16202393 Abiturprufung Deutsch 2008

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Abitur 2008 Deutsch – Aufgabe I 1 Aufgabe I Interpretationsaufsatz mit übergreifender Teilaufgabe zu einer Pflichtlektüre (Werk im Kontext) Thema: Friedrich Schiller (1759 – 1805), Die Räuber (Vierter Akt, 1. Szene) Franz Kafka (1883 – 1924), Der Proceß 5 10 15 20 25 30 35 40 MOOR. Sei mir gegrüßt, Vaterlandserde! (Er küsst die Erde.) Vaterlandshimmel! Vaterlandssonne! – und Fluren und Hügel und Ströme und Wälder! seid alle, alle mir herzlich gegrüßt! – wie so köstlich wehet die Luft von meinen Hei- matgebürgen! wie strömt balsamische Wonne aus euch dem armen Flüchtling entgegen! – Elysium! dichterische Welt! Halt ein Moor! dein Fuß wandelt in einem heiligen Tempel. (Er kommt näher.) Sieh da auch die Schwalbennes- ter im Schlosshof – auch das Gartentürchen! – und diese Ecke am Zaun, wo du so oft den Fanger belauschtest und necktest – und dort unten das Wiesental, wo du, der Held Alexander, deine Mazedonier ins Treffen bei Arbela führ- test, und nebendran der grasigte Hügel, von welchem du den persischen Satrapen niederwarfst – und deine siegende Fahne flatterte hoch! (Er lächelt.) Die goldne Maienjahre der Knabenzeit leben wieder auf in der Seele des Elenden – da warst du so glücklich, warst so ganz, so wolkenlos hei- ter – und nun – da liegen die Trümmer deiner Entwürfe! Hier solltest du wandeln dereinst, ein großer, stattlicher, gepriesener Mann – hier dein Knabenleben in Amalias blühenden Kindern zum zweiten Mal leben – hier! hier der Abgott deines Volks – aber der böse Feind schmollte darzu! (Er fährt auf.) Warum bin ich hiehergekommen? dass mir’s ginge wie dem Gefangenen, den der klirrende Eisenring aus Träumen der Freiheit aufjagt – nein, ich gehe in mein Elend zurück! – der Gefangene hatte das Licht vergessen, aber der Traum der Freiheit fuhr über ihm wie ein Blitz in die Nacht, der sie finsterer zurücklässt – Lebt wohl, ihr Vaterlandstäler! einst saht ihr den Knaben Karl, und der Knabe Karl war ein glücklicher Knabe – itzt saht ihr den Mann, und er war in Verzweiflung. (Er dreht sich schnell nach dem äußersten Ende der Gegend, allwo er plötz- lich stille steht und nach dem Schloss mit Wehmut herüber- blickt.) Sie nicht sehen, nicht einen Blick? – und nur eine Mauer gewesen zwischen mir und Amalia – Nein! sehen muss ich sie – muss ich ihn – es soll mich zermalmen! (Er kehrt um.) Vater! Vater! dein Sohn naht – weg mit dir, schwarzes, rauchendes Blut! weg, hohler, grasser, zucken- der Todesblick! Nur diese Stunde lass mir frei – Amalia! Vater! dein Karl naht! (Er geht schnell auf das Schloss zu.) Quäle mich, wenn der Tag erwacht, lass nicht ab von mir, wenn die Nacht kommt – quäle mich in schröcklichen

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Abitur 2008 Deutsch – Aufgabe I

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Aufgabe I

Interpretationsaufsatz mit übergreifender Teilaufgabe zu einer Pflichtlektüre (Werk im Kontext)

Thema: Friedrich Schiller (1759 – 1805), Die Räuber (Vierter Akt, 1. Szene) Franz Kafka (1883 – 1924), Der Proceß

5 10 15 20 25 30 35 40

MOOR. Sei mir gegrüßt, Vaterlandserde! (Er küsst die Erde.) Vaterlandshimmel! Vaterlandssonne! – und Fluren und Hügel und Ströme und Wälder! seid alle, alle mir herzlich gegrüßt! – wie so köstlich wehet die Luft von meinen Hei- matgebürgen! wie strömt balsamische Wonne aus euch dem armen Flüchtling entgegen! – Elysium! dichterische Welt! Halt ein Moor! dein Fuß wandelt in einem heiligen Tempel. (Er kommt näher.) Sieh da auch die Schwalbennes- ter im Schlosshof – auch das Gartentürchen! – und diese Ecke am Zaun, wo du so oft den Fanger belauschtest und necktest – und dort unten das Wiesental, wo du, der Held Alexander, deine Mazedonier ins Treffen bei Arbela führ- test, und nebendran der grasigte Hügel, von welchem du den persischen Satrapen niederwarfst – und deine siegende Fahne flatterte hoch! (Er lächelt.) Die goldne Maienjahre der Knabenzeit leben wieder auf in der Seele des Elenden – da warst du so glücklich, warst so ganz, so wolkenlos hei- ter – und nun – da liegen die Trümmer deiner Entwürfe! Hier solltest du wandeln dereinst, ein großer, stattlicher, gepriesener Mann – hier dein Knabenleben in Amalias blühenden Kindern zum zweiten Mal leben – hier! hier der Abgott deines Volks – aber der böse Feind schmollte darzu! (Er fährt auf.) Warum bin ich hiehergekommen? dass mir’s ginge wie dem Gefangenen, den der klirrende Eisenring aus Träumen der Freiheit aufjagt – nein, ich gehe in mein Elend zurück! – der Gefangene hatte das Licht vergessen, aber der Traum der Freiheit fuhr über ihm wie ein Blitz in die Nacht, der sie finsterer zurücklässt – Lebt wohl, ihr Vaterlandstäler! einst saht ihr den Knaben Karl, und der Knabe Karl war ein glücklicher Knabe – itzt saht ihr den Mann, und er war in Verzweiflung. (Er dreht sich schnell nach dem äußersten Ende der Gegend, allwo er plötz- lich stille steht und nach dem Schloss mit Wehmut herüber- blickt.) Sie nicht sehen, nicht einen Blick? – und nur eine Mauer gewesen zwischen mir und Amalia – Nein! sehen muss ich sie – muss ich ihn – es soll mich zermalmen! (Er kehrt um.) Vater! Vater! dein Sohn naht – weg mit dir, schwarzes, rauchendes Blut! weg, hohler, grasser, zucken- der Todesblick! Nur diese Stunde lass mir frei – Amalia! Vater! dein Karl naht! (Er geht schnell auf das Schloss zu.) Quäle mich, wenn der Tag erwacht, lass nicht ab von mir, wenn die Nacht kommt – quäle mich in schröcklichen

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Abitur 2008 Deutsch – Aufgabe I

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Träumen! nur vergifte mir diese einzige Wollust nicht! (Er steht an der Pforte.) Wie wird mir? was ist das, Moor? Sei ein Mann! – – Todesschauer – Schreckenahndung – – (Er geht hinein.) Friedrich Schiller: Die Räuber (Vierter Akt, 1. Szene)

Aufgabenstellung: • Skizzieren Sie das für das Verständnis dieses Monologs Wesentliche aus der

vorausgegangenen Handlung. • Interpretieren Sie den Monolog; beziehen Sie die sprachliche und szenische Gestaltung

ein. • Schillers „Die Räuber“ und Kafkas „Der Proceß“: Untersuchen Sie in einer vergleichenden Betrachtung, woran Karl Moor und Josef K.

scheitern. Maßgeblich für die Beurteilung des Aufsatzes ist das Ganze der erbrachten Leistung. Dabei werden die zweite und dritte Teilaufgabe etwa gleichwertig gewichtet.

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Abitur 2008 Deutsch – Aufgabe II

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Aufgabe II Gestaltende Interpretation Thema: Heinrich von Kleist (1777 – 1811), Michael Kohlhaas Der Kaiser, in einer durch die Staatskanzlei ausgefertigten Note, antwortete ihm: »dass der Wechsel, der plötzlich in seiner Brust vorgegangen zu sein scheine, ihn aufs äußerste befremde; dass der sächsischerseits an ihn erlassene Bericht, die Sache des Kohlhaas zu einer Angelegenheit des gesamten Heiligen Römischen Reichs gemacht hätte; dass demgemäß er, der Kaiser, als Oberhaupt desselben, sich verpflichtet gesehen hätte, als Ankläger in dieser 5 Sache bei dem Hause Brandenburg aufzutreten; dergestalt, dass da bereits der Hof-Assessor Franz Müller, in der Eigenschaft als Anwalt nach Berlin gegangen wäre, um den Kohlhaas daselbst, wegen Verletzung des öffentlichen Landfriedens, zur Rechenschaft zu ziehen, die Beschwerde nunmehr auf keine Weise zurückgenommen werden könne, und die Sache den Gesetzen gemäß, ihren weiteren Fortgang nehmen müsse.« Dieser Brief schlug den 10 Kurfürsten völlig nieder; und da, zu seiner äußersten Betrübnis, in einiger Zeit Privat-schreiben aus Berlin einliefen, in welchen die Einleitung des Prozesses bei dem Kammer-gericht gemeldet, und bemerkt ward, dass der Kohlhaas wahrscheinlich, aller Bemühungen des ihm zugeordneten Advokaten ungeachtet, auf dem Schafott enden werde: so beschloss dieser unglückliche Herr noch einen Versuch zu machen, und bat den Kurfürsten von 15 Brandenburg, in einer eigenhändigen Zuschrift, um des Rosshändlers Leben. Er schützte vor, dass die Amnestie, die man diesem Manne angelobt, die Vollstreckung eines Todesurteils an demselben, füglicher Weise, nicht zulasse; versicherte ihn, dass es, trotz der scheinbaren Strenge, mit welcher man gegen ihn verfahren, nie seine Absicht gewesen wäre, ihn sterben zu lassen; und beschrieb ihm, wie trostlos er sein würde, wenn der Schutz, den man 20 vorgegeben hätte, ihm von Berlin aus angedeihen lassen zu wollen, zuletzt, in einer unerwarteten Wendung, zu seinem größeren Nachteile ausschlüge, als wenn er in Dresden geblieben, und seine Sache nach sächsischen Gesetzen entschieden worden wäre. Der Kurfürst von Brandenburg, dem in dieser Angabe mancherlei zweideutig und unklar schien, antwortete ihm: »dass der Nachdruck, mit welchem der Anwalt kaiserlicher Majestät 25 verführe, platterdings nicht erlaube, dem Wunsch, den er ihm geäußert, gemäß, von der strengen Vorschrift der Gesetze abzuweichen. Er bemerkte, dass die ihm vorgelegte Besorgnis in der Tat zu weit ginge, indem die Beschwerde, wegen der dem Kohlhaas in der Amnestie verziehenen Verbrechen ja nicht von ihm, der demselben die Amnestie erteilt, sondern von dem Reichsoberhaupt, das daran auf keine Weise gebunden sei, bei dem 30 Kammergericht zu Berlin anhängig gemacht worden wäre. Dabei stellte er ihm vor, wie notwendig bei den fortdauernden Gewalttätigkeiten des Nagelschmidt, die sich sogar schon, mit unerhörter Dreistigkeit, bis aufs brandenburgische Gebiet erstreckten, die Statuierung eines abschreckenden Beispiels wäre, und bat ihn, falls er dies alles nicht berücksichtigen wolle, sich an des Kaisers Majestät selbst zu wenden, indem, wenn dem Kohlhaas zu Gunsten 35 ein Machtspruch fallen sollte, dies allein auf eine Erklärung von dieser Seite her geschehen könne.« (Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas. Stuttgart 2006. S. 93f.)

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Abitur 2008 Deutsch – Aufgabe II

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Aufgabenstellung: • Erläutern Sie kurz, welchen Stand der Rechtsfall Michael Kohlhaas hier erreicht hat. • Gehen Sie von folgender Annahme aus: Als sich Kohlhaas im ritterlichen Gefängnis in Berlin befindet, erreicht ihn ein Brief des

Hofassessors Müller, in dem dieser die kaiserliche Anklage erklärt. In einem Antwortbrief stellt Kohlhaas seine Sicht des Rechtsfalles dar. Schreiben Sie beide Briefe. Maßgeblich für die Beurteilung des Aufsatzes ist das Ganze der erbrachten Leistung. Der Schwerpunkt liegt auf der gestaltenden Interpretationsaufgabe.

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Abitur 2008 Deutsch – Aufgabe III

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Aufgabe III Literarische Erörterung Thema: „Die Mehrzahl dieser modernen Bücher sind nur flackernde Spiegelungen des Heute.

Das erlischt sehr rasch. Sie sollten mehr alte Bücher lesen. Klassiker. Goethe. (...) Das Nur-Neue ist die Vergänglichkeit selbst.“

Franz Kafka in einem Gespräch mit Gustav Janouch. Aus: Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen.

Frankfurt/M./Hamburg 1961, S. 31 Aufgabenstellung: Erörtern Sie diese Aussage Kafkas.

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Abitur 2008 Deutsch – Aufgabe IV

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Aufgabe IV Interpretationsaufsatz zu einem Gedicht oder Gedichtvergleich Thema: Jenny Aloni (1917 – 1993): Nach der Ankunft in Israel Hilde Domin (1909 – 2006): Rückkehr Jenny Aloni (1917 – 1993): Nach der Ankunft in Israel

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Das ist der Wind nicht mehr, der mich umstrichen, nicht mehr der Sturm, der mich zu trösten wußte, das ist nur noch sein Zerrbild, grau verblichen, der Kern nicht mehr, nur noch die hohle Kruste. Da sind die Nebel, die aus Höhlen fließen, gleich stumpfen Mauern wachsen sie empor, und Wasser müssen sein im Ungewissen, in Tälern, drin der Regen sich verlor. Ich weiß es nicht, woher die Steine stammen, die sich zu kahlen Hügelketten ballen. Und wenn der Sonne erste Lichterflammen, den Tag beginnend, auf die Erde fallen, dann spür ich erst, wie fremd ich ihnen bin, und westwärts schickt, obgleich er es nicht sollte, ein Mensch den ruhelosen wunden Sinn. Und nah ist fern und fern, was nah sein sollte. Jerusalem 26.12.1939

(Aus: Jenny Aloni: Gedichte. Gesammelte Werke. Bd. 7. Paderborn 1995, S. 9)

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Abitur 2008 Deutsch – Aufgabe IV

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Hilde Domin (1909 – 2006): Rückkehr

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Meine Füße wunderten sich daß neben ihnen Füße gingen die sich nicht wunderten. Ich, die ich barfuß gehe und keine Spur hinterlasse, immer sah ich den Leuten auf die Schuhe. Aber die Wege feierten Wiedersehen mit meinen schüchternen Füßen. Am Haus meiner Kindheit blühte im Februar der Mandelbaum. Ich hatte geträumt, er werde blühen. (entstanden 1960)

(Aus: Hilde Domin: Rückkehr der Schiffe. Frankfurt/M. 1962, S. 12) Aufgabenstellung: Interpretieren und vergleichen Sie die Gedichte.

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Abitur 2008 Deutsch – Aufgabe V

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Aufgabe V Analyse und Erörterung nicht fiktionaler Texte (auch mit gestalterischer Teilaufgabe) Schwerpunkt: Erörterung Thema: Harald Martenstein: Wertvoller als das eigene Wohlergehen – Wann ist ein Held

ein Held? [...] In: Der Tagesspiegel, 02.10.2005 Wer das deutsche Wort „Helden“ in die Internet-Suchmaschine Google eingibt, wird als Erstes zu einer Popgruppe geleitet, zu „Wir sind Helden“. Wir Deutschen, wahrscheinlich das entheroisierteste Volk der Erde, haben zu Helden oft ein ironisches Verhältnis. Aber die große Zeit der Ironie ist vorbei (was nicht heißt, dass sie völlig verschwindet). Auch bei „Wir sind Helden“ ist die Interpretationslage nicht ganz eindeutig. „Wir sind Helden“ ist keine ironische 5 Band, sondern eine nachdenkliche und kapitalismuskritische. [...] Die Frage ist nicht, ob es Helden gibt. Die Frage heißt: Was unterscheidet die wahren von den falschen Helden? Ein Held ist derjenige, der seine Furcht bezwingt und sich traut. Heldentum bedeutet Opfer und Risiko. Die Inkaufnahme von Nachteilen zugunsten eines Zweckes, der es lohnt. Für 10 jeden Helden, für jede Heldin, gibt es etwas, das sie für wertvoller halten als sich selber – wertvoller als das eigene Wohlergehen, das eigene Geld, sogar das eigene Leben. Hinterher wird der Held – vielleicht – gefeiert. Am Anfang der Heldentat aber steht immer die Möglichkeit des völligen Scheiterns. Der Held ist also eine Gegenfigur zum Narziss, zum Karrieristen, zum Sowohl-als-auch. Die Idee des Heldentums handelt nicht von der Selbst-15 überhöhung des Individuums, sondern von seiner Demut. Es ist keine moderne, bürgerliche, liberale Idee, sondern eine konservative und zugleich soziale. Der Kapitalismus und seine (zurzeit) neoliberale Ideologie behaupten, dass jeder nur seinen eigenen Vorteil verfolgen müsse, das Ergebnis sei das bestmögliche Leben für alle. Diese Ideologie hat keinen Platz für unterbezahlte Krankenschwestern und Armenärzte, keinen Platz 20 für den Feuerwehrmann und den Rettungsschwimmer, keinen Platz für den Reichen, der einen großen Teil seines Geldes herschenkt. Die Wurzeln solcher Verhaltensweisen reichen hinter den Kapitalismus zurück. In solchen Taten – Heldentaten? – vermischen sich das Christliche, also die Nächstenliebe, das Konservative, also das Gefühl der Verantwortung des Einzelnen für das Ganze, und eben das Heroische, die Selbstüberwindung. Die Philosophie der 25 Aufklärung hat die Götter vertrieben und an ihre Stelle das bürgerliche Ich gesetzt. Der Held und die Heldin aber beharren darauf, dass es einen höheren Wert geben muss als das Ich. Unser modernes deutsches Unbehagen gegenüber der Idee „Heldentum“ hat also nur zum Teil mit dem Dritten Reich, dem wilhelminischen Militarismus und all diesen Dingen zu tun. Ein anderer Teil von uns sperrt sich gegen die Idee „Held“, weil sie unseren bequemen, selbstzu-30 friedenen Hedonismus bedroht. Die Helden in den Sagen der Antike waren oft Halbgötter. Sie waren den Menschen schon damals ein wenig unheimlich. Sie gehörten nicht ganz dazu. Der Held ist aber kein Heiliger und kein Halbgott. Der Rettungsschwimmer, der in einem bestimmten Moment hinausschwimmt, obwohl die Sache aussichtslos scheint und gefährlich 35

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Abitur 2008 Deutsch – Aufgabe V

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für ihn ist, entscheidet im Bruchteil einer Sekunde. Er muss kein besonders guter oder vorbildlicher Mensch sein, vielleicht ist er sogar, außer in diesem einen außergewöhnlichen Moment, ein besonders lasterhaftes und unangenehmes Exemplar seiner Gattung. Vielleicht genießt er, nach vollbrachter Tat, seinen Ruhm in vollen Zügen, verkauft seine Geschichte teuer an „Bild“, wird für seine Familie unerträglich, weil er sein Heldentum so sehr genießt. 40 Er ist eben kein Heiliger, nur ein Held. [...] Warum ist hier eigentlich die ganze Zeit von den zivilen Helden die Rede? Der Held ist doch seit Jahrtausenden, seit der Antike, immer wieder ein Kriegsheld gewesen. Die meisten Staaten fordern Heldentum, zumindest die größeren, ganz gleich, ob sie demokratisch oder verbrecherisch sind. Beim Kriegshelden kommt es darauf an, das eigene Leben geringer zu 45 schätzen als den staatlichen Befehl. Der Kapitalismus hat den Individualismus als Staatsreligion, im Krieg aber soll das nicht gelten. Der Kriegsheld soll nicht nach dem Sinn oder seinem eigenen Vorteil fragen. Das hat schon in der Vergangenheit nicht funktioniert. Aus unzähligen Kriegstagebüchern und Kriegsreportagen wissen wir, dass Helden „gemacht“ wurden, oft mit dem Mittel der Lüge, 50 um die Moral der Truppe zu stärken. Heldentum kann in Wirklichkeit nicht befohlen werden. Wer opfert, muss das Opfer selber vollbringen. Wer einem anderen ein Opfer befiehlt, der macht ihn nicht zu einem Helden, sondern zu einem Werkzeug. Heute funktioniert das Kriegsheldentum noch weniger. Menschen, die demokratisch 55 sozialisiert wurden, fragen nach und können kein gutes Heldenmaterial sein. [...] Dazu kommt bei den Gebildeteren das Bewusstsein, dass es manchmal gerade die Neinsager waren, die im Nachhinein bei der Mehrheit als Helden galten, in Deutschland zum Beispiel die Frauen und Männer aus dem Widerstand. Der Held braucht, um Held zu sein, Werte, die nicht in Frage stehen oder die niemand in 60 Frage zu stellen wagt. Das Leben ist solch ein Wert, Hilfe für Benachteiligte ist es, ein Ziel wie die deutsche Wiedervereinigung kann es sein – aber ist es auch der Staat und sein Krieg? Jeder Krieg, den eine Demokratie führt, ist umstritten, es geht gar nicht anders. [...] Wir haben uns in Deutschland Mühe gegeben, für die Begriffe „Held“ und „Heldentum“ einen Ersatz zu finden. Dabei hat der Begriff „Zivilcourage“ Karriere gemacht, ein Wort, das 65 in deutschen Ohren großartig klingt – erstens, weil „zivil“ darin vorkommt, das Gegenteil von militärisch, zweitens, weil auch der „Mut“ durch seine französische Übersetzung ersetzt wurde. Zur Zivilcourage gibt es allerdings kein Subjekt. Für einen Menschen mit Zivilcourage haben wir kein Wort. Vielleicht muss man doch das Wort „Held“ benutzen. [...] Worterklärungen: Z. 14: Narziss: ganz auf sich selbst bezogener Mensch, der sich selbst bewundert Z. 31: Hedonismus: Auffassung, die im Streben nach Genuss und Lust den Sinn des

Lebens sieht

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Abitur 2008 Deutsch – Aufgabe V

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Aufgabenstellung: • Arbeiten Sie die Kernaussagen des Textauszugs heraus. Wählen Sie eine der folgenden beiden Arbeitsanweisungen: • Setzen Sie sich mit den Auffassungen des Autors auseinander; klären Sie dabei, was

„Heldentum“ aus Ihrer Sicht in der heutigen Zeit bedeutet. oder • Gehen Sie von folgender Annahme aus: Für eine Diskussionsveranstaltung Ihrer Schule verfassen Sie eine Rede zum Thema

„Heldentum – noch zeitgemäß?“, in der Sie sich mit den Auffassungen Martensteins auseinandersetzen.

Verfassen Sie die Rede. Maßgeblich für die Beurteilung des Aufsatzes ist das Ganze der erbrachten Leistung. Der Schwerpunkt liegt auf der zweiten Teilaufgabe.

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Abitur 2008 Deutsch – Aufgabe I – Lösungsvorschlag Winfried Bös

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Für alle Erwartungshorizonte gelten folgende Hinweise:

Die Lösungshinweise stellen nur eine mögliche Aufgabenlösung dar. Andere Lösungsmöglichkeiten sind zuzulassen, wenn sie der Aufgabenstellung entsprechen und sachlich richtig sind. Der Erstkorrektor kann in diesem Fall für den Zweitkorrektor eine Begründung beigeben (anonym und auf einem besonderen Blatt).

Die in den Korrekturrichtlinien zur schriftlichen Abiturprüfung im Fach Deutsch genannten allgemeinen Kriterien und die angegebene Bewertungsskala sind Grundlage der Bewertung. Maßgeblich für die Beurteilung ist das Ganze der erbrachten Leistung. Dabei sind neben inhaltlichen Aspekten Angemessenheit des Ausdrucks, korrekte Anwendung der Fach-terminologie und sprachliche Richtigkeit - einschließlich Interpunktion und Orthografie - von Bedeutung. Schwerwiegende Verstöße gegen Ausdruck und sprachliche Richtigkeit führen zu einem Abzug von Notenpunkten.

Erwartungshorizont zu Aufgabe I

Thema: Friedrich Schiller (1759-1805), Die Räuber (Vierter Akt, 1. Szene) Franz Kafka (1883-1924), Der Proceß Hinweise zur Aufgabenstellung Schwerpunkt der ausgewählten Textstelle ist der Räuber Moor (Karl). Die dreiteilige Aufgabenstellung verlangt die inhaltliche Einordnung des Monologs, die Interpretation seiner sprachlich-szenischen Gestaltung sowie eine aspektbezogene vergleichende Untersuchung. Hinweise auf mögliche Ergebnisse 1. Arbeitsanweisung Um den Monolog zu verstehen, sind - in knapper Form - folgende Fragen zu beantworten:

- Wie wird Karl zum Räuber? (vgl. die Intrige des Franz Moor) - Welche Erfahrungen kennzeichnen Karls Räuberdasein? (vgl. die mit dem Räubertum

verbundene Schuld, die daraus resultierenden Selbstzweifel und die Klagen über sein verfehltes Leben – z.B. II, 3; III, 2)

- Wodurch wird Karl veranlasst, seine Heimat wieder zu sehen? (vgl. die Begegnung mit Kosinsky und dessen „Unglück“ – III, 2)

2. Arbeitsanweisung Karl begrüßt emphatisch die Heimat („Er küsst die Erde,“; Z. 1), indem er die Elemente und Gestirne als sein „Vaterland“ apostrophiert („Vaterlandserde, Vaterlandshimmel, Vaterlandssonne“ Z. 1f.). In einer polysyndetischen Reihung schließt er die gesamte Natur in sein Begrüßungsritual ein („Fluren, Hügel, Ströme, Wälder“). Höhepunkt ist der Ausruf „Elysium!“ (Z. 6), der die Heimat als wieder gefundenes Paradies und „heiligen Tempel“ (Z.7f.) preist. Die „balsamische Wonne“ (Z. 5) und die religiöse Überhöhung kontrastieren mit der Selbsteinschätzung als „armer Flüchtling“ (Z. 6) und „Elender“ (Z. 16). Die Diskrepanz zwischen momentanem Schein und eigentlichem Räuber-Dasein strukturiert den

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Abitur 2008 Deutsch – Aufgabe I – Lösungsvorschlag Winfried Bös

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Monolog. Dabei gewinnt die Fallhöhe an Dynamik, weil die „goldne[n] Maienjahre der Knabenzeit“(Z. 15 f.) wieder lebendig werden und diese Phantasien zu einem „große[n], stattliche[n], gepriesene[n] Mann“(Z. 19ff) als „Abgott [s]eines Volkes“ (Z. 22) führen. Die erfolgreiche Adelskarriere liegt jedoch in „Trümmer[n]“ (Z. 18); Karl fühlt sich „wie [ein] Gefangener“ (Z. 24), ein „Mann … in Verzweiflung.“ (Z. 31) Trotz der enormen Spannung und der selbstkritischen Frage, warum er hergekommen sei (vgl. Z. 23), entscheidet sich Karl, Amalia und seinen Vater sehen zu wollen. Wie in einem Stoßgebet bittet er um die „einzige Wollust“ (Z. 43) eines Treffens, um den Preis jedweder Qualen, die er danach zu ertragen bereit und willens ist. Die Bereitschaft, sich selbstquälerisch zu opfern, befreit ihn allerdings nicht vor dem „Todesschauer“ und der „Schreckenahndung“ (Z. 45), die ihn beim Betreten des Schlosses überkommt. Der Leser erlebt die schwierige Entscheidungssituation und die hoch emotionale Spannung live mit, weil sie durch Ausrufe, Imperative, Ellipsen, Inversionen, Wiederholungen, Aufzählungen, Parallelismen, Antithesen, (rhetorische) Fragen, Vergleiche, Metaphern usw. gestaltet ist. Die sprachlichen Mittel sollen im Prinzip erkannt sein und funktional analysiert werden, wobei auch für gute und sehr gute Bewertungen keine Vollständigkeit erwartet wird. Wichtig ist auch, dass die Regieanweisungen des Entscheidungsprozesses mit einbezogen werden: „Er kommt näher.“ (Z. 8), er dreht sich ab und blickt auf das Schloss zurück (vgl. Z. 31 ff,), „Er kehrt um.“ (Z. 36 f.), „Er geht schnell auf das Schloss zu.“ (Z. 40), „Er steht an der Pforte." (Z. 43 f.) und geht schließlich hinein (vgl. Z. 45 f.). 3. Arbeitsanweisung In Anknüpfung an die vorhergehenden Ergebnisse empfiehlt es sich, die vergleichende Untersuchung mit der Figur des Karl Moor zu beginnen. Obwohl man Karl Einsicht und Schuldbewusstsein zubilligen muss (er will den Vater um Vergebung bitten), erscheint er anfangs als ungefestigte Persönlichkeit, indem er sich auftrumpfend und überheblich gibt. Aus Enttäuschung über die ausbleibende Vergebung des Vaters schwingt er sich zu einem Rachegott auf, der die Menschheit insgesamt verflucht („falsche, heuchlerische Krokodil-brut!“ – I,2). Seine innere Verletzung führt zu der spontanen wie fatalen Entscheidung, Hauptmann einer Räuberbande zu sein („Der Gedanke verdient Vergötterung“ – I, 2). Die Traumphantasie von Tatendrang und Freiheit („Mein Geist dürstet nach Taten, mein Atem nach Freiheit“ – I, 2) führt zum Bekenntnis von „Blut und Tod“ (I, 2) und dem gegenseitigen, für Karl besonders verhängnisvollen Räuberschwur, der bis in den Tod gilt. Auch wenn Karl versucht, sein Räuberamt ideell zu begründen (z. B. Robin-Hood-Motiv; III, 2) und es subjektiv als ausgleichende soziale Gerechtigkeit auszugeben (z. B. II, 3), führt es gesetzlich und moralisch unweigerlich in Schuldverstrickungen, aus denen es keinen Weg zurück gibt, was ihm mehr und mehr bewusst wird. Wenn für Karl Moor ungezügelter Tatendrang und überschäumendes Temperament kennzeichnend sind, so agiert der Bankangestellte Josef K. eher passiv und zurückhaltend. Ohne konkreten Anlass (ohne dass er „etwas Böses getan hätte“ - Kap. I), wird er eines Morgens verhaftet. Es ist von einer Schuld die Rede, von der das Gericht angezogen werde (Kap. I). K. wird aber nicht verhaftet wie ein „Dieb“ (Kap. I): Seine Schuld ist keine juristisch-greifbare, sie kann als Schuld dem Leben gegenüber verstanden werden, das er nicht selbstständig zu gestalten weiß. K. leugnet jegliche Schuld, findet sich aber zur Eröffnung des Verfahrens ein (Kap. II). Allerdings begreift er seine Verhaftung nicht als „Glück“ (Frau Grubach, Kap. I); er lehnt das Gericht ab (Kap. II); er kann das Gericht nicht als Aufgabe begreifen, seinem Leben einen

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Abitur 2008 Deutsch – Aufgabe I – Lösungsvorschlag Winfried Bös

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neuen Impuls oder gar eine neue Richtung zu geben. Das Prozessgeschehen überträgt er Helfern, um die er sich zu spät und zu unentschlossen kümmert. Beide Protagonisten sind nicht in der Lage, ihre Lebenssituation zu bewältigen. Karl scheitert an seinem Rigorismus, der keinen Raum für abwägendes Urteilen lässt, auch wenn er am Ende Einsicht zeigt und zum Selbstopfer bereit ist. Josef K. scheitert an mangelnder Erkenntnisfähigkeit und Offenheit; er ist in allem zu zögerlich und kaum entscheidungsfähig; er wird am Ende wie ein „Hund“, ohne Einsicht und Perspektive, exekutiert. Die Vielfalt an Deutungen (insbesondere von Kafkas Roman) ist zuzulassen. Diese müssen allerdings plausibel begründet werden. Eine detaillierte Textarbeit ist bei dieser Teilaufgabe nicht zu erwarten, wesentliche Ergebnisse sind allerdings textbezogen abzusichern.

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Abitur 2008 Deutsch – Aufgabe II – Lösungsvorschlag Winfried Bös

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Erwartungshorizont zu Aufgabe II

Thema: Heinrich von Kleist (1777-1811), Michael Kohlhaas Hinweise zur Aufgabenstellung Hofassessor Müller und Kohlhaas stehen sich als Ankläger und Angeklagter gegenüber. Beide sehen den Rechtsfall unterschiedlich; sie dokumentieren ihn in ihren Briefen genauer. Für Müller steht die Rechtsposition des Reiches im Vordergrund, während Kohlhaas die Beziehung zwischen Recht, Unrecht und Gewalt thematisiert und sich auch zur Frage der Gerechtigkeit äußert. Hinweise auf mögliche Ergebnisse 1. Arbeitsanweisung Kohlhaas versucht - nach dem am Schlagbaum verübten Rechtsbruch - sein Recht auf legalem Wege durchzusetzen. Nach seinem Scheitern greift er zur Gewalt. Erst nach der vom Kurfürsten von Sachsen gewährten Amnestie distanziert er sich davon. Am Ende steht das Dresdner Todesurteil, nachdem die Amnestie intrigant gebrochen wurde. Der Kurfürst von Brandenburg erwirkt eine Überstellung des Kohlhaas nach Berlin, wo gegen ihn - auf Betreiben des Kurfürsten von Sachsen vom Kaiser - wegen Landfriedensbruchs prozessiert werden soll. Aus eigennützigen Gründen will der sächsische Kurfürst jedoch seine Beschwerde beim Wiener Hof zurückziehen. Der Kaiser beharrt auf dem Verfahren, weil es „den Gesetzen gemäß“ (Z. 9f.) [sei]. Der Kurfürst versucht das drohende Todesurteil zu verhindern, indem er auf die Kohlhaas gewährte Amnestie in Sachsen verweist. Der Kurfürst von Brandenburg ist nicht bereit, von der „strengen Vorschrift der Gesetze abzuweichen“ (Z. 27). Er sieht die Notwendigkeit eines abschreckenden Beispiels und beruft sich im Übrigen auf den Kaiser in Wien. 2. Arbeitsanweisung Hofassessor Müller nimmt in seinem Brief an Kohlhaas Bezug auf den „öffentlichen“ Landfrieden. Ansprüche sind nach ihm nicht mit Gewalt, sondern auf dem Rechtsweg vor den Instanzen des Reichs und der Territorien durchzusetzen. Aus der Option für das Recht und der Absage an die Gewalt lassen sich konkrete Anhaltspunkte ableiten, die gegen Kohlhaas sprechen können: Bruch des Kaiserlichen Landfriedens durch bewaffneten Einfall in Sachsen sowie die brieflich bekundete Bereitschaft zur Teilnahme an den Gewalttätigkeiten der Räuberbande Nagelschmidts. Zur Sicherung der Errungenschaften des Landfriedens muss ein gewaltsamer Rechtsverstoß wie der von Kohlhaas mit Nachdruck, also entsprechend „der strengen Vorschrift der Gesetze“ (Z. 27), verfolgt werden. Kohlhaas betont, dass seine Gewalttätigkeit beim Beschreiten des Rechtsweges in Reaktion auf die Erfahrung mit einer korrupten Rechtsinstanz entstanden ist; er hat sie nicht anstelle des Rechtsweges gewählt. Ihm ist nämlich die Restitution des geltenden Rechts wichtig. Kritisch kann Kohlhaas nachfragen, was zu tun ist, wenn die Garanten des Rechts das geltende Gesetz unterlaufen: Welche Formen von Widerstand gibt es? Gibt es ein Rechtsmittel, wenn einem Rechtssuchenden die Rechtsprechung versagt wird? Welche Existenzberechtigung hat ein Staat, der seinen Bürgern keinen Rechtsschutz garantiert? Wo bleibt hier die Gerechtigkeit?

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Abitur 2008 Deutsch – Aufgabe II – Lösungsvorschlag Winfried Bös

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Kohlhaas will zunächst dem Land den Rücken kehren, das ihn in seinen Rechten nicht schützt. Seine Frau will den Rechtsfall dann dem Kurfürsten (als oberstem Repräsentanten des Rechts) in einer Bittschrift selbst vorlegen. Sie kommt dabei zu Tode und so übernimmt Kohlhaas selbst ,,das Geschäft der Rache“. Er möchte durch seinen gewaltsamen Widerstand erzwingen, dass das Recht in seiner Sache nicht mehr verweigert, sondern gesprochen wird. Dass er vorrangig die Wiederherstellung des Rechts im Blick hat, kann er damit begründen, dass er nicht nur seinen Krieg abbricht, sondern ihn auch zur „Missetat“ erklärt, als Luther seiner Auffassung vom Verstoßensein widerspricht und ihm ein Gerichtsverfahren in Dresden in Aussicht gestellt wird. Kohlhaas überantwortet sein Handeln dem Rechtsverfahren, er begrüßt die bevorstehende Verurteilung des Junkers als Akt ausgleichender Gerechtigkeit und akzeptiert gleichzeitig das über ihn gefällte Todesurteil. Kohlhaas kann auf die Bestätigung seiner Rechtsansprüche durch Luther und die Forderung nach Berücksichtigung der gewährten Amnestie hinweisen. Selbstkritisch kann Kohlhaas auch Schuld einräumen, indem er auf die unschuldigen Opfer seiner Selbstjustiz verweist. Die Gestaltungsaufgabe ist Schwerpunkt der Gesamtaufgabe. Neben einer differenzierten, argumentativen Darstellung des Rechtsfalls ist auf stilistische Angemessenheit zu achten. Die funktionale Berücksichtigung sprachlicher Eigenheiten ist positiv zu werten; eine Imitation ist dagegen nicht verlangt.

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Abitur 2008 Deutsch – Aufgabe III – Lösungsvorschlag Winfried Bös

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Erwartungshorizont zu Aufgabe III

Hinweis: Zu Aufgabe III (Literarische Erörterung) gibt es von Seiten des Ministeriums traditionell keinen Erwartungshorizont!

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Abitur 2008 Deutsch – Aufgabe IV – Lösungsvorschlag Winfried Bös

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Erwartungshorizont zu Aufgabe IV

Thema: Jenny Aloni (1917 - 1993): Nach der Ankunft in Israel Hilde Domin (1909 - 2006): Rückkehr Hinweise zur Aufgabenstellung Die Gedichte konfrontieren die Schülerinnen und Schüler mit spezifischen Exilerfahrungen, mit Gefühlen und Gedanken des jeweiligen lyrischen Ichs. Die vergleichende Formanalyse erschließt die Vielfalt lyrischer Gestaltung. Den Schülerinnen und Schülern steht es nach der Aufgabenstellung frei, wie sie vorgehen möchten. Hinweise auf mögliche Ergebnisse Das Gedicht „Nach der Ankunft in Israel“ liefert als Orientierung für die Erfahrungen des lyrischen Ichs Ort („Israel“) und Zeitpunkt („Nach der Ankunft“). Prägend für diese Erfahrung ist das Gefühl des Verlusts, das in der dreifachen Verneinung („nicht mehr“, V. 1, 2, 4) überdeutlich markiert wird. „Wind“ (V. 1) und „Sturm“ (V. 2) können das lyrische Ich „nicht mehr“ begleiten und trösten; sie sind zu einem „Zerrbild“ (V. 3), einer „hohlen Kruste“ (V. 4) degeneriert. Die Farbgebung („grau verblichen“, V. 3) unterstreicht das Befremden und die Verunsicherung des lyrischen Ichs. Das lyrische Ich erlebt die Natur als bedrohlich und lebensfeindlich: Der Nebel wirkt abgrenzend und trennend („gleich stumpfen Mauern“, V. 6), das Wasser als Ort des Lebens ist versiegt; man kann es nur erahnen („Wasser müssen sein im Ungewissen“, V. 7). Die Steine „ballen“ sich zu „kahlen Hügelketten“ (V. 10); die Landschaft ist also wenig einladend, felsig und unwirtlich, ohne lebendigen Bewuchs. Das Eingeständnis, keinen Bezug zu dieser neuen Landschaft zu haben („Ich weiß es nicht, woher die Steine stammen,“ - V. 9), verstärkt das Motiv der Orientierungslosigkeit. Die zweite Hälfte der dritten Strophe leitet mit ihrem konditionalen Gefüge („Und wenn…“ - V. 11) über zu dem zusammenfassenden Bekenntnis des lyrischen Ichs („dann spür ich erst“, V. 13), das zugleich eine Steigerung enthält. Das lyrische Ich legt seine Gefühle offen und betont – expressis verbis – seine Fremdheit gegenüber der neuen Umgebung. Die „Lichterflammen“ der aufgehenden Sonne akzentuieren die Wahrnehmung des lyrischen Ichs spezifisch: Die Morgenröte führt zu keinem versöhnlichen Blick, sondern zu „Licht“ und „Flammen“, die eher bedrohlich wirken. „Erst“ (V. 13) jetzt empfindet das lyrische Ich das ganze Ausmaß seiner existenziellen Entwurzelung. Der Blick zurück („westwärts“ – V. 14) geschieht eher mechanisch und unwillkürlich, denn das lyrische Ich wird zu einem „Mensch“-en (V. 15) mit „ruhelosem wunden Sinn“ (V. 15), der dabei keinerlei Linderung oder gar Heilung erfährt. Das Gedicht endet in einer antithetisch-chiastischen Sentenz, dem Versuch einer Verallgemeinerung, die Distanz schaffen soll. Die Nähe der neuen „Heimat“ bietet noch keine Identifikation, während die Vertrautheit der alten Heimat gegenwärtig noch kein Bindeglied zur neuen bildet. So stehen sich Wunsch (die Sehnsucht nach der Heimat, vgl. V. 14: „westwärts“,) und Wirklichkeit (nach der „Ankunft in Israel“) unlösbar und unvereinbar gegenüber. Der Akt der unerschrockenen Wahrnehmung und der authentischen Formulierung könnte allerdings einen ersten Hoffnungsschimmer enthalten. Die vier Strophen mit einem durchgängigen Kreuzreim und dem fünfhebigen Jambus bilden einen Kontrast zu der mehr in Prosanähe stehenden Syntax. Dadurch wird die Spannung

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zwischen emotionaler Betroffenheit und desolater Wirklichkeit einerseits und dem Formwillen - im Sinne der Dokumentation persönlicher Erfahrung - andererseits spürbar. Metaphern, Personifikationen und Vergleiche beziehen sich auf Naturwahrnehmungen; sie sind gut und leicht verständlich, sorgen jeweils für einen intensivierten sensiblen Blick auf die besondere Erfahrung des Exils. Die formalen Befunde sind – wie immer - funktional zuzuordnen. Während Jenny Aloni am Beginn ihres Exils steht, kehrt das lyrische Ich bei Hilde Domin aus dem Exil zurück ( vgl. die Überschrift - „Rückkehr“). Im Mittelpunkt der ersten drei Strophen stehen die „Füße“, die als pars pro toto symbolisch den Stand des zurückkehrenden lyrischen Ichs markieren. Die „Füße“ (V. 2) anderer Menschen akzeptieren das lyrische Ich einfach so, ohne es als Exilant zu erkennen oder gar zu markieren. Nicht aufzufallen ist für das lyrische Ich eine neue Erfahrung. Im Exil – so kann vermutet werden – galt man als Fremder unter Einheimischen, hier zu Hause ist man wieder einer unter vielen. Das lyrische Ich braucht aber Zeit, in der alten Heimat wieder Fuß zu fassen. Die erste Strophe erlaubt auch folgende Interpretation: Das lyrische Ich ist noch gespalten, denn „Füße“ gehen neben „Füßen“ (vgl. V. 1f); es kann noch nicht glauben, festen Boden unter den Füßen zu haben, aber „die Wege feierten/Wiedersehen/mit meinen schüchternen Füßen.“ (V. 7ff.) So erobern sich die Füße die alte Heimat zurück, während das lyrische Ich mehr Zeit braucht, sich wieder zurecht zu finden und die neue (alte) Identität zu akzeptieren. Beide Interpretationsansätze betonen den noch unsicheren Stand des lyrischen Ichs. Es ist auf eine Eingewöhnungsphase angewiesen, während andere Menschen selbstsicher ihren Verrichtungen nachgehen. Das Gedicht besteht aus fünf Strophen, die jeweils einen Satz bilden; dabei fällt die letzte Strophe mit nur zwei Versen und dem Tempuswechsel (Plusquamperfekt) besonders auf. Enjambements, Personifikation, Metaphern, Synekdoche (pars pro toto), Inversion, Anti-thesen, Wiederholungen sollen funktional interpretiert werden. Das Gedicht verzichtet auf ein durchgängiges Metrum oder Reim, auffällig ist allerdings, dass die ersten drei Strophen anfangsbetont beginnen (und unregelmäßig weiter geführt werden), während die beiden letzten eine jambische Struktur aufweisen. Ein sicheres Zeichen für die Schwierigkeiten, sich in der Heimat wieder einzuleben, und die Vertrautheit des Blüten-traumes, der leicht von den Lippen geht. Vergleich Beide Gedichte gestalten eine besondere Ankunftssituation, die durch Exilerfahrungen geprägt sind. Während Alonis Gedicht die Ankunft in der Fremde thematisiert, lenkt Hilde Domins Gedicht den Blick auf die Rückkehr aus dem Exil. Für das Lyrische Ich in der Fremde gibt es – bis auf die sprachliche Gestaltung der eigenen Situation – zunächst keine Hoffnung, weil Gefühle der Fremdheit und der Sehnsucht nach der Heimat dominieren. Die Ankunft zurück in der Heimat eröffnet dem lyrischen Ich dagegen Hoffnungen, Sehnsüchte und Erinnerungen. Positive Erwartungen und Verunsicherung stehen zwar nebeneinander, aber es überwiegt die Aussicht auf eine erfolgreiche Rückkehr. Naturbilder und Naturwahrnehmungen sind bei Aloni das Medium, mit dem sie die Gefühle des lyrischen Ichs verdeutlicht, während bei Domin nur der Erinnerungstraum dadurch geprägt ist.

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Der größere Formwille und auch sprachliche Umfang bei Aloni könnte mit dem Willen zusammenhängen, das Chaos und Ungeheure des Exils sprachlich zu bewältigen, während die „Rückkehr“ von Domin mit sparsameren Mitteln zurecht kommt. Hier geht es vornehmlich um die Ambivalenz einer Rückkehr aus dem Exil.

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Erwartungshorizont zu Aufgabe V

Thema: Harald Martenstein: Wertvoller als das eigene Wohlergehen - Wann ist ein Held ein Held? In: Der Tagesspiegel, 02.10.2005 Hinweise zur Aufgabenstellung „Helden“ und „Heldentum“ gibt es gerade unter Heranwachsenden, so dass zu dem im Text behandelten Thema eigene Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler vorausgesetzt werden können. Der Text ist klar gegliedert, problemorientiert und zugleich anschaulich geschrieben, so dass die Bedeutung des Themas für Individuum und Gesellschaft deutlich hervortritt. Der einleitende Hinweis auf die Popgruppe lädt zur vertiefenden Betrachtung ein. Neben der differenzierten Textrezeption (1. Arbeitsanweisung) liegt der Schwerpunkt der Gesamtaufgabe auf der Erörterungs- (2. Arbeitsanweisung) bzw. der Produktivaufgabe. Die Schülerinnen und Schüler sind hierbei aufgefordert, eine eigene Position zum Thema - in der Auseinandersetzung mit dem Plädoyer des Autors - zu entwickeln, zu begründen und abzurunden. Der Gestaltungsspielraum der Produktivaufgabe ist durch den Vorlagetext, die Rollenperspektive und die Kommunikationssituation bestimmt. Hinweise auf mögliche Ergebnisse 1. Arbeitsanweisung Warum die Deutschen als „entheroisiertestes Volk der Erde“ gelten oder „die große Zeit der Ironie“ „vorbei“ sei, dürfte für Schüler auf Anhieb nicht zu verstehen sein, allerdings weist der Name der Popgruppe als Aufhänger darauf hin, worum es dem Autor geht: um eine nachdenkliche und kritische Haltung zum Thema „Heldentum“. Die explizite Fragestellung nach wahrhaften Helden und die Definition eines Helden schafft dann Klarheit. Der wahre Held ist eine „Gegenfigur zum Narziss, zum Karrieristen“ (Z. 14 f.), weil er opfer- und risikobereit sei (Z. 9f.), „seine Furcht bezwinge“, indem er übergeordnete Ideale oder Ziele höher bewertet als das Schicksal der eigenen Person. Heldentum wurzelt für Martenstein in Hingabe, Unterwerfung - er nennt es „Demut“ - (Z. 16) und nicht in der „Selbsterhöhung des Individuums“ (Z. 15f.). Er grenzt das Heldentum als „konservativ und zugleich sozial“ (Z. 17) von der „neoliberalen Ideologie“ ab, die nur die Entfaltung und Vorteile des Einzelnen in den Vordergrund rückt. So sind für den Helden zwei Komponenten konstitutiv: „das Gefühl der Verantwortung des Einzelnen für das Ganze“ (Z. 24f.) und „die Selbstüberwindung“ (Z. 25). Die Philosophie der Aufklärung habe das „bürgerliche Ich“ (Z. 26) geformt und zu dem „bequemen, selbstzufriedenen Hedonismus“ (Z. 30f.) geführt, der mit der Idee des Helden unvereinbar sei. Der Vorbildcharakter eines Helden hat aber nichts gemein mit einem Heiligen oder einem Kriegshelden (Z. 34ff.). An einem Beispiel erläutert Martenstein, dass eine Heldentat keinen Heiligen hervorbringen müsse. Auch den Kriegshelden hat er nicht im Blick, weil er gesellschaftlich oder staatlich (als „Werkzeug“ – Z. 54) instrumentalisiert werde und damit nicht freiwillig oder spontan ein Opfer bringe. Echtes Heldentum komme an der freien Entscheidung des Handelnden nicht vorbei, genauso wenig wie an einer Eingrenzung der Werte: sie müssen unumstritten sein, d.h. mit dem

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Beispiel des Textes lebensrettend und nicht vernichtend. In der Konsequenz werden damit auch Kriege von Demokratien in Abrede gestellt, weil sie immer „umstritten“ seien. Am Ende problematisiert Martenstein die deutsche Sprache, weil sie als Alternative zu dem geschundenen und missbrauchten Begriff des Helden (z.B. im Dritten Reich - Z. 29) nur den Begriff „Zivilcourage“ anbiete. Dieser ist ihm zu wenig „persönlich“, weil er das Subjekt nicht betone, weswegen er eine Neubelebung des „alten Helden“ vorschlägt. 2. Arbeitsanweisung (2a) Die Schülerinnen und Schüler könnten von den spezifischen Erfahrungen Deutschlands im Dritten Reich ausgehen: Dort wurden die „Kriegshelden“ vergöttert und gleichzeitig mit „mörderischen“ Aufträgen gegen sog. minderwertige Rassen ausgestattet (vgl. die Ideologie des Vernichtungskrieges oder die Rolle der SS, insbesondere die SS-Totenkopfverbände). Als besondere Leistung kann gelten, wenn die Schüler in diesem Zusammenhang den Begriff des „entheroisierten Volkes“ verständlich machen, indem das Regime des Nationalsozialismus den Begriff des Helden geradezu pervertiert hat. Davon ausgehend könnte Martenstein kritisch befragt werden, ob eine Belebung des Begriffs „Held“ wirklich sachdienlich ist. Anknüpfend an den im Text schon erklärten Begriff der Zivilcourage könnte man auf Erfahrungen mit gelebter Demokratie hinweisen: Demokratie lebt von Ämtern und Macht auf Zeit und nicht von der Vergötterung alter „Kriegshelden“ (vgl. dazu z.B. Bedeutung und Karriere Hindenburgs in der Kaiserzeit und der Weimarer Republik). Die Helden der modernen Zeit stammen eher aus dem Musik-, Freizeit- und Sportleben. Zu Helden oder Legenden werden Menschen mit außergewöhnlichen Leistungen, die sich auch im Privatleben und ihrer Vorbildfunktion bewähren. Davon abzugrenzen wären Idole, denen man auch Eskapaden und Fehltritte nachsieht. Beispiele aus Filmen oder der Literatur können auch das Außergewöhnliche und Singuläre einer Leistung, oft als Reaktion auf eine Extremsituation, als wichtige Bedingung für Heldentum belegen. Zu problematisieren wäre, ob eine Demokratie überhaupt „Helden“ braucht. Herausragende Leistungen einzelner Politiker führen zwar zu einer Ära (vgl. z. B. Ära Adenauer, Brand und Kohl), aber keiner dieser Politiker wurde zu einer Ikone. Demokratie braucht Gewichte und Gegengewichte, so dass sich auch berühmte und verdiente Politiker einer Opposition gegenübersehen, die Schwachstellen aufdeckt. Der Anerkennung großer Politiker sind Grenzen gesetzt, die auch von einer kritischen Öffentlichkeit und einer ebensolchen Geschichtswissenschaft häufig korrigiert werden. Spezifische Leistungen werden so nach Möglichkeiten, Erfolgen und Beeinträchtigungen gewichtet. Umgekehrt wäre zu fragen, ob der Verzicht auf Heldentum nicht Mittelmaß und Mittelmäßigkeit bedeuten. Inwiefern sind Demokratien, die auf der Gleichheit aller fußen, auch bereit, Menschen mit außergewöhnlichen Begabungen, Einsatz und Erfolg einzubeziehen? Auch demokratisch verfasste Gesellschaften sind auf eine politische, wirtschaftliche oder wissenschaftliche Elite angewiesen. Aber muss man sie deswegen zu „Helden“ stilisieren? Wenn Martenstein Egoismus und Hedonismus angreift, so ist einzuwenden, dass ein Produkt der „neoliberalen Ideologie“ die Freiheit des Einzelnen ist. Ein Erfolg der modernen Zeit ist, dass heute die Entfaltungsmöglichkeiten und der Freiraum des Einzelnen im Vordergrund stehen und nicht staatliche Bedürfnisse. Indem der Einzelne sich auszubilden sucht, damit er seinen Lebensunterhalt verdienen kann, dient er auch der Gesellschaft, die bestimmte Aufgaben nachfragt. So können sich Eigennutz und gesellschaftlicher Nutzen auch ergänzen. In einer Leistungsgesellschaft gibt es natürlich auch die Karrieristen, die alles nur des eigenen Erfolges willen tun, ohne zu fragen, ob sie einer bestimmten Aufgabe auch gewachsen sind. Es wäre aber fragwürdig, alle Menschen als Anpasser und willfährige Werkzeuge einer Hierarchie zu diffamieren. Überall gibt es Handlungsspielräume für persönliches und

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gesellschaftliches Engagement. Wenn der Beruf keine soziale Verantwortung vorsieht, engagieren sich viele Menschen in Vereinen oder Selbsthilfegruppen. Was eine moderne Gesellschaft auszeichnet, sind die vielen stillen „Helden“, die sich – über die eigene Notwendigkeit hinaus – für andere einsetzen und mehr als das eigene Wohlergehen im Blick haben. Über das soziale Engagement hinaus wird eigenes Verhalten „heldenhaft“, wenn man aus Überzeugung auf eine Karriere verzichtet, die darin bestünde, bestimmte Dinge nicht mehr offen sagen zu können. Als „heldenhaft“ könnte auch gelten, wenn man Erfolg und Geld nicht einfach nur genießt, sondern beides in den Dienst gesellschaftlicher und sozialer Aufgaben stellt. Auch couragiertes Eintreten in der Öffentlichkeit gegen Diskriminierung anderer oder das sprichwörtliche Schwimmen gegen den Strom könnte „heldenhaft“ sein. Dieses Adjektiv skizziert eine mögliche Kompromisslinie: Es gibt zwar keine „Helden“ mehr, aber „heldenhaftes“ Verhalten ist immer möglich und gefragt. Im übrigen ist der heldenhafte Einsatz bei einem Unglücksfall ja seinerseits ein Glücks-Fall, auf den man Heldentum nicht beschränken sollte. Abschließend könnte man diskutieren, ob Kriege von Demokratien nur deswegen, weil sie umstritten sind, nicht heldenhaft sein können. Man kann fragend einwenden: Was wäre aus der Welt geworden, wenn deutscher Faschismus und japanischer Expansionismus nicht gestoppt worden wären? Kann man den Gefahren des neuen Terrorismus wirklich nur durch zivile Abwehrmaßnahmen begegnen? Die Frage nach dem/einem gerechten Krieg wäre hier zu erörtern. Für die Qualität der Leistung entscheidend sind nicht Vollständigkeit der oben ange-sprochenen Aspekte, sondern Problembewusstsein, Ergiebigkeit der Beispiele sowie Schlüssigkeit und Überzeugungskraft der Argumentation. 2. Arbeitsanweisung (2b) Vorlage und Kommunikationssituation bestimmen Inhalt und Art des geforderten Textes. Wichtig ist stilistische Angemessenheit; die subjektive Rednerperspektive ermöglicht auch Freiheiten. Inhaltlich orientiert sich die Rede an den unter (2a) dargelegten Aspekten. Inhaltliche Differenziertheit und Schlüssigkeit der Argumentation sowie eine der Kommunikationssituation angemessene rhetorische Qualität entscheiden über die Leistung.