsche Frauen unter den gleichen Bedingungen wie wir und wir verstanden das, es war Krieg und allen ging es schlecht.

Freizeit hatten wir nicht. Wir arbeiteten an allen Tagen in der Woche, auch am Sonntag.

Galina Fjodorowna Matwiischina

Wischenki Guten Tag, […]!Es wendet sich an Sie die Bürgerin der Ukraine, Rentnerin, ehemalige Ostarbeiterin, Invalidin des Großen Vaterländischen Krieges – Matwiischina, Galina Fjodorowna.

Ich erhielt Ihren Brief durch Vermittlung des Ukrainischen Fonds „Gegenseitiges Verständnis und Versöhnung“ und ich bin Ihnen sehr dankbar dafür. Es ist sehr gut zu wissen, dass man mich und andere ältere Menschen nicht vergisst und dass sich die Jugend für uns interessiert und etwas über die Vergangenheit, über ihre Geschichte wissen möchte. So habe ich beschlossen auf Ihren Brief zu antworten.

Jetzt beginne ich die Erzählung mit meiner Biografie.Ich wurde in der Westukraine im Dorf Wischenki geboren, Be-zirk Roschischtschenskij, Woluinskij Gebiet. Ich wurde am 6. Januar 1925 geboren. Der Mädchenname war Pruimak, Galina Fjodorowna. Meine Eltern waren Bauern. Außer mir waren noch 3 Brüder und 2 Schwestern in der Familie. Ich war die Älteste. Ich beendete die polnische Schule mit der 4. Klasse (unser Ge-biet gehörte damals zu Polen). Nach Schulende beschäftigte ich mich im Haushalt, arbeitete auf dem Feld und half den Eltern.

1942 besetzten deutsche Soldaten unser Gebiet. Der Vorsitzende des Dorfrates kam zu uns ins Haus und sagte, dass die Deutschen alle jungen Mädchen und Burschen zur Zwangsarbeit sammeln. Natürlich wollte ich nicht dorthin, die Eltern weinten, weil sie verstanden, dass ich vielleicht nicht zurückkomme. Aber ich hatte keine Wahl. Ich musste fahren, weil die Deut-schen drohten, meine Verwandten umzubringen. Am 13 Mai 1942 schickte man uns mit dem Zug von der Station Roschitsche nach Deutschland.

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uns in ein Dorf, wo leere Häuser standen, man gab uns Essen und wir lebten dort ungefähr 2 Wochen. Dann setzte man uns in Booten über den Fluss an das andere Ufer, setzte uns in einen LKW und fuhr uns in ein anderes Dorf. In diesem Dorf arbeiteten die Mädchen auf dem Feld. Ich konnte nicht arbeiten, die linke Hand blieb verkrüppelt. Deshalb half ich, wie ich konnte, in der Küche. Wir blieben dort ungefähr einen Monat, dann kamen LKW’s. Wir stiegen ein und fuhren wirklich nach Hause.

Unsere Freude kannte wirklich keine Grenzen. Wir wurden nach Polen in die Stadt Poznan gebracht. Dort setzte man uns in den Zug, der in die Ukraine fuhr.

Als ich nach Hause kam, erkannte ich mein Heimatdorf nicht. Alles war von den Deutschen verbrannt, alle Häuser, sogar die Kirche. Meine Familie fand ich weit weg vom Dorf, in einem fremden Haus, das ganz geblieben war. Alle waren am Leben, nur ein Bruder war gefallen. Es war schwer, alles war zerstört, alle arbeiteten hart, um alles wieder aufzubauen.

Nach wenigen Jahren heiratete ich und bekam 3 Söhne.Jetzt bin ich 83 Jahre alt. Ich bekomme Rente, bin Kriegsinva-lide. 1998 bekam ich Geld als Entschädigung aus Deutschland, später auch einen zweiten Teil. Ich erhalte Vergünstigungen auf kommunale Dienste. Menschen in meinem Alter gibt es kaum noch in meinem Dorf und ehemalige Ostarbeiter gar nicht mehr, alle meine Bekannten sind schon gestorben.

Das ist alles, das Leben ist gelebt und die Erinnerungen blei-ben. Alles, an was ich mich erinnere, habe ich Euch geschrieben. Kann sein, dass etwas aus dem Gedächtnis verschwunden ist, doch verzeihen Sie, so ist nun mal mein Alter.Ich beende jetzt meinen Brief. Ich danke Ihnen nochmals dafür, dass Sie sich für mein Schicksal und mein Leben interessieren.Auf Wiedersehen. Ihnen alles Gute.

In den Läden konnten wir nichts kaufen, denn es war Krieg und alles wurde auf Marken an Deutsche verkauft.

1944–45 begannen bereits die Bombardierungen. Die sowjeti-schen Kämpfer näherten sich Deutschland. Am 18. 4. 1945 ar-beiteten wir im Werk, wie immer befahl man uns ins Lager zu gehen, die Sachen zu packen und nach Haus zu gehen. Aber wir verstanden, dass der Krieg noch nicht zu Ende war und man uns an einen anderen Ort bringen wollte, weil die Bomben zu fallen begannen und Alarm war. Im Lager gab man uns ein Verpflegungspaket für 3 Tage und Sachen. Auf der Straße sahen wir, dass aus der Stadt alle Ausländer eva-kuiert wurden. Wir wurden alle in Reihen zu 3 Menschen auf-gestellt und man führte uns in Kolonnen offensichtlich nach Westen. Wir sahen, dass weit von unserer Kolonne entfernt Bomben fie-len und explodierten. Als es auf der Straße dunkel wurde, hielten wir im Dorf Pilgram. Für die Nacht wurden wir zu einem Bauern in eine große Scheu-ne geschickt. Als wir uns hinlegten, begann man uns zu bombar-dieren. Neben uns fielen 2 Bomben, die das Gebäude zerstörten. Viele starben, viele wurden verwundet. Bis jetzt steht vor meinen Augen das schreckliche Bild: 2 tiefe, große Gruben, in denen tote, blutbedeckte Körper liegen und Verwundete ohne Hände oder ohne Beine flehen um Hilfe. Ich wurde an der linken Hand verletzt. Am nächsten Tag kam ein Lastwagen und man fuhr die Verwundeten in die Stadt Fürs-tenwalde. Im Krankenhaus entfernte man einen Splitter, machte einen Ver-band und schiente die Hand. Am nächsten Tag fuhr man mich dann mit dem LKW zum Zug. Alle Dokumente und auch die Kleidung blieben im Krankenhaus. Ich bat, mir alles herauszugeben, aber die Bomber näherten sich, alle beeilten sich und niemand hörte mir zu. Sie fuhren mich und die anderen Verwundeten, sogar deutsche Soldaten, mit dem Zug nach Westen über die Elbe. Man brachte

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terwegs. Im jeder Stadt haben wir Essen bekommen, aber nichts zum Mitnehmen.Drei Leute die aus Poltava waren, wurden in Lviv erschossen. Nicht darum erschossen, weil sie aus Poltava waren, sondern weil aus ihrem Wagon neunzehn Menschen abgehauen waren. So wurde uns allen Angst eingejagt. Der Zug ist sehr langsam gefahren, alle haben aber gesehen was passiert war, und hatten Angst zu fliehen.Wir kamen in der Stadt Lansburg in die Leinfabrik. Zum Früh-stück wurden uns 200 g Brot, ein Löffel Marmelade, ein Löffel Zucker und 200 g Margarine gegeben. Tee konnte man ohne Beschränkung trinken, Kartoffel und Suppe – zwei Mal am Tag. Die deutschen Mitarbeiter hatten ihr Frühstück von zu Hause mitgebracht. Der Arbeitstag betrug 10 Stunden, Sonntag war frei. Wir haben uns mit den Deutschen unterhalten, konnten uns aber nicht ver-ständlich machen. Sie wussten wir waren Ausländer, aber nicht Usbeken und Neger, sondern wie sie – blond und braun.Später, als die Deutschen auf dem Ruckzug waren, wurden wir zu einem Bauernhof im Dorf Tunow, Bezirk Koslin gebracht. Es war Bauernhofarbeit. Das Essen war, wie in der Fabrik, nur Kartoffeln konnte man kochen, so viel man wollte. Gearbeitet haben wir 10 Stunden, die Arbeit war aber schwer und dann noch der Krieg. Später wurden wir nach Funkenhagen im gleichen Bezirk ge-bracht. Da hat die Bauernfrau erzählt, der Hitler kam auf eine Bühne und sagte, dass eine neue Politik vollzogen würde, und diese Politik würde er machen. Wer reich war, der bleibt reich und wer arm war der bleibt arm. Die Diebe waren da, so werden sie auch weiter da sein und die Gefängnisse waren da, so werden sie auch weiter da sein. Die Prostitution war da, so wird sie auch weiter da sein. Die Armee ist für den Krieg bestimmt, so werden auch Kriege geführt. Und so hat er es auch gemacht.

Matwiischina, Galina Fjodorowna

Mykola Drohul

[…] Ihren Brief habe ich gelesen. Und es hat mich sehr lange bewegt. Dann habe ich mich entschieden, Ihnen zu schreiben. Ihr Brief ist bei meiner Nachbarin angekommen. Die ist aber schon lange tot. Ihre Tochter hat mir den Brief zu lesen gegeben.

In Frankfurt (Oder) war ich nicht, aber in Deutschland. Wir ha-ben uns mit meiner Nachbarin sehr oft über Deutschland unter-halten. Sie hat in einer Fabrik gearbeitet, die Kartoffeln und an-deres Obst und Gemüse getrocknet hat. Sie hat das alles erzählt. Ich überlege wie ich es schreiben soll, damit ich „mein Vater nicht verachte und fremde Väter nicht lobe“. Es gibt auch sehr viel zu schreiben. Ich versuche wenigstens etwas zu schreiben:Als die Deutschen in mein Dorf gekommen waren, hatten sie gute Technik dabei und sprachen untereinander deutsch. Wir haben nichts verstanden. Es waren die Fremden. Am dritten Tag hatten sie einen Mann getötet, der zwei Kinder hatte. Nicht darum getötet, weil er zwei Kinder hatte, sondern weil der ein Pferdehalfter und im anderem Dorf ein Pferd geklaut hat. Das Böse hatte keine Humanität, der Mann hatte keine Pfer-dehalfter und wusste wahrscheinlich nicht, dass im Krieg „guckt man nicht in das Maul“.

Im Jahr ’43 war ich nach Deutschland eingezogen. Ich weiß nicht ob ich freiwillig oder gezwungener Maßen dahin gekommen war. In einer Liste habe ich unterschrieben, dass ich abgehauen war. Hätte ich es nicht getan, wäre meine Mutter getötet und das Haus in Brand gesteckt worden. Vater hatte ich keinen. Ich war nirgendwo und habe nichts gesehen. Im Dorf waren nur Staub und einfache Häuser. Als ich nach Kiew gebracht wurde, fuhren da Straßenbahnen und war alles sauber, trotzdem Krieg war. Wir waren 10 Tage un-

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im Garten, und sammelt die Noten. Das Leben was die Kurkuli hatten, werden auch die Armen haben.“Die Kurkulis waren fleißige Bauernleute, und Stalin mit seinen Kommunisten hatte es nicht gepasst. Sie wollten Leibeigenschaft schaffen, aber die Leute wollten es nicht. Dann haben sie die Leute beklaut und haben den Hunger geschafft. Ich weiß nicht, wie ich überlebt habe. In meiner Familie sind 4 Brüder, 2 Schwestern und der Vater vor Hunger gestorben. Überlebt haben nur mein älterer Bruder und ich. Mein älterer Bruder war auch in Deutschland. Jetzt ist er schon tot.

Wissen Sie, ich weiß nicht, warum manche Leute die Deutschen schlecht machen.Als wir im Zug nach Deutschland waren, hatten die Ärzte uns untersucht, wir konnten uns waschen, damit wir keine Läuse kriegen. Am Sonntag durften wir spazieren, in die Stadt fahren und Fußball spielen. Wer es nicht versteht, der sollte nachden-ken, wie viel junge Leute waren im Krieg gerettet. Kein Mensch von uns ist durch Bombardierungen ums Leben gekommen. Die Deutschen haben uns gezwungen in die Lüftschutzräume zu ge-hen, weil unsere Leute stur sind. Die Deutschen haben uns die Kompensierung gegeben, für was? Aber die Deutschen haben so viel Anstand und Verstand, dass sie sich das leisten konnten. Und was ist mit unserem Vater Staat? So viel Schlimmes hat das Regime uns angetan - und keine Kom-pensierung, nicht einmal ein gutes Wort.

Diesen Brief können Sie allen vorlesen, besonders dem jungen Volk. Weil ich in meinen 83 Jahren keinen Menschen getroffen habe, der mir erklären konnte, was Krieg ist. Der Krieg ist durch Gott zugelassen worden, und zu beurteilen wer ist derSchlechte und wer ist der Gute, ist nicht erlaubt. Denken Sie selber nach, Gott schickt uns Gewitter, die Schiffe auf dem Meer versinken, die Flugzeuge stürzen ab, und Stalin und Hitler sind schon lange nicht mehr auf dieser Welt, aber die Kriege werden weiter geführt. Und wenn nicht die Kriege, denn wird Boxkampf

Als ich frei gelassen wurde, wurde ich zur Bewährung in die sow-jetische Armee einberufen. Für die war ich ein Betrüger. Zuerst musste ich an dem Fluss Wisla eine Brücke bauen. Später an der Oder, der Fluss musste forciert werden. Damals war die Oder doppelt [breit]. Und als die Deutschen auf dem Rückzug gewesen waren, mussten wir im Fluss die Brücke bauen. Es war kein Platz zum Trocknen da, keine Arbeitszeit wurde uns genannt und kein freier Tag gegeben. Später musste ich nach Leningrad.

Im Jahr ’47 durfte ich nach Hause, aber nicht fahren sondern zu Fuß gehen, weil die Bahnstrecke von uns 50 km entfernt war. Aber hier war nicht Deutschland, sondern die Heimat. In der Kolchose arbeitete ich vom Sonnenaufgang bis Sonnenunter-gang, ohne Frei zu haben. Und auch ohne Essen. „Fast die Eiche abgeschnitten.“ Es ist ein Sprichwort: Wenn bei uns ein Mensch stirbt, wird aus einer Eiche ein Kreuz rausgeschnitten. Aber ich habe ausgehalten.

Im Jahr ’32–’33 haben mich die Hühner gerettet. Ich bin im Un-kraut neben meinem Haus vor Hunger eingeschlafen. Die Hüh-ner haben mich entdeckt und haben angefangen zu schreien. Die Nachbarstochter hat mich gesehen, und Ihre Mutter gerufen: „ Mykola ist tot!“. Die Nachbarin hat mir Milch in den Mund laufen lassen. Dann habe ich die Augen aufgemacht. Sie hatten eine Kuh. Dann hat sie mirBorschtsch mit Sahne zu essen gegeben. Dann bin ich weiter gegangen.Ein Alter hat damals Volksgedichte gesungen, ich kenne bis heu-te noch einige:„Stalin läuft in den Garten und sammelt die Birnen, die Leute hat er in die Kolchose getrieben und zieht die letzte Seele raus.“ Ein Milizionär hat das Lied gehört, den Alten verhaftet und wollte ihn in den Knast bringen. Und der Alte sang: „Was ist denn das für eine Zeit, dass die Milizen die Alten verfolgen.“ Der Milizionär hat den Alten losgelassen und ihm befohlen still zu sein, aber der Alte nach einiger Entfernung wieder: „Lenin läuft

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27. Juli 2008.

Sie haben mich gebeten auf Russisch zu schreiben, aber ich kann kein Russisch. So wie Sie kein Ukrainisch. Schreiben Sie mir aber nicht auf Deutsch, weil ich hier keinen Übersetzer habe und Deutsch kann ich auch nicht, obwohl ich drei Jahre in Deutsch-land war. Ich konnte ein paar Wörter, aber jetzt habe ich die schon vergessen. Oksana Nikolaychyk bestellt Ihnen schöne Grüße. Sie sollen ganz leicht aufstoßen.

getrieben. Die Leute sagen, das ist eine Sportart, und zahlen noch Geld um zu sehen, wie einer dem anderem das Gesicht zerschlägt, und lachen noch dazu.

Jetzt beschreibe ich ein bisschen mein Privatleben. Ich lebe so, wie im Himmel. Das kommunistische Gewitter ist vorbei. Gott sein Dank. In unserem Dorf gibt es drei Geschäfte, das vierte ist ein Lebensmittelgeschäft auf Rädern. Geld habe ich auch. Ich bekomme eine Rente. Die Blaubeeren im Wald wachsen, die Leute sammeln sie und verdienen so bis zu 200 Hrywnja pro Tag. Ich habe zwei Töchter, die in Kiew wohnen. Mein Sohn wohnt in meinem Dorf, nicht weit von mir. Meine Frau ist gestorben, ich wohne allein im Haus. Auf meinem Bauerhof habe ich nur ein Pferd, weiter nichts. Aber das Pferd ist so klug, dass ich manch-mal denke, es hat mehr im Kopf als ich. Das war ein Scherz.

So […], besuchen Sie mich! Besuchen Sie mich in allen Jahres-zeiten. Im Winter ist es aber besser. Ich mache den Ofen an, und im Haus wird es so warm wie in der Banja. Ich habe gehört, bei Euch spart man alles. Bei uns spart man nichts, wir haben alles, den Wald, das Gas und besonders viele Penner. Aber auf die Penner guckt bei uns keiner. Weil diese Leute faul sind, und Alkoholiker.

Die Leute, die arbeiten, haben Autos, Traktoren, und leben gut. Zu meinen Zeiten wurde gesagt, dass ein Auto ein besonderer Reichtum ist, heute sagt man, dass das Auto ein notwendiges Transportmittel ist.

Wenn Sie im Dorf fragen, wo wohnt der Drohul Mykola, dann würde Sie jeder im Dorf zu meinem Haus führen. Weil jeder mich kennt und meinen Sohn.[…] ich warte auf Ihre Antwort. Wenn ich etwas Unbrauchbares aufgeschrieben habe, denn streichen es weg. Ich bin ein Mann ohne Arbeit, aber irgendetwas muss ich doch machen.

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Die Reise

Im Laufe des Jahres 2009 ergaben sich Möglichkeiten, eine Kurz-reise in die Ukraine durchzuführen. Von der Arbeitsgruppe reis-ten Matthias Dörr und Burkhard Koller, um Frau Salucha und Frau Meschtschenko zu besuchen, mit ihnen Gespräche zu füh-ren und damit Vorhandenes zu verdichten.

Über die Reise wurde ein Kurzbericht geschrieben, da die Aus-wertung der Reise bis zum Redaktionsschluss dieser Publikation nicht endgültig erfolgen konnte.

Wir veröffentlichen hier in einem besonderen Teil die Briefe dieser Frauen, von ihnen zur Verfügung gestellte Fotos und den kurzen Reisebericht, um auf die weitere umfassende Auswertung einzustimmen.

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trieb man uns aus den Waggons auf die Straße. Viele der An-kommenden wurden von Einwohnern für die Feldarbeit mitge-nommen. Rund 200 Menschen, darunter auch ich, wurden nach Frankfurt (Oder) geschickt, um in der Konservenfabrik zu arbeiten. Man brachte uns in ein Gebiet, das von einem zwei Meter hohen Zaun umgeben war und auf dem Zaun war noch Stacheldraht. Wir lebten in Baracken, schliefen in Doppelstockbetten. Die 2 Kilometer zur Arbeit und von dort zurück wurden wir im Konvoi geführt. Wir arbeiteten in 3 Schichten. Jeder trug auf der Brust ein Schild mit seiner Nummer und Nationalität – meine Nummer war 275.

Wir hungerten bis zur Bewusstlosigkeit, fielen vor Erschöpfung am Arbeitsplatz um. In unserer Freizeit erinnerten wir uns oft an die heimatliche Ukraine, die Familien; wir erinnerten uns, dass man zu Haus Kartoffeln nur für die Schweine kochte, während man sie uns hier zu großen Feiertagen gab. Unsere Verwalterin war die Schwester des Hausherrn. Sie gab uns unsere tägliche Essensration: 100 g Brot früh und 200 g abends. Außerdem gab man uns noch gekochte Steckrüben und die wa-ren immer mit Würmern. Ich erinnere mich, wie die Gefange-nen vor Leid und Hunger weinten und sich dabei so laut an die Daheimgebliebenen erinnerten, dass die Aufseher die örtliche Polizei riefen, die mit Stöcken die Ruhe wiederherstellte.

Als die Front näher kam, schickte man uns nach Berlin. Auf der Fahrt erlaubte man uns nicht, ein Streichholz anzuzünden. Trotzdem wurden wir von Flugzeugen angegriffen und die Hälf-te der Menschen starb. Die Überlebenden hoben eine große Gru-be aus, in der alle Toten begraben wurden. Die Front näherte sich schneller, als wir uns bewegten. Kurz vor Berlin verließen uns die Deutschen. Wir sollten uns in einem Bunker verstecken, bis unsere Soldaten kämen. Da wir nicht wussten wohin, saßen wir dort 2 Tage. Bei

Jewgenija Fjodorowna Salucha

Ljuboml

Guten Tag.

Ich, Salucha, Jewgenija Fede-rowna (bis zur Heirat Suchetz-ka) wurde am 10. 4. 1924 im Dorf Bereschtzui, Bezirk Lju-bomlskoi, Wolainskij Gebiet geboren.

Im Zusammenhang mit dem Näherkommen der Front 1940 wurden die Einwohner in das Dorf Nasatschewaitschi im Bezirk Roschitschankij umge-siedelt.

Im Mai 1942, früh um 4 Uhr, begann die Razzia. Man erklär-te nichts und Bewaffnete sam-melten die arbeitsfähige Jugend im Alter von 18 bis 30 ein. In Roschitsche trieb man uns in bereitstehende Güterwagen und fuhr uns, wie sich später herausstellte, nach Deutsch-land. Während der Fahrt aßen wir, was uns von zu Haus mitzu-nehmen gelungen war. Die Fahrt dauerte ungefähr 2 Tage. In Deutschland – ich erinnere mich nicht an den Namen der Stadt, in die man uns brachte –

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Zum Spaziergang in die Stadt ließ man uns zu viert, oder fünft, in Begleitung einer Aufsichtsperson, das war am Anfang, später gingen wir auch allein. Sie fragen in Ihrem Brief, wie sich die einheimische Bevölkerung zu uns verhielt, ich kann dazu nichts Schlechtes sagen, sie schau-ten einfach, wie man auf Menschen schaut. Auf den Spaziergängen lernten wir auch Menschen aus den ande-ren Lagern kennen, darunter sogar Franzosen. Wir verständigten uns mit ihnen auf Russisch, wenn wir einander nicht verstehen konnten, erklärten wir uns mit Hilfe der Hände. An den freien Tagen machten wir Konzerte, auf denen wir sangen und tanzten. Während der Zeit meines Aufenthalts in Deutschland wurde mir auf chirurgischem Weg der Blinddarm entfernt. Das war eine Erholung für mich. Vielen Dank den Doktoren und Schwestern, dass sie mir das Leben retteten. Und noch einmal vielen Dank für die gute Betreuung und das gute Verhältnis während der Zeit der Genesung.

Sie müssen unbedingt zu uns in die Ukraine kommen. Ich werde immer glücklich sein, Sie zu sehen und helfe Ihnen so, wie ich kann. Ich schicke Ihnen die Fotos meiner Freundinnen. Auf der ersten Seite, von links nach rechts: Ich, Ewgenija Fjo-dorowna […], Katja - Roschuitschanskij Gebiet, Maria Tschech - Charkow, Natascha Danai, Antonina Porutschnik, Galja, Galja, Natascha Sawtschuk. Zweite Seite: Nadja, Galja Matwitschuk, Natascha, Maria, Olga

Mit Verehrung Ewgenija Fjodorowna

Hunger und Kälte beteten wir Tag und Nacht, dass man uns schnell finde. Dann entdeckten uns unsere Soldaten, brachten uns in irgend-eine Stadt, in der wir noch ein halbes Jahr blieben, bis man uns nach Hause schickte. Im April 1945 kehrte ich nach Haus zurück.

Nach der Rückkehr arbeitete ich 36 Jahre in der Stadt Ljuboml in einer Wurstfabrik.

Ich möchte sehr gern, dass Sie […] in die Ukraine kommen. Ich würde mehr über die Sie interessierenden Jahre erzählen und Fotos davon zeigen.

Mit HochachtungJewgenija Fjodorowna

Jewgenija Fjodorowna SaluchaLjuboml

Guten Tag, sehr geehrte, gute Menschen. Ich gratuliere Ihnen zum Neuen Jahr und den Weihnachtsfeiertagen, ich wünsche Ihnen Frieden und Gesundheit.

Es ist sehr angenehm, dass es noch jemanden in unserer Zeit gibt, der sich für die ferne Vergangenheit interessiert. Danke für die Fotos, die sie schickten. Es ist sehr viel Zeit vergangen, ich kann mich nicht an die Stra-ßennamen erinnern. Dort, wo sich unser Lager befand, ging dreißig Meter entfernt von uns eine Eisenbahnlinie entlang. Der Weg ging über eine Brücke.

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wickelt). Dann wurde das Leben etwas leichter, aber es begann der Krieg.

Als der Krieg begann, beendete ich gerade die 8. Klasse. Ich lern-te gut – am meisten liebte ich Mathematik und Geographie. Im Sommer 1941 kamen die Deutschen in unser Dorf und 1943 verschleppte man mich nach Deutschland, man erzählte mir, wie gut ich dort leben werde, dass ich Schuhe und Kleidung bekomme. Ich wollte nicht fahren, aber man schleppte mich mit Gewalt ins Gefängnis (das war der Ort, wo man die Menschen aus dem ge-samten Gebiet sammelte). Zum Gefängnis ritten wir auf Pferden unter Bewachung von Deutschen und Polizei mit Maschinen-pistolen. Nach 2 Wochen gab man uns ein Brot und ließ uns in 2 Rei-hen in Kolonnen im Hof des Gefängnisses aufstellen. Vor dem Gefängnis standen unsere Eltern, Brüder und Schwestern. Als sich die Tore des Gefängnisses öffneten, stürmten alle Verwand-ten auf uns zu, aber die Deutschen und die Polizei schossen in die Luft. Die Familien gingen zurück und wir begannen laut zu schreien, zu weinen. Auch unsere Verwandten weinten.

Uns trieb man wie Vieh zur Bahnstation, 30 km entfernt, ohne Pause, man hörte nur „schnell, schnell“.An der Station wurden wir in Güterwagen verladen, die Türen verschloss man und der Zug begann sich zu bewegen. Am Tag waren die Türen einen Spalt geöffnet, in der Nacht wurden sie verschlossen. Wir wurden in jedem Waggon von 2 Deutschen mit Maschinenpistolen bewacht. Auf dem Weg wurden wir bombardiert. Nachdem die Schienen repariert waren, setzte sich der Zug erneut in Bewegung.

Wir kamen in Deutschland an, man holte uns aus dem Waggon und wir erblickten viele Menschen in bürgerlicher Kleidung. Dann begannen diese Leute (es waren Deutsche) auszuwählen – einer Mädchen, einer Jungen. Für die Arbeit in der Landwirt-schaft suchte man kräftige junge Menschen. Dann kam das

Uljana Weremejewna Meschtschenko

Ruischanowka

Guten Tag, […] Ich, Meschtschenko, Uljana Weremejewna, bin sehr froh über ihren Brief, und darüber noch am Leben zu sein und antworten zu können.

Frau Meschtschenko (links), September 2009

Ich bin am 14. 10. 1925 in der Familie eines Kolchosbauern ge-boren. Als ich 2 Jahre alt war, starb meine Mutter. Von 1932 bis 1933 war eine Hungerszeit. Ich erinnere mich sehr gut, dass wir Gras, Lindenblätter, Akazienblüten aßen und im Kindergarten gab man uns Bohnenbrühe, aber es reichte nicht und ich war aufgedunsen vor Hunger. 1933 kam ich in die Schule. Das waren schwere Jahre (es gab weder Kleidung noch Schuhe, die Füße wurden mit Lappen um-

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Ich erinnere mich, dass es einmal Aprikosen gab, die wir entstei-nen mussten. Als der Meister wegsah, steckte ich eine Aprikosen-hälfte in den Mund, aber ich konnte sie nicht runterschlucken. Der Meister kam zu mir und schlug mir dermaßen ins Gesicht, dass das Stück aus meinem Mund flog.Weihnachten und Ostern gab man uns 3 Kartoffeln, 3 Löffel Blaukraut (Rotkraut), ein kleines Stück Brot – für den ganzen Tag. Die Meister in der Fabrik waren unterschiedlich, gut oder böse. Eine 50-jährige Frau war sehr gut, half und verteidigte uns. In 2 Jahren gab man uns weder Kleidung noch Schuhe. Man gab uns Holzpantoffeln, mit ihnen gingen wir in Kolonnen zur Fabrik in Begleitung von Polizei. Für 30 Tage Arbeit gab man uns 30 Franken [Mark]. Für dieses Geld konnten wir Ketten, Ansichtskarten und Bildchen kaufen. Im Laden gab man uns keine Lebensmittel, weil wir auf der Kleidung eine Markierung hatten: „OST“. Ohne das durften wir nicht in die Stadt. Wir hatten keinen freien Tag. Wenn wir Nachtschicht hatten, durften wir am Sonntag tagsüber für 2 Stunden in die Stadt spazieren.Wir standen um 5 Uhr auf, um 6 Uhr begann die Arbeit, wir arbeiteten bis 6 Uhr abends. Die zweite Schicht war von 6 Uhr abends bis 6 Uhr früh.Die Kranken wurden nicht behandelt. Wenn man krank wurde, wurden man aus der Stadt in eine bestimmte Baracke gebracht und starb dort. Meine Freundin bekam Tuberkulose. Sie hat man in diese Baracke gebracht, wo solche Kranken waren. Man gab ihr Hirsebrot und Wasser, heilte sie nicht und meine Freundin starb dort.

Anfang April 1945 trieb man uns zum Gräben ausheben. Wir gingen in Kolonnen, wir wurden bombardiert, viele starben und viele wurden verwundet. Nach 4 Tagen liefen 18 Mädchen in den Wald, darunter war auch ich. Um den Wald waren Gräben und in ihnen saßen wir 4 Tage. Nebenan auf dem Feld standen Kühe, die wir gemolken haben. Von dieser Milch haben wir uns ernährt. Ein Mädchen schlich sich als Kundschafter ins Dorf.

Kommando, wenn es Verwandte gibt, sollte man sich zu zweit aufstellen. Aus unserem Dorf kamen 6 Mädchen, wir stellten uns zu zweit auf. Aus dem Gebiet kamen 12 Mädchen, sie standen auch zu zweit. Uns 18 Mädchen nahm eine Frau mit. Man setzte uns auf einen Lastwagen und fuhr zum Lager nach Frankfurt (Oder). Im Lager trafen wir auf Mädchen, die dort bereits ein ganzes Jahr arbeiteten. Wir umarmten uns und weinten. Sie fragten uns, wie es unserer Ukraine geht. Wir waren sehr hungrig und glaubten, dass man uns nun zu essen gibt, aber man gab uns nur 2 kleine Stückchen Brot und Steckrüben. Wir wussten nicht, dass dieses Essen (Steckrüben) so scheußlich schmeckt. Die Mädchen, die dort schon ein Jahr waren, sagten: „Gewöhnt euch daran!“Man gab uns Betten, Decken und Laken. In der ersten Nacht bissen uns die Wanzen. In den Unterkünften gab es eine Dusche, Waschraum und Toilette.

Man gab uns eine Nummer und rief uns nicht beim Namen. Mei-ne Nummer war 201. Das Haus, in das man uns brachte, hatte nur eine Etage, war entweder ein Theater oder ein Kino. Im In-nern war ein großer Saal und ein Bühne. Hier lebten ungefähr 300 Mädchen.

Ich arbeitete in der Fabrik, in der Marmelade hergestellt wurde. Wir trockneten Kartoffeln, Zwie-beln, Möhren. In die Konserven packten wir grüne Erbsen, Spi-

nat, Blumenkohl. Wir arbeiteten 12 Stunden. Die Zeiten unserer Ankunft und Beendigung der Arbeit vermerkte man auf Karten mit unserer Nummer. Uns wurde das Essen nicht gestattet.

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Ich habe viele Erinnerungen. Wenn wir uns treffen würden, könnte ich viel erzählen.

Nehmt meine herzlichen Grüße an, auch von allen, die im Dorf Ruischonowka leben, Bezirk Swenigorodskaja, Gebiet Tscherassi, Ukraine.

Ich bin sehr froh, meine Erinnerungen mit Euch teilen zu kön-nen. Ich hoffe, dass Eure Jugend meine Erinnerungen hört und eigene Schlussfolgerungen zieht.

Mit Hochachtung MeschtschenkoUljana Weremejewna27. 7. 2008Ukraina

Handschriftlich:Ich möchte noch hinzufügen, dass aus unserem Dorf 6 Mädchen in Eurer Stadt in der Marmeladenfabrik waren, alle sind schon gestorben. Ich bin allein übrig geblieben. Aus dem Nachbarbe-zirk unseres Gebietes kamen 12 Mädchen. 10 sind gestorben, zwei sind übrig geblieben und sehr krank. Die Enkel leben 500 km entfernt von mir, sie kommen einmal im Jahr. Mir fällt es sehr schwer allein zu leben. Die Enkel kön-nen mich nicht mitnehmen, sie haben keine Wohnung, sie be-wohnen nur Zimmer.Diesen Brief habe ich 3 Mal umgeschrieben. Zuerst schrieb ich auf ukrainisch. Dann habe ich eine Lehrerin gebeten, sie hat ihn ins Russische übersetzt. Ich habe ihn erneut umgeschrieben. Dann bat ich ein Mädchen aus der Buchhaltung und sie hat ihn gedruckt. Dann habe ich Ihnen diesen Brief geschickt und ich wünsche sehr, dass er sie erreicht.

Mit Hochachtung U. Meschtschenko

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Abends kehrte sie zurück und übermittelte uns die frohe Neuig-keit, dass die Rote Armee im Dorf war. Die Soldaten gaben ihr zu essen und gaben uns Nahrungsmittel mit (Brot, Pfefferkuchen). Wir warteten bis es dunkel wurde und gingen dann ins Dorf, wo wir von den Soldaten freudig begrüßt wurden. Wir waren sehr froh, befreit worden zu sein und bald in die Heimat zurückkehren zu dürfen. Wir wuschen uns, zogen uns um, dann gingen wir auf einen Lastwagen und fuhren nach Landsberg zur Sammelstelle. Dann schickte man uns die Fabrik abzubauen.

Am 24. 9. 1945 kehrte ich nach Hause in das Dorf Ruischanow-ka zurück. Ich arbeitete in der Kolchose, überlebte den Hunger 1947. 1950 heiratete ich.Mein Mann war Invalide der 1. Gruppe des Großen Vaterlän-dischen Krieges. 1950 habe ich einen Sohn geboren, der 1952 starb. Am 26. 4. 1953 wurde der zweite Sohn geboren. 1959 starb mein Mann.Mein Sohn heiratete 1977. Ich habe 2 Enkel – Wladimir und Viktor – und die Urenkelin Olja – 5 Jahre.

Jetzt trage ich ein großes Leid. Am 22. 5. 2006 fuhr mein Sohn, er war 55 Jahre alt, ins Krankenhaus und kam nicht zurück. Er verschwand auf dem Weg ins Krankenhaus. Ich ging zur Miliz und habe mich auch an die Sendung „Warte auf mich“ gewandt. Aber ohne Ergebnis. Ich lebe allein. Die Rente ist klein (563 Griben) – ich kann damit nur die Medikamente und die Dienstleistungen bezahlen. Ich bin sehr krank. Ich habe Hypertonie, einen Infarkt überstanden, [… Übersetzungsproblem] kranke Leber, Nieren.Ich weine Tag und Nacht, weil mein einziger Sohn verschwun-den ist. Ich bin schon 83 Jahre. Wenn mein Sohn mich erwarten würde, könnte ich ruhig sterben.

Ich habe alles kurz aufgeschrieben, wenn ich alles aufschreiben würde, würde das Papier nicht in den Umschlag passen. Meine rechte Hand schmerzt und ich kann nicht lange schreiben.

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Als man uns aus Frankfurt(Oder) hinauswarf und nach Berlin trieb, Schützengräben zu graben, hatten wir in unseren Taschen kleine Ikonen, Karten und Ketten. Die erste Nacht übernachteten wir in irgendeinem Dorf in gro-ßen Scheunen, in dem Traktoren und Combines standen, das Inventar lagerte und Getreide. In dieser Nacht wurde das Dorf stark bombardiert und eine Bombe fiel auf den Platz, wo wir übernachteten, ich erinnere mich, dass alles hell wurde und an Explosionen. Wir liefen alle hinaus zum Feld, in einen dunklen Wald. Als sie aufhörten uns zu bombardieren, sammelten wir uns alle an einem Platz und erblickten ein tragisches Bild, viele unserer Mädchen sind getötet worden, Lena lag mit einer abgerissenen Hand. Anja war ein sehr fröhliches Mädchen, sie hatte von zu Hause eine Harmonika mitgebracht und spielte im Lager darauf, die Mädchen tanzten und sangen fröhliche Lieder und Anja ver-lor beide Beine. Ich weiß nicht, ob sie überlebt hat. Lena hat mir später Briefe geschrieben, über das Schicksal von Anja wusste sie auch nichts. Lena kehrte nach Hause zurück und hat als Postbo-tin gearbeitet. Deshalb blieben alle unsere Sachen in diesem Dorf. Die zweite Nacht schliefen wir im Wald und wurden wieder bombardiert, wir lagen die ganze Nacht auf den Knien und be-teten zu Gott, damit die Bomben nicht in unseren Unterstand fielen und wir hatten Glück, wir blieben am Leben, und dann hat man uns weiter nach Berlin gejagt und wieder bombardiert, alle liefen in den Wald, als wir dort in den Unterständen über-nachteten, sahen wir auf dem Feld Kühe. Die Kühe hörten uns Menschen und kamen zu uns, sie hatten pralle Euter und wir begannen sie in die Hände zu melken, weil wir nichts hatten in das wir melken konnten, wir waren schmut-zig, barfuß und zerlumpt.

Uljana Weremejewna Meschtschenko

[…] Ich erhielt Ihren Brief am 7. Januar 2009. Ich bin sehr dankbar für Ihren Brief, denn ich erhielt zwei: einen von Ihnen und einen von Ihren Freunden. Ich danke für die Fotografien Ihrer Frau und der Kinder und die Fotos von der Fabrik und von Ihnen. Mir erzählt mein Herz, dass Sie ein sehr guter Mensch sind. Ich befinde mich jetzt sehr weit von meinem Haus entfernt, mein Enkel hat mich zu sich geholt, weil ich sehr krank bin und ich im Winter nicht allein bleiben kann in meinem Haus. In unserem Dorf gibt es kein Gas, deshalb heizen wir mit Holz, das Wasser muss man tragen und aus dem Brunnen holen, und das fällt mir schon schwer.

Meinen Sohn habe ich bisher nicht gefunden. Ich habe schon drei Briefe nach Kiew an die Sendung „Warte auf mich“ geschrie-ben und einen nach Moskau, aber bis jetzt ohne Erfolg. Ich habe schon meine ganze Gesundheit hinaus geweint. Vielen Dank für die Karte zum Geburtstag. Sie haben geschrie-ben, dass sie Ende Februar, Anfang März kommen wollen, beei-len Sie sich nicht, weil es noch sehr kalt sein wird und zweitens ist es bei uns Anfang März sehr dreckig, im Dorf sind die Stra-ßen nicht asphaltiert, nur die Hauptstraße. Ich schlage vor, sie kommen in der zweiten Hälfte des März oder Anfang April. Ich werde Ihnen viel erzählen über Deutschland, was ich in den 2 ½ Jahren dort erlebte. Ihre Freunde fragten, ob nicht irgendwelche Fotografien oder andere Sachen geblieben sind, ob ich mich an Straßennamen erinnere, Ortsnamen. Auf diese Fragen antworte ich: Ich habe keine Fotografien, die Straßen kannten wir nicht, weil uns niemand gesagt hat, wie die Straßen heißen durch die wir in Kolonnen geführt wurden, zu beiden Seiten Polizei, Sachen habe ich auch nicht behalten.

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Eine Reise in die Ukraine

Zu dritt fuhren wir aus Frankfurt (Oder) im September 2009, eingeladen von Frau Salucha und Frau Meschtschenko, in die Ukraine. Beide stehen als Zeitzeuginnen stellvertretend für viele Menschen, die während der Zeit des Faschismus in unsere Stadt verschleppt worden waren, um hier unter unwürdigsten Bedin-gungen Zwangsarbeit zu leisten. Mit dem Zug fuhren wir vom polnischen Rzepin an die polnisch - ukrainische Grenze, nach Ljuboml zu Frau Salucha. Herzlich war die Begrüßung durch Frau Salucha und ihre Familie. Wir spürten große menschliche Wärme und offenherzige Gast-freundschaft, die unter anderem in großzügiger und einfallsrei-cher Bewirtung zum Ausdruck gebracht wurde.

Frau Salucha (4. v. l.) September 2009

Uljana Weremejewna Meschtschenko

Ich möchte noch über das Dorf schreiben, in dem unsere Sol-daten waren. Wie wir zu diesem Dorf kamen, wo unsere Armee war, hatte ich schon geschrieben, nun schreibe ich die Hauptsa-che, in dem Dorf gab es keine Deutschen, es blieb allein ein alter Mann, er wollte sein Haus nicht verlassen, alle anderen waren evakuiert, durch das Dorf liefen nur Kühe, Schweine, Hühner, sogar Schafe. Unsere Soldaten waren in jedem Alter, Junge und Alte, sogar bis 55, wir waren wohl sehr schrecklich, denn man sagte uns, dass wir in die Häuser gehen sollen, uns waschen, kämmen und umziehen, denn im Dorf war niemand und in den Schränken lagen Sachen. Sie sagten, wir sollen in die Häuser ge-hen und uns aus den Schränken nehmen. Es gab dort vor allem Wäsche, Bett- und Kissenbezüge. Ich nahm mir sechs davon. In diesem Dorf übernachteten wir und am zweiten Tag sagte uns der Oberst, dass hier die Frontlinie ist und wir nicht bleiben können, weil am frühen Morgen der Angriff sein wird. Man gab uns einen Lastwagen und brachte uns in die Stadt Landsberg zum Sammelpunkt. Diese Bett- und Kissenbezüge bewahrten meine Eltern auf, weilsie drei Töchter hatten und dachten, dass wenn sie heiraten jede 2 Bettbezüge und 2 Kissen bekommt. Nach dem Krieg waren alle barfuß und hungrig, aus den Soldatenmänteln nähte man sich Röcke. 1947 war ein Hungerjahr und ich brachte die Bezüge in die Westukraine und tauschte sie in 32 kg Getreide, ich bin damals beinahe gestorben, wir fuhren in Kohlewagen bei –25 Grad und warme Kleidung gabes nicht, wir wärmten uns gegenseitig, Menschen gab es viele. Ich erkältete mich sehr.

Wenn wir uns treffen, erzähle ich sehr viel.Mit Verehrung für Sie und Ihre FamilieUljana Meschtschenko

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Frau Meschtschenko, 3. v. r., September 2009

Bereits am nächsten Morgen fuhren wir nach Kiew zurück, wo wir Gelegenheit fanden, ein bisschen von der herrlichen Stadt am Dnepr kennen zu lernen.

Wir hatten Momenteindrücke von einem großen Land erhalten, waren Menschen persönlich begegnet, die uns tief beeindruck-ten. Sie haben nichts vergessen von dem, was ihnen angetan wurde, aber wir waren ihnen Freunde und als solche willkom-men. Sie begegneten uns mit Aufmerksamkeit und Achtung und das ist das große Geschenk, das wir mit nach Frankfurt (Oder) brachten.

Nein, ich übertreibe nicht: Wir sind uns ans Herz gewachsen.Und das legt uns die Verpflichtung auf weiterzumachen, das Schicksal von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern zu er-forschen und ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu tragen

Ljuboml ist eine kleine dörflich geprägte Stadt mit ungefähr 8 000 Einwohnern. Diese lebten bis zur Erklärung der Unabhän-gigkeit der Ukraine hauptsächlich von der Landwirtschaft. Wir erfuhren, dass in Ljuboml viele Menschen arbeitslos sind. Nach der „Orangen Revolution“ wurden durch Gesetze des Präsiden-ten die Kolchosen und Betriebe aufgelöst und privatisiert. Heute liegt sehr viel Ackerland brach. Wegen geringer Einkommen sind die Menschen zumeist auf Selbstversorgung angewiesen und versuchen auf unterschied-lichsten Wegen, das für den Lebensunterhalt Notwendige zu schaffen. In der Familie Salucha leben die Menschen von 110 € im Monat.Trotz unseres kurzen Aufenthaltes fielen uns mehrere wunder-schön sanierte Kirchen in der Stadt auf, vorrangig handelte es sich um Orthodoxe Kirchen. Es soll so sein, dass die Kirchen in Gänze in den letzten Jahren viel Zuspruch erfuhren.

Am nächsten Tag wurde die lange Reise von der Westukraine in die Zentralukraine bewältigt. Nach zehnstündiger Zugfahrt trafen wir erschöpft auf dem Zentralbahnhof von Kiew ein. Hier holte uns unser Gastgeber ab. In einer zweistündigen Fahrt ging es nach Smila, einer Stadt, in der ungefähr 80000 Einwohner leben. Am Tag darauf reisten wir abenteuerlich über einhundert Ki-lometer mit einem Auto zu Frau Meschtschenko. Das Zusam-mentreffen mit ihr beeindruckte wieder wegen der Herzlichkeit, Freude und Gastfreundschaft, die uns entgegen gebracht wur-den. Nach volkstümlicher Sitte begrüßte uns die alte Frau fein herausgeputzt mit Brot und Salz. Dieser Empfang stand in be-sonders starkem Kontrast zu dem, was sie uns in ihrer ukraini-schen Muttersprache über ihre Erlebnisse berichtete, die sie als Zwangsarbeiterin in Frankfurt (Oder) hatte. Leider war die Zeit, sich dieser Frau zuzuwenden, viel zu kurz.

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Nachwort

Die Evangelische Jugend als Verband formulierte in ihrem Leit-bild:

„Wir stellen uns der Vergangenheit und übernehmen Verantwor-tung für die Zukunft. Wir ergreifen Partei für die Armen und Schwachen, für die Benachteiligten und Unterdrückten. Wir setzen Gemeinschaft, Respekt für das Gegenüber und soziales Engagement gegen Leistungs- und Konkurrenzdenken …“

Mit diesem Hintergrund, der auf dem christlichen Glauben ba-siert, haben wir auf die Anfrage von Matthias Dörr, eines En-gagierten, der das bisher in Frankfurt (Oder ) vernachlässigte Thema der Zwangsarbeit in der Zeit der Naziherrschaft ans Licht bringen will, positiv geantwortet und unsere Mitarbeit und Trä-gerschaft zugesagt. Es entstand ein Arbeitskreis, eine Recherche-gruppe, zu der sich der Dramaturg Burkhard Koller und Gerhard Hoffmann aus der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – des Bundes der Antifaschistinnen und Antifaschisten gesellten.

Mit dem Beginn der Recherchearbeit mussten wir erkennen, dass die Fülle der erforderlichen Arbeit sich mit jedem neuen Detail potentiell vermehrt und uns letztendlich überfordert. So bleibt unsere Arbeit Stückwerk. Sie ist bestenfalls ein Anfang, verbunden mit der Erwartung, dass andere diese Spuren der leidvollen Geschichte aufnehmen und zur weiteren Aufklärung beitragen. Die über eine ukrainische Organisation hergestellten Kontakte zu ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern tragen Früchte. Davon zeugen die Briefe in dieser Broschüre, die uns an die Orte des bitteren Leids ukrainischer Frauen führen. Hier in unserer Stadt wird durch ihre Erzählungen Geschichte lebendig. Sie wurde so lebendig, dass die Jugendlichen, die eine Szenische Lesung aus diesen Briefen gestalteten und miterleben konnten, ihre Anrührung spüren ließen.

Was bleibt? Es war für mich wie ein Ruf Gottes, dass ich mich auf den Weg machen sollte, den Frauen, die ich noch treffen kann, die Hand zu reichen. Als jemand, der jünger ist; als Deut-scher, als jemand, dessen Vater als Wehrmachtsoldat im zweiten Weltkrieg gegen ihr Land Krieg führte. Für diese Begegnung bin ich Gott sehr dankbar. Ohne seine Kraft hätte ich es nicht geschafft. Darüber hinaus konnten diese Begegnungen nur durch die Hilfe von ganz vielen gelingen.

Ich danke allenMatthias Dörr

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Das ermutigt uns, diese Briefe in die Hand derer zu empfeh-len, die zunehmend ohne Zeitzeugen auskommen müssen und dennoch Geschichte transparent wahrnehmen und vermitteln wollen.Wir denken an den schulischen, kirchlichen und kommunalen Bereich, überall dort, wo sich Menschen der Vergangenheit stel-len und für die Zukunft Verantwortung übernehmen wollen.

Bedanken möchten wir uns vor allem bei den ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, die die Korrespon-denz mit uns aufnahmen. Wir danken den Übersetzerinnen und Übersetzern, den Frank-furterinnen und Frankfurtern, die unsere Arbeit mit Zeitzeugen-berichten unterstützten und allen, die wohlwollend die Erarbei-tung der Publikation begleiteten.

Im Namen der Recherchegruppe

Reinhard SchülzkeKreisjugendwart

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