1986 Abosch_Mairevolte Und Menschenrechte_NZZ

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Mairevolte und Menschenrechte Kritik an Sozialismus und «Antihumanismus» Fast zwei Jahrzehnte nach der Pariser Mai- revolte untersuchen zwei junge Philosophen die ideologischen Gründe und Hintergründe! Was bewirkte den Studentenaufstand, der die ge- samte Gesellschaft erschütterte und fast eine Staatskrise heraufbeschwor? Welche Ideen zir- kulierten, welche Denker gaben den Ton an? Für Luc Ferry und Alain Renaut unterliegt es keinem Zweifel, dass die bestimmte Jdeo/o ie der sechzi er Jahre s1c em nti umamsmus versc ne en a e m o enem egensatz zu en 61sher gelehrten Prinzipien der Philosophie. Louis Althusser habe den Marxschen Humanis- mus als eine Jugendsünde abgetan; sich auf Nitzsche und Heidegger berufend, habe Michel Foucault «den Tod des Menschen» verkündet. Von den geschichtlichen Strukturen aufgesogen, büsste der Mensch seine Existenz ein. Die Auf- klärung galt als verderblich, nach Foucault habe ihr Humanismus die Differenz geleugnet, den andern, der in Gefängnisse und Irrenanstalten verstossen wurde. Der Anklage entgeht auch die Frankfurter' ' Schule nicht, weil sie Errungenschaften der De- mokratie als «bürgerliche Ideologie» abgewer- •tet habe. Ferry und Renaut werfen der Philoso- phie einen «Kult des Paradoxes» vor, «Margi- nalitätssucht und Komplottphantasie». So habe der kommunistische Theoretiker Althusser die herrschenden Klassen beschuldigt, sich mit Hilfe eines Komplotts die Intellektuellen zu un- terwerfen. Doch gerade diese These kam zu Fall, weil die Revolte vor allem eine Sache der Intellektuellen war. Zweifellos hatte die Philo- sophie eine antihumanistische Wendung vollzo- gen, sich von Sartre ab ewandt der eine Schrift verö enthc t atte unter em Titel «Der Exi- stentialismus ist ein Humanismus». Gesellschaftliche Hintergründe Aber für die Erklärung der Mairevolte reicht , es nicht aus, denn die Denker spielten keine . entscheidende Rolle, andere Motive waren aus- 1 schlaggebend. Der Studentenanführer Cohn- ; Bendit gestand dies unumwunden. Manche hät- , ten zwar Marx, Mao, Guevara, Sartre oder Alt- husser gelesen: «Aber keinen Autor kann man als Anreger der Bewegung ansehen.» In einem Kapitel über die Interpretationen wird das ganz klar. Es gibt eine grosse Anzahl von Deutungen, von den ernsthaftesten bis zu den lächerlichsten. Den ersten beizurechnen sind: Zivilisationskrise (Malraux), Universitätskrise (Edgar Faure), Ju- gendrevolte (Edgar Morin), Psychodrama (Ray- mond Aron). Zweifelhaft ist Castoriadis' These eines «neuen Abschnitts der Weltgeschichte» ' und Regis Debrays Verkündung einer «Wiege der neuen bürgerlichen Gesellschaft». Ferry und Renaut o tieren für einen « lnter- pretatwnsp ura 1smus», wie aymon ron 1 n anwan e. ersc 1e ene a toren mussen e- rücks1cht1gt werden, einige der eben genannten, schliesslich auch Zufälle, diese oder jene Ent- scheidung, die auch anders hätte ausfallen kön- nen: «Haben sich bei der Geburt und im Ablauf der Mairevolte allgemeine Gesetze bekundet, so muss man doch präzisieren, dass <keines den Anspruch auf Ausschliesslichkeit und Totalität erheben kann> (R. Aron).» Mit Daniel Bell sprechen die Verfasser von einer «Post-Moder- ne», die Hedonismus, Konsumkult und Lange- weile produziere; das Individuum habe sich ge- en die allgemeinen Werte des Humanismus ge- wandt. Die Mairevolte gab den gesellschaftli- chen Tendenzen sowohl Ausdruck, wie sie auch zugleich ein Protest dagegen war. Letztlich lei- tete sie den leidenschaftlichen Ich-Kult von heute ein. Ferry und Renaut beleuchten den gei- stigen Hintergrund der sechziger Jahre, aber den Schlüssel far den Maiaufstand liefern sie nicht, weil die philosophische Betrachtung es . nicht zu leisten vermag. Dazu müsste man die s.esellschaftlichen Verhältnisse analysieren, Okonomie, Generationskonflikte usw. Tradition des Relativismus Die Kritik des Antihumanismus wird in dem Band «Des droits de /'homme a /'idee republi- 1 Luc Ferry/ Alain Renaut: La pensee 68. Essai sur l'anti- humanisme contemporain. Gallimard, Paris 1985. Luc Feh'y/ Alain Renaut: Des droits de l'homme ä l'idee republicaine. Presses univcrsitaires de France, Paris 1985. caine» historisch erweitert. 2 Mit ihrem zügello- sen Individualismus hat die Mairevolte zu einer Rückbesinnung auf allgemein gültige Rechts- vorstellungen und zu einer Aufwertung des ver- schrieenen Humanismus geführt. Daraus resul- tiert eine Kritik Marxens, der den Menschen- rechten nur einen klassenbezogenen Inhalt zu- billigte. Heute wird weitgehend der Ansicht Leforts zugestimmt, dass die Menschen- recn r «Oen demokratischen Gesellschaftsbe- reich konstituieren». Lefort, der einst zum Kreise Sartres gehörte, schreibt nun, «das Expe- riment des Totalitarismus lehrt, dass die Zerstö- rung der formalen Demokratie die Vernichtung der Demokratie schlechthin bedeutet». Ferry und Renaut verweisen darauf, wie sehr manche Sozialisten, auf den verwirrenden Spuren von Marx, zwischen (bürgerlicher) Demokratie und Samstag/Sonntag, 15./16. März 1986 Nr. 62 93 (proletarischer) Diktatur hin und her schwank- ten. Das gilt sogar für Leon Blum, der, während er 1920 den Kommunisten die Stirn bot, den- noch erklärte: «Ich denke nicht, dass die Dikta- tur des Proletariats daran gehalten ist, eine de- mokratische Form zu bewahren.» Die jetzt zerbrochene Linksunion litt unter ähnlichen Zweideutigkeiten. Daher sprechen die Verfasser von einem Erbe, «das die soziali- stische Tradition weiter schwer belastet, weil sie stets Gefahr läuft, die Beachtung der formalen Rechte der Einschätzung der Kräfteverhältnisse zu opfern». Hier findet sich die Analyse des l Konflikts zwischen Freiheitsrechten und Sozial- anspruchen, der mit der Französischen Revolu- tion begann und bis heute nicht zur Ruhe ge- kommen ist. Er kulminiert im Gegensatz zwi- schen Liberalen und Sozialisten. Da werden Benjamin Constant, Tocqueville und Thiers zi- tiert, die im Namen der Freiheit dem «Recht auf Arbeit» widersprachen. Die Erklärung der Menschenrechte von 1789 bewirkte einen Histo- rismus, dessen relative Nützlichkeitserwägun- gen keine absoluten Prinzipien gelten liessen und, nach dem Triumph des Totalitarismus, die Menschenrechte selbst negierten. Kant, Leo Strauss, Max Weber, Hannah Arendt anführend, untersuchen die beiden Au- toren, ob es angesichts eines solchen Scheiterns der Mo erne einen Weg zurück zur antiken Hu- manitas eben ön e. ie Frage wird verneint: mter 9 onne man nicht zurückfallen. Die Menschenrechte seien unabdingbar, aber gegen die Masslosigkeit des Voluntarismus müssten Grenzpfähle errichtet werden. Neben Marx trifft Kritik Roudhon, aber auch den Neolibera- lismus Hayeks. Die «republikanische Idee» solle Freiheitsrechte und Sozialansprüche ver- klammern. Dies scheint eher ein Wortspiel als eine Lösung zu sein, da es Republiken sehr verschiedener Art gibt - auch solche, die weder Freiheit nöch andere Rechte kennen, im Gegensatz zu etlichen konstitutiOfl:!!llen Monar- chien. Aber prinzipiell ist den Uberlegungen 1 von Ferry und Renaut zuzustimmen, freilich bleibt nach der Definition der Grundsätze die schwierige Problematik ihrer Umsetzung in die . Praxis. Heinz Abosch

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Mairevolte und MenschenrechteNZZ1986

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  • Mairevolte und Menschenrechte Kritik an Sozialismus und Antihumanismus

    Fast zwei Jahrzehnte nach der Pariser Mai-revolte untersuchen zwei junge Philosophen die ideologischen Grnde und Hintergrnde! Was bewirkte den Studentenaufstand, der die ge-samte Gesellschaft erschtterte und fast eine Staatskrise heraufbeschwor? Welche Ideen zir-kulierten, welche Denker gaben den Ton an? Fr Luc Ferry und Alain Renaut unterliegt es keinem Zweifel, dass die bestimmte Jdeo/o ie der sechzi er Jahre s1c em nti umamsmus versc ne en a e m o enem egensatz zu en 61sher gelehrten Prinzipien der Philosophie. Louis Althusser habe den Marxschen Humanis-mus als eine Jugendsnde abgetan; sich auf Nitzsche und Heidegger berufend, habe Michel Foucault den Tod des Menschen verkndet. Von den geschichtlichen Strukturen aufgesogen, bsste der Mensch seine Existenz ein. Die Auf-klrung galt als verderblich, nach Foucault habe ihr Humanismus die Differenz geleugnet, den andern, der in Gefngnisse und Irrenanstalten verstossen wurde.

    Der Anklage entgeht auch die Frankfurter'

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    Schule nicht, weil sie Errungenschaften der De-mokratie als brgerliche Ideologie abgewer-

    tet habe. Ferry und Renaut werfen der Philoso-phie einen Kult des Paradoxes vor, Margi-nalittssucht und Komplottphantasie. So habe der kommunistische Theoretiker Althusser die herrschenden Klassen beschuldigt, sich mit Hilfe eines Komplotts die Intellektuellen zu un-terwerfen. Doch gerade diese These kam zu Fall, weil die Revolte vor allem eine Sache der Intellektuellen war. Zweifellos hatte die Philo-sophie eine antihumanistische Wendung vollzo-gen, sich von Sartre ab ewandt der eine Schrift ver enthc t atte unter em Titel Der Exi-stentialismus ist ein Humanismus.

    Gesellschaftliche Hintergrnde Aber fr die Erklrung der Mairevolte reicht ,

    es nicht aus, denn die Denker spielten keine . entscheidende Rolle, andere Motive waren aus- 1 schlaggebend. Der Studentenanfhrer Cohn- ; Bendit gestand dies unumwunden. Manche ht- , ten zwar Marx, Mao, Guevara, Sartre oder Alt-husser gelesen: Aber keinen Autor kann man als Anreger der Bewegung ansehen. In einem Kapitel ber die Interpretationen wird das ganz klar. Es gibt eine grosse Anzahl von Deutungen, von den ernsthaftesten bis zu den lcherlichsten. Den ersten beizurechnen sind: Zivilisationskrise (Malraux), Universittskrise (Edgar Faure), Ju-gendrevolte (Edgar Morin), Psychodrama (Ray-mond Aron). Zweifelhaft ist Castoriadis' These eines neuen Abschnitts der Weltgeschichte ' und Regis Debrays Verkndung einer Wiege der neuen brgerlichen Gesellschaft.

    Ferry und Renaut o tieren fr einen lnter-pretatwnsp ura 1smus, wie aymon ron 1 n anwan e. ersc 1e ene a toren mussen e-rcks1cht1gt werden, einige der eben genannten, schliesslich auch Zuflle, diese oder jene Ent-scheidung, die auch anders htte ausfallen kn-nen: Haben sich bei der Geburt und im Ablauf der Mairevolte allgemeine Gesetze bekundet, so muss man doch przisieren, dass (R. Aron). Mit Daniel Bell sprechen die Verfasser von einer Post-Moder-ne, die Hedonismus, Konsumkult und Lange-weile produziere; das Individuum habe sich ge-

    en die allgemeinen Werte des Humanismus ge-wandt. Die Mairevolte gab den gesellschaftli-chen Tendenzen sowohl Ausdruck, wie sie auch zugleich ein Protest dagegen war. Letztlich lei-tete sie den leidenschaftlichen Ich-Kult von heute ein. Ferry und Renaut beleuchten den gei-stigen Hintergrund der sechziger Jahre, aber den Schlssel far den Maiaufstand liefern sie nicht, weil die philosophische Betrachtung es

    . nicht zu leisten vermag. Dazu msste man die s.esellschaftlichen Verhltnisse analysieren, Okonomie, Generationskonflikte usw.

    Tradition des Relativismus Die Kritik des Antihumanismus wird in dem

    Band Des droits de /'homme a /'idee republi-1 Luc Ferry/ Alain Renaut: La pensee 68. Essai sur l'anti-

    humanisme contemporain. Gallimard, Paris 1985. Luc Feh'y/ Alain Renaut : Des droits de l'homme l' idee

    republicaine. Presses univcrsitaires de France, Paris 1985.

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    caine historisch erweitert. 2 Mit ihrem zgello-sen Individualismus hat die Mairevolte zu einer Rckbesinnung auf allgemein gltige Rechts-vorstellungen und zu einer Aufwertung des ver-schrieenen Humanismus gefhrt. Daraus resul-tiert eine Kritik Marxens, der den Menschen-rechten nur einen klassenbezogenen Inhalt zu-billigte. Heute wird weitgehend der Ansicht

    C{a~de Leforts zugestimmt, dass die Menschen-recn r Oen demokratischen Gesellschaftsbe-reich konstituieren. Lefort, der einst zum Kreise Sartres gehrte, schreibt nun, das Expe-riment des Totalitarismus lehrt, dass die Zerst-rung der formalen Demokratie die Vernichtung der Demokratie schlechthin bedeutet. Ferry und Renaut verweisen darauf, wie sehr manche Sozialisten, auf den verwirrenden Spuren von Marx, zwischen (brgerlicher) Demokratie und

    Samstag/Sonntag, 15./16. Mrz 1986 Nr. 62 93

    (proletarischer) Diktatur hin und her schwank-ten. Das gilt sogar fr Leon Blum, der, whrend er 1920 den Kommunisten die Stirn bot, den-noch erklrte: Ich denke nicht, dass die Dikta-tur des Proletariats daran gehalten ist, eine de-mokratische Form zu bewahren.

    Die jetzt zerbrochene Linksunion litt unter hnlichen Zweideutigkeiten. Daher sprechen die Verfasser von einem Erbe, das die soziali-stische Tradition weiter schwer belastet, weil sie stets Gefahr luft, die Beachtung der formalen Rechte der Einschtzung der Krfteverhltnisse zu opfern. Hier findet sich die Analyse des l Konflikts zwischen Freiheitsrechten und Sozial-anspruchen, der mit der Franzsischen Revolu-tion begann und bis heute nicht zur Ruhe ge-kommen ist. Er kulminiert im Gegensatz zwi-schen Liberalen und Sozialisten. Da werden Benjamin Constant, Tocqueville und Thiers zi-tiert, die im Namen der Freiheit dem Recht auf Arbeit widersprachen. Die Erklrung der Menschenrechte von 1789 bewirkte einen Histo-rismus, dessen relative Ntzlichkeitserwgun-gen keine absoluten Prinzipien gelten liessen und, nach dem Triumph des Totalitarismus, die Menschenrechte selbst negierten.

    Kant, Leo Strauss, Max Weber, Hannah Arendt anfhrend, untersuchen die beiden Au-toren, ob es angesichts eines solchen Scheiterns der Mo erne einen Weg zurck zur antiken Hu-manitas eben n e. ie Frage wird verneint:

    mter 9 onne man nicht zurckfallen. Die Menschenrechte seien unabdingbar, aber gegen die Masslosigkeit des Voluntarismus mssten Grenzpfhle errichtet werden. Neben Marx trifft Kritik Roudhon, aber auch den Neolibera-lismus Hayeks. Die republikanische Idee solle Freiheitsrechte und Sozialansprche ver-klammern. Dies scheint eher ein Wortspiel als eine ~virkliche Lsung zu sein, da es Republiken sehr verschiedener Art gibt - auch solche, die weder Freiheit nch andere Rechte kennen, im Gegensatz zu etlichen konstitutiOfl:!!llen Monar-chien. Aber prinzipiell ist den Uberlegungen 1 von Ferry und Renaut zuzustimmen, freilich bleibt nach der Definition der Grundstze die schwierige Problematik ihrer Umsetzung in die

    . Praxis. Heinz Abosch