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- 83 - 14 Theorie der Reaktionskinetik 14.1 Stoßtheorie Die Stoßtheorie ist die älteste und einfachste Theorie zur Berechnung der RGK bimolekularer Re- aktionen in der Gasphase. Ihr liegt folgende Idee zugrunde. Bei einer bimolekularen Reaktion müssen die reagierenden Teilchen zuerst zusammenstoßen. Die Berechnung der entsprechenden Stoßrate ist bereits in Kap. 6.4 mit Hilfe der MGV erfolgt. Weiterhin sollen die Teilchen vor dem Stoß eine gewisse Mindest-Relativgeschwindigkeit aufweisen, d. h. beim Stoß steht eine gewisse Translations- energie zur Verfügung, mit der die Teilchen abstoßende Wechselwirkungen überwinden können, um dann abzureagieren. AB Die Stoßrate Z beträgt nach Gl. (6.4.13) (14.1.1) Würde jeder Zusammenstoß zu einer Reaktion führen, so müsste die Stoßrate nur noch in die RG umgerechnet werden. Für die Reaktion (14.1.2) würde dann gelten (14.1.3) Vergleich mit der Reaktionsgeschwindigkeitsgleichung (14.1.4) ergibt (14.1.5) Um vom Konzentrationsmaß und der Avogadroschen Konstante wegzukommen, wird in der Theorie der Reaktionskinetik häufig eine modifizierte RGK verwandt. Definiert man unter Verwendung der Teilchendichten (14.1.6) so folgt direkt aus Gl. (14.1.1) (14.1.7) Jetzt ist noch der Anteil der Stöße zu berechnen, die zu einer Reaktion führen. Die Reaktion sollte entsprechend der Annahme immer dann erfolgen, wenn die Reaktionspartner eine gewisse Translations- energie in ihrer Relativbewegung aufweisen. Über die Berechnung dieses Anteils steht in vielen Büchern sehr viel Unsinn, so im Atkins, Wedler, Moore und Pilling/Seakins. Ein sehr billiges Verfahren besteht darin, die zweidimensionale MGV zu benutzen, für die schon in Gl. (6.2.9) der Anteil der Teilchen berechnet wurde, die eine gewisse Energie g* übersteigen (14.1.8)

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14 Theorie der Reaktionskinetik

14.1 StoßtheorieDie Stoßtheorie ist die älteste und einfachste Theorie zur Berechnung der RGK bimolekularer Re-aktionen in der Gasphase. Ihr liegt folgende Idee zugrunde. Bei einer bimolekularen Reaktion müssendie reagierenden Teilchen zuerst zusammenstoßen. Die Berechnung der entsprechenden Stoßrate istbereits in Kap. 6.4 mit Hilfe der MGV erfolgt. Weiterhin sollen die Teilchen vor dem Stoß einegewisse Mindest-Relativgeschwindigkeit aufweisen, d. h. beim Stoß steht eine gewisse Translations-energie zur Verfügung, mit der die Teilchen abstoßende Wechselwirkungen überwinden können, umdann abzureagieren.

ABDie Stoßrate Z beträgt nach Gl. (6.4.13)

(14.1.1)

Würde jeder Zusammenstoß zu einer Reaktion führen, so müsste die Stoßrate nur noch in die RGumgerechnet werden. Für die Reaktion

(14.1.2)

würde dann gelten

(14.1.3)

Vergleich mit der Reaktionsgeschwindigkeitsgleichung

(14.1.4)

ergibt

(14.1.5)

Um vom Konzentrationsmaß und der Avogadroschen Konstante wegzukommen, wird in der Theorieder Reaktionskinetik häufig eine modifizierte RGK verwandt. Definiert man unter Verwendung derTeilchendichten

(14.1.6)

so folgt direkt aus Gl. (14.1.1)

(14.1.7)

Jetzt ist noch der Anteil der Stöße zu berechnen, die zu einer Reaktion führen. Die Reaktion sollteentsprechend der Annahme immer dann erfolgen, wenn die Reaktionspartner eine gewisse Translations-energie in ihrer Relativbewegung aufweisen. Über die Berechnung dieses Anteils steht in vielenBüchern sehr viel Unsinn, so im Atkins, Wedler, Moore und Pilling/Seakins. Ein sehr billiges Verfahrenbesteht darin, die zweidimensionale MGV zu benutzen, für die schon in Gl. (6.2.9) der Anteil derTeilchen berechnet wurde, die eine gewisse Energie g* übersteigen

(14.1.8)

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Der Grund für die Benutzung der zweidimensionalen MGV liegt einzig darin, dass man dann dasrichtige Ergebnis erhält. Eine korrekte Herleitung der gesamten Gl. (14.1.9) befindet sich wegen derLänge im Anhang 20.5.

AÜblicherweise wird die Energieschwelle als Aktivierungsenergie bezeichnet und das Symbol E für diemolare Größe benutzt. Aus Gl. (14.1.7) wird daher unter Berücksichtigung des erfolgreichen Anteils derZusammenstöße

(14.1.9)

Der Vergleich dieses Ergebnisses mit den experimentellen Beobachtungen fällt nicht sehr günstig aus.Die Stoßtheorie erlaubt nicht die Berechnung der Aktivierungsenergie. Sie kann nur dem Experimententnommen werden. Der von der Stoßtheorie vorausgesagte funktionelle Zusammenhang mit derTemperatur stimmt jedoch mit den experimentellen Beobachtungen überein, die in Gl. (13.2) zu-sammengefasst sind. Die Stoßtheorie enthält zwar zusätzlich noch im präexponentiellen Faktor dieWurzel aus der Temperatur; gemäß früheren Überlegungen ist diese Abhängigkeit jedoch vernachlässig-bar klein gegenüber der im Exponentialterm.Weiterhin kann der präexponentielle Faktor in Gl. (14.1.9) mit dem experimentell bestimmten Fre-quenzfaktor A, der aus der Arrhenius-Auftragung zugänglich ist, verglichen werden. Die folgendeTabelle enthält einige Daten dazu.

exp theReaktion Temperatur/K A /A

3 3 2 6CH + CH 6 C H 300 2,2@10-1

2CO + Cl 6 COCl + Cl 300 2@10-2

2 D + H 6 HD + H 300 5@10-2

22NOCl 6 2NO + Cl 470 7@10-2

Butadien + Acrolein 6 Cyclohexenaldehyd 500 5@10-6

2 2 4 2 6H + C H 6 C H 800 2@10-6

Für Reaktionen zwischen Atomen bzw. einfach aufgebauten Molekülen beträgt das Verhältnis derbeiden Frequenzfaktoren oft 10 bis 10 , d. h. die Stoßtheorie sagt eine erheblich zu große RGK voraus.-1 -2

Bei komplizierten Reaktionen kann dieses Verhältnis jedoch leicht 10 bis 10 betragen, d. h. die-4 -6

Stoßtheorie versagt vollständig.Diese Diskrepanz ist für eine derartig grobe Theorie nicht verwunderlich. Man hat versucht, durchEinführung eines sterischen Faktors p gemäß

(14.1.10)

die Theorie zu verbessern. Der sterische Faktor sollte berücksichtigen, dass bei der Reaktion kom-pliziert aufgebauter Moleküle nicht alle gegenseitigen Orientierungen beim Zusammenstoß zu einerReaktion führen können. So kann z. B. bei der Annäherung eines Substituenten an ein großes asymme-trisches Molekül von der falschen Seite her die Reaktion nicht ablaufen. Die Theorie ist jedoch nicht inder Lage, diesen sterischen Faktor zu berechnen.Weitere ungeklärte Fragen bei der Stoßtheorie sind:1) Kann Energie aus anderen, d. h. nicht-translatorischen Freiheitsgraden bei der Reaktion verwandtwerden? Wie ist insbesondere die Rotationsenergie zu berücksichtigen? Ist die Behandlung nicht-zentraler Stöße mit dem Glied cos 1 (siehe Anhang 20.5) korrekt?2

2) Ist die Annahme korrekt, dass es eine scharfe Grenze für die Auslösung der Reaktion in Abhängigkeitvon der relativen Translationsenergie gibt? Das Molekularstrahlexperiment und quantenmechanischeRechnungen dazu zeigen, dass dieses nicht der Fall ist. Der effektive Stoßquerschnitt ist in Abhängig-

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Abb. 61 Stoßquerschnitt als Funktionder Stoßenergie

Abb. 62 Energie als Funktion der Reaktions-koordinate

keit von der relativen Translationsenergie eine glatte Funktion(Abb. 61), die durch die Annahme der Stoßtheorie nur sehrunvollkommen angenähert wird. Insbesondere zeigt das Exper-iment, dass bei zu großen Stoßenergien die Reaktionswahr-scheinlichkeit wieder abnimmt, da u. U. völlig andere Produktegebildet werden oder die Überschussenergie nicht abgeführtwerden kann.3) Es müsste die Dynamik des nach dem Stoß gebildeten Kom-plexes, insbesondere bei kompliziert aufgebauten Reaktandenuntersucht werden. Wie groß ist der Anteil der Stöße, die wirk-lich zu einer Reaktion in der gewünschten Richtung führen?Die Stoßtheorie kann das alles nicht leisten. Sie ist eher alseinfacher und daher didaktisch wichtiger Einstieg in die Theorie

für den Anfänger zu sehen.

14.2 Theorie des Übergangszustandes, Transition State TheoryDie Theorie des Übergangszustandes oder neudeutsch "Transition State Theory" wurde um 1935 vonEyring entwickelt. Für ihre Formulierung wird an und für sich die Statistische Thermodynamik benötigt,die uns noch nicht zur Verfügung steht. Wir werden uns daher mit einer phänomenologisch thermody-namischen Diskussion begnügen müssen, die einige Schwachstellen aufweisen wird.

Unter dem Übergangszustand einer Reaktion ver-steht man den Zustand, in dem der Reaktionskom-plex die maximale Innere Energie aufweist. Diessoll mit Abb. 62 für die Reaktion

(14.2.1)

verdeutlicht werden. Sie zeigt die Innere Energiealler Reaktanden bei der Reaktion in Abhängigkeitvom Abstand der Reaktanden, wobei für den linken

2Teil der D-H -Abstand und für den rechten der DH-H-Abstand verwandt wurde. Eine genauere Defini-tion der Reaktionskoordinate wird erst im nächstenKapitel erfolgen.

Im Bild der Stoßtheorie muss daher den Reaktionspartnern eine bestimmte Energie, z. B. in Form vonTranslationsenergie, mitgegeben werden, um die Reaktanden über die energetische Hürde des Über-gangszustandes hinwegzubringen. Der Übergangszustand ist sozusagen der Zustand, in dem dieBindungen der Edukte teilweise gelöst und die der Produkte teilweise gebildet sind. In einer Reaktions-gleichung symbolisiert man das wie folgt.

(14.2.2)

Eine entsprechende Formulierung für beliebige Reaktanden ist

(14.2.3)

wobei den Reaktionskomplex im Übergangszustand darstellt. Das Symbol wird "Doppelkreuz"

oder "im Übergangszustand" ausgesprochen.Gl. (14.2.3) enthält die Annahme, dass der erste Reaktionsschritt in beiden Richtungen durchlaufen

werden kann. Weiterhin soll angenommen werden, dass der Übergangskomplex wie ein "nor-

males" Molekül behandelt werden kann. Insbesondere soll für ihn das MWG

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(14.2.4)

angesetzt werden dürfen. Letzteres setzt voraus, dass die RGK in Gl. (14.2.3) so liegen, dass das

Gleichgewicht zwischen A, B und wirklich eingestellt ist. Die Konzentration von wird sehr

gering sein. Das kann dadurch bedingt sein, dass die Hinreaktion zu langsam ist, die Rückreaktion

zu A, B schnell ist und die RG zu den Produkten sehr langsam ist. Das wäre in Ordnung. Es könnte aber

auch sein, dass die Reaktion zu den Produkten sehr schnell ist und nur deswegen die Konzentration von

klein ist. Dann würde kein eingestelltes Gleichgewicht vorliegen. Sorgfältige quantenmechanische undreaktionsdynamische Untersuchungen haben gezeigt, dass das Gleichgewicht abgesehen von extremschnellen Reaktionen immer eingestellt ist.Für die Produktbildungsgeschwindigkeit gilt

(14.2.5)

Vergleich mit der RG für eine bimolekulare Reaktion

(14.2.6)

ergibt

(14.2.7)

wird aus der Freien Reaktionsenthalpie berechnet

(14.2.8)

und daher

(14.2.9)

und sind die Reaktionsenthalpie bzw. -entropie zum Übergangszustand unter Stan-

dardbedingungen. Die Größe c stammt aus der Umrechnung von in . Mit dieser Größe ist dies

Gleichung auch bezüglich der Einheiten auf der linken und rechten Seite (beides dm mol s ) in3 -1 -1

Ordnung. Diese Größe fehlt in vielen Büchern.Schließlich muss noch kN, die Zerfallsgeschwindigkeit des Komplexes, berechnet werden. Mit Hilfe derStatistischen Thermodynamik lässt sich kN sehr gut bestimmen. Diese Theorie steht uns nun nicht zurVerfügung. Zum Zerfall des DHH-Moleküls kommt es dadurch, dass in einer asymmetrischen Streck-schwingung eine Bindung gelöst wird und eine sich verfestigt. Aus dieser Argumentation erkennt man,dass die Zerfallsgeschwindigkeiten in die Produkte bzw. Edukte von gleicher Größenordnung sind. DenAnteil des Zerfalls in die Produkte bezeichnet man als Transmissionskoeffizienten 6. In unserem Fallbeträgt 6 = 0,5; für andere Reaktionen üblicherweise 0,5 - 1.Im Prinzip berechnet man in der Statistischen Thermodynamik die Geschwindigkeit der Relativbewe-gung auf der Reaktionskoordinate bei gegebener Temperatur mit den uns bekannten Gleichungen. Mansetzt dann einen fiktiven Stabilitätsbereich für die Bewegung auf der Reaktionskoordinate an undbestimmt damit die Zerfallszeit. Schließlich wird die Gleichgewichtskonstante mit Hilfe der Statisti-schen Thermodynamik berechnet. Vergleich mit dem obigen Ausdruck ergibt

(14.2.10)

wobei k die Boltzmannkonstante darstellt. Einführung dieser Gleichung und des Transmissions-

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koeffizienten in Gl. (14.2.9) liefert das für unsere Möglichkeiten endgültige Ergebnis

(14.2.11)

Zuerst wollen wir diesen Ausdruck mit dem experimentellen Befund nach Arrhenius für eine bimoleku-lare Gasreaktion vergleichen.Aus der Arrhenius-Auftragung findet man

(14.2.12)

Führt man in Gl. (14.2.11) wieder die Gleichgewichtskonstante ' ein, so gilt

(14.2.13)

und daher

(14.2.14)

Mit Gl. (14.2.12) folgt daraus

(14.2.15)

pJetzt wird mit Gl. (I 16.1.13) in K umgerechnet. Das ergibt

(14.2.16)

und daher

(14.2.17)

Mit der van't Hoffschen Reaktionsisobare (I 16.4.4) findet man

(14.2.18)

so dass für bimolekulare Reaktionen mit )< = -1 schließlich

(14.2.19)

entsteht.Die Einführung von )U ist mit Hilfe von Gl. (I 11.1.13) möglich. Dies ergibt für eine bimolekulareReaktion

(14.2.20)

die auch in der flüssige Phase benutzt werden darf. Da in kondensierten Phasen )H und )U sehr gutübereinstimmen, gilt in flüssigen Phasen im Gegensatz zu Gl. (14.2.19)

(14.2.21)

AVerfolgt man die Herleitung zurück, so beruht der Unterschied zwischen E und nur auf den

Temperaturterm in Gl. (14.2.13).

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Die Gl. (14.2.19) und (14.2.21) erlauben es, die experimentell bestimmten Aktivierungsenergien in dieAktivierungsenthalpie umzurechnen. Insgesamt ist festzustellen, dass die relativen Unterschiede

Azwischen E und nicht sehr groß sind, da die Aktivierungsenergien i. a. einige 10 bis einige 100

kJ/mol betragen, während RT etwa 2,5 kJ/mol groß ist.Was hat man mit der Theorie des Übergangszustandes gewonnen?1. Die experimentell beobachtete Temperaturabhängigkeit der RGK wird & wie auch schon von derStoßtheorie & korrekt vorhergesagt.2. Mit Hilfe der Statistischen Thermodynamik lassen sich die in Gl. (14.2.11) eingehenden Akti-vierungsgrößen für einfache Reaktanden mit nicht zu großen Ansprüchen an die Genauigkeit berechnen.3. Das wenig ergiebige Konzept des sterischen Faktors in der Stoßtheorie wird durch die Aktivierungs-entropie ersetzt, unter der sich der Chemiker etwas vorstellen kann.4. Wegen der Annahmen über den Übergangszustand (eingestelltes Gleichgewicht, das der Thermody-namik zugänglich ist) und weiterer Näherungen bei der statistischen Berechnung darf man keineWunder bei den numerischen Werte erwarten.

Wie bei der Überprüfung der Stoßtheorie lassen sich die Aktivierungsenthalpie und -entropie demExperiment entnehmen. Bei der Aktivierungsentropie findet man bei einfachen Reaktanden undProdukten schwach negative Werte; bei komplizierteren Reaktanden dagegen stark negative Werte. DerGrund für die negativen Werte hängt damit zusammen, dass bei der Bildung des Übergangzustandeszwei Moleküle zusammentreten und daher die Entropie für translatorische und rotatorische Bewegungs-freiheitsgrade verloren geht. Bei der Ausbildung eines kompliziert aufgebauten Komplexes gehen durchKnüpfung neuer Bindungen auch innere Bewegungsfreiheitsgrade verloren, so dass hier die Entropiestark abnehmen kann. Eine positive Aktivierungsentropie findet man selten, z. B. bei der Reaktionunterschiedlich geladener Ionen, die dann im Übergangskomplex eine geringere Ladung und damit eineschwächere Solvathülle und eine höhere Entropie aufweisen.

14.3 Reaktionsdynamische RechnungenBetrachtet man die in den beiden vorangehenden Kapiteln vorgestellten Theorien der Reaktionskinetikvon einem mikroskopischen Standpunkt aus, so muss man feststellen, dass beide Theorien nur grobeAnhaltspunkte für die RGK liefern können, da sie den Reaktionsablauf im Komplex nach dem Zu-sammenstoß mehr oder weniger vollständig außer acht lassen.Für einfache Reaktanden ist es heute möglich, mit Hilfe der Quantenmechanik die potentielle Energieeines Reaktionskomplexes als Funktion der gegenseitigen Abstände der Atome mit der für die weitereRechnung notwendigen Genauigkeit zur Verfügung zu stellen. Diese potentielle Energie enthält dieWechselwirkungen aller Elektronen und Kerne untereinander als auch die kinetische Energie derElektronen, jedoch nicht die der Kerne. Wenn diese sog. Energiehyperfläche & "hyper" wegen dergroßen Zahl unabhängiger Variabler bei einer großen Zahl von Kernen & bekannt ist, kann man dannmit Hilfe der Gesetze der klassischen Mechanik die Bewegung der einzelnen Atome oder auch größererGruppen explizit in fs-Schritten in einem Rechner ablaufen lassen und damit zeitlich verfolgen. Manerhält eine sog. Trajektorie, d. h. die zeitliche Abhängigkeit der Ortskoordinaten aller Atome imReaktionskomplex. Eine große Zahl von Trajektorien mit verschiedenen Anfangsbedingungen gemitteltergibt dann das makroskopische Geschehen während einer Reaktion.Als Beispiel für das Vorgehen bei einer reaktionsdynamischen Rechnung soll wieder die einfach zuüberblickende Reaktion

(14.3.1)

diskutiert werden. Hier reagieren 3 Atome miteinander, die insgesamt 9 Bewegungsfreiheitsgradeaufweisen. Bei der Reaktion interessiert nun weder die Bewegung des Schwerpunkts noch die Rotationdes gesamten Reaktionskomplexes. Dadurch entfallen insgesamt 6 Freiheitsgrade und es verbleiben 3.

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Abb. 63 Koordinatenfür das System DHH

Abb. 64 Koordinaten für das lineareSystem DHH

Abb. 65 Energiehyperfläche von DHH ineiner Parallelprojektion Abb. 66 Energiehyperfläche von DHH als

Höhenliniendiagramm

Abb. 67 Morsepotenzial

DH1 DH2Als Koordinaten könnte man beispielsweise die drei Abstände r , r und

HHr verwenden. Die Auftragung der potentiellen Energie über diesen dreiKoordinaten ergäbe eine vierdimensionale Darstellung. Nun hat sich ge-zeigt, dass die Reaktion energetisch am günstigsten verläuft, d. h. die Re-aktion über Zustände niedrigster Energie verläuft, wenn die 3 Atome linearangeordnet sind (kollineare Anordnung oder kollinearer Stoß). Wir wollenuns nur mit dem kollinearen Fall beschäftigen, obwohl bei der realen Re-aktion natürlich auch nichtlineare Stöße auftreten und & mit geringererReaktionswahrscheinlichkeit & auch zu den Produkten führen.

Für die Darstellung der Energiehyperfläche im kollinearen

DH HHFall benutzen wir die zwei Abstände r und r . Die Energie-hyperfläche wird als Projektion der dreidimensionalen Flächeoder als Höhenliniendiagramm dargestellt. Im Prinzip sindbeides Parallelprojektionen unter verschiedenen Betrachtungs-winkeln.

Die hier gezeigten, schematischen Darstellungen sind ausMorse-Potenzialen

(14.3.2)

ozusammengesetzt worden. D gibt die Höhe des Potenzials

Glfür r 6 4 an, r den Gleichgewichtabstand und $ die Skalie-rung der r-Achse. Für wirkliche reaktionsdynamische Rech-nungen müssen mit Hilfe der Quantenmechanik sorgfältigberechnete Potenziale verwandt werden.

2Die Darstellungen zeigen den Beginn zweier langgestreckter Täler, in denen sich H bzw. DH imGleichgewichtszustand befinden und das dritte Atom sich in großer Entfernung aufhält. Die Verbindungder Täler verläuft über einen Sattel S, der dem höchsten Punkt auf dem Weg mit niedrigster Energiezwischen den Tälern entspricht. Die früher diskutierte Reaktionskoordinate entspricht der Ortskoordina-

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2Abb. 68 H -Schwingung imDHH-System

te auf diesem Weg niedrigster Energie (gestrichelte Linie im Höhenliniendiagramm).Rechts oben im Höhenliniendiagramm sind alle Bindungen gelöst: D + H + H. Rechts unten im Tal liegtD + HH vor; links oben DH + H. Auf dem Sattelpunkt liegt D @ @ @ H @ @ @ H vor. Im Bereich links untenwerden alle drei Atome sehr eng zusammengedrückt.Die Projektion des Weges niedrigster Energie auf die Atomabstandsebene ist gerundet. Das bedeutet,dass bei der Annäherung des Deuteriumatoms an des Wasserstoffatom im Zustand niedrigster Energie

DH HHdas Wasserstoffatom aufgeweitet wird, bis schließlich auf dem Sattelpunkt r und r übereinstimmen.Die Form der Energiehyperfläche ist wegen der gleichen Ladungen von H und D symmetrisch zu einer

DH HHEbene, die senkrecht auf der 45 -Geraden in der r ,r -Ebenen steht.o

Eine reaktionsdynamische Rechnung würde nun so vonstatten gehen, dass man das Deuteriumatom ingroßer Entfernung vom Wasserstoffmolekül positioniert und ihm eine gewisse Geschwindigkeit relativzum Wasserstoffmolekül gibt. Das Wasserstoffmolekül könnte eine Schwingung ausführen, d. h. manlegt die Auslenkung aus der Gleichgewichtslage und die Relativgeschwindigkeit der beiden Wasser-

DH HHstoffatome im Molekül fest. Man legt so einen Punkt in der r ,r -Ebene fest und gibt ihm einebestimmte Geschwindigkeit in dieser Ebene. Jetzt wird mit Hilfe der klassischen Mechanik ausge-rechnet, wie sich dieser Punkt mit der vorgegebenen Geschwindigkeit und den durch die Hyperflächebewirkten Kräften entsprechend in einem vorgegebenen Zeitintervall fortbewegt und

erhält eine neue Position und eine neue Geschwindigkeit. Von diesem neuen Punkt ausgehend wird die

DH HHRechnung wiederholt und man erhält eine Trajektorie, d. h. die Bahn des Ortspunktes in der r ,r -Ebene.Für die Diskussion ist es jedoch vorzuziehen, ein Verfahren in der Hand zu haben, das einem erlaubt,mit etwas "mechanischem Gefühl" die Trajektorie vorauszusagen. Das wäre z. B. möglich, wenn dieTrajektorie der Bahn einer auf der Hyperfläche rollenden Kugel (mit dem Trägheitsmoment Null, umdie Diskussion der Rotationsenergie zu vermeiden) entspräche. Dem stehen zwei Hindernisse im Wege.

21) Wir führen die Reaktion (14.3.1) durch und geben D und H zum Anfang eine gewisse Relativ-geschwindigkeit mit. Wegen der Symmetrie der Energiehyperfläche müssen die Teilchen nach derReaktion die gleiche Translationsenergie aufweisen (von durch die Quantenmechanik bewirktenÄnderungen in den Nullpunktsschwingungen sehen wir ab). Nun ändert die Reaktion aber die reduzier-ten Massen.

(14.3.3)

Wegen

(14.3.4)

ändert sich die Relativgeschwindigkeit durch die Reaktion, d. h. die Kugel müsste aus dem Produkttalmit einer anderen Geschwindigkeit herausrollen, als sie in das Edukttal hineinrollt. Diese Schwierigkeit

DH HHkann man vermeiden, indem man die Achsen r und r unterschiedlich dehnt bzw. staucht.2) Ein weiteres Problem entsteht dadurch, dass der Schwerpunkt des Reaktionskomplexes erhalten

bleiben muss. Beispielsweise soll das Wasserstoffmolekül beiweit entferntem Deuterium eine Schwingung ausführen. Da nun

2der Schwerpunkt des Systems erhalten bleiben soll, schwingt Hbei feststehender Molekülmitte, wodurch sich der DH-Abstand

DHändert. Die Schwingung im Tal bei großem r entspricht dahereiner schrägen Linie (!), d. h. auch diese Trajektorie entsprichtnicht der Bahn einer Kugel. Diese schrägen Linien macht manorthogonal zum Koordinatensystem, in dem man ein neues, mas-

DHsengewichtetes Koordinatensystems einführt, in dem die r - und

HHr -Achse des alten Systems schräg liegen.Für die Reaktion

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Abb. 69 Energiehyperfläche für das DHH-System in einem massengewichteten Koordinatensystem

(14.3.5)

gilt ohne Nachweis

(14.3.6)

mit

(14.3.7)

X und Y sind die beiden neuen Koordinaten.In diesem Koordinatensystem entspricht die Bewegung des A/B/C-Systems der Bewegung einer Kugelauf der Energiehyperfläche. Die Koeffizienten a und b sind so gewählt, dass sie den Wurzeln aus denreduzierten Massen von A + BC bzw. AB + C entsprechen; das behebt das Problem mit denunterschiedlichen Geschwindigkeiten unseres ersten Problems und bewirkt, dass die Kugel die Ein-heitsmasse aufweist.

AB BCDer Winkel $ zwischen den alten Achsen r und r im neuen Koordinatensystem kommt wie folgt

BCzustande. Eine Vergrößerung des r -Wertes um eine Längeneinheit bewirkt einen Vorschub in X-Richtung um b cos$ und in Y-Richtung um b sin$. Der Tangens des Winkels zwischen den Achsenbeträgt daher sin$/cos$ = tan$.Geringe Abweichungen von $ = 90 erhält man, wenn B schwer im Verhältnis zu A und C ist. Beio

A Cdiesem sog. LSL-System kann man in dann Gl. (14.3.7) in der Gleichung für den Winkel m und m inden Klammern streichen und erhält cos $ . 0, d. h. $ . 90 . Bei einem SLS-System (z. B. Cl + HCl 6o

BClH + Cl) ist m klein. Daher wird cos $ fast 1 und $ sehr klein. In diesem Fall resultiert ein sehr2

schiefes System.

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Abb. 70 Energiehyperfläche für ein SLS-System

Abb. 69 zeigt die Energiehyperfläche für die Reaktion (14.3.1) in einem massengewichteten, schiefenKoordinatensystem mit $ = 54,7 und willkürlichen Längeneinheiten auf den Achsen. Eingezeichneto

2sind zwei Trajektorien, die von dem eingezeichneten Punkt im D + H -Tal ausgehen. Die mit einer

2durchgehenden Linie gezeichnete Trajektorie entspricht am Anfang einer Bewegung von D und H

2aufeinander zu sowie einer Schwingung des H . Obwohl die Summe der beiden Energien ausreicht, umden Sattel zu überwinden & daraus ersichtlich, dass die Trajektorie die Isoenergielinie, die gerade überden Sattel läuft, mit einer endlichen Geschwindigkeit überschreitet &, kommt es nicht zur Reaktion.Nach der größten Annäherung entfernen sich die Teilchen wieder voneinander. Die gestricheltgezeichnete Trajektorie entspricht anfänglich einer rein translatorischen Bewegung. DasReaktionssystem durchläuft in der Nähe des Sattels den Punkt höchster Energie. Die Kugel rollt dannin das Produkttal und erhält dabei eine so große Geschwindigkeit, dass sie wegen der Krümmung derHyperfläche nicht im Tal verbleiben kann. Dadurch entsteht ein gewisser Anteil an Schwingungsenergieim Produktmolekül DH.Nachteilig bei diesen graphischen Darstellungen ist, dass man die Geschwindigkeit auf der Trajektorienicht sehen kann.

Bei dem zweiten untersuchten System mit der allgemeinen Reaktion (14.3.5) für eine SLS-System mit

A B Cm = 10, m = 1 und m = 10 g/mol beträgt der Winkel $ nur noch 24,62 (Abb. 70). Zusätzlich liegt beio

diesem System der Sattel nicht mehr symmetrisch. Der linke Teil des Koordinatensystems wurde abge-schnitten, da dieser Teil nicht benötigt wird und der restliche Teil dann größer dargestellt werden kann.

BCLässt man die Reaktion vom eingezeichneten Punkt bei großen r , d. h. in der Richtung

(14.3.8)

laufen, so wird der Übergangszustand sehr früh erreicht. Man spricht daher von einem frühenÜbergangszustand. In der umgekehrten Richtung liegt ein später Übergangszustand vor. SolcheVerschiebungen des Übergangszustandes beeinflussen die Reaktionswahrscheinlichkeit dramatisch. Beider aus dem oberen Tal ablaufenden Reaktion (14.3.8) kommt es immer zu einer Reaktion, wenngenügend Translationsenergie zur Verfügung steht. Das Hinunterrollen der Kugel vom Sattel führt imgekrümmten Teil zu einer starken Schwingungsanregung. Die umgekehrte Reaktion läuft dagegen nurunter Schwierigkeiten ab, da die Kugel selbst bei ausreichender Translationsenergie gegen das Potenzialam Talende läuft und wieder zurückrollt. Zum Ablauf der Reaktion muss also eine gewisseSchwingungsenergie und die auch noch mit der richtigen Phase vorhanden sein, damit es zur Reaktion

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kommt. Die gestrichelte Trajektorie in der umgekehrten Richtung ist ein Beispiel dafür. Hyperflächenmit frühen Sattelpunkten bezeichnet man daher als attraktiv, die mit einem späten als repulsiv.Bisher haben wir den Einfluss der Quantenmechanik nicht berücksichtigt und die Trajektorien mit Hilfeder klassischen Mechanik berechnet. Wie entstehen dadurch Fehler und wie groß sind diese? Aus derDiskussion in Kap. 8 wissen wir, dass das Hauptproblem von den Schwingungen des Reaktionskom-plexes herrühren wird, da die Quantenmechanik hierfür eine Quantelung mit im Vergleich zu kT großenStufen voraussagt. Die meisten der klassisch gerechneten Trajektorien sind daher nicht erlaubt; es sindnur die erlaubt, bei denen die Schwingungsenergien mit den quantenmechanischen Energieniveausübereinstimmen. I. a. bewirkt dies keine gravierenden Fehler, da sich bei der Mittelung der Trajektoriendiese Fehler weitgehend herausheben. Grobe Abweichungen entstehen, wenn eine Trajektorie, die großeBeiträge zur Reaktionsgeschwindigkeit liefert, mit einer bestimmten Schwingungsenergie klassischgerade über den Sattel kommt, diese Energie jedoch quantenmechanisch nicht erlaubt ist.Die korrekte quantenmechanische Rechnung beschreibt die reagierenden Teilchen als Wellenpakete, diesich entsprechend den quantenmechanischen Gesetzen, d. h. entsprechend der zeitabhängigenSchrödinger-Gleichung, bewegen. Für einfache Systeme sind solche quantenmechanischen Rechnungenheute möglich.Die tatsächliche Berechnung von RGK mit Hilfe reaktionsdynamischer Rechnungen ist außerordentlichaufwändig.1) Die Abbildungen 69 und 70 zeigen jeweils nur zwei Trajektorien. Zum Vergleich mit dem Experi-ment sind 4 (eine Ortskoordinate und zwei Geschwindigkeiten beim Start der Reaktion am Rand der3

Abb.) solcher Trajektorien zu berechnen und entsprechend zu mitteln.

22) Bisher wurde für D + H nur der kollineare Fall diskutiert. Für genauere Rechnungen und andereSysteme müssen auch nicht-lineare Stöße berücksichtigt werden, d. h. die Energiehyperfläche hängt voneiner weiteren Orts- oder Winkelkoordinate ab. Das vergrößert den Aufwand für die Berechnung derEnergiehyperflächen und Trajektorien drastisch. Zusätzlich ist bei der Mittelwertbildung eine weitereOrtskoordinate und eine weitere Geschwindigkeit zu berücksichtigen.3) Es muss quantenmechanisch gerechnet werden.4) Bei einer größeren Zahl von Atomen als drei wird der Rechenaufwand riesig bzw. so groß, dass dieBerechnung mit den heute zur Verfügung stehenden Rechnern nicht mehr durchgeführt werden kann.

14.4 Theorie der unimolekularen ReaktionDie Theorie der unimolekularen Reaktion befaßt sich mit den Reaktionen (Isomerisierungen undZerfällen) von Molekülen, die sich & z. B. nach einer Aktivierung entsprechend dem Mechanismus vonLindemann & in einem aktivierten Zustand befinden. Die zentrale Frage ist: Wie lange lebt ein akti-

2viertes Molekül, d. h. wie groß ist die RGK k des Lindemann-Mechanismus?Bei einer Aktivierung von Molekülen durch Stöße entstehen je nach Art des Zusammenstoßes in sehrunterschiedlicher Weise angeregte Moleküle. Es können verschiedene Normalschwingungen mitunterschiedlichen Schwingungsquantenzahlen angeregt sein. Die Anregung höherer elektronischerZustände kommt dagegen kaum vor, da diese Niveaus meist zu hoch liegen. Im Prinzip müsste mandavon ausgehen, dass die Lebensdauer des aktivierten Moleküls von seiner Energie über dem Grund-zustand und der Verteilung dieser Energie auf die einzelnen Normalschwingung abhängig ist. Dazustelle man sich ein großes Molekül vor, das eine schwache Bindung im Zentrum aufweist, die durch dieEnergie gelöst werden kann. Sicher wird die Lebensdauer davon abhängen, welche Molekülteile dieangeregten Normalschwingungen umfassen. Eine experimentelle Präparierung von Molekülen mitbestimmten angeregten Normalschwingungen ist nur in wenigen Fällen möglich. Auch würde dieLösung eines solchen Problems die Theorie der normalen Kinetik nicht weiterbringen. Die Theorie derunimolekularen Reaktion fragt daher nach der Lebensdauer eines aktivierten Moleküls mit einer

obestimmten Energie g, die über der Dissoziationsenergie g des Moleküls liegt, jedoch sonst aufbeliebige Normalschwingungen aufgeteilt sein kann.Die sich über viele Jahrzehnte hinweg erstreckende Entwicklung der Theorie begann 1927 mit Arbeitenvon Rice und Ramsperger, kurz darauf wurde sie von Kassel verbessert und schließlich in den 50-erJahren von Marcus weiterentwickelt. Die Theorie ist daher heute unter dem Namen RRKM-Theorie

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bekannt.Der Grundidee dieser Theorie ist die folgende. Man stelle sich ein Molekül als ein System gekoppelterOszillatoren vor. Ein Teil dieser Oszillatoren wird z. B. durch einen Stoß angeregt oder ist bereits imthermischen Gleichgewicht angeregt, so dass die gesamte Schwingungsenergie die Dissoziationsenergie

og übersteigt. Eine (oder auch mehrere) Normalschwingungen des Moleküls werden eine Dehnung undStauchung der Bindung bewirken, die den Zerfall des Moleküls bewirkt. Es ist nun zu berechnen, wieschnell die Schwingungsenergie aus mehreren Normalschwingungen in dieser dissoziativen Schwin-gung akkumuliert werden kann. Ein Problem ist dabei, dass nur anharmonische Oszillatoren koppeln,d. h. gegenseitig Energie abgeben und aufnehmen können. Nun sind (siehe die Diskussion über dieMolekülschwingungen im Kap. 8) die Schwingungen in Molekülen immer anharmonisch. Die Rech-

onung ergibt nun für die Zeit J bis zur Akkumulation der Energie g in der dissoziativen Schwingung

(14.4.1)

A ist eine nicht berechenbare Konstante, die von der Kopplung der Oszillatoren abhängt. s ist die Zahlder gekoppelten Oszillatoren, die an der Energieumverteilung teilnehmen. s entspricht nicht der Zahlder Normalschwingungen, da die hochfrequenten Normalschwingungen i. a. nicht angeregt sind. s istdaher ein dem Experiment anpaßbarer Parameter.Der wesentliche Unterschied dieser Gleichung zu früheren Überlegungen ist die Abhängigkeit der

oZerfallskonstante bzw. der RGK von g. Weiterhin muss die Energie g nicht mehr in einem einzelnenStoß aufgebracht werden, sondern kann aus mehreren bereits angeregten Schwingungen mit niedrigerSchwingungsfrequenz und der im Stoß zugeführten Energie akkumuliert werden.Die von Marcus weiterentwickelte Theorie verwendet explizit die Dichte der Schwingungszustände undberücksichtigt den Erhalt des Drehimpulses während der Reaktion.Die zur Prüfung der Theorie durchgeführten Experimente haben gezeigt, dass die Grundidee dieserTheorie korrekt ist und dass insbesondere die weiterentwickelte Theorie mit dem Experiment gutübereinstimmt.