11 Lagrangesche Mechanik

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11 Lagrangesche Mechanik In diesem Kapitel werden wir den ersten Schritt zu einer allgemeinen Formulierung aller heute bekannten fundamentalen physikalischen Theorien machen. Allerdings ist dieser erste Schritt sehr bescheiden. Wir werden im Prinzip nichts anderes tun als die Newtonschen Bewegungsgleichungen in einer mathematisch etwas anspruchsvolleren, “geometrischen” Form aufzuschreiben. Diese neue Formulierung der Newtonschen Mechanik wurde im 18. Jahrhundert entwickelt und geht im wesentlichen auf d’Alembert, Lagrange und Euler zur¨ uck. Sie ist begrifflich sehr viel abstrakter als die Newtonsche Formulierung, bietet aber eine Reihe von praktischen und konzeptionellen Vorteilen. Ein wichtiger, ganz pragmatischer Vorteil ist, dass sich typische mechanische Systeme, wie sie in technischen Anwendungen auftreten, sehr viel effizienter berechnen lassen als mit den Newtonschen Mitteln. Eine andere, f¨ ur die theoretische Physik besonders wichtige Eigenschaft der neuen Formulierung ist, dass sich mit ihr viele allgemeine S¨ atze beweisen lassen, mir deren Hilfe sich Aussagen ¨ uber die L¨ osun- gen von Bewegungsgleichungen machen lassen, auch wenn man diese nicht explizit angeben kann. Der wohl wichtigste derartige Satz ist das Noether-Theorem, wonach es einen Zusammenhang zwischen den Symmetrien eines Systems und seinen Erhaltungsgr ¨ oßen. Bis wir zu diesem zentralen Theorem kommen, ussen wir uns allerdings erst mit einigen neuen Begriffen vertraut machen. Die Methoden, die wir hier entwickeln werden, lassen sich weit ¨ uber die Mechanik hinaus auch in anderen Teilgebieten der Physik anwenden. Daher werden uns die Begriffe, die wir in diesem Kapitel einf¨ uhren, fast ¨ uberall wieder begegnen. Wie schon angedeutet, geht dies sogar so weit, dass sich alle heute als fundamental angesehenen Theorien in dieses Schema einordnen lassen. Einen Hinweis darauf, dass zum Beispiel auch die Elektrodynamik eine solche Formulierung zul¨ asst, wird sich am Ende dieses Kapitels ergeben. Ansonsten werden wir uns hier jedoch nur mit mechanischen Systemen besch¨ aftigen. Energie und Impuls Bei der allgemeinen Diskussion der Newtonschen Bewegungsgleichungen f¨ ur ein System von Punktteil- chen hatten wir die Impulse der Teilchen als n¨ utzlich Hilfsgr¨ oßen eingef¨ uhrt. Damit konnten wir ein Sys- tem von Differenzialgleichungen zweiter Ordnung in ein System erster Ordnung ¨ uberf¨ uhren. Außerdem gab es f¨ ur Systeme ohne ¨ außere Kr¨ afte einen Erhaltungssatz f¨ ur den Gesamtimpuls, also f¨ ur die Summe der Impulse aller Teilchen. Das konnten wir verwenden, um die Bewegungsgleichungen weiter zu verein- fachen und um deren L¨ osungen zu klassifizieren. Den Impuls hatten wir als das Produkt von Masse und Geschwindigkeit definiert, weil so seine Zeitab- leitung durch die Kraft gegeben war, die auf ein Teilchen einwirkt. Wir wollen nun zeigen, dass es noch eine alternative Definition der Gr¨ oße “Impuls” gibt. Diese wird sich sp¨ ater als sehr viel allgemeiner erwei- sen. Sie ist weit ¨ uber die Mechanik hinaus anwendbar. Sie gibt dem Begriff “Impuls” eine ¨ ahnlich wichtige Bedeutung wie etwa dem Begriff “Energie”, der ja auch in allen Bereichen der Physik von zentraler Be- deutung ist. Tats¨ achlich l¨ asst sich der Impuls eines Teilchens aus seiner Energie ableiten, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Stellen wir die Geschwindigkeit des Teilchens der Masse m in einem kartesischen Koordinatensystem durch v = v i e i dar, so ist seine kinetische Energie T = 1 2 m v · v = 1 2 mv i v i . (11.1) Es ist ¨ ublich, die Funktion, die der Geschwindigkeit die kinetische Energie zuordnet, mit T zu bezeichnen. Wenn wir sie partiell nach den Komponenten der Geschwindigkeit ableiten, bekommen wir T ∂v i = mv i = p i , (11.2) 42

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11 Lagrangesche Mechanik

In diesem Kapitel werden wir den ersten Schritt zu einer allgemeinen Formulierung aller heute bekanntenfundamentalen physikalischen Theorien machen. Allerdings ist dieser erste Schritt sehr bescheiden. Wirwerden im Prinzip nichts anderes tun als die Newtonschen Bewegungsgleichungen in einer mathematischetwas anspruchsvolleren, “geometrischen” Form aufzuschreiben.

Diese neue Formulierung der Newtonschen Mechanik wurde im 18. Jahrhundert entwickelt und gehtim wesentlichen auf d’Alembert, Lagrange und Euler zuruck. Sie ist begrifflich sehr viel abstrakter alsdie Newtonsche Formulierung, bietet aber eine Reihe von praktischen und konzeptionellen Vorteilen. Einwichtiger, ganz pragmatischer Vorteil ist, dass sich typische mechanische Systeme, wie sie in technischenAnwendungen auftreten, sehr viel effizienter berechnen lassen als mit den Newtonschen Mitteln.

Eine andere, fur die theoretische Physik besonders wichtige Eigenschaft der neuen Formulierung ist,dass sich mit ihr viele allgemeine Satze beweisen lassen, mir deren Hilfe sich Aussagen uber die Losun-gen von Bewegungsgleichungen machen lassen, auch wenn man diese nicht explizit angeben kann. Derwohl wichtigste derartige Satz ist das Noether-Theorem, wonach es einen Zusammenhang zwischen denSymmetrien eines Systems und seinen Erhaltungsgroßen. Bis wir zu diesem zentralen Theorem kommen,mussen wir uns allerdings erst mit einigen neuen Begriffen vertraut machen.

Die Methoden, die wir hier entwickeln werden, lassen sich weit uber die Mechanik hinaus auch inanderen Teilgebieten der Physik anwenden. Daher werden uns die Begriffe, die wir in diesem Kapiteleinfuhren, fast uberall wieder begegnen. Wie schon angedeutet, geht dies sogar so weit, dass sich alleheute als fundamental angesehenen Theorien in dieses Schema einordnen lassen. Einen Hinweis darauf,dass zum Beispiel auch die Elektrodynamik eine solche Formulierung zulasst, wird sich am Ende diesesKapitels ergeben. Ansonsten werden wir uns hier jedoch nur mit mechanischen Systemen beschaftigen.

Energie und Impuls

Bei der allgemeinen Diskussion der Newtonschen Bewegungsgleichungen fur ein System von Punktteil-chen hatten wir die Impulse der Teilchen als nutzlich Hilfsgroßen eingefuhrt. Damit konnten wir ein Sys-tem von Differenzialgleichungen zweiter Ordnung in ein System erster Ordnung uberfuhren. Außerdemgab es fur Systeme ohne außere Krafte einen Erhaltungssatz fur den Gesamtimpuls, also fur die Summeder Impulse aller Teilchen. Das konnten wir verwenden, um die Bewegungsgleichungen weiter zu verein-fachen und um deren Losungen zu klassifizieren.

Den Impuls hatten wir als das Produkt von Masse und Geschwindigkeit definiert, weil so seine Zeitab-leitung durch die Kraft gegeben war, die auf ein Teilchen einwirkt. Wir wollen nun zeigen, dass es nocheine alternative Definition der Große “Impuls” gibt. Diese wird sich spater als sehr viel allgemeiner erwei-sen. Sie ist weit uber die Mechanik hinaus anwendbar. Sie gibt dem Begriff “Impuls” eine ahnlich wichtigeBedeutung wie etwa dem Begriff “Energie”, der ja auch in allen Bereichen der Physik von zentraler Be-deutung ist.

Tatsachlich lasst sich der Impuls eines Teilchens aus seiner Energie ableiten, und zwar im wahrstenSinne des Wortes. Stellen wir die Geschwindigkeit des Teilchens der Masse m in einem kartesischenKoordinatensystem durch v = vi ei dar, so ist seine kinetische Energie

T =1

2m v · v =

1

2m vi vi. (11.1)

Es ist ublich, die Funktion, die der Geschwindigkeit die kinetische Energie zuordnet, mit T zu bezeichnen.Wenn wir sie partiell nach den Komponenten der Geschwindigkeit ableiten, bekommen wir

∂T∂vi

= m vi = pi, (11.2)

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also die Komponenten des Impulses. Der Impuls ist die Ableitung der Energie nach der Geschwindigkeit.Das lasst sich verallgemeinern. Fur ein System von N Teilchen mit Massen mn ist die gesamte kineti-

sche Energie eine Funktion der Geschwindigkeiten vn = vn,i ei der einzelnen Teilchen,

T =1

2

n

mn vn · vn =1

2

n

mn vn,i vn,i. (11.3)

Die Funktion T hangt jetzt von 3 N reellen Variablen ab, namlich den Komponenten der Geschwindig-keiten vn,i, mit n ∈ {1, . . . , N} als Teilchenindex und i ∈ {x, y, z} als Vektorindex. Fur Vektorindizessoll wieder die Summenkonvention gelten, und da wir eine Orthonormalbasis verwenden, konnen wir alleIndizes nach unten schreiben.

Bilden wir nun wieder die partiellen Ableitungen der Funktion T , so finden wir

∂T∂vn,i

= mn vn,i = pn,i. (11.4)

Das sind die Komponenten des Impulses des Teilchens Nummer n. Wir konnen auf diese Weise durchAbleiten der kinetischen Energie eines Systems von beliebig vielen Teilchen jedem einzelnen Teilchenseinen Impuls zuordnen.

Der Impuls eines Teilchens ist die Ableitung der kinetischen Energie nach der Geschwindig-keit dieses Teilchens.

Wie sich gleich zeigen wird, ist es an dieser Stelle ganz wesentlich, dass es sich um eine Funktion Thandelt, die von den Geschwindigkeiten aller Teilchen abhangt. Die Funktion T ist also dem System alsganzes zugeordnet, nicht den einzelnen Teilchen.

Die Bewegungsgleichungen lassen sich nun wie folgt formulieren. Die Teilchen bewegen sich auf Bah-nen rn(t), oder in kartesischen Koordinaten rn,i(t). Dann ist naturlich vn(t) = rn(t) bzw. vn,i(t) = rn,i(t),und somit

pn,i(t) =∂T∂vn,i

∣∣∣�

n= ˙�n(t)

=∂T∂rn,i

(t). (11.5)

Der Ausdruck ist so zu verstehen, dass wir erst die Funktion T nach vn,i ableiten, und dann diese Funktionfur vn = rn(t) auswerten, also die gegebene Bahnkurve einsetzen, so dass der Ausdruck zu einer Funktionder Zeit wird. Um die Notation etwas zu verkurzen, schreiben wir dafur auch einfach ∂T /∂rn,i.

Jetzt mussen wir den Impuls nur noch nach der Zeit ableiten und mit der Kraft gleichsetzen,

pn,i(t) =d

dt

( ∂T∂rn,i

(t))

= Fn,i(t). (11.6)

Die Krafte Fn = Fn,i ei sind in der Regel als Funktionen der Orte und der Geschwindigkeiten gegeben.Setzen wir wieder die Bahnen rn(t) ein, so ergibt sich eine Funktion der Zeit, die die Ableitung desImpulses nach der Zeit bestimmt. Die Gleichungen (11.6) bilden dann ein System von 3 N gekoppeltenDifferenzialgleichungen zweiter Ordnung fur die Koordinatenfunktionen rn,i(t). Dies sind naturlich diebekannten Newtonschen Bewegungsgleichungen.

Auf den ersten Blick scheint damit nicht viel gewonnen zu sein. Genau genommen sehen die Gleichun-gen (11.6) sogar ziemlich kompliziert aus, nicht zuletzt wegen der etwas verschachtelten Ableitungen.Was allerdings auffallt, ist, dass die Massen mn anscheinend aus den Bewegungsgleichungen verschwun-den sind. Naturlich sind sie nicht wirklich verschwunden. Aber sie gehen jetzt nur noch implizit uber dieDefinition der Funktion T ein.

In den Newtonschen Formulierung der Bewegungsgleichungen ist die Masse ein Maß fur die Tragheiteines Teilchens, also das Verhaltnis von Impuls zu Geschwindigkeit. Hier ist die Masse statt dessen ein

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Maß fur die kinetische Energie, die ein bewegtes Teilchen besitzt, und der Impuls ist definiert als dieAbleitung der Energie nach der Geschwindigkeit. Das andert an den mathematischen Zusammenhangenzwischen diesen Großen nichts, bietet aber eine alternative Interpretation der Begriffe.

Aufgabe 11.1 Wir nehmen an, dass die Krafte konservativ sind und nur von den Orten der Teilchenabhangen. Dann existiert ein Potenzial V , das eine Funktion der Orte rn ist, und die Kraft Fn ist dernegative Gradient von V bezuglich des Ortes rn. Folglich gelten die Bewegungsgleichungen

d

dt

( ∂T∂rn,i

(t))

= Fn,i(t) = − ∂V∂rn,i

(t). (11.7)

Andererseits wissen wir, dass in diesem Fall die Energie E = T +V eine Erhaltungsgroße ist. Man zeige,dass sich dies aus (11.7) ergibt, wobei man nur annehmen muss, dass die Funktion T rein quadratisch ist,also homogen vom Grad 2 in den Komponenten den Geschwindigkeiten.

Der Konfigurationsraum

Die Bewegungsgleichungen in der Form (11.6) lassen sich etwas einfacher darstellen, wenn wir das fol-gende neue Konzept einfuhren. Wir fassen die Ortskoordinaten rn,i aller N Teilchen als Koordinaten einesPunktes in einem 3 N -dimensionalen Raum auf. Diesen Raum nennen wir den Konfigurationsraum desSystems, und wir bezeichnen ihn mit Q.

Der Konfigurationsraum besteht aus allen moglichen Anordnungen der Teilchen im Ortsraum, das heißtaus allen moglichen Konfigurationen von N Teilchen. Einen Punkt in diesem Raum bezeichnen wir mitq ∈ Q, und seine Koordinaten mit qµ, wobei µ ein laufender Index ist, der 3 N Werte annimmt. Umdie Beziehung zu den einzelnen Teilchen deutlich zu machen, konnen wir als Indexmenge die Symboleµ ∈ {x1, y1, z1, x2, y2, z2, . . . , xN , yN , zN} verwenden. Wir konnen die Koordinaten aber auch einfachvon 1 bis 3 N durchnummerieren. Wir sagen, dass ein System aus N Teilchen 3 N Freiheitsgrade besitzt.Die Zahl der Freiheitsgrade eines mechanischen System ist die Dimension des Konfigurationsraumes,dimQ = 3 N .

Wir schreiben den Index bei qµ nach oben, weil der Konfigurationsraum im allgemeinen kein metrischerRaum ist. Wir konnen zwar den Abstand zwischen zwei Punkten oder zwei Teilchen im Ortsraum messen.Es ist aber eine vollig andere Frage, was unter dem “Abstand” von zwei verschiedenen Konfigurationenvon N Teilchen zu verstehen ist. Jedenfalls gibt es keine unmittelbar auf der Hand liegende Antwort aufdie Frage, wie weit zwei Konfigurationen voneinander entfernt sind. Es gibt auf dem Konfigurationsraumkeine Metrik, folglich auch keine kartesischen Koordinaten, und deshalb mussen wir zwischen Vektorenund dualen Vektoren unterscheiden.

Wie wird nun die Zeitentwicklung des Systems beschreiben? Offenbar durch eine Bahn q(t) im Kon-figurationsraum Q, die zu jedem Zeitpunkt angibt, welche Konfiguration das System gerade einnimmt.Sie wird explizit durch die Koordinatenfunktionen qµ(t) dargestellt. Das ist eine parametrisierte Kurve ineinem affinen Raum. Wir konnen daher den Tangentenvektor q(t) bilden, dessen Komponenten durch dieAbleitungen qµ(t) gegeben sind. Dies ist ein Vektor in dem zugeordneten Vektorraum TQ des Konfigura-tionsraumes Q. Um die Sprechweise moglichst einfach zu halten, nennen wir q(t) den Ort und q(t) dieGeschwindigkeit des Systems zum Zeitpunkt t. Wir fassen quasi alle Orte der Teilchen zu einem Ort in Qzusammen, und alle Geschwindigkeiten der Teilchen zu einem Geschwindigkeitsvektor in TQ.

Die oben eingefuhrte alternative Formulierung der Bewegungsgleichungen fur ein System aus N Teil-chen stellt sich jetzt wie folgt dar. Zuerst definieren wir die kinetische Energie als Funktion der Geschwin-digkeiten der Teilchen, das heißt als Funktion eines Vektors q ∈ TQ. Sie ist eine quadratische Funktionder Komponenten qµ, die sich ganz allgemein wie folgt schreiben lasst,

T =1

2Mµν qµ qν. (11.8)

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Die 3 N×3 N -Matrix Mµν ist die Massenmatrix des Systems. Fur den hier beschriebenen Fall hat sie eineeinfache Diagonalform

(Mµν

)=

m1m1 0

m1. . .

mN0 mN

mN

. (11.9)

Ihre Eintrage sind die Massen der einzelnen Teilchen, wobei jede Masse genau dreimal auftritt, entspre-chend den drei Komponenten der Geschwindigkeit, die zu diesem Teilchen gehoren. Schreibt man dieSumme uber µ und ν in (11.8) explizit aus, so findet man wieder den Ausdruck (11.3).

Dass wir die Massen zu einer Matrix mit zwei unteren Indizes zusammengefasst haben, ist im we-sentlichen dadurch motiviert, dass sich diese Matrix nun wie ein symmetrischer Tensor der Stufe (0, 2)auf dem Konfigurationsraum Q verhalt. Durch (11.8) wird eine symmetrische, bilineare AbbildungM : TQ × TQ → R definiert, so dass T = M(q, q)/2 ist. Wir werden darauf gleich noch nahereingehen.

Im nachsten Schritt definieren wir die Impulse, indem wir die partiellen Ableitungen der Funktion Tnach den Komponenten qµ der Geschwindigkeit bilden. Das ergibt

pµ =∂T∂qµ = Mµν qµ. (11.10)

Wie man leicht durch Einsetzen der Matrix (11.9) bestatigt, sind das die 3 N Komponenten der Impulseder einzelnen Teilchen. Diese konnen wir wieder zu einem 3 N -dimensionalen Vektor zusammenfassen.Aus (11.10) ergibt sich jedoch, dass die Komponenten pµ ihren Index unten tragen. Folglich ist die Ge-schwindigkeit q ∈ TQ ein Vektor, wahrend der Impuls p ∈ T∗Q des Systems ein dualer Vektor ist.

Da die Kraft die Zeitableitung des Impulses ist, muss auch das ein dualer Vektor F ∈ T∗Q sein. Es gilt,in Komponenten aufgeschrieben,

pµ(t) =d

dt

( ∂T∂qµ (t)

)= Fµ(t). (11.11)

Genau wie die Komponenten pµ des Impulses p ergeben sich die 3 N Komponenten Fµ der Kraft F ausden ursprunglichen Komponenten Fn,i dadurch, dass wir sie einfach nur neu nummerieren. Wir fassenden Teilchenindex n und den Vektorindex i zu einem einzigen Vektorindex µ zusammen, der 3 N Werteannimmt.

Inhaltlich andert sich an den Bewegungsgleichungen nichts. Es handelt sich noch immer um ein Glei-chungssystem fur 3 N unbekannte Funktionen, nur dass wir diese jetzt mit qµ(t) bezeichnen. Die Kraft F

ist typischerweise als Funktion des Ortes q und der Geschwindigkeit q gegeben, und sie kann naturlichauch explizit von der Zeit abhangen. Erst durch Einsetzen einer Bahn q(t) wird daraus eine Funktion, dienur noch von der Zeit anhangt. Das gleiche gilt fur den Impuls. Die partielle Ableitung ∂T /∂qµ ist eineFunktion der Geschwindigkeit q, und durch Einsetzen einer Bahn q(t) wird sie zu einer Funktion der Zeit.

Dass Kraft und Impuls duale Vektoren auf dem Konfigurationsraum sind, lasst sich auch noch auf ei-ne ganz andere Weise erklaren. Fur konservative Systeme ist die Kraft der Gradient des Potenzials. Diepotenzielle Energie eines N -Teilchen-Systems ist eine Funktion der Orte der Teilchen, also eine skalareFunktion V auf dem Konfigurationsraum. Folglich ist der Gradient davon ein dualer Vektor, oder genauerein duales Vektorfeld auf Q. Fur konservative Systeme, deren Krafte nur vom Ort abhangen, gilt

Fµ =∂V∂qµ ⇒ pµ(t) =

d

dt

( ∂T∂qµ (t)

)=

∂V∂qµ (t). (11.12)

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Damit hier die rechte und die linke Seite der Gleichung zusammenpassen, muss auf beiden Seiten eindualer Vektor stehen. Das ist auch der Fall, und es impliziert, dass auch der Impuls in dualer Vektor seinmuss.

Damit haben wir bereits die wichtigsten Begriffe eingefuhrt, die wir zur systematischen Beschreibungeines allgemeinen mechanischen Systems benotigen.

Die Konfiguration eines mechanischen Systems wird durch einen Punkt im Konfigurations-raum dargestellt. Die Geschwindigkeit ist ein Vektor, Impuls und Kraft sind duale Vektorenin diesem Raum.

Um ein konkretes mechanisches System zu beschrieben, benotigen wir zwei Informationen uber das Sys-tem. Wir mussen erstens wissen, wie die Geschwindigkeiten mit den Impulsen zusammenhangen. Diesgeschieht durch die Abgabe der Funktion T , die die kinetische Energie als Funktion der Geschwindigkei-ten darstellt. Fur ein N -Teilchen-System bedeutet das im wesentlichen, dass wir die Massen der Teilchenkennen mussen. Und wir mussen naturlich zweitens wissen, wie die Kraft F konkret als Funktionen desOrtes q, der Geschwindigkeit q und der Zeit t gegeben ist. Fur ein System mit Potenzialkraften ist dasaquivalent zur Angabe der Potenzialfunktion V .

Aufgabe 11.2 Man betrachte ein System aus drei Teilchen mit Massen m1, m2 und m3, die sich gegenseitigdurch Gravitationskrafte anziehen. Wie sieht in diesem Fall das Potenzial aus? Man mache sich an diesemBeispiel klar, dass es sich um eine reelle Funktion V auf einem neundimensionalen Raum Q handelt.

Aufgabe 11.3 Die Massenmatrix Mµν eines mechanischen Systems ist symmetrisch und positiv, da diekinetische Energie stets positiv ist und nur dann gleich Null, wenn alle Teilchen ruhen. Man kann siedaher als Metrik auf dem Konfigurationsraum interpretieren, der dadurch zu einem metrischen affinenRaum wird. Wenn man dies tut, welche anschauliche Vorstellung verbindet sich dann mit dem Abstand vonzwei Konfigurationen? Wann liegen zwei gegebene Konfigurationen nahe beieinander, wann sind sie weitvoneinander entfernt?

Ein einfaches Beispiel

Um den Begriff des Konfigurationsraumes etwas besser zu verstehen, betrachten wir ein einfaches Bei-spiel. Zwei Teilchen wechselwirken miteinander durch eine linear vom Abstand abhangende Kraft. Eshandelt sich im wesentlichen um einen harmonischen Oszillator, der aus zwei Teilchen besteht. Um dasganze so einfach wie moglich zu halten, und um das Ergebnis auch grafisch darstellen zu konnen, sollensich die Teilchen nur in eine Raumrichtung bewegen. Dadurch sparen wir uns das Ausschreiben einigerIndizes, verlieren jedoch keine wesentlichen Aspekte von dem, worum es hier gehen soll.

Es seien also m1 und m2 die Massen der beiden Teilchen, q1 und q2 ihre Ortskoordinaten, und q1 undq2 die Geschwindigkeiten. Die Orte qµ, mit µ ∈ {1, 2}, sind die Koordinaten eines Punktes q ∈ Q,wobei der Konfigurationsraum Q ein zweidimensionaler affiner Raum ist. Die Geschwindigkeiten qµ sindentsprechend die Komponenten eines Vektors q ∈ TQ.

Fur die kinetische und die potenzielle Energie setzen wir

T =1

2m1 (q1)2 +

1

2m2 (q2)2, V =

1

2κ (q1 − q2)2, (11.13)

wobei κ eine Federkonstante ist, die die Anziehungskraft zwischen den beiden Teilchen bestimmt. Fur dieImpulse ergibt sich daraus, wie nicht anders zu erwarten ist,

p1 =∂T∂q1 = m1 q1, p2 =

∂T∂q2 = m2 q2, (11.14)

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und fur die Komponenten der Kraft gilt

F1 = − ∂V∂q1 = κ (q2 − q1), F2 = − ∂V

∂q2 = κ (q1 − q2). (11.15)

Die Teilchen ziehen sich mit einer linear mit dem Abstand ansteigenden Kraft an. Schließlich ergeben sichaus dieser Gleichung und der vorigen die Bewegungsgleichungen

p1 = F1, p2 = F2 ⇒ m1 q1 = κ (q2 − q1), m2 q2 = κ (q1 − q2). (11.16)

Wir wissen bereits, wie wir diese Gleichungen am einfachsten losen konnen. Die Idee besteht im wesent-lichen darin, die Bewegung des Schwerpunktes von der relativen Bewegung der Teilchen zu entkoppeln.

Das neue ist, dass wir dies nun als Koordinatentransformation auf dem Konfigurationsraum Q auffassenkonnen. Die Transformation, die hier zum Ziel fuhrt, ist

q+ =m1

m1 + m2

q1 +m2

m1 + m2

q2, q− = q1 − q2, (11.17)

oder umgekehrt

q1 = q+ +m2

m1 + m2

q−, q2 = q+ − m1

m1 + m2

q−. (11.18)

Da es sich um eine lineare Transformation handelt, gelten die gleichen Umrechnungsformel auch fur dieGeschwindigkeiten. Wir mussen nur alle q’s mit einem Punkt versehen, oder einfach die Gleichungen(11.17) und (11.18) nach der Zeit ableiten. Nach einer kurzen Rechnung findet man dann die folgendenneuen Ausdrucke fur die kinetische und die potenzielle Energie,

T =1

2m+ (q+)2 +

1

2m− (q−)2, V =

1

2κ (q−)2, (11.19)

wobei wir die Abkurzungen

m+ = m1 + m2, m− =m1 m2

m1 + m2(11.20)

fur die gesamte und die reduzierte Masse eingefuhrt haben. Wiederholen wir jetzt die ganze Prozedur nocheinmal, so finden wir die Impulse

p+ =∂T∂q+ = m+ q+, p− =

∂T∂q−

= m− q−, (11.21)

und fur die Komponenten der Kraft gilt jetzt

F+ = − ∂V∂q+ = 0, F− = − ∂V

∂q−= −κ q−. (11.22)

Daraus lesen wir wieder die Bewegungsgleichungen ab. Sie haben sich ein wenig vereinfacht und lautennun

p+ = F+, p+ = F+ ⇒ m+ q+ = 0, m− q− = −κ q−. (11.23)

Die Losungen dieser Gleichungen konnen wir sofort angeben. Fur q+ mussen wir eine gleichformigeBewegung einsetzen, das heißt das System bewegt sich mit konstanter Geschwindigkeit in Richtung derq+-Achse. In Richtung der q−-Achse finden wir eine harmonische Oszillation mit der Eigenfrequenz ω2 =κ/m−.

Was haben wir bei dieser Herleitung anders gemacht als fruher, als wir ein solches System schon einmalim Rahmen der Newtonschen Mechanik diskutiert haben? Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass

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PSfrag replacements

(a) (b)

(c)(d)

q1

q2

q+

q−

Abbildung 11.1: Der Konfigurationsraum eines Zwei-Teilchen-Systems mit linearer Wechselwirkung. Diegestrichelten Geraden sind die Linien konstanter potenzieller Energie V = konst. Die gestrichelte Ellipseist eine Linie konstanter kinetischer Energie T = konst im Raum der Geschwindigkeiten. Die durchge-zogene Linie ist eine typische Bahn. Die Koordinaten in (a) sind den Teilchen angepasst, die Koordinatenin (b) den Eigenmoden des Systems.

wir an keiner Stelle die Bewegungsgleichungen selbst transformiert haben. Wir haben nicht die Definitio-nen (11.18) der neuen Koordinaten in die Bewegungsgleichungen (11.16) eingesetzt. Statt dessen habenwir nur die zwei Großen, von denen wir ausgegangen sind, namlich die Funktionen T und V , durch dieneuen Koordinaten ausgedruckt.

In Abbildung 11.1(a) ist der zweidimensionale Konfigurationsraum Q mit der q1- und q2-Achse darge-stellt. Das Potenzial V(q) hangt nur von q1 − q2 ab, so dass die Linien mit V = konst Geraden sind, dieparallel zur Winkelhalbierenden verlaufen. Die Linien T = konst im Raum TQ der Geschwindigkeitensind Ellipsen, deren Halbachsen durch die Massen m1 und m2 bestimmt sind. Eine solche Ellipse ist inder Abbildung eingezeichnet.

Nun hatten wir gesehen, dass die Dynamik des Systems, also letztlich die Bewegungsgleichungen, ein-deutig durch die beiden Funktion T und V bestimmt wird. Insbesondere ist das dynamische Verhalten desSystems vollig unabhangig davon, welche Koordinaten wir benutzen, um eine explizite Rechnung durch-zufuhren. Die Dynamik des Systems ist ein Art geometrische Eigenschaft des Konfigurationsraumes, dieunabhangig von der Wahl irgendeines Koordinatensystems ist, genau wie die Geometrie des Ortsraumesals abstrakte Struktur unabhangig von den Koordinatensystemen ist, die wir verwenden, um den Raum zubeschreiben.

Wir konnen deshalb zu einem beliebigen anderen Koordinatensystem ubergehen, das der Dynamik desSystems besser angepasst ist. Ein solches Koordinatensystem ist in Abbildung 11.1(b) dargestellt. Die q+-Achse ist so gewahlt, dass sie im Minimum des Potenzials liegt. Daher hangt die Funktion V jetzt nurnoch von q− ab, und zwar unabhangig davon, in welche Richtung die q−-Achse zeigt. Aber auch fur dieseAchse gibt es eine bevorzugte Wahl. Sie ist so gelegt, dass in dem quadratischen Ausdruck fur T keinegemischten Terme auftreten, die das Produkt q+ q− enthalten.

Aufgabe 11.4 Man zeige, dass die lineare Transformation (11.17) durch diese beiden Forderungen an dieneuen Koordinaten q+ und q− bis auf Skalierungen eindeutig festgelegt ist. Die einzige Freiheit, die nochbleibt, ist eine Transformation q+ = α q+ und q− = β q− mit Konstanten α, β 6= 0.

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Das abstrakte Konzept des Konfigurationsraumes eines mechanischen Systems kann also bei der Losungder Bewegungsgleichungen hilfreich sein. Es zeigt namlich, dass die Koordinaten, die sich auf naturlicheWeise aus der physikalischen Situation ergeben, nicht immer die sind, die dem eigentlichen dynamischenProzess am besten angepasst sind. In unserem Beispiel liegt es durch die Beschreibung des Systems ei-gentlich auf der Hand, dass die “naturlichen” Koordinaten diejenigen sind, die sich auf die beiden Teilchenbeziehen, also (q1, q2).

Lassen wir jedoch die physikalische Anschauung fur einen Moment außer acht, und betrachten nur diemathematischen Strukturen des Konfigurationsraumes Q, so stellen wir fest, dass diese eine ganz andere“naturliche” Wahl der Koordinaten nahe legen, namlich die Koordinaten (q+, q−). In diesen Koordinatennehmen die beiden fur die Dynamik relevanten Funktionen T und V eine besonders einfache Form an.

Das Ziel der folgenden Uberlegungen ist es deshalb, von der unmittelbaren physikalischen VorstellungAbstand zu nehmen, dass die Bewegungen eines mechanischen Systems im dreidimensionalen Ortsraumstattfinden. Statt dessen wollen wir den Konfigurationsraum als denjenigen Raum betrachten, in dem sichdas System bewegt. Das ist der erste Schritt hin zu einer Abstraktion, die es letztlich auch ermoglicht,ganz andere dynamische Systeme, wie etwa das elektromagnetische Feld, mit den gleichen Methoden zubeschreiben und dabei die gleichen mathematischen Strukturen zu verwenden.

Aufgabe 11.5 Es soll ein System von zwei Teilchen gleicher Masse m betrachtet werden, die zusatzlicheine lineare rucktreibende Kraft von außen spuren. Diese soll eine Federkonstante κ haben, die Wechsel-wirkung eine Federkonstante κ. Es ist dann

T =1

2m

((q1)2 + (q2)2

), V =

1

((q1)2 + (q2)2

)+

1

2κ (q1 − q2)2. (11.24)

Man finde eine lineare Transformation zu neuen Koordinaten (q+, q−), so dass

T =1

2m+ (q+)2 +

1

2m− (q−)2, V =

1

2κ+ (q+)2 +

1

2κ− (q−)2 (11.25)

gilt. Man bestimme die Großen m± und κ±, und daraus die Eigenfrequenzen ω± des System. Sind dieneuen Koordinaten eindeutig bestimmt? Wenn nicht, welche Freiheiten gibt es bei der Wahl?

Aufgabe 11.6 Man wiederhole die einzelnen Schritte in diesem Abschnitt fur ein System von zwei Teilchen,die sich im dreidimensionalen Raum bewegen. Um die Zerlegung in Schwerpunkt- und Relativbewegungdurchzufuhren, hatten wir in Kapitel 3 den Schwerpunktimpuls (3.53) und den relativen Impuls (3.54)eingefuhrt. Man zeige, dass diese Großen den hier definierten Impulsen p+ und p− entsprechen.

Aufgabe 11.7 Der Ubergang zwischen den beiden Koordinatensystemen (q1, q2) und (q+, q−) ist eineaffine Koordinatentransformation auf dem Konfigurationsraum Q. Man zeige, dass der Impuls und dieKraft dabei wie duale Vektoren transformieren. Es gilt also

pα =∂qµ

∂qα pµ, bzw. pµ =∂qα

∂qµ pα, mit µ ∈ {1, 2}, α ∈ {+,−}, (11.26)

und entsprechend fur Fµ und Fα.

Aufgabe 11.8 Sowohl in (11.13) als auch in (11.19) lasst sich die kinetische Energie durch eine Mas-senmatrix darstellen. Mit den Bezeichnungen aus Aufgabe 11.7 gilt fur die Eintrage dieser Matrix in denbeiden Koordinatensystemen

M11 = m1, M22 = m2, bzw. M++ = m+, M−− = m−, (11.27)

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und alle anderen Komponenten sind jeweils Null. Man verifiziere, dass fur diese Matrix das Transformati-onsverhalten fur einen Tensor der Stufe (0, 2) gilt, also

Mαβ =∂qµ

∂qα

∂qν

∂qβMµν , (11.28)

wieder mit µ ∈ {1, 2} und α ∈ {+,−}.

Aufgabe 11.9 In Abbildung 11.1(a) stehen die Koordinatenachsen senkrecht aufeinander, in Abbil-dung 11.1(b) nicht. Hat dieser Umstand irgendeine Bedeutung?

Aufgabe 11.10 Ist in Abbildung 11.1 m1 oder m2 die großere Masse?

Verallgemeinerte Koordinaten

Wir kehren nun wieder zu der allgemeinen Situation zuruck, die bei einem N -Teilchen-System mit be-liebigen Wechselwirkungen vorliegt. Die kinetische Energie T ist dann eine quadratische Funktion derGeschwindigkeit q ∈ TQ, und die Kraft ist ein dualer Vektor F ∈ T∗Q, der zunachst vom Ort q ∈ Q, derGeschwindigkeit q ∈ TQ, und moglicherweise auch von der Zeit t abhangt. Weitere Annahmen machenwir nicht. Insbesondere muss die Kraft nicht konservativ sein.

Dann gelten, wie wir gezeigt haben, die Bewegungsgleichungen (11.11), also

d

dt

∂T∂qµ = Fµ. (11.29)

Wir erinnern noch einmal daran, was die Notation bedeutet. Die linke Seite ist so zu verstehen, dass wirzuerst die Funktion T als gewohnliche Funktion der Komponenten qµ der Geschwindigkeit betrachten,diese Funktion partiell ableiten, und dann die Bahn q(t) und ihre Ableitung q(t) einsetzen. Dadurch wirdder Ausdruck ∂T /∂qµ zu einer Funktion der Zeit, die wir dann wieder nach t ableiten konnen.

Wir schreiben wie ublich die partiellen Ableitungen von Funktionen nach ihren Argumenten mit einemgeschwungenen ‘∂’. Dagegen ist die totale Zeitableitung ‘d/dt’ immer so zu verstehen, dass wir denAusdruck, auf den sie wirkt, entlang einer bestimmten Bahn q(t) auswerten, und diese Funktion dannnach t ableiten. An dieser Stelle haben die Ableitungssymbole ‘∂’ und ‘d’ also wirklich unterschiedlicheBedeutungen.

Da dies im folgenden sehr wichtig ist, machen wir es uns noch einmal dadurch klar, dass wir die Bewe-gungsgleichungen (11.29) etwas expliziter ausschreiben. Da die Funktion T und damit auch die Ableitun-gen ∂T /∂qµ nur indirekt uber qµ(t) von der Zeit t abhangen, gilt naturlich die Kettenregel, also

d

dt

( ∂T∂qµ

)=

∂2T∂qµ ∂qν

dqν

dt=

∂2T∂qµ ∂qν qν ⇒ Mµν qν = Fµ. (11.30)

Wenn T als quadratische Funktion durch eine Massenmatrix gegeben ist, ist die zweite Ableitung genaudiese Massenmatrix. Wir sehen, dass (11.29) nichts anderes ist als eine etwas ungewohnliche Darstellungder Newtonschen Bewegungsgleichungen, wonach Masse mal Beschleunigung gleich Kraft ist.

Es stellt sich daher die Frage, warum wir diese merkwurdige Formulierung uberhaupt benutzen. Die Be-wegungsgleichung (11.30) sieht doch viel einfacher aus. Sie stellt uber die Massenmatrix eine Beziehungzwischen der Kraft F ∈ T∗Q und der Beschleunigung q ∈ TQ her, und beschreibt so die Bewegungen desSystems im Konfigurationsraum auf eine geometrische Art und Weise, die zudem noch unabhangig von derWahl der Koordinaten ist. Da alle drei beteiligten Objekte wie Tensoren transformieren, gilt die Gleichungin jedem affinen Koordinatensystem. Das haben wir gerade verwendet, um die Bewegungsgleichungen fureinen zusammengesetzten harmonischen Oszillator zu entkoppeln

50

Page 10: 11 Lagrangesche Mechanik

Um die Bewegungsgleichungen fur ein gegebenes mechanisches System aufstellen und losen zu konnen,genugt das jedoch meistens nicht. Wir mussen auch krummlinige Koordinatensysteme verwenden. DasZentralkraftproblem, und insbesondere das Keplersche Problem der Planetenbahnen, konnten wir zumBeispiel erst erfolgreich angehen, nachdem wir Kugelkoordinaten eingefuhrt hatten. In krummlinigen Ko-ordinatensystem gilt jedoch die einfache Darstellung (11.30) der Bewegungsgleichungen nicht mehr.

Zwar konnen wir die Massenmatrix Mµν auch in einem krummlinigen Koordinatensystem darstellen,wobei ihre Komponenten dann ortsabhangig werden. Um jedoch die Beschleunigung in krummlinigenKoordinatensystemen darzustellen, benotigen wir eine kovariante Ableitung. Dies hatten wir in Kapitel 10und insbesondere in Aufgabe 10.26 gesehen. Es genugt nicht, einfach die zweite Ableitung der Koordina-tenfunktionen qµ(t) zu bilden.

Es stellt sich nun heraus, dass es sehr viel einfacher ist, die Gleichung (11.29) in ein krummliniges Ko-ordinatensystem zu transformieren, als die scheinbar einfachere Gleichung (11.30). Wir mussen dazu nochnicht einmal das Konzept der kovarianten Ableitung explizit verwenden, obwohl wir letztlich wieder einesolche bilden werden. Zudem ist das Ergebnis so allgemein, dass wir von der kinetischen Energie nochnicht einmal annehmen mussen, dass sie homogen vom Grad 2 ist, also quadratisch in den Geschwindig-keiten. Das wird sich spater als nutzlich erweisen, wenn wir sehr viel allgemeinere Bewegungsgleichungenbetrachten.

Das Ziel ist nun, die Bewegungsgleichung (11.29) in einem krummlinigen Koordinatensystem auf demKonfigurationsraum Q darzustellen. Dazu sei weiterhin {qµ} ein affines Koordinatensystem, in dem dieGleichung in der angegebenen Form gelten soll. Die krummlinigen Koordinaten bezeichnen wir mit {qα}.Oft nennt man diese auch verallgemeinerte oder generalisierte Koordinaten.

Die Unterscheidung zwischen den beiden Koordinatensystemen erfolgt, wie bisher auch, durch zweiverschiedene Indexmengen. Fur die affinen Koordinaten verwenden wir die Indizes µ, ν, . . ., fur die ver-allgemeinerten Koordinaten die Indizes α, β, . . .. Fur ein N -Teilchen-System konnen die Koordinaten qµ

zum Beispiel die kartesischen Ortskoordinaten {x1, y1, z1, . . . , xN , yN , zN} der einzelnen Teilchen sein,und als verallgemeinerte Koordinaten qα konnen wir die Darstellungen derselben Orte in Kugelkoordina-ten {r1, ϑ1, ϕ1, . . . , rN , ϑN , ϕN} verwenden.

Die Umrechnung zwischen den beiden Koordinatensystemen erfolgt dadurch, dass wir die affinen Koor-dinaten qµ als Funktionen der verallgemeinerten Koordinaten qα darstellen. Um ein moglichst allgemeinesErgebnis zu bekommen, lassen wir sogar zu, dass diese Funktionen explizit von der Zeit abhangen. Mitanderen Worten, wir konnen sogar zu jedem Zeitpunkt ein anderes krummliniges Koordinatensystem ver-wenden. Die Ubergangsfunktionen haben dann die Form

qµ = qµ({qα}, t

). (11.31)

Nun betrachten wir eine Bahn q(t) des Systems im Konfigurationsraum. In krummlinigen Koordinatenwird diese Bahn durch einen Satz von Funktionen qα(t) dargestellt. Folglich gilt fur die Darstellung der-selben Bahn in affinen Koordinaten

qµ(t) = qµ({qα(t)}, t

). (11.32)

Wenn wir diese Gleichung nach der Zeit ableiten, finden wir die affinen Komponenten qµ(t) der Geschwin-digkeit, ausgedruckt durch die verallgemeinerten Koordinaten qα(t) und deren Zeitableitungen qα(t), denverallgemeinerten Geschwindigkeiten. Auf der rechten Seite mussen wir dazu die partiellen Ableitungender affinen Koordinaten nach den krummlinigen Koordinaten bilden, und zusatzlich die partielle Ableitungder Ubergangsfunktionen nach der Zeit,

qµ(t) =∂qµ

∂qα

({qα(t)}, t

)qα(t) +

∂qµ

∂t

({qα(t)}, t

). (11.33)

Wir schreiben das etwas verkurzt in der Form

qµ =∂qµ

∂qα qα +∂qµ

∂t. (11.34)

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Page 11: 11 Lagrangesche Mechanik

Der erste Term beschreibt wie ublich die Transformation eines Vektors von einem Koordinatensystem inein anderes. Der zweite Term tritt auf, weil das krummlinige Koordinatensystem zusatzlich von der Zeitabhangen kann. Wenn die Koordinaten qα(t) zeitlich konstant sind, so bedeutet das namlich nicht, dass dieTeilchen ruhen, also die Konfiguration q(t) zeitlich konstant ist.

Nun konnen wir die kinetische Energie T als Funktion der neuen Koordinaten ausdrucken. Ursprunglichwar T ({qµ}) eine Funktion, die nur von den Komponenten qµ der Geschwindigkeit abhing. Da diese abernun uber (11.34) sowohl von den verallgemeinerten Geschwindigkeiten qα als auch von den verallgemei-nerten Koordinaten qα und sogar der Zeit t abhangen, wird die kinetische Energie jetzt zu einer FunktionT ({qα}, {qα}, t).

Das ist letztlich nichts anderes als die weiter oben bereits gemachte Feststellung, dass die Massenmatrixeines mechanischen Systems in krummlinigen Koordinaten ortsabhangig wird, da es sich um die Dar-stellung eines Tensors in einem krummlinigen Koordinatensystem handelt. Da dieses Koordinatensystemzudem von der Zeit abhangt, ergibt sich zusatzlich noch eine Zeitabhangigkeit.

In krummlinigen Koordinaten hangt die kinetische Energie vom den Ortskoordinaten, denKomponenten der Geschwindigkeit und explizit von der Zeit ab.

Am besten machen wir uns das wieder an einem Beispiel klar. Wir betrachten ein einzelnes Teilchen, dassich frei im Raum bewegt. Als affine Koordinaten qµ verwenden wir (x, y, z), und als verallgemeinerteKoordinaten qα, um auch eine explizite Zeitabhangigkeit zu bekommen, rotierende Zylinderkoordinaten(r, ϕ, z). Die zeitabhangigen Ubergangsfunktionen (11.31) sollen explizit durch

x = r cos(ϕ − ω t), y = r sin(ϕ − ω t) (11.35)

gegeben sein. Die Winkelgeschwindigkeit ω gibt an, wie schnell sich das Koordinatensystem dreht. DieKoordinate z bleibt einfach unverandert. Sie spielt in den folgenden Uberlegungen keine Rolle. Wenn wirdiese Gleichungen nach der Zeit t ableiten, finden wir

x = r cos(ϕ − ω t) − (ϕ − ω) r sin(ϕ − ω t),

y = r sin(ϕ − ω t) + (ϕ − ω) r cos(ϕ − ω t). (11.36)

Das sind die explizit ausgeschriebenen Gleichungen (11.34) fur dieses spezielle Beispiel. Die rechtenSeiten hangen nicht nur von den verallgemeinerten Geschwindigkeiten (r, ϕ) ab, sondern auch von denKoordinaten (r, ϕ) und sogar explizit von der Zeit t. Fur die kinetische Energie ergibt sich

T =1

2m (x2 + y2 + z2) =

1

2m (r2 + r2 (ϕ − ω)2 + z2). (11.37)

Auch diese Funktion ist wieder quadratisch in den verallgemeinerten Geschwindigkeiten, aber sie hangtzusatzlich von r ab, und sie enthalt auch noch Terme, die proportional zu ω und ω2 sind. Das ist auchklar, denn die kinetische Energie eines Teilchens, dass in diesem Koordinatensystem “ruht”, kreist ja inWirklichkeit mit der Winkelgeschwindigkeit ω um den Ursprung.

Aufgabe 11.11 In welcher konkreten physikalischen Situation wurde die Wahl eines solchen Koordinaten-systems nahe liegen?

Aufgabe 11.12 Man ersetze in (11.35) ω t durch eine beliebige Funktion γ(t) und zeige, dass sich dannauch eine explizit zeitabhangige Energiefunktion T ergibt.

52

Page 12: 11 Lagrangesche Mechanik

Die d’Alembertschen Gleichungen

Wir wollen nun die Bewegungsgleichungen in krummlinigen Koordinaten darstellen. Da die kinetischeEnergie T ursprunglich nur eine Funktion der Geschwindigkeiten qµ war, konnen wir die partiellen Ablei-tungen von T nach qα und qα durch die Ableitungen der ursprunglichen Funktion T nach qµ ausdrucken.Mit Hilfe der Kettenregel finden wir

∂T∂qα =

∂T∂qµ

∂qµ

∂qα =∂T∂qµ

∂qµ

∂qα . (11.38)

Hier haben wir verwendet, dass aus (11.34) ∂qµ/∂qα = ∂qµ/∂qα folgt.Die partiellen Ableitungen ∂qµ/∂qα, die in (11.38) vorkommen, sind die ortsabhangigen Ubergangs-

matrizen fur die Koordinatentransformation von {qµ} nach {qα}. Wir haben also gezeigt, dass sich diepartiellen Ableitungen pα = ∂T /∂qα bzw. pµ = ∂T /∂qµ bei einer Koordinatentransformation wie dieKomponenten eines dualen Vektors verhalten. Dies ist naturlich der Impulsvektor p ∈ T∗Q des Systems.Seine Komponenten pα bezuglich des krummlinigen Koordinatensystems werden auch als verallgemei-nerte Impulse bezeichnet.

Die entsprechende Rechnung fur die partiellen Ableitungen von T nach den Koordinaten qα ist etwaskomplizierter, da wir dazu die rechte Seite von (11.34) nochmal nach qα ableiten mussen. Das ergibt

∂T∂qα =

∂T∂qµ

∂qµ

∂qα =∂T∂qµ

( ∂2qµ

∂qα ∂qβqβ +

∂2qµ

∂qα ∂t

). (11.39)

Wir wollen nun versuchen, die linke Seite der Gleichung (11.29) durch die krummlinigen Koordinatenauszudrucken. Als Ansatz bietet sich dazu an, die Zeitableitung von (11.38) zu bilden,

d

dt

∂T∂qα =

d

dt

( ∂T∂qµ

∂qµ

∂qα

)=

( d

dt

∂T∂qµ

) ∂qµ

∂qα +∂T∂qµ

( d

dt

∂qµ

∂qα

). (11.40)

Auch das ist naturlich wieder so zu verstehen, dass wir zuerst die partiellen Ableitungen bilden, dann eineBahn q(t) einsetzen, die wir jetzt wahlweise durch die Koordinatenfunktionen qµ(t) oder qα(t) darstellenkonnen, und anschließend die totalen Zeitableitungen d/dt bilden.

Der erste Term in der Klammer ist genau der, den wir suchen, namlich die linke Seite von (11.29). Umden zweiten Term weiter umzuformen, benutzen wir, dass die affinen Koordinaten qµ sowohl implizit uberdie krummlinigen Koordinaten als auch explizit von der Zeit abhangen. Daher gilt

d

dt

∂qµ

∂qα =∂2qµ

∂qα ∂qβqβ +

∂2qµ

∂qα ∂t. (11.41)

Das ist aber genau der Ausdruck in der Klammer in (11.39). Wir finden also

d

dt

∂T∂qα − ∂T

∂qα =( d

dt

∂T∂qµ

) ∂qµ

∂qα . (11.42)

Um das fur die Bewegungsgleichung zu verwenden, multiplizieren wir diese mit der Ubergangsmatrix∂qµ/∂qα und setzen

Fα =∂qµ

∂qα Fµ. (11.43)

Die Großen Fα werden als verallgemeinerte Krafte bezeichnet. Es sind die Komponenten des KraftvektorsF ∈ T∗Q, dargestellt in den krummlinigen Koordinaten. Die Gleichung (11.43) beschreibt wieder dasTransformationsverhalten eines dualen Vektors unter einer Koordinatentransformation.

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Page 13: 11 Lagrangesche Mechanik

Wenn wir nun dies und (11.42) in die Bewegungsgleichung (11.29) einsetzen, so lassen sich dieseschließlich wie folgt schreiben,

d’AlembertscheBewegungsgleichung

d

dt

∂T∂qα − ∂T

∂qα = Fα. (11.44)

Die in dieser Form dargestellten Bewegungsgleichungen fur ein mechanisches System heißend’Alembertsche Gleichungen. Bis auf den zusatzlichen Term auf der linken Seite, der die Abhangigkeitder kinetischen Energie von den Koordinaten berucksichtigt, haben sie die gleiche Form wie vorher dieGleichungen (11.29) in affinen Koordinaten. Und es gibt naturlich wieder eine reelle Gleichung fur jedenFreiheitsgrad des Systems.

Tatsachlich verschwindet der zusatzliche Term auf der linken Seite, wenn der Zusammenhang zwischenqµ und qα affin und zeitunabhangig ist. Dann sind die neuen Geschwindigkeiten qα lineare Funktionen deralten Geschwindigkeiten qµ, und somit hangt auch die kinetische Energie nur von qα, aber nicht von qα

ab. Die allgemeinere Form (11.44) gilt also auch fur affine Koordinatensysteme.Um die Bewegungsgleichungen fur ein spezielles mechanisches System auf diese Form zu bringen,

mussen wir nur zwei Dinge tun. Wir mussen die kinetische Energie T als Funktion der verallgemeinertenKoordinaten und deren Zeitableitungen darstellen, und wir mussen dasselbe mit der Kraft F tun. Bei derKraft mussen wir zusatzlich beachten, dass es sich dabei um einen dualen Vektor handelt. Wir mussendeshalb gemaß (11.43) den Index transformieren.

Um an unserem Beispiel von oben zu demonstrieren, dass die d’Alembertschen Gleichungen tatsachlichdie richtigen Bewegungsgleichungen sind, setzen wir fur T die Funktion (11.37) ein. Die Kraft soll derEinfachheit halber verschwinden, und wir setzen auch ω = 0. Das Zylinderkoordinatensystem soll alsonicht rotieren. Dann ergeben sich nach einer kurzen Rechnung die folgenden Bewegungsgleichungen

d

dt

∂T∂r

− ∂T∂r

=d

dt

(m r

)− m r ϕ2 = 0,

d

dt

∂T∂ϕ

− ∂T∂ϕ

=d

dt

(m r2 ϕ

)= 0,

d

dt

∂T∂z

− ∂T∂z

=d

dt

(m z

)= 0. (11.45)

Das bemerkenswerte an diesem Beispiel ist, dass die beiden letzten Gleichungen ganz automatisch die ent-scheidenden Erhaltungssatze liefern, die wir benutzen konnen, um die Bewegungsgleichungen zu losen.Es ist namlich m z = pz die Impulskomponente in z-Richtung, und pϕ = m r2 ϕ der Drehimpuls um diez-Achse. Beides sind naturlich fur ein kraftefreies Teilchen Erhaltungsgroßen.

Ebenfalls bemerkenswert ist, dass die Komponente pϕ = ∂T /∂ϕ des Impulses nach unserer neuen,allgemeinen Definition, wonach der Impuls die Ableitung der Energie nach der Geschwindigkeit ist, geradeder Drehimpuls ist, der einer Rotation in Richtung der Koordinaten ϕ entspricht. Anscheinend passt sichder Begriff “Drehimpuls” sehr gut in dieses allgemeine Konzept ein. Darauf werden wir spater aber nochim Detail eingehen.

Aufgabe 11.13 Man finde die allgemeine Losung der Bewegungsgleichungen (11.45) und zeige, dass sichin dem dargestellten Beispiel auch fur ω 6= 0 aus den d’Alembertschen Gleichungen die richtigen Bewe-gungsgleichungen fur ein freies Teilchen ergeben.

Aufgabe 11.14 Welche physikalischen Dimensionen haben die verallgemeinerten Koordinaten (r, ϕ, z) indem gezeigten Beispiel? Welche physikalischen Dimensionen haben folglich die verallgemeinerten Impulse(pr, pϕ, pz) und Krafte (Fr, Fϕ, Fz), wenn diese nicht gleich Null gesetzt sind?

Aufgabe 11.15 Die kinetische Energie T sei eine homogene quadratische Funktion der verallgemeinertenGeschwindigkeiten qα. Sie hange nicht explizit von t, aber in irgendeiner Weise von den verallgemeiner-ten Koordinaten qα ab. Man zeige, dass dann die zeitliche Anderung der kinetischen Energie durch die

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Page 14: 11 Lagrangesche Mechanik

mechanische Leistung gegeben ist, die sich als Produkt von Kraft und Geschwindigkeit ergibt,

dTdt

= F · q = Fµ qµ = Fα qα. (11.46)

Warum kann die rechte Seite dieser Gleichung in jedem beliebigen Koordinatensystem ausgewertet wer-den?

Aufgabe 11.16 Man zeige, dass sich die linke Seite der d’Alembertschen Gleichung wie ein dualer Vektortransformiert, und zwar beim Ubergang von einem beliebigen krummlinigen Koordinatensystem zu einembeliebigen anderen. Man fuhre dazu einen zweiten Satz von krummlinigen Koordinaten qµ ein, stelle dieseals Funktionen von qα dar, und zeige

d

dt

∂T∂qα − ∂T

∂qα =∂qµ

∂qα

( d

dt

∂T∂qµ − ∂T

∂qµ

). (11.47)

Die gerade durchgefuhrte Herleitung, bei der die Koordinaten qµ affin waren, ist also nur ein Spezialfallvon diesem allgemeinen Transformationsverhalten.

Die Lagrange-Funktion

Besonders einfach ist die Situation dann, wenn alle auftretenden Krafte Potenzialkrafte sind. Dann istnamlich die Kraft der Gradient des Potenzials, und dann gilt naturlich in jedem Koordinatensystem, dassdie Komponenten dieses dualen Vektors durch die partiellen Ableitungen nach den Koordinaten gegebensind. Explizit,

Fµ = − ∂V∂qµ ⇒ Fα =

∂qµ

∂qα Fµ = −∂qµ

∂qα

∂V∂qµ = − ∂V

∂qα . (11.48)

Das Potenzial kann dabei auch von t abhangen, und die Umrechnungsformel (11.48) gilt auch dann, wenndie verallgemeinerten Koordinaten qα aus qµ durch eine zeitabhangige Transformation auseinander hervorgehen. In diesem Fall sind die Ubergangsmatrizen ∂qµ/∂qα zwar zeitabhangig, aber die Beziehung (11.48)gilt immer noch zu jedem Zeitpunkt.

Die d’Alembertschen Bewegungsgleichungen lauten jetzt

d

dt

∂T∂qα − ∂T

∂qα +∂V∂qα = 0. (11.49)

Da das Potenzial V nicht von der Geschwindigkeit abhangt, lasst sich das sogar noch einfacher schreiben.Wir definieren eine Funktion

Lagrange-Funktion

L = T − V, (11.50)

die auch wieder vom Ort, der Geschwindigkeit und eventuell explizit von der Zeit abhangt. Diese Funktionheißt Lagrange-Funktion.

Die Lagrange-Funktion ist die Differenz von kinetischer und potenzieller Energie.

Mit dieser Funktion konnen die d’Alembertschen Bewegungsgleichungen in einer sehr kompakten Formgeschrieben werden, namlich

Lagrange-Gleichung

d

dt

∂L∂qα − ∂L

∂qα = 0. (11.51)

Die gesamte Dynamik eines mechanischen System wird somit durch eine einzige Funktion L auf demKonfigurationsraum beschrieben. Diese Funktion konnen wir in einem beliebigen Koordinatensystem dar-stellen, so dass die Lagrange-Gleichung (11.51) auch in jedem beliebigen Koordinatensystem ausgewertet

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Page 15: 11 Lagrangesche Mechanik

werden kann. Auch hier ergibt sich naturlich wieder eine reelle Differenzialgleichung fur jeden Freiheits-grad, also fur jeden Wert, den der Index α annehmen kann.

Fur die explizite Herleitung von Bewegungsgleichungen fur mechanische System ist die Lagrange-Funktion ein sehr effizientes Werkzeug. Wir wollen das am Beispiel des allgemeinen Zentralkraftproblemsdemonstrieren. Ein Teilchen der Masse m befinde sich in einem Potenzial V = V (r). Seine kinetischeEnergie, in Kugelkoordinaten ausgedruckt, ist

T =1

2m

(r2 + r2 ϑ2 + r2 sin2 ϑ ϕ2

). (11.52)

Aufgabe 11.17 Wieso ergibt sich dieser Ausdruck unmittelbar aus der Darstellung (10.54) der Euklidi-schen Metrik in Kugelkoordinaten?

Die Lagrange-Funktion fur dieses System ist folglich

L = T − V =1

2m

(r2 + r2 ϑ2 + r2 sin2 ϑ ϕ2

)− V (r). (11.53)

Diese Funktion mussen wir jetzt nur noch in (11.51) einsetzen und die entsprechenden partiellen Ablei-tungen bilden, um die Bewegungsgleichungen zu bekommen,

d

dt

∂L∂r

− ∂L∂r

=d

dt

(m r

)− m r ϑ2 − m r sin2 ϑ ϕ2 + V ′(r) = 0,

d

dt

∂L∂ϑ

− ∂L∂ϑ

=d

dt

(m r2 ϑ

)− m r2 sin ϑ cos ϑ ϕ2 = 0

d

dt

∂L∂ϕ

− ∂L∂ϕ

=d

dt

(m r2 sin2 ϑ ϕ

)= 0. (11.54)

Aus der zweiten Gleichung entnehmen wir, dass diese fur ϑ(t) = π/2 erfullt ist. Es ist also moglich, dasssich das Teilchen nur in der Aquatorebene aufhalt. Tatsachlich genugt es dazu, die Anfangsbedingungenϑ(t0) = π/2 und ϑ(t0) = 0 zu wahlen. Die erste und die dritte Gleichung vereinfachen sich dann zu

d

dt

(m r

)− m r ϕ2 + V ′(r) = 0,

d

dt

(m r2 ϕ

)= 0. (11.55)

Wir finden wieder die Drehimpulserhaltung pϕ = m r2 ϕ = konst, und fur die radiale Bewegungsglei-chung konnen wir ein effektives Potenzial einfuhren,

m r = −V ′(r), mit V (r) = V (r) +pϕ

2

2 m r2 . (11.56)

Was wir in Kapitel 8 erst durch muhsames Umrechnen der Koordinaten herleiten mussten, ergibt sich hierohne großeren Aufwand, indem wir einfach die Lagrange-Funktion in Kugelkoordinaten darstellen.

Naturlich haben wir dafur schon ein wenig Vorarbeit geleistet, indem wir zum Beispiel die EuklidischeMetrik in Kugelkoordinaten dargestellt haben, so dass wir dies in (11.52) verwenden konnten. Trotzdemist die Herleitung jetzt sehr viel einfacher. Denn wir haben hier nicht nur, wie in Kapitel 8, die Bewe-gungsgleichungen fur ein Teilchen in der Aquatorebene bekommen, sondern mit (11.54) auch die fur einTeilchen, das sich beliebig im Raum bewegt und eine nicht verschwindende Geschwindigkeit ϑ hat. Dasware mit den Methoden in Kapitel 8 ungleich schwieriger gewesen.

Aufgabe 11.18 Man zeige, dass der Ausdruck fur pϕ = m r2 sin2 ϑ ϕ in der letzten Gleichung in (11.54)auch fur ϑ 6= π/2 die z-Komponente des Drehimpulses des Teilchens ist.

56

Page 16: 11 Lagrangesche Mechanik

Aufgabe 11.19 Am Beispiel des gekoppelten harmonischen Oszillators von weiter oben, und auch schonfruher in Kapitel 6, hatten wir gesehen, dass eine nutzlich Strategie zur Losung von Bewegungsgleichungenderen Entkoppelung ist. Man beweise folgenden allgemeinen Satz. Lasst sich die Lagrange-Funktion einesmechanischen Systems als Summe von zwei Funktionen L = L1 + L2 schreiben, wobei L1 nur von einemTeil der Koordinaten abhangt, und L2 nur von den ubrigen Koordinaten, so sind die beiden Satze vonBewegungsgleichungen unabhangig voneinander. Sie konnen unabhangig voneinander gelost werden, soals wurde es sich um zwei voneinander getrennte mechanische System handeln.

Aufgabe 11.20 Man wende den Satz aus Aufgabe 11.19 auf ein System von zwei Teilchen an, die sichfrei im dreidimensionalen Raum bewegen und durch die Gravitationskraft anziehen. Welches sind hierdie am besten geeigneten verallgemeinerten Koordinaten, in denen die Lagrange-Funktion sogar in vierunabhangige Summanden zerfallt?

Krafte und Potenziale

Die d’Alembertsche Formulierung der Bewegungsgleichungen konnen wir fur jedes mechanische Systemverwenden. Wir mussen nur, wenn wir ein krummliniges oder sogar zeitabhangiges Koordinatensystemverwenden, die Komponenten der Krafte entsprechend in die verallgemeinerten Krafte umrechnen. Wirkonnen dies tun, indem wir direkt die Teilchenkoordinaten rn,i bzw. die Teilchenorte rn im dreidimen-sionalen Raum als Funktionen der krummlinigen Koordinaten qα auf dem Konfigurationsraum darstellen,also

rn,i = rn,i

({qα}, t

)bzw. rn = rn

({qα}, t

). (11.57)

Hier ist n wieder der Teilchenindex, und i der Index fur ein kartesisches Koordinatensystem im dreidimen-sionalen Raum. Die verallgemeinerten Krafte Fα ergeben sich dann aus der allgemeinen Formel (11.43),wobei wir die Summe uber den Index µ aufspalten mussen in eine Summe uber die Teilchen n und eineSumme uber die Vektorkomponenten i. Das ergibt

Fα =∑

n

∂rn,i

∂qα Fn,i =∑

n

∂rn

∂qα · Fn. (11.58)

Die Summe uber den Vektorindex i konnen wir auch wieder als Skalarprodukt im Euklidischen Raumschreiben. In dieser Form lassen sich die verallgemeinerten Krafte oft am einfachsten berechnen.

Als Beispiel betrachten wir eine Reibungskraft als typisches Beispiel fur eine Kraft, die sich nicht auseinem Potenzial ableiten lasst. Das System bestehe aus nur einem Teilchen, und wir benutzen Zylinderko-ordinaten (r, ϕ, z). Der Ort des Teilchens ist dann

r = o + r cos ϕ ex + +r sin ϕ ey, +z ez, (11.59)

wobei (ex, ey, ez) eine Orthonormalbasis ist. Die kinetische Energie entnehmen wir aus (11.37), indemwir dort ω = 0 setzen,

T =1

2m (r2 + r2 ϕ2 + z2). (11.60)

Von der Kraft nehmen an, dass es sich um eine lineare Reibungskraft handelt. Sie soll proportional zurGeschwindigkeit und ihr entgegengerichtet sein,

F = −η r ⇒ Fα =∂r

∂qα · F = −η∂r

∂qα · r = −η∂r

∂qα · ∂r

∂qβqβ. (11.61)

Die Summe uber n in (11.58) ist hier trivial, da nur ein Teilchen vorhanden ist. Der letzte Ausdruckergibt sich, indem wir die Geschwindigkeit r mit Hilfe der Kettenregel als Funktion der verallgemeinerten

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Page 17: 11 Lagrangesche Mechanik

Geschwindigkeiten qα ausdrucken. Die Skalarprodukte

gαβ =∂r

∂qα · ∂r

∂qβ=

∂ri

∂qα

∂ri

∂qβ=

∂ri

∂qα

∂rj

∂qβδij (11.62)

fur α, β ∈ {r, ϕ, z} haben wir bereits einmal ausgerechnet. Das sind namlich die Komponenten der Metrikin Zylinderkoordinaten, die in kartesischen Koordinaten durch gij = δij dargestellt wird. Mit (10.49), umdie Koordinate z erganzt, ergibt sich

grr = 1, gϕϕ = r2, gzz = 1, (11.63)

und alle anderen Komponenten sind gleich Null. Im Falle eines Ein-Teilchen-Systems wird auf diese Weisenaturlich auch auf dem Konfigurationsraum eine Metrik definiert, und diese konnen wir in beliebigenkrummlinigen Koordinatensystemen darstellen. Fur die verallgemeinerten Krafte ergibt sich daraus

Fα = −η gαβ qβ ⇒ Fr = −η r, Fϕ = −η r2 ϕ, Fz = −η z. (11.64)

Die verallgemeinerten Krafte sind nicht einfach proportional zu den verallgemeinerten Geschwindigkei-ten, sondern es tritt bei der ϕ-Komponente eine ortsabhangige Proportionalitatskonstante auf. Dafur gibtes wieder eine einfache geometrische Erklarung. Die Kraft ist ein dualer Vektor, die Geschwindigkeit da-gegen ein Vektor. Deshalb wird der Zusammenhang zwischen den beiden durch die Metrik hergestellt, undderen Komponenten sind in krummlinigen Koordinaten ortsabhangig.

Die linke Seite der d’Alembertschen Gleichung hatten wir bereits in (11.45) ausgerechnet. Auf derrechten Seite steht jetzt die Kraft (11.64). Folglich ergeben sich fur das Teilchen mit linearer Reibung dieBewegungsgleichungen

d

dt

(m r

)= m r ϕ2 − η r,

d

dt

(m r2 ϕ

)= −η r2 ϕ,

d

dt

(m z) = −η z. (11.65)

Aufgabe 11.21 Man gebe die Losung dieser Bewegungsgleichungen mit den Anfangsbedingungen

r(0) = ρ, r(0) = 0, ϕ(0) = 0, ϕ(0) = ω, z(0) = 0, z(0) = v (11.66)

an. Der Trick besteht auch hier darin, zuerst die Bewegungsgleichungen fur den Drehimpuls pϕ = m r2 ϕzu losen. Es handelt sich zwar jetzt nicht mehr um eine Erhaltungsgroße, aber sie lasst sich dennoch losen,und danach entkoppeln die ubrigen Bewegungsgleichungen.

Aufgabe 11.22 Man fuhre die gleiche Rechnung in Kugelkoordinaten aus. Welche verallgemeinertenKomponenten (Fr, Fϑ, Fϕ) ergeben sich in diesem Fall fur die die Reibungskraft?

Naturlich sind Zylinder- oder Kugelkoordinaten in diesem Fall nicht die am besten an das Problem ange-passten Koordinaten. Die Bewegungsgleichungen in kartesischen Koordinaten sind viel einfacher, da siefur eine lineare Reibungskraft unmittelbar entkoppeln. Wir konnen aber eine kleine Variation an diesemProblem vornehmen, so dass das nicht mehr der Fall ist.

Das leicht veranderte Problem dient gleichzeitig als Beispiel fur eine verallgemeinerte Form der Be-wegungsgleichungen, die sich als Kombination der d’Alembertschen und Lagrangeschen Form ergibt.Da Krafte additiv sind, konnen wir sie in konservative Krafte und solche Krafte zerlegen, die sich nichtaus einem Potenzial ableiten lassen. Wir fassen dann alle konservativen Krafte zu einem Potenzial Vzusammen und definieren wie ublich eine Lagrange-Funktion L = T − V . Dann mussen wir aber dienicht-konservativen Krafte noch zusatzlich in die Bewegungsgleichungen aufnehmen, indem wir ihre ver-allgemeinerten Komponenten Fα auf die rechte Seite schreiben.

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Page 18: 11 Lagrangesche Mechanik

Als Kombination der Bewegungsgleichungen (11.44) und (11.51) ergibt sich dann

allgemeineBewegungsgleichung

d

dt

∂L∂qα − ∂L

∂qα = Fα. (11.67)

Fur V = 0 ist L = T , und es ergibt sich wieder die d’Alembertsche Formulierung. Fur Fα = 0 sind alleKrafte konservativ, und es ergibt sich die Lagrangesche Formulierung.

Als Beispiel fugen wir zu unserem oben definierten Teilchen mit Reibungskraft ein Potenzial V = V (r)hinzu, das nur vom Abstand von der z-Achse abhangen soll. In diesem Fall sind die Zylinderkoordinatenetwas besser an das Problem angepasst, denn dann hangt das Potenzial nur von einer Koordinate ab. Wirkonnen uns als Realisierung eines solchen Systems ein elektrisch geladenes Teilchen vorstellen, das sichin einem Medium, das eine Reibung verursacht, in der Nahe eines geladenen Drahtes befindet.

Um die Bewegungsgleichungen in der Form (11.67) aufzuschreiben, mussen wir nur statt der kineti-schen Energie (11.60) die Lagrange-Funktion

L = T − V =1

2m

(r2 + r2 ϕ2 + z2

)− V (r) (11.68)

verwenden. Die Reibungskraft ist die gleiche wie vorher. Folglich andert sich nur die Bewegungsgleichungfur die Koordinate r, denn nur in sie geht die Ableitung des Potenzials ein. Es genugt außerdem, nur dieBewegungsgleichungen fur r und ϕ zu betrachten, da die Bewegung in z-Richtung ohnehin entkoppelt,

d

dt

(m r

)= m r ϕ2 − η r − V ′(r),

d

dt

(m r2 ϕ

)= −η r2 ϕ. (11.69)

Aufgabe 11.23 Das Potenzial sei V (r) = κ r2/2, bewirke also eine lineare, rucktriebende Kraft. WelcheLosung ergibt sich dann aus den Anfangsbedingungen (11.66)? Auch hier lasst sie sich wieder bestimmen,wenn man zuerst die unveranderte Bewegungsgleichung fur den Drehimpuls pϕ = m r2 ϕ lost.

Aufgabe 11.24 Es sei V (r) irgendeine monoton wachsende Funktion, so dass das Minimum des Potenzi-als auf der z-Achse liegt. Man zeige, dass in diesem Fall jede Bewegung, unabhangig von den Anfangsbe-dingungen, fruher oder spater in der Nahe der z-Achse endet. Es gilt also r(t) → 0 fur t → ∞.

Aufgabe 11.25 Man fuhre wieder die analogen Uberlegungen in Kugelkoordinaten durch, wobei das Po-tenzial in diesem Fall kugelsymmetrisch sein soll. Man zeige entsprechend, dass bei einem monoton an-steigenden Potenzial V (r) das Teilchen stets in der Nahe des Ursprungs endet, also auch hier r(t) → 0fur t → ∞ gilt.

Die Lorentz-Kraft

Mit der Mischform (11.67) haben wir die allgemeinste Darstellung fur die Bewegungsgleichungen ei-nes mechanischen Systems in einem beliebigen krummlinigen Koordinatensystem angegeben. Wir wollenjetzt noch der Frage nachgehen, was das allgemeinste Kraftgesetz ist, das sich allein aus einer Lagrange-Funktion ableiten lasst. Bisher hatten wir argumentiert, dass es dazu ein Potenzial V geben muss, also eineFunktion des Ortes q ∈ Q, deren Gradient die Kraft ist.

Eine genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass sich eine viel großere Klasse von Krafte durch eineLagrange-Funktion beschreiben lasst. Interessanterweise sind es genau diejenigen Krafte, die wir als elek-tromagnetische Krafte kennen. Das ist ein sehr bemerkenswerter Umstand, denn es zeigt, dass es offenbareinen Zusammenhang zwischen der Lagrangeschen Formulierung der Mechanik und anderen, fundamen-talen physikalischen Theorien gibt.

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Page 19: 11 Lagrangesche Mechanik

Um herauszufinden, welche Arten von Kraften sich prinzipiell aus einer Lagrange-Funktion ableitenlassen, betrachten wir irgendeine Funktion L, die ein Polynom vom Grad 2 in den Geschwindigkeiten ist,aber ansonsten beliebig vom Ort und der Zeit abhangt. Das ist naturlich noch langst nicht die allgemein-ste mogliche Lagrange-Funktion. Da aber fur mechanische Systeme die kinetische Energie immer einequadratische Funktion der Geschwindigkeit ist, treten nur solche Lagrange-Funktionen fur physikalischrealistische Systeme auf.

Wir sind außerdem bescheiden und betrachten nur ein einzelnes Teilchen, also einen dreidimensiona-len Konfigurationsraum, dessen Koordinaten wir mit ri bezeichnen. Dies seien die ublichen kartesischenKoordinaten im Euklidischen Raum, so dass wir alle Indizes nach unten schreiben konnen. Die Lagrange-Funktion lautet dann

L =1

2Mij(r, t) ri rj + Ai(r, t) ri − φ(r, t), (11.70)

wobei Mij ein beliebiges symmetrisches Tensorfeld zweiter Stufe ist, Ai ein beliebiges Vektorfeld, undφ ein beliebiges skalares Feld, jeweils auf dem dreidimensionalen Euklidischen Raum. Alle drei Felderkonnen zudem von der Zeit abhangen. Das ist offenbar die allgemeinste Funktion L mit den verlangenEigenschaften. Der spezielle Fall eines gewohnlichen Teilchens der Masse m in einem Potenzial V (r, t)ist darin enthalten. In diesem Fall mussen wir nur Mij(r, t) = m δij , Ai(r, t) = 0 und φ(r, t) = V (r, t)setzen.

Wie lauten nun die Bewegungsgleichungen, die sich aus (11.70) ergeben? Wir mussen dazu nur dieGleichung (11.51) auswerten. Zunachst ist

∂L∂rk

= Mkj(r, t) rj + Ak(r, t). (11.71)

Diese Große mussen wir nach der Zeit ableiten, wobei wir jetzt beachten mussen, dass wir zuerst fur r

eine Bahn r(t) einsetzen mussen, und dass wir zusatzlich die explizite Zeitabhangigkeit der Felder Mij

und Ai berucksichtigen mussen. Es genugt, den Ausdruck wie folgt teilweise mit Hilfe der Kettenregelauszuwerten,

d

dt

∂L∂rk

=d

dt

(Mkj(r, t) rj

)+ ∂iAk(r, t) ri + ∂tAk(r, t). (11.72)

Als Abkurzungen haben wir hier ∂t fur die partielle Ableitung ∂/∂t nach der Zeit verwendet, und wieublich ist ∂i die Ableitung ∂/∂ri nach den raumlichen Koordinaten.

Jetzt mussen wir noch den zweiten Term in der Bewegungsgleichung ausrechnen. Das ergibt

∂L∂rk

=1

2∂kMij(r, t) ri rj + ∂kAi(r, t) ri − ∂kφ(r, t). (11.73)

Wenn wir die Terme dann noch ein wenig ordnen, bekommen wir die Lagrange-Gleichung

d

dt

(Mkj rj

)− 1

2∂kMij ri rj =

(∂kAi − ∂iAk

)ri −

(∂kφ + ∂tAk

). (11.74)

Diese Gleichung konnen wir wie folgt interpretieren. Auf der linken Seite steht die Zeitableitung des Im-pulses. Allerdings hangt der Impuls jetzt nicht mehr einfach nur linear mit der Geschwindigkeit zusammen,sondern uber eine orts- und zeitabhangige Massenmatrix Mij.

Das ist etwas ungewohnlich, aber zumindest im Prinzip konnen wir uns ja durchaus vorstellen, dassdie Tragheit eines Teilchens keine feste Eigenschaft des Teilchen ist, sondern von Ort, Zeit und sogar derBewegungsrichtung im Raum abhangt. Genau dies wird durch die orts- und zeitabhangige MassenmatrixMij ausgedruckt, also durch den quadratischen Teil der Lagrange-Funktion. Der zusatzliche Term auf derlinken Seite ist derselbe, der sich auch in einem krummlinigen Koordinatensystem ergibt, wenn dort dieMassenmatrix ortsabhangig ist.

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Page 20: 11 Lagrangesche Mechanik

Da die Kraft auf der rechten Seite der interessantere Aspekt der Bewegungsgleichung ist, setzen wir vonnun an Mij = m δij, betrachten also ein “gewohnliches” Teilchen mit der Masse m. Auf der linken Seiteder Bewegungsgleichung (11.74) steht dann m rk, also Masse mal Beschleunigung. Die Kraft Fk auf derrechten Seite hangt aber immer noch vom Ort, der Geschwindigkeit und von der Zeit ab. Es ist also nichteinfach eine Potenzialkraft. Eine kurze Rechnung zeigt, dass wir diese speziele Form einer Kraft bereitskennen. Definieren wir namlich zwei neue Vektorfelder,

Bi = εijk ∂jAk und Ei = ∂iφ + ∂tAi, (11.75)

dann gilt fur die Kraft auf der rechten Seite von (11.74)

Fk = εkij ri Bj + Ek oder F = r × B + E. (11.76)

Das ist die elektromagnetische Lorentz-Kraft. Nur die Ladungen und, je nach Wahl des Einheitensystems,die Lichtgeschwindigkeit fehlt in dieser Darstellung. Das lasst sich aber leicht beheben. Hat das Teilcheneine Masse m und eine Ladung q, und verwenden wir das Gaußsche Maßsystem, so mussen wir dieLagrange-Funktion

L =1

2m r · r +

q

cA(r, t) · r − q φ(r, t) (11.77)

verwenden, um die Bewegungsgleichung mit den richtigen Konstanten zu bekommen, namlich

m r =q

cr × B + q E, mit B = ∇× A, E = −∇φ − 1

c∂tA. (11.78)

Bemerkenswert an diesem Ergebnis ist nicht nur, dass die Lorentz-Kraft offenbar die allgemeinste Formeiner Kraft ist, die sich fur ein einzelnes Teilchen aus einer Lagrange-Funktion ableiten lasst. Das ei-gentlich verbluffende ist, dass nur solche elektrische und magnetische Felder auftreten, die Losungen derhomogenen Maxwell-Gleichungen sind, fur die also gilt

∇× E +1

c∂tB = 0, ∇ · B = 0. (11.79)

Denn genau diese Felder lassen sich durch ein elektrisches Potenzial φ und ein magnetisches Vektorpo-tenzial A wie in (11.78) darstellen.

Es lassen sich also nicht nur Potenzialkrafte aus einer Lagrange-Funktion ableiten, sondern auch ge-schwindigkeitsabhangige Krafte, wenn sie die Form der Lorentz-Kraft haben. Dass dem so ist, konnenwir an dieser Stelle nur feststellen. Dass es sich dabei um eine sehr tiefsinnige Erkenntnis handelt, wirderst sehr viel spater klar werden, wenn wir namlich zeigen, dass sich auch die Bewegungsgleichungen deselektromagnetischen Feldes, also die Maxwell-Gleichungen aus einer Lagrange-Funktion ableiten lassen.

Dann wird sich diese Eigenschaft der Lorentz-Kraft namlich als eine Konsistenzbedingung ergeben, undes werden dabei auch die inhomogenen Maxwell-Gleichungen eine Rolle spielen. Aber das geht naturlichzu weit uber die klassische Mechanik hinaus, als das wir es an dieser Stelle wirklich verstehen konnen.Wir werden uns im folgenden auf rein mechanische Systeme beschranken, und im nachsten Kapitel denUmgang mit Lagrange-Funktion ausfuhrlich uben.

Aufgabe 11.26 Aus der elementaren Elektrodynamik ist bekannt, dass sich die Felder E und B nichtandern, wenn wir die Potenziale φ und A wie folgt eichtransformieren,

φ′ = φ − 1

c∂tΛ, A′ = A + ∇Λ, (11.80)

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Page 21: 11 Lagrangesche Mechanik

wobei Λ irgendeine Funktion von Ort und Zeit ist. Das ergibt sich auch durch Einsetzen unmittelbar aus(11.78). Die Lagrangefunktion L andert sich jedoch, wenn wir diese Transformation durchfuhren. Manzeige, dass die transformierte Funktion durch

L′ = L +q

c

dt(11.81)

gegeben ist. Die Zeitableitung d/dt ist wie ublich so zu verstehen ist, dass wir die Funktion Λ erst entlangeiner Bahn auswerten, und das Ergebnis dann als Funktion von Ort und Geschwindigkeit darstellen.

Aufgabe 11.27 Man beweise folgenden allgemeinen Satz. Es sei L irgendeine Lagrange-Funktion auf ei-nem Konfigurationsraum Q, die nicht einmal quadratisch in den Geschwindigkeiten sein muss. Sie wird ineinem beliebigen Koordinatensystem dargestellt als Funktion der Ortskoordinaten qα, der Geschwindig-keiten qα und der Zeit t. Eine zweite Lagrange-Funktion L′ sei definiert durch

L′ = L +dΛ

dt= L +

∂Λ

∂qα qα +∂Λ

∂t, (11.82)

wobei Λ irgendeine Funktion der Orte qα und der Zeit t ist. Dann ergeben sich aus L und L′ dieselbenBewegungsgleichungen (11.51). Verschiedene Lagrange-Funktionen L und L′ fuhren also auf die gleichenBewegungsgleichungen, wenn sie sich nur um die totale Zeitableitung einer Funktion Λ unterscheiden.

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