16202356 Abiturprufung Deutsch 2006

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Abitur 2006 – Deutsch Haupttermin 1 Aufgabe I Interpretationsaufsatz mit übergreifender Teilaufgabe zu einer Pflichtlektüre (Werk im Kontext) Thema: Friedrich Schiller (1759 – 1805), Kabale und Liebe (Erster Akt, 7. Szene) Theodor Fontane (1819 – 1898), Effi Briest 05 10 15 20 25 30 35 SIEBENTE SZENE FERDINAND. Der PRÄSIDENT. WURM, welcher gleich abgeht. FERDINAND. Sie haben befohlen, gnädiger Herr Vater – PRÄSIDENT. Leider muss ich das, wenn ich meines Sohns einmal froh werden will – Lass Er uns allein, Wurm. – Ferdinand ich beobachte dich schon eine Zeitlang, und finde die offene rasche Jugend nicht mehr, die mich sonst so entzückt hat. Ein seltsamer Gram brütet auf deinem Gesicht. – Du fliehst mich – Du fliehst deine Zirkel – Pfui! – Deinen Jahren verzeiht man zehn Ausschweifungen vor einer einzigen Grille. Überlass diese mir, lieber Sohn. Mich lass an deinem Glück arbeiten, und denke auf nichts, als in meine Entwürfe zu spielen. – Komm! Umarme mich, Ferdinand. FERDINAND. Sie sind heute sehr gnädig, mein Vater. PRÄSIDENT. Heute, du Schalk – und dieses Heute noch mit der herben Grimasse? (Ernsthaft) Ferdinand! – Wem zulieb hab ich die gefährliche Bahn zum Herzen des Fürsten betreten? Wem zulieb bin ich auf ewig mit meinem Gewissen und dem Himmel zerfallen? – Höre, Ferdinand – (Ich spreche mit meinem Sohn) – Wem hab ich durch die Hinwegräumung meines Vorgängers Platz gemacht – eine Geschichte, die desto blutiger in mein Inwendiges schneidet, je sorgfältiger ich das Messer der Welt verberge. Höre. Sage mir, Ferdinand: Wem tat ich dies alles? FERDINAND (tritt mit Schrecken zurück). Doch mir nicht, mein Vater? Doch auf mich soll der blutige Widerschein dieses Frevels nicht fallen? Beim allmächtigen Gott! Es ist besser, gar nicht geboren sein, als dieser Missetat zur Ausrede dienen. PRÄSIDENT. Was war das? Was? Doch! ich will es dem Romanenkopfe zugut halten – Ferdinand – ich will mich nicht erhitzen, vorlauter Knabe – Lohnst du mir also für meine schlaflosen Nächte? Also für meine rastlose Sorge? Also für den ewigen Skorpion meines Gewissens? – Auf mich fällt die Last der Verantwortung – auf mich der Fluch, der Donner des Richters – Du empfängst dein Glück von der zweiten Hand – das Verbrechen klebt nicht am Erbe. FERDINAND (streckt die rechte Hand gen Himmel). Feierlich entsag ich hier einem Erbe, das mich nur an einen abscheulichen Vater erinnert. PRÄSIDENT. Höre, junger Mensch, bringe mich nicht auf. – Wenn es nach deinem Kopfe ginge, du kröchest dein Leben lang im Staube. FERDINAND. O, immer noch besser, Vater, als ich kröch um den Thron herum. PRÄSIDENT (verbeißt seinen Zorn). Hum! – Zwingen muss man dich, dein Glück zu erkennen. Wo zehn andre mit aller Anstrengung nicht hinaufklimmen, wirst du spielend, im Schlafe gehoben. Du bist im zwölften Jahre Fähndrich. Im zwanzigsten Major. Ich hab es durchgesetzt beim Fürsten. Du wirst die

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Abitur 2006 – Deutsch Haupttermin

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Aufgabe I

Interpretationsaufsatz mit übergreifender Teilaufgabe zu einer Pflichtlektüre (Werk im Kontext)

Thema: Friedrich Schiller (1759 – 1805), Kabale und Liebe (Erster Akt, 7. Szene) Theodor Fontane (1819 – 1898), Effi Briest

05 10 15 20 25 30 35

SIEBENTE SZENE

FERDINAND. Der PRÄSIDENT. WURM, welcher gleich abgeht. FERDINAND. Sie haben befohlen, gnädiger Herr Vater – PRÄSIDENT. Leider muss ich das, wenn ich meines Sohns einmal froh werden will

– Lass Er uns allein, Wurm. – Ferdinand ich beobachte dich schon eine Zeitlang, und finde die offene rasche Jugend nicht mehr, die mich sonst so entzückt hat. Ein seltsamer Gram brütet auf deinem Gesicht. – Du fliehst mich – Du fliehst deine Zirkel – Pfui! – Deinen Jahren verzeiht man zehn Ausschweifungen vor einer einzigen Grille. Überlass diese mir, lieber Sohn. Mich lass an deinem Glück arbeiten, und denke auf nichts, als in meine Entwürfe zu spielen. – Komm! Umarme mich, Ferdinand.

FERDINAND. Sie sind heute sehr gnädig, mein Vater. PRÄSIDENT. Heute, du Schalk – und dieses Heute noch mit der herben Grimasse?

(Ernsthaft) Ferdinand! – Wem zulieb hab ich die gefährliche Bahn zum Herzen des Fürsten betreten? Wem zulieb bin ich auf ewig mit meinem Gewissen und dem Himmel zerfallen? – Höre, Ferdinand – (Ich spreche mit meinem Sohn) – Wem hab ich durch die Hinwegräumung meines Vorgängers Platz gemacht – eine Geschichte, die desto blutiger in mein Inwendiges schneidet, je sorgfältiger ich das Messer der Welt verberge. Höre. Sage mir, Ferdinand: Wem tat ich dies alles?

FERDINAND (tritt mit Schrecken zurück). Doch mir nicht, mein Vater? Doch auf mich soll der blutige Widerschein dieses Frevels nicht fallen? Beim allmächtigen Gott! Es ist besser, gar nicht geboren sein, als dieser Missetat zur Ausrede dienen.

PRÄSIDENT. Was war das? Was? Doch! ich will es dem Romanenkopfe zugut halten – Ferdinand – ich will mich nicht erhitzen, vorlauter Knabe – Lohnst du mir also für meine schlaflosen Nächte? Also für meine rastlose Sorge? Also für den ewigen Skorpion meines Gewissens? – Auf mich fällt die Last der Verantwortung – auf mich der Fluch, der Donner des Richters – Du empfängst dein Glück von der zweiten Hand – das Verbrechen klebt nicht am Erbe.

FERDINAND (streckt die rechte Hand gen Himmel). Feierlich entsag ich hier einem Erbe, das mich nur an einen abscheulichen Vater erinnert.

PRÄSIDENT. Höre, junger Mensch, bringe mich nicht auf. – Wenn es nach deinem Kopfe ginge, du kröchest dein Leben lang im Staube.

FERDINAND. O, immer noch besser, Vater, als ich kröch um den Thron herum. PRÄSIDENT (verbeißt seinen Zorn). Hum! – Zwingen muss man dich, dein Glück

zu erkennen. Wo zehn andre mit aller Anstrengung nicht hinaufklimmen, wirst du spielend, im Schlafe gehoben. Du bist im zwölften Jahre Fähndrich. Im zwanzigsten Major. Ich hab es durchgesetzt beim Fürsten. Du wirst die

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Uniform ausziehen, und in das Ministerium eintreten. Der Fürst sprach vom Geheimen Rat – Gesandtschaften – außerordentlichen Gnaden. Eine herrliche Aussicht dehnt sich vor dir. – Die ebene Straße zunächst nach dem Throne – zum Throne selbst, wenn anders die Gewalt so viel wert ist, als ihre Zeichen – das begeistert dich nicht?

FERDINAND. Weil meine Begriffe von Größe und Glück nicht ganz die Ihrigen sind – Ihre Glückseligkeit macht sich nur selten anders als durch Verderben bekannt. Neid, Furcht, Verwünschung sind die traurigen Spiegel, worin sich die Hoheit eines Herrschers belächelt. – Tränen, Flüche, Verzweiflung die entsetzliche Mahlzeit, woran diese gepriesenen Glücklichen schwelgen, von der sie betrunken aufstehen, und so in die Ewigkeit vor den Thron Gottes taumeln – Mein Ideal von Glück zieht sich genügsamer in mich selbst zurück. In meinem Herzen liegen alle meine Wünsche begraben. –

PRÄSIDENT. Meisterhaft! Unverbesserlich! Herrlich! Nach dreißig Jahren die erste Vorlesung wieder! – Schade nur, dass mein fünfzigjähriger Kopf zu zäh für das Lernen ist! – Doch – dies seltne Talent nicht einrosten zu lassen, will ich dir jemand an die Seite geben, bei dem du dich in dieser buntscheckigen Tollheit nach Wunsch exerzieren kannst. – Du wirst dich entschließen – noch heute entschließen – eine Frau zu nehmen.

(Friedrich Schiller: Kabale und Liebe. Stuttgart 2001, S. 22-24) Aufgabenstellung: • Legen Sie kurz dar, weshalb der Präsident seinen Sohn zu sich bestellt. • Interpretieren Sie diese Textstelle; beziehen Sie dabei die sprachliche und

szenische Gestaltung mit ein. • Vergleichen Sie das Verhältnis zwischen Vater und Sohn in Schillers „Kabale und

Liebe“ mit dem Verhältnis zwischen Mutter und Tochter in Fontanes „Effi Briest“.

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Aufgabe II

Gestaltende Interpretation Thema: Theodor Fontane (1819 – 1898), Effi Briest Kapitel 20 (Auszug)

05 10 15 20 25 30 35 40

Die Fahrten, auf denen Effi ihren Gatten bis an die Waldecke begleitete, wiederholten sich allwöchentlich; aber auch in der zwischenliegenden Zeit hielt Effi darauf, dass sie der ärztlichen Verordnung streng nachkam. Es verging kein Tag, wo sie nicht ihren vorgeschriebenen Spaziergang gemacht hätte, meist nachmittags, wenn sich Innstetten in seine Zeitungen zu vertiefen begann. Das Wetter war schön, eine milde, frische Luft, der Himmel bedeckt. Sie ging in der Regel allein und sagte zu Roswitha: »Roswitha, ich gehe nun also die Chaussee hinunter und dann rechts an den Platz mit dem Karussell; da will ich auf dich warten, da hole mich ab. Und dann gehen wir durch die Birkenallee oder durch die Reeperbahn wieder zurück. Aber komme nur, wenn Annie schläft. Und wenn sie nicht schläft, so schicke Johanna. Oder lass es lieber ganz; es ist nicht nötig, ich finde mich schon zurecht.« Den ersten Tag, als es so verabredet war, trafen sie sich auch wirklich. Effi saß auf einer an einem langen Holzschuppen sich hinziehenden Bank und sah nach einem niedrigen Fachwerkhause hinüber, gelb mit schwarz gestrichenen Balken, einer Wirtschaft für kleine Bürger, die hier ihr Glas Bier tranken oder Solo spielten. Es dunkelte noch kaum, die Fenster aber waren schon hell, und ihr Lichtschimmer fiel auf die Schneemassen und etliche zur Seite stehende Bäume. »Sieh, Roswitha, wie schön das aussieht.« Ein paar Tage wiederholte sich das. Meist aber, wenn Roswitha bei dem Karussell und dem Holzschuppen ankam, war niemand da, und wenn sie dann zurückkam und in den Hausflur eintrat, kam ihr Effi schon entgegen und sagte: »Wo du nur bleibst, Roswitha, ich bin schon lange wieder hier.« In dieser Art ging es durch Wochen hin. Das mit den Husaren hatte sich wegen der Schwierigkeiten, die die Bürgerschaft machte, so gut wie zerschlagen; aber da die Verhandlungen noch nicht geradezu abgeschlossen waren und neuerdings durch eine andere Behörde, das Generalkommando, gingen, so war Crampas nach Stettin berufen worden, wo man seine Meinung in dieser Angelegenheit hören wollte. Von dort schrieb er den zweiten Tag an Innstetten: »Pardon, Innstetten, dass ich mich auf französisch empfohlen. Es kam alles so schnell. Ich werde übrigens die Sache hinauszuspinnen suchen, denn man ist froh, einmal draußen zu sein. Empfehlen Sie mich der gnädigen Frau, meiner liebenswürdigen Gönnerin.« Er las es Effi vor. Diese blieb ruhig. Endlich sagte sie: »Es ist recht gut so.« »Wie meinst du das?« »Dass er fort ist. Er sagt eigentlich immer dasselbe. Wenn er wieder da ist, wird er wenigstens vorübergehend was Neues zu sagen haben.« Innstettens Blick flog scharf über sie hin. Aber er sah nichts, und sein Verdacht beruhigte sich wieder. »Ich will auch fort«, sagte er nach einer Weile, »sogar nach Berlin; vielleicht kann ich dann, wie Crampas, auch mal was Neues mitbringen. Meine liebe Effi will immer gern was Neues hören; sie langweilt sich in unserm guten Kessin. Ich werde gegen acht Tage fort sein,

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vielleicht noch einen Tag länger. Und ängstige dich nicht...es wird ja wohl nicht wieder kommen...du weißt schon, das da oben... Und wenn doch, du hast ja Rollo und Roswitha.« Effi lächelte vor sich hin und es mischte sich etwas von Wehmut mit ein. Sie musste des Tages gedenken, wo Crampas ihr zum ersten Male gesagt hatte, dass er mit dem Spuk und ihrer Furcht eine Komödie spiele. Der große Erzieher! Aber hatte er nicht Recht? War die Komödie nicht am Platz? Und allerhand Widerstreitendes, Gutes und Böses, ging ihr durch den Kopf. Den dritten Tag reiste Innstetten ab. Über das, was er in Berlin vorhabe, hatte er nichts gesagt.

(Theodor Fontane: Effi Briest. Stuttgart 2002, S. 191-193) Aufgabenstellung: • Skizzieren Sie die Situation, in der Effi sich hier befindet. • »Und allerhand Widerstreitendes, Gutes und Böses, ging ihr durch den Kopf.« (Z. 49f.) Gehen Sie von folgender Annahme aus: Nach der Abreise Innstettens schreibt Effi einen Brief an ihren Vater, in dem sie

ihm ihre widerstreitenden Gedanken, Gefühle und Sehnsüchte mitteilt. Kurze Zeit später erhält sie ein Antwortschreiben.

Verfassen Sie beide Briefe.

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Aufgabe III

Literarische Erörterung Thema: „Lieben ist eine produktive Tätigkeit, es impliziert, für jemanden (oder etwas) zu sorgen, ihn zu kennen, auf ihn einzugehen, ihn zu bestätigen, sich an ihm zu erfreuen – sei es ein Mensch, ein Baum, ein Bild, eine Idee. Es bedeutet, ihn (sie, es) zum Leben zu erwecken, seine (ihre) Lebendigkeit zu steigern.“ Erich Fromm: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Stuttgart 1979, S. 52. Aufgabenstellung: Setzen Sie sich anhand von Schillers „Kabale und Liebe“ und Fontanes „Effi Briest“ mit dieser Auffassung von Liebe auseinander.

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Aufgabe IV

Interpretationsaufsatz zu einem Gedicht oder Gedichtvergleich Thema: Irmgard Keun (1909-1982), Die fremde Stadt (1947) Nelly Sachs (1891-1970), Kommt einer von ferne (1947)

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Die fremde Stadt Fremde Stadt, Ich liebe dich um deiner Fremdheit willen. Du könntest das Verlangen nach Verlorenem mir stillen, Nach dem, was ich verließ. Laß mich vollenden, was ich einst verhieß; Einmal als Kind. Laß mich noch einmal sein, wie Kinder sind, Die eines Menschen Fuß noch nicht getreten hat, Fremde Stadt. Berge mich hinter deinen Mauern, Fremde Stadt. Laß mich in deiner Sicherheit trauern, Fremde Stadt. Nur eine Stunde, Nur kurze Zeit. Hunger und Hunde Jagen das Leid, Jage nicht du mich auch, fremde Stadt. Laß mich ruhn unter deines Himmels Regen, Fremdes Land. Gott gab dir den Himmel, mir gab er den Segen Für dich, fremdes Land. Nur eine Stunde, nur kurze Zeit Wärme uns Arme die Ewigkeit: Der Himmel über dir, fremdes Land.

(Irmgard Keun: Wenn wir alle gut wären, hrsg. V. Wilhelm Unger, Bergisch Gladbach 1986, S. 158-159)

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Kommt einer von ferne Kommt einer von ferne mit einer Sprache die vielleicht die Laute verschließt mit dem Wiehern der Stute oder dem Piepen junger Schwarzamseln oder auch wie eine knirschende Säge die alle Nähe zerschneidet – Kommt einer von ferne mit Bewegungen des Hundes oder vielleicht der Ratte und es ist Winter so kleide ihn warm kann auch sein er hat Feuer unter den Sohlen (vielleicht ritt er auf einem Meteor) so schilt ihn nicht falls dein Teppich durchlöchert schreit – Ein Fremder hat immer seine Heimat im Arm wie eine Waise für die er vielleicht nichts als ein Grab sucht.

(Nelly Sachs: Fahrt ins Staublose (Gedichte), Frankfurt/M. 1988, S. 300-301) Aufgabenstellung: Interpretieren und vergleichen Sie die beiden Gedichte.

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Aufgabe V Analyse und Erörterung nicht fiktionaler Texte (auch mit gestalterischer Teilaufgabe) Schwerpunkt: Erörterung

Thema: Rüdiger Safranski: Heimat In: du – Zeitschrift für Kultur, Heft 750, Oktober 2004, S. 89 Ich bin 1945 in Schwaben zur Welt gekommen. Meine Mutter war mit mir schwanger, als die Familie aus Ostpreußen vor den anrückenden russischen Truppen fliehen musste. Ich bin also im Mutterleib geflohen, ein pränataler Heimatvertriebener, geboren und aufgewachsen in einer schwäbischen Kleinstadt. Dort lernte ich zwei Welten kennen: «Wir», die Heimatvertriebenen, und die «Einheimischen». Als Kind 5 wurde es mir selbstverständlich, dass «Heimat» offenbar etwas ist, das die einen besitzen und die anderen verloren haben, dass sie für die einen Gegenwart und für die anderen Vergangenheit ist. Aber schon als Kind merkte man, dass alles seine Zeit hat, auch Heimat, ihr Verlust und die Erinnerung daran. Die «verlorene» Heimat fand schließlich ihren Platz nur noch in behaglichen Erinnerungen am Familientisch, 10 im Fotoalbum und in den Einträgen im Reisepass. Man war eingelebt in einen Raum, den man erst später dann wieder als Heimat würde entdecken und bezeichnen können. Das ist die zarte Realität von Heimat – die doch auch politischen Sprengstoff bergen kann. Aber in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik haben Konsum und 15 Vollbeschäftigung den politischen Sprengstoff entschärft, der sich aus der Anhänglichkeit an verlorene Heimat ergeben kann. Der sogenannte «Revanchismus» war nie eine wirkliche politische Gefahr in Deutschland. Und doch blieb «Heimat» in Deutschland ein kritisches Thema, das häufig Alarmsirenen auslöst, als müssten Leute, die gerade eine Entzugstherapie hinter sich gebracht 20 haben, von ihrer Droge sorgfältig ferngehalten werden, damit es nicht zu einem Rückfall kommt. Es ist nicht verwunderlich, dass in einem Volk wie dem deutschen, das mit dem Schlachtruf «Volk ohne Raum» im großen Stil anderen Völkern die Heimat zerstört oder sie daraus vertrieben hat und dann selbst Vertreibungen und Zerstörungen erleiden musste, dass in diesem Volk also das Reden über «Heimat» 25 für eine gewisse Zeit seine Unschuld verloren hat. Aber hoffentlich nur für eine gewisse Zeit, denn inzwischen brauchen wir wieder eine Positivbewertung von Heimat – schon aus anthropologischen Gründen. Es gilt nämlich der Grundsatz: je mehr emotional gesättigte Ortsbindung, desto größer die Fähigkeit und Bereitschaft zur Weltoffenheit. Wir können global 30 kommunizieren und reisen, wir können aber nicht im Globalen wohnen. Wohnen können wir nur hier oder dort, aber nicht überall. «Heimat» ist der Ausdruck für gefühlsstarke Anhänglichkeit an einen Ort. Er bezeichnet in der Regel jenen Lebensraum, an den man sich besonders gewöhnt hat, weil man dort die Kindheit erlebte und der deshalb mehr als alle späteren Räume zur eigenen 35 Lebensgeschichte und Identität gehört. «Heimat», so definiert das Grimmsche Wörterbuch, «ist das Land oder auch nur der Landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden Aufenthalt hat.»

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Aber Heimat ist noch mehr: Sie ist auch der verklärte Ort der Kindheit. Es gibt kaum jemanden, der nicht die Neigung verspürt, die Räume seiner Kindheit zu verklären. 40 Warum diese Verklärung? Wahrscheinlich deshalb, weil das kindliche Erleben die Räume ganz anders beseelt erscheinen lässt als im späteren Erwachsenenalter. Weil wir nie mehr zur kindlichen Intimität mit einem Raum gelangen können, deshalb ist Heimat oft mit Wehmut verbunden. In einem Gedicht von Eichendorff heißt es: «Was wisset ihr, dunkele Wipfel, / Von der alten schönen Zeit? / Ach, die Heimat 45 hinter den Gipfeln, / Wie liegt sie von hier so weit!» Solches Heimweh sehnt sich nicht nur nach einem anderen Raum, sondern nach einer anderen Zeit, genauer: nach einer vergangenen Erlebnisweise; denn Heimat ist eben nicht nur der Ort der Kindheit, sondern auch die Erinnerung an diese andere, beseeltere Art des Erlebens. Deshalb konnte «Heimat» auch zum Symbol des gelingenden Lebens 50 werden, wie etwa bei dem Philosophen Ernst Bloch, der sein Hauptwerk ,Das Prinzip Hoffnung' mit dem Satz enden lässt: Wenn der Mensch «ohne Entäußerung und Entfremdung» wird leben können, «so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.» Das wissen wir: Kindheitserinnerungen enthalten stets auch eine rückwärts gewandte 55 Utopie, die aber produktiv wirken kann, wenn die Verklärung des Vergangenen den Menschen empfindlich macht für die Zerstörungen und Unwirtlichkeiten der Gegenwart. Man kann aus der Erinnerung an Heimat sogar einen Imperativ für die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft ableiten: Jede Generation sollte die Lebensräume heute so gestalten, dass man sich morgen gerne daran erinnert, in ihnen gelebt zu haben. 60 Es mag ja sein, dass man seine Heimat immer erst dann entdeckt, wenn man sie verloren hat – aber es gibt heute Räume von solcher Unwirtlichkeit, dass sie noch nicht einmal im Rückblick zur Heimat werden können. Räume, die einem keine Chance bieten, sich in ihnen heimisch zu fühlen. Ich habe den Eindruck, dass die Fähigkeit und Bereitschaft, Heimat zu bauen, nachlässt. Die emotionale Wüste in den sozialen 65 Räumen wächst. Gerade deshalb wird das Verlangen nach Heimat bleiben, und es wird sogar wachsen in demselben Maß, wie das moderne Wirtschaftsleben den Menschen größere Mobilität und Flexibilität abverlangt. Denn wir verlangen besonders nach dem, was uns fehlt. Für den mobilen und flexiblen Zeitgenossen ist Heimat der Ort, wo man wenigstens für eine Weile aufhören kann, mobil und flexibel zu sein. 70 Es gibt also eine Heimat, aus der man kommt, und eine andere, in die man kommen möchte, und schließlich gibt es auch noch, wenn man ein wenig Glück hat, eine Heimat, in der man schon ist, ohne dass man es richtig bemerkt, und wo man bleiben möchte, wenn man es gemerkt hat. Aber meist ist es dann zu spät, weil man schon woandershin muss. 75 Worterklärungen: Z. 18: Revanchismus – Politik, die auf Rückgewinnung in einem Krieg verlorener

Gebiete gerichtet ist. Z. 28: anthropologische Gründe – Gründe, die sich auf das philosophische

Nachdenken über den Menschen und über Bedingungen seines Daseins beziehen.

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Aufgabenstellung: • Arbeiten Sie heraus, wie Safranski den Begriff Heimat versteht. Wählen Sie eine der folgenden beiden Arbeitsanweisungen: • Setzen Sie sich mit den Auffassungen des Autors auseinander; prüfen Sie dabei,

inwieweit Sie zustimmen können, widersprechen oder ergänzen möchten. oder • Gehen Sie von folgender Annahme aus: Die Lokalzeitung Ihrer Stadt will den Text

zusammen mit dem Kommentar eines Abiturienten veröffentlichen. Verfassen Sie diesen Kommentar.

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Abitur 2006 – Deutsch Haupttermin – Lösungshinweise

Bearbeitet von Winfried Bös

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Für alle Lösungshinweise gilt folgender Vorbehalt: Die Lösungshinweise stellen nur eine mögliche Aufgabenlösung dar. Andere Lösungsmöglichkeiten sind zuzulassen, wenn sie der Aufgabenstellung entsprechen und sachlich richtig sind. Der Erstkorrektor kann in diesem Fall für den Zweitkorrektor eine Begründung beigeben (anonym und auf einem besonderen Blatt). Aufgabe I Interpretationsaufsatz mit übergreifender Teilaufgabe zu einer Pflichtlektüre (Werk im Kontext) Thema: Friedrich Schiller (1759 – 1805), Kabale und Liebe (Erster Akt, 7. Szene) Theodor Fontane (1819 – 1898), Effi Briest Hinweise zur Aufgabenstellung Die siebte Szene spiegelt beispielhaft die Beziehung zwischen Präsident von Walter und dessen Sohn Ferdinand. Mit dem ersten, von Ferdinand gesprochenen Satz fordert sie zur Einordnung heraus, weil man wissen will, warum der Präsident seinen Sohn zitiert. Der Dialog ist gestisch und sprachlich sehr ergiebig (vgl. Interpretationsaufgabe) und eignet sich besonders als Ausgangspunkt für die textübergreifende Teilaufgabe (vgl. Vergleichsaufgabe). Hinweise auf mögliche Ergebnisse 1. Arbeitsanweisung Die Motive des Präsidenten, seinen Sohn zur Rede zu stellen, sind offensichtlich: Er möchte ihn verheiraten. Die Heirat soll standesgemäß und vorteilhaft sein, wie damals in entsprechenden Kreisen üblich. Der Präsident möchte dem Fürsten einen Dienst erweisen, indem er seinen Sohn mit der ehemaligen Mätresse des Fürsten verbindet, um darüber gleichzeitig seinen eigenen Einfluss bei Hofe abzusichern. Seinem Sohn winkt eine Karriere als Soldat und Gesandter, wenn er einwilligt. 2. Arbeitsanweisung Im Vordergrund der Textinterpretation steht die Charakterisierung von Vater und Sohn sowie ihre Beziehung zueinander. Der Präsident bereitet sein Anliegen diplomatisch vor, verheimlicht aber keineswegs sein vereinnahmendes Wesen: „Mich lass an deinem Glück arbeiten,…“ (Z. 8). Er spielt den verständnisvollen, fürsorglichen Vater (vgl. die Aufforderung zur

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Abitur 2006 – Deutsch Haupttermin – Lösungshinweise

Bearbeitet von Winfried Bös

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Umarmung, Z. 9), lässt aber keinen Zweifel, dass es sich um seine eigenen „Entwürfe“ (Z. 9) handelt. Den Einwurf Ferdinands („heute", Z. 10) überspielt der Präsident humorvoll („du Schalk", Z. 11), um ihn desto mehr unter Druck zu setzen, indem er Dankbarkeit von ihm fordert (vgl. die vier asyndetisch gereihten rhetorischen Fragen: „Wem zulieb…tat ich dies alles?“ Z. 12-18). Ferdinand erschrickt über die Verbrechen des Vaters („tritt mit Schrecken zurück“) (Z. 19) und fühlt sich als „Ausrede“ der „Missetat“ (Z. 22,21) des Vaters missbraucht. Der Präsident hat mit einer solch entschiedenen Gegenwehr des Sohnes nicht gerechnet, weswegen er sich selbst bezähmen muss („ich will mich nicht erhitzen“ – Z. 24) und die Autorität des Sohnes als „Romankopf“ und „vorlauter Knabe“ infrage stellt. Er stilisiert sich in eine Opferrolle (Z. 24ff.), um desto entschiedener den Lohn für seine Anstrengungen bei seinem Sohn einzufordern. Ferdinand hält den Erpressungsversuchen seines Vaters stand, indem er pathetisch durch Handerhebung (vgl. Z. 29) dem Erbe eines „abscheulichen Vaters“(Z. 30) entsagt. Der Vater - inzwischen in Zorneswallung (vgl. Z. 34) – hält dem Sohn die „herrliche Aussicht" (Z. 39f.) auf eine große Karriere vor Augen. Da auch diese Lockungen bei Ferdinand nicht verfangen, bleibt dem Präsidenten nichts anderes übrig, als die „Diplomatie“ abzubrechen, indem er die Ausführungen seines Sohnes als „Vorlesung“ (Z. 52) und „buntscheckige Tollheit“ (Z. 54) abqualifiziert, um ohne Umschweife die Verheiratung des Sohnes in Befehlsform zu verkünden (Z. 55f.). Die Absichten des Vaters und seine Drohgebärden sind zu offensichtlich, als dass sie Ferdinand täuschen könnten. Seine angebliche Gewissensnot (vgl. Z. 16ff. und 25f.) entlarvt den Heuchler und seine Prophezeiung von einem „Leben lang im Staube“ (Z. 32) für Ferdinand zeigt den Taktierer, dem jedes Mittel recht ist, seine Ziele zu erreichen. Das angebliche „Glück“ des Sohnes (vgl. Z. 8) bedeutet nichts anderes als den Machterhalt des Präsidenten. Ferdinand spürt, dass er einer Schachfigur gleicht und von seinem Vater nur instrumentalisiert wird. Deswegen grenzt er sich erfolgreich vom Vater ab und stellt dessen moralischer Verderbtheit seinen Idealismus gegenüber. Er will nicht Nutznießer der väterlichen „Missetat" sein – er quittiert sie mit „Schrecken" (Z. 19) –, noch die „ebene Straße [...] nach dem Throne" (Z. 40f.) einschlagen. Seine „Begriffe von Größe und Glück" (Z. 43) stellt er dem Machtstreben und höfischen Glanz entgegen, dessen Scheinhaftigkeit er brandmarkt. Er distanziert sich von dieser höfisch geprägten Welt, indem er als Lebensideal selbstgenügsam sein Herz in den Mittelpunkt stellt: „In meinem Herzen liegen alle meine Wünsche begraben. -" (Z. 50). So entfaltet sich der Schlagabtausch zwischen Vater und Sohn als Streitgespräch zweier unterschiedlicher Charaktere und Lebensentwürfe. Mimik und Gestik spiegeln die Dominanz des Präsidenten („verbeißt seinen Zorn", Z. 34) wie auch Ferdinands moralisches Pathos („streckt die rechte Hand gen Himmel", Z. 29). Die Rede der Gesprächsteilnehmer ist strukturiert und pointiert: Ausrufe, Imperative, Wiederholungen, Aufzählungen, Vergleiche, Steigerungen, syntaktische Parallelismen, Inversionen, rhetorische Fragen, ironisch-sarkastische Formulierungen, Metaphern sind als sprachliche Mittel zu erkennen und funktional zuzuordnen, wobei der Gesprächsverlauf angemessen reflektiert werden muss.

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3. Arbeitsanweisung Ausgehend von den Ergebnissen der vorangegangenen Teilaufgaben ist die Vater-Sohn-Beziehung im Hinblick auf das Trauerspiel insgesamt zu thematisieren. Ferdinand wehrt sich nicht in erster Linie gegen die Vaterautorität als solche, sondern gegen ihre missbräuchliche Instrumentalisierung. Er fürchtet, Teil eines Machtkalküls zu werden, das seine Ideale und insbesondere seine Liebe zu Luise bedroht. In seiner Todesstunde vergibt er dem Vater, obwohl dieser letztlich für das Scheitern und den Tod der Liebenden verantwortlich ist. Frau von Briest will für ihre Tochter eine gesicherte Zukunft und entsprechende gesellschaftliche Perspektiven. Die Standesehe mit Baron von Innstetten soll ihren sozialen Status sichern und der Aufstiegswillen Innstettens für gesteigerte Anerkennung in gesellschaftlichen Kreisen sorgen. Effi ist für höhere Ambitionen zu begeistern, hat aber noch keine Erfahrung in der Liebe und willigt deswegen wie in ein jugendliches Abenteuer ein. Als es für Effi in der Ehe schwierig wird, kann sie sich zunächst der Mutter als Vertraute zuwenden (12. Kapitel), als der Ehebruch aber öffentlich wird, distanziert diese sich von ihrer Tochter, gibt sie sozialer Isolation preis, aus Angst vor gesellschaftlicher Repression (30. und 31. Kapitel). Vater und Mutter stellen gesellschaftliche Konventionen und Traditionen über das persönliche Wohlergehen ihres Kindes. Sie handeln nicht autonom, sondern entsprechend ihrer Herkunft und der sozialen Stellung, die sie in der gesell-schaftlichen Hierarchie erreicht haben. Der Präsident mutet seinem Sohn mehr zu, weil er schon ganz oben am Hofe angekommen ist, während Frau von Briest einen Jugendfreund empfiehlt, der es inzwischen zu etwas gebracht hat. Ferdinand wehrt sich daher zunächst erfolgreich gegen seinen Vater, weil er den Geist der „Akademien" atmet (III, 1). Effi willigt dagegen blauäugig ein und scheitert an der ihr zugewiesenen Rolle als Ehefrau. Sie muss sich dem Schicksal, das ihr Familie und Gesellschaft bereithalten, zunächst fügen, bis sie am Ende in den Schoß ihrer Familie zurückkehren darf. Der geschlechtsspezifische Aspekt spielt eine große Rolle: Die Männerwelt ist auf Bewährung und Karriere hin ausgerichtet, während die Frauen sich – eher passiv – nach dem Vermögen und der Stellung ihrer Partner ausrichten. Ferdinand scheitert an diesem Impuls, weil er in seiner Eifersucht genauso ambitioniert und größenwahnsinnig agiert wie in seiner Liebe, wohingegen Effi an der charakterlichen Unvereinbarkeit mit ihrem Partner scheitert. Sie ist lebensfroh und unternehmungs-lustig, er eher gesetzt und zurückhaltend, so dass Effi die Anregungen und Unterhaltungen fehlen. Bei der Vergleichsaufgabe entscheidet die Konzentration auf Wesentliches. So kann keine detaillierte Textarbeit erwartet werden, wohl aber Belege und Begründungen für zentrale Aussagen. Der Vergleichsaufgabe ist bei der Beurteilung des gesamten Aufsatzes besonderes Gewicht beizumessen.

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Abitur 2006 – Deutsch Haupttermin – Lösungshinweise

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Aufgabe II Gestaltende Interpretation Thema: Theodor Fontane (1819 – 1898), Effi Briest Kapitel 20 (Auszug) Hinweise zur Aufgabenstellung Der Wendepunkt in Effis Leben ist Gegenstand der Aufgabenstellung. Ihre äußere und innere Situation unmittelbar nach der Schlittenfahrt (Kap. 19) muss genauer analysiert werden (vgl. erste Aufgabe). Die Gestaltungsaufgabe steht im Mittelpunkt, wobei Effis Einstellungen, Erfahrungen und Wertmaßstäbe vorzustellen sind. Mit Blick auf Charakter und Lebenssituation können Handlungsmöglichkeiten bedacht und abgewogen werden. Da zwischen Effi und ihrem Vater ein besonderes Vertrauensverhältnis besteht (vgl. z. B. Kap. 15), kann zwischen den Kommunikationspartnern Offenheit und Klarheit herrschen. Hinweise auf mögliche Ergebnisse 1. Arbeitsanweisung Effi und Crampas sind sich auf der Schlittenfahrt näher gekommen. Effi muss daher das Geschehene zu verbergen suchen, sowie Crampas gegen die Vorbehalte ihres Mannes in Schutz nehmen, um diesem gleichzeitig Eifersucht zu unterstellen. Der Kontakt zu und die Affäre mit Crampas lassen Effi zunächst reifen, indem sie innere Distanz zu ihrem Ehemann gewinnt und den Spuk im Haus als Erziehungskomödie ihres Mannes begreifen lernt. Gleichzeitig nimmt die Entfremdung der Eheleute zu. Innstetten möchte von Effi alles ganz genau wissen, wobei sie zunehmend die Kunst der Verstellung beherrscht, so dass ihr Mann keinen Verdacht schöpft. Effi wird aber auch zur Gefangenen ihrer verbotenen Empfindungen, weil sie zwar das Komödienspiel nach außen hin beherrscht, ihr schlechtes Gewissen im Inneren aber nicht beruhigen kann. Daher flüchtet sich Effi in die Krankheit, und die regelmäßigen Spaziergänge sind am Ende der Versuch, sie abzuschütteln. 2. Arbeitsanweisung Thema des Briefes sind die Konfliktfelder, die Effi bestimmen, ihre Gedanken dazu sowie mögliche Reaktionen darauf. Dazu gehört die Spannung zwischen dem Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung und privatem Glück, das Liebe und Zärtlichkeit einschließt, sowie die zwischen Disziplin, Kontrolle, Ordnung und der Sehnsucht nach Abenteuer, Zerstreuung und Vergnügen.

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Neben den vordergründigen Versuchen zur Ablenkung (Besuche in Hohen-Cremmen, Spaziergänge, Kur) sollten auch unterschiedliche Lebenskonzepte und -einstellungen (evtl. mit Hinweis auf entsprechende Figuren im Roman) von Effi reflektiert werden. Antwortschreiben Briest ist gegen Karriere und Beamtentum (Kap. 3), er bewahrt seine Freiheit gegenüber gesellschaftlichen Erwartungen (Kap. 15 u. 34). Er hegt von Anfang an Zweifel an Innstettens Liebe (Kap. 5), beruhigt sich aber mit den Überlegungen zur Zwangslage der Frau in der Ehe (Kap. 5). Briest ist aber kein aktiv Handelnder, sondern Skeptiker: „Es ist so schwer, was man tun und lassen soll." (Kap. 15). So ist Briest bei allen kritischen Tönen in die Werte und Normen der Standesgesellschaft eingebunden. Ausgewählte Aspekte sollten von den Schülerinnen und Schülern berücksichtigt werden. Gestalterische Originalität zielt als besondere Leistung nicht auf Imitation, sondern auf ein der Figur angemessenes Sprachprofil. Die Gestaltungsaufgabe ist bei der Gesamtbewertung deutlich stärker zu gewichten. Aufgabe III Literarische Erörterung Hinweis: Zur literarischen Erörterung wird kein Erwartungshorizont erstellt.

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Aufgabe IV

Interpretationsaufsatz zu einem Gedicht oder Gedichtvergleich Thema: Irmgard Keun (1909-1982), Die fremde Stadt (1947) Nelly Sachs (1891-1970), Kommt einer von ferne (1947) Hinweise zur Aufgabenstellung Heimatverlust und unfreiwilliger Aufenthalt in der Fremde sind Themen beider Gedichte. Die vergleichende Analyse zeigt die Vielfalt der Gestaltungsmöglichkeiten von Exilerfahrungen und lyrischem Schreiben. Die offene Aufgabenstellung ermöglicht eine von den Schülerinnen und Schülern selbst gewählte und geprägte Vorgehensweise. Hinweise auf mögliche Ergebnisse Irmgard Keun thematisiert ihre Hoffnungen, die sie mit der Ankunft in einer fremden Stadt verbindet. Sie wendet sich sehr vertrauensvoll an die Stadt (als Personifikation mit „du“), um desto eindringlicher ihre Bitten um Schutz und Geborgenheit vorzutragen. So gleicht das einstrophige Gedicht einem Bittgebet, das die Not der Verfolgten spiegelt. Die Liebeserklärung an die Stadt: „Fremde Stadt, / Ich liebe dich um deiner Fremdheit willen." (V. 1f.) sowie die Personifikation und die wiederholte direkte Anrede („Fremde Stadt", V. 1, 9, 11, 13, 18) drücken die Sehnsucht nach Nähe und Verbundenheit aus. Mit der fremden Stadt verbindet sich die Hoffnung („Du könntest", V. 3f.) auf Neubeginn („als Kind", V. 6) und Selbstentfaltung. Für ein neues Leben braucht das verfolgte lyrische Ich einen verlässlichen Ort, der es schützt. Die Aufforderungen und Bitten „Berge mich" (V. 10) und „Lass mich in deiner Sicherheit trauern,“ (V. 12) dokumentieren das geschundene lyrische Ich, das auch nur für befristete Zeit („Nur eine Stunde, / Nur kurze Zeit“, V. 14f.) Asyl sucht. Die insistierenden Appelle spiegeln die Notsituation des „getretenen“ lyrischen Ichs, das Zeit für seine Trauerarbeit braucht (vgl. V. 12). Den Charakter als Stoßgebet unterstreicht die Jagdmetaphorik: Der Exilsuchende ist von „Hunger“ geplagt (V. 16) und gleicht einem gejagten „Hund“ (V. 16); dieses Schicksal soll ihm in der Stadt erspart bleiben („Jage nicht du mich auch, fremde Stadt." - V. 18). Insofern stellt der Flüchtling nur Minimalforderungen, nämlich den Verzicht auf Not und Verfolgung. In den letzten sieben Versen des Gedichts (V. 19ff.) erweitert sich der Blick des lyrischen Ichs von der Stadt hoch zum Himmel und zu Gott. Es findet neues Vertrauen, indem der Himmel und Gottes Segen zu Bindegliedern der Menschen werden. Die Bitte um eine Atempause („Lass mich ruhn", V. 19) erstreckt sich nun von der fremden Stadt auf das gesamte fremde Land (V. 20, 22, 25). Die Perspektive öffnet sich von den Mauern zum „Himmel" (V. 21, 25) und gleichzeitig vom individuell erlittenen Schicksal zu dem aller Verfolgten („Wärme uns Arme", V. 24).

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Wenn die „Armen“ als Heimatvertriebene und Verfolgte auf die „Wärme“ als Abglanz der „Ewigkeit“ hoffen und bauen können, spiegelt diese Sichtweise ein christlich fundiertes Menschen- und Weltverständnis, das die Welt als sichtbare Seite einer transzendenten Gegenwelt begreift. Dazu passt auch der Bescheidenheitstopos der zeitlich begrenzten Geborgenheit („Nur eine Stunde, nur kurze Zeit" -V. 23), die im Kontrast zur göttlichen „Ewigkeit" (V. 24) steht. Als besondere Leistung kann gelten, wenn der Wechsel zwischen trochäischer Anrufung der Stadt („Fremde Stadt“) und jambischen Bitten („Lass mich…“ – „Nur eine Stunde, nur kurze Zeit“) erkannt wird. Die unterschiedliche Metrik und Verslänge kann insgesamt als Ausdruck der stark emotionalen Stimmungslage des lyrischen Ichs begriffen werden. Wichtig dabei sind auch Anaphern, Alliterationen, Imperative, Parallelismen, Wiederholungen, die funktional eingeordnet werden können. Das lyrische Ich in dem Gedicht von Nelly Sachs macht sich zum Sprachrohr der Fremden. Die Situation des Fremdseins bestimmt den Beginn der beiden Langstrophen mit 12 und 13 Zeilen: „Kommt einer/von ferne“ (V. 1f, 13f), heißt es da als Ausgangs-situation. Das konditionale Gefüge, das zunächst den Menschen aus der Fremde näher charakterisiert, mündet in einen Appell, „ihn warm“ zu kleiden (V. 19) und „ihn nicht“ zu schelten (V. 24). Der Fremde wird aus der Perspektive der Einheimischen beschrieben, wobei zuerst seine Sprache oder sein Sprechen näher gekennzeichnet wird. Seine Äußerungen werden mit Tierlauten in Verbindung gebracht („dem Wiehern der Stute“ oder „dem Piepen/ junger Schwarzamseln“ V. 6 und 8f) oder gar mit einer „knirschenden Säge“ (V. 11) verglichen. Für Einheimische ist so jemand befremdend und irritierend, wenn nicht gar eine Zumutung, denn der Fremde erscheint durch die Metaphern entmenschlicht. Die Zumutungen nehmen aber noch zu, wenn die Bewegungen des Fremden mit denen eines Hundes oder einer Ratte in Verbindung gebracht werden (V. 15, 17). Es sind alles Attribute, mit denen der Einheimische die Aufnahme des Fremden begründend ablehnen könnte. Am Anfang wirkt er mit seiner Lautsprache noch lächerlich, am Ende wird er gar zur Bedrohung des häuslichen Eigentums, wenn der Teppich in Mitleidenschaft gezogen wird (V. 25). Das Erscheinungsbild des Fremden wird durch das vierfache „Vielleicht" (V. 4, 17, 22, 29) und „kann auch sein" (V. 20) abgemildert; zugleich zeugt es von der Schwierigkeit, eindeutige Aussagen über den Fremden zu machen. Syntax und Zeichensetzung unterstreichen, dass es sich eher um vage und spontane Einfälle und Überlegungen handelt. Die Relativierung des Erscheinungsbildes kann aber nicht darüber hinweg täuschen, dass der Fremde mit seinen animalischen Zügen auf ein menschenunwürdiges Leben verweist. Das „Feuer unter den Sohlen“ (V. 21) unterstreicht seine existenzielle Bedrohung, weswegen Hilfe unumgänglich ist; die Hilferufe des Teppichs wirken dagegen deplatziert und lächerlich. Die sentenzartig formulierte Schlussstrophe wirkt viel entschiedener und klarer als die Gedanken über den Fremdling vorher. Hier gewinnt der Fremde feste Gestalt, sofern er mit seiner Heimat unterwegs ist. Sie ist „verwaist“ und er möchte sie beerdigen (V. 30). Damit wird auf die Psyche, das Innenleben des Fremden aufmerksam gemacht. Er kommt nicht als unbeschriebenes Blatt in die Fremde, sondern ist von seiner Heimat beeinflusst und geformt. Wie er den Heimatverlust

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bewältigen kann, bleibt ein offener Schluss, denn das „vielleicht“ lässt in der Schwebe, ob der Fremde hier einen Neuanfang sucht oder in die Heimat zurückkehren kann oder will. Vergleich Beide Gedichte thematisieren in spezifischer Weise den Verlust der Heimat. Die Perspektive, aus der dies geschieht, ist gegenläufig. Meldet sich bei Keun das lyrische Ich als verfolgtes und geschundenes Individuum zu Wort, so wird es bei Sachs zum Gegenstand, zum Objekt der Beschreibung. So ist Keuns Gedicht ein persönlicher Hilferuf, während bei Sachs das lyrische Ich im Auftrag, in Vertretung der Ausgestoßenen und Fremden um Unterstützung wirbt. „Die Fremde Stadt“ wirkt daher emotionaler und persönlicher, während bei „Kommt einer von ferne“ mehr Distanz herrscht und Belehrendes im Vordergrund steht: „Was tut man, wenn einer von Ferne kommt.“ Hier also die Form eines Bitt- oder Stoßgebetes, dort die einer Handlungsanleitung für den Eventualfall. Was die Fremden erbitten, ist nicht anspruchsvoll, sondern bescheiden: Schutz, Sicherheit und Wärme, also das zum Überleben Notwendige. Bei Keun gibt es eine religiöse Dimension, wobei die Anrufung der fremden Stadt als eine „Burg“ Gottes verstanden werden kann. Bei Sachs fehlt die religiöse Dimension; das Gedicht möchte kritisch hinweisen, dass der Fremde nicht als staunenswerter Exot in die Stadt einzieht, sondern als animalische, bemitleidenswerte, aber auch abschreckende Kreatur. Aufgabe V Analyse und Erörterung nicht fiktionaler Texte (auch mit gestalterischer Teilaufgabe) Schwerpunkt: Erörterung Thema: Rüdiger Safranski: Heimat in: du – Zeitschrift für Kultur, Heft 750, Oktober 2004, S. 89 Hinweise zur Aufgabenstellung Der Begriff bzw. das Thema Heimat liegt im Erfahrungsbereich der Schülerinnen und Schüler und birgt daher Diskussionsstoff aus individuellen und gesellschaftlich-politischen Erfahrungen. Ausgangspunkt ist eine differenzierte Darstellung der vom Autor entwickelten Überzeugungen (1. Arbeitsanweisung). Das durchgängig positive Verständnis von Heimat regt zu Erweiterungen und Widerspruch an. Eine reflektierende Vor-gehensweise schließt jedoch eine abwägende Zustimmung mit selbstständigen Gedankengängen nicht aus (2. Arbeitsanweisung).

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Die alternative Produktivaufgabe fordert eine realitätsnahe Rollenperspektive, die durch den Kommentarcharakter auch zur Auseinandersetzung mit dem Thema zwingt. Die Diskussion bietet gleichwohl inhaltlich und formal einen individuellen Gestaltungsspielraum. Die Erörterungs- bzw. Produktivaufgabe bildet den Schwerpunkt der Gesamt-aufgabe. Hinweise auf mögliche Ergebnisse 1. Arbeitsanweisung Safranski verortet seinen Heimatbegriff autobiografisch, indem er sich als „pränataler Heimatvertriebener“ (Z. 3) vorstellt. So wuchs er in dem Spannungsverhältnis von Einheimischen und Heimatvertriebenen auf. Den räumlichen Verlust der eigenen Heimat stellt der Autor unter den gegebenen politischen Bedingungen als hinnehm- und verkraftbar dar, weil er durch die westliche Konsum- und Wirtschaftswunderwelt kompensiert worden sei. Prinzipiell relativiert er damit die räumliche Bedeutung des Heimatbegriffes als Herkunftsland. Der emotionalen Bedeutung von Heimat spricht er dennoch eine große Wirkung zu, indem er sie als Ausdruck für „gefühlsstarke Anhänglichkeit an einen Ort" (Z. 33) definiert. So entfaltet der Raum der Geburt oder des „bleibenden“ (Z. 38) Aufenthalts identitätsstiftende Wirkung, die sich durch „Verklärung“ als „Ort der Kindheit“ (Z. 39) noch verstärkt. Daraus könne eine „rückwärts gewandte Utopie“ entstehen, die in einer Gegenwart von „Zerstörungen und Unwirtlichkeiten“ (Z. 57) einen Ausgleich bilde, oder aus der sogar ein „Imperativ für die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft“ erwachsen könne. Wichtig ist Safranski aber auch die zeitliche Dimension von Heimat. Heimatgefühl entstehe häufig erst, wenn man einen bestimmten Raum verlasse. So verbindet er Heimatgefühl mit einem Gefühl für ein spezifisches Defizit, das Menschen nach Abreise oder Umzug empfinden. Heimatgefühl erhält damit den Charakter von etwas Unwillkürlichem, weil Menschen es nicht unbedingt in der Gegenwart wahrnehmen, sondern eher im Abstand und mit Blick auf Vergangenes und Unwiederholbares entwickeln. Obwohl das Heimatgefühl der Deutschen durch den „Schlachtruf ´Volk ohne Raum`“ und deren politischen Nachwirkungen beschädigt worden sei, tritt Safranski für eine „Positivbewertung von Heimat“ (Z. 27f.) ein. Die „emotional gesättigte Ortsbindung“ (Z. 29) sieht er als Voraussetzung für „die Fähigkeit und Bereitschaft zur Weltoffenheit“. Die „kindliche Intimität mit einem Raum“ (Z. 43) entspreche einer „beseeltere(n) Art des Erlebens“ (Z. 49f.), die das „Verlangen nach Heimat“ (Z. 66) immer neu entfache. Das Potenzial von Heimat-Bildung und Heimaterfahrung sieht Safranski als wichtiges Gegengewicht zur modernen Welt, die immer mehr Mobilität und Flexibilität fordere (vgl. Z. 70). So erscheint Heimat in einem neuen Licht als lebenswerter sozialer Raum (vgl. Z. 59f.) mit entsprechender Bindewirkung für die Menschen, die in ihm leben. Angesichts „emotionale(r) Wüsten in den sozialen Räumen“ (Z. 65f.) statuiert der Autor wachsenden Bedarf.

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2. Arbeitsanweisung (2a) Zum Widerspruch reizt der von Safranski verkündete „Grundsatz: je mehr emotional gesättigte Ortsbindung, desto größer die Fähigkeit und Bereitschaft zur Weltoffenheit.“ (Z. 29f.). Dieser Grundsatz ließe sich genauso umkehren: Eine zu intensive Ortsbindung verhindert gerade Weltoffenheit und fördert den Provinzialismus. Jugendliche haben ein gutes Gespür, wie weit sich Ortsansässige in die Welt hinauswagen. Es beginnt mit Problemen bei Übernachtungen, wenn der Verein auswärts Spiele zu bestreiten hat, und setzt sich mit der Weigerung fort, eine Ausbildung mit auswärtigem Wohnsitz anzunehmen oder gar mit einem Auslandsaufenthalt zu beginnen. Wichtig wäre, über die persönlichen Erfahrungen hinaus zu verallgemeinern und nach Bedingungen zu forschen, unter denen Heimat Sprungbrett für die Welt oder Einschränkung des Lebensraums bedeutet. Schüler sollten auch gezielt Zeiterfahrungen von heute gegen früher abgrenzen. So sind Jugendliche unserer Zeit viel reiseerfahrener, weil die Infrastruktur und die Vermögensverhältnisse es zulassen. Fremdsprachenkenntnisse sind besser und weiter verbreitet. Die modernen Medien bieten eine intensive Vernetzung mit zu Hause, auch wenn man sich geografisch entfernt. So könnte der moderne Heimatbegriff mehr auf die Menschen, Angehörige und Freunde, abheben, denen man auch in der Ferne verbunden ist und bleibt. Auch könnte auf die Angleichung der Lebensverhältnisse hingewiesen werden. So fühlen sich viele Jugendliche im Ausland schon zu Hause, wenn sie den entsprechenden Fast-Food-Laden finden. In Zeiten der Globalisierung stößt man zumindest als Konsument in vielen Ländern auf ähnliche oder gleiche Angebote. Als besondere Leistung kann gelten, wenn Schüler den Zielkonflikt, sich zu binden und zu lösen, in seiner Bedeutung und Brisanz überblicken und angemessen thematisieren. So leben Menschen von stabilen privaten Bindungen, aber der Arbeitsmarkt und die Politik fordern transkontinentale Einsätze. Ehe und Familie sind einer besonderen Belastung ausgesetzt, wenn Mutter oder Vater nur am Wochenende kommen. Umgekehrt kann vielleicht nur der zufrieden in seiner Heimat leben, der die Welt entdeckt und erobert hat. Auch die Bindewirkung einer religiösen Gemeinschaft könnte diskutiert werden. Inwieweit braucht der einzelne seine Gemeinschaft oder wieweit kann er sich auch anderen kulturellen Einflüssen aussetzen. Die Schülerinnen und Schüler können sich auf ausgewählte Aspekte beschränken. Problembewusstsein, Ergiebigkeit der Beispiele sowie Schlüssigkeit und Über-zeugungskraft der Argumentation entscheiden über die Qualität der Leistung. 2. Arbeitsanweisung (2b) Der Kommentar nimmt auf Einzelaussagen der Vorlage Bezug und setzt sich mit ihnen konkretisierend oder problematisierend auseinander. Der Textbezug muss also klar erkennbar sein. Ebenso sollte das Hauptanliegen Safranskis, emotional in einer Heimat verankert zu sein, Gegenstand der Ausführungen sein. Die subjektive Perspektive eröffnet stilistische Freiheit, die ihre

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Grenze an einer für ein größeres Publikum angemessenen sprachlichen Gestaltung findet. Neben der Differenzierung der Gedanken zählt auch die im Rahmen der Textsorte zu findende sprachliche Originalität.