1999-2 PL 0.5 - Plus Lucisglückten Graphiken wurde versucht, die Neigung der Mond-bahn zur Ekliptik...

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  • Vorwort PLUS LUCIS 2/99 1

    Die Welt steht noch, trotz eifrig ausgegrabener obskurer Profe-zeiungen des Nostradamus ist sie am 11. August weder bessernoch schlechter geworden. Aber halt, vielleicht wird bald dasErdbeben in der Türkei von manchen als Spätfolge der Sofi 99angesehen? Schließlich soll es noch viel subtilere Effekte ge-geben haben. Die Tiere sollen sich verwundert ob des kurzenTages zur Ruhe begeben haben, und ein Foucaultsches Pendelsoll in Kremsmünster die nahende Finsternis geahnt haben.

    Bemerkenswert, was "die Wissenschaft" voraussagen kann -und wo sie scheitert! Pünktlich trafen die verschiedenen Pha-sen der Verfinsterung ein - nur die NASA soll sich verrechnethaben. Pünktlich ging mit einwöchiger Vorankündigung dasSchönwetter zu Ende. Aber bei der Kurzfristprognose gab esProbleme. Auch die Hoffnung, der Alpenhauptkamm werdesich als Wetterscheide erweisen, wurde diesmal enttäuscht.Treffend auch die Stauprognose.

    Erfreulich war das große Interesse an dem Naturspiel. VieleMenschen kamen nach Österreich, um die seltene Chancewahrzunehmen, selbst die Österreicher waren nicht alle aufUrlaub im sonnigen Süden und ließen sich - im wahrsten Sinne- mobilisieren. Ironie jedoch, daß an den inszenierten Rum-melplätzen die Sonne mehr durch dicke Wolken als durch denMond verdunkelt war. Umso größer der Eindruck bei jenen,die Glück hatten, ein Loch in der Wolkendecke ergatterten undnicht in einem Menschmeer eingekeilt waren, das darauf war-tete, nach massenmedialer Vorschrift die wiederkehrendeSonne mit Sekt zu begrüßen. Das Glück hatte ich auf einemoststeirischen Aussichtsberg, nicht in völliger Einsamkeit,doch Italiener, Franzosen, Holländer als Nachbarn zu finden,die die Reise wegen Sofi unternahmen, freut und beeindruckt.

    Vielleicht wird so mancher künftig den normalen Himmelser-scheinungen, Sonnenuntergängen, bemerkenswerten Him-melsphänomenen, sternklaren Nächten (mit und ohne Meteo-ritenfall) fern vom Licht der Großstadt mehr Aufmerksamkeitschenken! Vielleicht ergibt sich sogar ein Impuls für einen auf-gewerteten naturwissenschaftlichen Unterricht!

    Verwirrend waren allerdings die Zahlenangaben. Wie schnellbewegt sich der Mondschatten über die Erde? ZweifacheSchallgeschwindigkeit, 6000 km/h? Stimmt vielleicht beides?Und warum läuft er von West nach Ost? In eher wenig ge-glückten Graphiken wurde versucht, die Neigung der Mond-bahn zur Ekliptik und ihre Knoten zu veranschaulichen - mitwelchem Erfolg? -, doch fragen Sie mal Schüler oder Erwach-sene, wie die Mondbahn im heliozentrischen System aussieht!Dabei lassen sich nette Abschätzungen durchführen, die ohne(auch mit) Taschenrechner Verständnis vertiefen.

    Wären Erde und Mond im Weltall allein, könnte der Mond tat-sächlich eine Kreisbahn um den gemeinsamen Schwerpunktausführen. Bei einem dem mittleren Mondabstand von 380000km entsprechenden Bahnradius und einer Umlaufsdauer (side-risches Monat) von 27,32 Tagen ergibt sich eine Geschwindig-keit auf der Mondbahn von 3600 km/h. Auf der Sonnseite sei-ner Bahn bleibt er hinter der Erde zurück, oder von der Erdeaus betrachtet bleibt er hinter der Sonne zurück, bewegt sichalso nach Osten. Durch seine Erdnähe ist die Schattenge-schwindigkeit senkrecht zum Abstandsvektor Erde-Sonnepraktisch seine Bahngeschwindigkeit. Die Erdrotation erfolgt

    ebenfalls nach Osten. Auf der geographischen Breite vonÖsterreich beträgt die Geschwindigkeit der Oberfläche etwa1100 km/h, so daß der Schatten hier - zu Mittag - etwa mit2500 km/h wandert, in Asien (Sonnenuntergang) wegen derKrümmung der Erdoberfläche schneller. (Für feinere Detailsbräuchte man die sphärische Trigonometrie.)

    Interessant, und für die Schüler eine kleine Übung, ist es, Erd-und Mondbahn im heliozentrischen System zu zeichnen, na-türlich nicht im richtigen Maßstab. Da der Mond auf seinerBahn etwa mit 1/30 der Geschwindigkeit umläuft, mit der dasSystem Erde-Mond um die Sonne läuft, bewegt er sich um dieSonne auf einer leicht wellenförmigen Bahn, überholt die Erdeaußen und bleibt innen zurück. Ähnlich bewegt sich der Erd-mittelpunkt relativ zum Schwerpunkt des Systems.

    Was hat der Sommer sonst noch gebracht? Einiges erfreuli-ches! Der zweite Lehrgang Pädagogik und Fachdidaktik fürLehrerInnen der Naturwissenschaften ist erfolgreich abge-schlossen. 30 höchst engagierte und begeisterte Lehrerinnenund Lehrer aus AHS, HS und Pädak werden in Kürze ihr Ab-schlußzeugnis erhalten. Mit Ausdauer und viel Einfallsreich-tum wurden die Studien erarbeitet, die Forschungsarbeiten zuAspekten des eigenen Unterrichts darstellen. Während der dreiSeminare des zweijährigen Lehrgangs haben die Teilnehmervielfältigste Beiträge meist als interdisziplinäre Gruppen ge-leistet. Es würde sich lohnen, diese zu veröffentlichen. DieStudien erscheinen in der Schriftenreihe des IFF.

    Sommerakademien geben interessierten und begabten Jugend-lichen Gelegenheit, sich im Kreise Gleichgesinnter intensivermit Themen ihres Interesses auseinander zu setzen. Drei vonsieben Kursen der ersten niederösterreichischen Sommeraka-demie waren naturwissenschaftlichen Themen gewidmet, dasInteresse war größer als die Zahl der Plätze - und kein Teilneh-mer bedauerte den Entfall einer Ferienwoche. Warum bietendie Unis nicht in den Ferien Schnupperstudien, Sommerschu-len für Interessierte an?

    Der Lehrplanentwurf 99 ist in Begutachtung. Zum AHS-Phy-siklehrplan haben die LandesAGs wiederholt ablehnende Stel-lungnahmen abgegeben, die im Entwurf keine Berücksichti-gung gefunden haben. Zum allgemeinen Teil gibt es aus Ober-österreich sehr kritische Stimmen (s. http://www.pi-linz.ac.at/ahs/zeitung/ahaes_3/ahaes3.pdf). Der Auftrag nach Entrüm-pelung und schlanken Lehrplänen führt in die Unverbindlich-keit. (Das britische National Curriculum zählt nur kurze Zieleauf, den wahren Lehrplan diktieren die Testagenturen, diedicke Kataloge ihrer Fragen verkaufen. Externe Evaluationkönnte als Folge schlanker Lehrpläne kommen.)

    Doch unabhängig vom Lehrplan: Verstärkt müssen die Ziele,Inhalte und Methoden des naturwissenschaftlichen Unterrichts(nicht nur) von allen Lehrenden durchdacht werden, um dieQualität des Unterrichts positiv weiterzuentwickeln. Kolle-giale Weiterbildung und Fortbildung mit externer Unterstüt-zung muß verstärkt werden!

    Fortbildungswoche 2000: Themenvorschläge, Angebote,neue Ideen - schreiben Sie uns!

    Viel Erfolg im neuen Schuljahr wünscht IhnenIhr Helmut Kühnelt

    Natur als Spektakel

  • 2 PLUS LUCIS 2/99 Fachdidaktik

    Im Rahmen der Lehrerbildung wird eine Fülle von fachdidak-tisch und pädagogisch relevanten Begriffen eingeführt undpraxisbezogen erläutert. Hierzu zählen solche wie "Chemie alseine Naturwissenschaft", "Methodik des fachwissenschaft-lichen Erkenntnisgewinns", "Lehrpläne und Lehr-Lern-In-halte", "Ziele des Unterrichtens", "Unterrichtsformen", "Un-terrichtsmethoden", "Unterrichtshilfen", "Unterrichts(er-folgs)kontrollen" und nicht zuletzt "Unterrichtsprinzipien".Kein Zweifel, dieses letztgenannte Thema erscheint von allendas am wenigsten Griffige zu sein. Es sieht so aus, als könneman hier nur "schwafeln" und in Gemeinplätzen referieren.Oft wird diesem Begriff auch die nötige pragmatische Umset-zung abgesprochen und er der ausgesprochenen Praxisfernebezichtigt. In jedem Fall lassen sich aber aus diesen Kritik-punkten Argumente für ein Ignorieren herleiten!

    Im Folgenden soll nun gezeigt werden, dass es sich bei den"Unterrichtsprinzipien" nicht um eine unverbindliche Launedes Theoretikers handelt. Vielmehr beschreibt dieser Begriffden Rahmen für die besonders sinnvolle, weil schüler- und sa-chorientierte Flexibilität bei der Wahl aus den Beispiel-poolsder anderen Begriffe (s.o.). Im vorgestellten Modell der Unterrichtsprinzipien geht es pri-mär um eine besonders bedeutungsadäquate Zuordnung vontypischen Aspekten der chemischen Lehr-Lern-Inhalte, wel-che in der Schule im Fach Chemie den "Stoff" ausmachen. Ge-meint sind die fachwissenschaftliche Relevanz (i.d.R. Notwen-digkeit für das chemische Verständnis), die Beziehbarkeit aufVorkenntnisse und jeweils vorhandenes fachliches Grundwis-sen und die unmittelbare lebensweltliche Aktualität bzw. Nutz-barkeit für den Schüler.

    Häufig werden die drei Aspekte nur fakultativ und mit zu ge-ringer Deutlichkeit aufeinander bezogen, meist gelingt nur einoberflächlicher Zweierbezug. Stets verursacht eine unvollstän-dige Bezugnahme jedoch Defizite im Bereich der affektivenAkzeptanz und der kognitiven Anwendung der Inhalte durchden Schüler und unterminiert - fast möchte man sagen traditi-onsgemäß - den Bildungsanspruch unseres Faches. Vgl. hierzudie Ausführungen von J A. Stöckhardt: Die Schule der Chemieoder Erster Unterricht in Chemie; Braunschweig 1881, hier:Vorwort zur ersten Auflage 1846 (!):

    Die Chemie ist, abgesehen von ihrer Nützlichkeit, die Nie-mand bestreiten wird, eine so schöne Wissenschaft: sie

    macht uns erst recht heimisch in unserer allernächster Nähe;sie giebt uns den Schlüssel zu den allergewöhnlichsten Na-turveränderungen, zu den zahllosen Veränderungen, dieohne Unterbrechung um uns her vor sich gehen; sie zeigtauch im Kleinsten das Walten einer ewigen Ordnung undWeisheit; sie bildet das Beobachtungsvermögen und denScharfblick so des Auges wie des Geistes. Und doch wird sieimmer noch nicht als ein allgemeines Bildungsmittel aner-kannt, noch nicht an allen Gymnasien, in allen Seminarengelehrt! Eine Wissenschaft, die uns Aufschluss giebt über diegewöhnlichsten Erscheinungen in der Natur, sollte nicht je-dem nach Bildung strebenden Menschen von hohem Inter-esse sein? Eine Wissenschaft, die uns zeigt, dass auch imKleinsten eine ewige Weisheit, Ordnung und Gesetzmässig-keit herrscht, sollte nicht auch einen wohlthätigen Einflussauf das moralische Gefühl des Menschen ausüben? EineWissenschaft, welsche das Beobachtungs- und Urtheilsver-mögen des Menschen schärft, sollte nicht auch um des päd-agogischen Nutzens willen, als formales Bildungsmittel, Ein-gang in höheren Bildungsanstalten verdienen? Kann einGeistlicher, ein Schulmann, ein Gebildeter überhaupt, unwis-send bleiben in den gemeinsten Wahrheiten, die in wenigenJahrzehnten Eigenthum, wenn auch nicht aller, doch sehrvieler Handwerker uns Landleute sein wird?

    Wir gehen davon aus, dass das obige Bild anders gezeichnetwerden muss. Neue Beziehungen zwischen den fachdidakti-schen Kriterien erleichtern die Verwirklichung der zurecht un-ablässig proklamierten Lehr- und Lernbarkeit unserer chemi-schen Bildungsinhalte."Wie gesagt hat das alles etwas mit Chemie zu tun und ist des-halb auch schwierig zu erklären" (Studentin der Physikdidak-tik in ihrer Zulassungsarbeit über `Physikalische Phänomenein der GS´, hier zum Thema `Versuche mit Rotkohl´, München1998). Vielmehr erwachsen die unterrichtlichen Probleme ausden sehr komplexen Inkongruenzen zwischen ihrem Vermitte-lungsanspruch und den lernpsychologischen Voraussetzungendes Mittelstufenschülers. In der neuen Übersicht (siehe S. X)werden die erwähnten Beziehungen verdichtet. Von untennach oben gelesen, sind sie wie folgt zu interpretieren.

    Fachinhalte stoßen bei der Vermittlung im Rahmen des Schul-unterrichts stets auf analogisierbare Vorkenntnisse. Darunterverstehe ich eine individuell erworbene, sehr pragmatisch be-wertete und bewährte Wissensstruktur, die von Schüler zuSchüler in Umfang und Systematik extrem variiert. DieseDeutungssysteme wahrgenommenen Wirklichkeiten oderauch subjektiven Theorien von Jugendlichen der Primarstufeund der Sekundarstufe I, die mit dem Fach Chemie (nicht mitder Chemie!) neu und erstmals in Kontakt kommen, zeichnensich durch einen besonders hohen Bewährungsgrad aus. DieVorstellungen von sauren Lösungen, von Werkstoffen, vonVerbrennungsvorgängen sind durch vielfache Wahrnehmun-gen über Sinne und Emotionen als persönliche Erfahrungenvielfach konsolidiert.

    Das Ziel des Fachunterrichts besteht in der Relativierung, fall-weisen Richtigstellung und fachsystematischen Ordnung vonInhalten, die, grob formuliert, unter der Thematik (Bezugssy-

    VorkenntnisseGrundwissen

    ?

    Fachrelevante Informationen

    Lebenswelt--Aktualität

    -Nutzen

    Dr. Michael A. Anton, Ludwig-Maximilians-Universität München, Didaktik und Mathetik der Chemie, Butenandt-Str. 5-13, 81377 München-Großhadern, Fon: 0049-(0)89-2180-7396; Fax: -7856, [email protected] und Diskussionsvortrag (25.2.99)

    Chemische Unterrichtsprinzipien

    Michael A. Anton

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    stem) "Stoffartumwandlungen" subsumierbar sind. In jedemFall erfahren diese subjektiven Vorkenntnisse einen mehr oderweniger drastischen Bedeutungswandel, der in seiner Be-gründbarkeit stets frag-würdig ist.Die fachdidaktische Herausforderung besteht in der Integra-tion dieses Grund- und Aufbauwissens in den chemischen"Vorkenntnisstand". Gelingt dies nicht, so wird es neben denVorkenntnissen abgespeichert und schlimmstenfalls aus-schließlich in Prüfungssituationen reproduziert bzw. reorgani-siert.Unsere Bemühungen richten sich deshalb auf die nachhaltigeSicherstellung von Vorbedingungen für das Lehrern und Ler-nen, welche den Bedeutungswandel als hilfreich erleben las-sen, die Integration unterstützen und die Separation wenigerwahrscheinlich werden lassen.

    Zu diesen Konditionen zählen die klare Klassifizierung fach-spezifischer Informationen hinsichtlich Bekanntheit und Be-deutung für die aktuelle und zukünftige Lebenssituation desSchülers. Der Nutzen erschließt sich allerdings nicht auf An-hieb, was für Lehrer und Schüler gilt. Es erfordert z.T. gewal-

    tige fachdidaktische und lernpsychologische Anstrengung, diebei der Erstellung von Lehrplänen wie auch von schultyp- undjahrgangsstufen- sowie klassenspezifischen Stundenbildern zuleisten sind [1]. Gelingt aber die Kombination von "unbe-kannt" und "wichtig", so kann damit ein negativer Spannungs-zustand erzeugt werden. Er steht für "Das was ich da nochnicht weiß, möchte ich wissen!". Mit ihm erwächst im Idealfalldas Bedürfnis, aus der Kopplung von Vorkenntnissen bzw.später von Grundwissen mit unbekannten und bedeutsamenInformationen persönlichen Nutzen zu ziehen. Ein Nutzen istdas Erzielen guter Beurteilungen [2]. Eine wünschenswerteKonsequenz ist die Befriedigung dieses Bedürfnisses. Dies istimmer und ausnahmslos mit Anstrengungen verbunden, diebesonders am Anfang keinesfalls vom Schüler allein erbrachtwerden können. Um sie in eine effiziente Leistung münden zulassen, muss die Last auf mehrere Schultern verteilt werden,auf die des Schülers und auf die des Lehrers. Die konstruktivi-stische Lernleistung [3] des Schülers gelingt in dem Maße wiees der Lehrer versteht, seine mathetischen (Mathetik: Lehrevom Lernen) und didaktischen Leistungen zielgerecht einzu-bringen. Das Instrumentarium für die praktische Umsetzung

    der hier beanspruchten "adaptiven Kom-petenz" des Lehrers [4] kann analogisie-rend mit dem folgenden "Stand der Tech-nik" beschrieben werden. Es handelt sichum einen situativ angepassten Form- undMethodenwechsel, insbesonders um dieTrennung von Lern- und Leistungssitua-tionen und damit auch schwerpunktmäßigvon Umgangsformen mit Fehlern bei derdirekten Unterweisung (Fehlerkorrektu-ren) bzw. beim offenen Unterrichten (Feh-lervermeidung). Ferner handelt es sich umeinen adaptiven Wechsel von sozialer Un-terstützung bei der Vorstellung von fein-strukturierten Inhalten und schülermitver-antworteter Eigenbeteiligung beim intelli-genten Üben an systemischen Aufgaben-stellungen. Ziel dieses Zusammenspielsist einerseits die Selektion rationellerLernstrategien für den einzelnen Schülerund andererseits deren Optimierung mitHilfe metakognitiver Kompetenzen bishin zu Problemlöseroutinen.

    Nun könnte man behaupten, dass dieserKonnex eher zu den selbstverständlichenArbeitszielen des Lehrers zählt, und dassletztlich die Anstrengungen als auch dieihnen folgende Leistung schulimmanenteSachverhalte darstellen. Dies stimmt abernur teilweise. Die geschilderten Zusam-menhänge funktionieren ganz besondersim Fach Chemie in mehr als 70 % des Un-terrichts nur suboptimal. Nur etwa einDrittel der Lehrerschaft läßt die adaptiveKompetenz fruchtbar werden. Das mag u.a. auch damit zusammenhängen, dass beidieser Minderheit die erbrachte Leistungin ausreichend langen Genussphasenmünden, mit denen Erfolg erlebt werdenkann. Dies einmal kurzfristig als Eupho-

    *Vgl. auch: Rossa, E.: Experimentieren im Chemieunterricht - bildend, sicher, umweltgerecht.; in: NiU-Ch 14(1992)3,4-6, 5**Lehtinen, E.: Institutionelle und motivationale Rahmenbedingungen und Prozesse des Verstehens imUnterricht; in: Reusser, K.; M. Reusser-Weyeneth (Hrsg.): Verstehen, Bern 1994, S. 143ff*** Vgl. auch: Rossa, E.: Vom fremd- zum selbstbestimmten chemischen Experimentieren. in: NiU-Ch14(1992)3, 12-15, 15

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    rie, aufgrund einer Befriedigung eines motivationalen Bedürf-nisses, als "kick", "flow" oder Hochgefühl und ein andermalals dauerhaften Kompetenzzuwachs im Rahmen eines domä-nenspezifischen Verstehens. Das bedeutet, dem Schüler wirdbewußt gemacht, dass sich seine Anstrengungen und Leistun-gen (aber auch die seines Lehrers) zur Lösung des kognitivenund affektiven Konflikts erfolgreich gelohnt haben. Geradehieraus entsteht langandauerndes Interesse. Diese Bereitschaftzur aktiven Problembewältigung ist gut dazu geeignet, glei-chermaßen neue Konflikte (Fragen) zu provozieren wie an ih-rer Auflösung tatkräfig mitzuwirken.

    Hier schließt sich der Kreis. Er berücksichtigt nicht nur dieneuen Erkenntnisse aus der Lernpsychologie, dass nämlich In-teresse durch Leistung erzeugt wird und - zumindest für dieMittelstufenschüler - nicht umgekehrt (!), sondern auch, dassdie hier beschriebenen Lehr-Lern-Beziehungen ihre Praktika-bilität und Konsistenz auch dann beibehalten, wenn die Leh-rerhilfen durch Eigeninitiative des lebenslang Lernenden sub-stituiert werden. Und das ist ja unser aller Unterrichtsziel nachdem Motto: "Unsere Schüler sollen Erfolg haben - außerhalbund nach dem Ende der Schule!"

    Diese neue Darstellung macht fachübergreifenden und fächer-verbindenden Unterricht -wenn nötig- möglich, fordert ihn je-doch nicht durchgehend ein. Sie integriert ebenso das hand-lungsorientierende Unterrichten, also eine Lehr-Lern-Lei-stung, die das aktuelle und zukünftige Handeln und Entschei-den des aufgeklärten Laien begründend zu leiten vermag.

    Das Besondere an dieser Darstellung liegt in der Gleichwertig-keit der drei Aspektpakete Wissen, Nutzen, Information. Derdazugehörende Realisierungsvorschlag, der sich durch dieAuswahl weniger Inhalte, die Zeitvorgabe und die damit er-möglichte Kleinschrittigkeit sowie Schülermitverantwortungergibt, widmet sich dem Thema:

    • Einführung in die Elektrochemie

    Analog lassen sich auch andere Themen bearbeiten:

    • Saure und "fade" Lösungen und die Indikatoren

    • Weiterverwendung von Kunststoffen und das Entdeckenihrer Eigenschaften

    • Zivilisations- und kulturstiftende Wirkungen chemischerReaktionen.

    Das erste Beispiel war Inhalt des workshops und sollte in die-sem Rahmen einem besonders eingehenden praxisgeleitetenBetrachten und Begreifen unterzogen werden.

    Das experimentelle Vorgehen gehorcht einer folgerichtigenund insbesonders kleinschrittig konzipierten Ermittlung vonWahrnehmungen und Deutungen. Hierzu wurde ein Motto zu-grunde gelegt: k.l.a.r.

    k.leinschrittig

    l.ogisch

    a.ltruistisch

    r.ichtig

    Es sei hier der Hinweis erlaubt, dass die vorgestellte Vorge-hensweise keinesfalls die bestehenden Varianten in der Unter-richtsform und in der Unterrichtsmethode (-verfahren) erset-zen soll. Im Gegenteil, Ziel der Vorstellung ist die kritischeAuseindersetzung mit einer Variante in der prinzipiellen Kon-zeption von Chemieunterricht in der Sekundarstufe I (Jgst. 8, 9

    u. 10) unter Beibehaltung der grundlegenden Orientierungs-punkte:

    • Oberste Bildungsziele

    • Didaktik und Mathetik der Inhalte

    • Bedürfnisse und Fähigkeiten der Schüler und Schülerinnen

    • Berufliche Basisanforderungen an Absolventen

    • Zeitgeist

    • Visionen

    Der durch eigene Anstrengung und mit didaktischer Hilfe er-zeugte und mittels Reflexion erfahrbar gemachte Kompetenz-zuwachs kann mit dem Bild zu den "Unterrichtsprinzipien"überzeugend veranschaulicht werden [5].

    Im Diagramm auf der nächsten Seite, das den einen oder ande-ren sicher an die graphische Darstellung einer endotherm ver-laufenden chemischen Reaktion erinnern mag, wird ein bereitsgelerntes Grundwissen (geordnetes Fachwissen als objektiveTheorie) sowie ein vorgefundener Vorkenntnisstand (ungeord-netes Fachverständnis als subjektive Theorie) zur Induktionvon Fragehaltungen verwendet. Die damit eingeleitete Be-schäftigung, z.B. mit den Ursachen für den Betrieb eines elek-trischen Verbrauchers (Elektrische Eisenbahn) führt zu unter-schiedlicher Lehrer- und Schülerbeteiligung. Sie ist jedoch injedem Fall mit kognitiver Anstrengung verbunden, mit der Er-gründung gesetzmäßiger Zusammenhänge und deren Anwen-dung, damit auch mit dem Lernen von Begriffen und derenVerwendung, mit dem Erleben von Beobachtungen und derenDeutung, mit dem "Erfinden" von Modellen und deren Verall-gemeinerung sowie mit dem Entwickeln von Hypothesen unddem `handling´ von Ideen und Gerätschaften bei deren Über-prüfung.

    Im weiteren Verlauf dieser Auseinandersetzung werden schul-und jahrgangsstufentypische Ziele erreicht. Traditionsgemäßfolgt nun ein Üben (z.B. Hausaufgabenstellung), eine Vorbe-reitung auf aktuelle Prüfungen (Extemporale, Schulaufgabe,Klausur, Abschlußprüfung) und/oder ein Neubeginn zurDurchnahme eines weiteren Inhalts.

    Im vorgeschlagenen Fall wird ein "Rückbau" vorgeschaltet,d.h. der Lehrer geht mit den Schülern auf ein systematisieren-des und anschließend auf eine systemisierendes Übersichtsni-veau zurück. Auf ihm werden die gefundenen Antworten an-gewendet und getestet. Ziel ist es, das Aufbauwissen als sol-ches zu identifizieren und seinen Nutzen für aktuelle und fall-weise akute Problemlösungen aus dem persönlichenLebensbereich gewinnbringend und genußvoll (!) anzuwen-den. "Interessen werden dort entwickelt, wo Kompetenzzu-wachs erfahrbar ist" (Baumert, Vortrag in Bremen am16.9.96). Dieser Weg zum neu erworbenen Leistungsniveau istnur nach vorangegangener Anstrengung möglich. Er erscheinterst als Kontrast gegenüber dem weniger ertragreichen Vor-kenntnisstand und Grundwissen lohnenswert. Er erhellt dieTatsache, dass der Schüler nicht mehr derselbe ist wie vorher,was sich nicht auf die kognitiven Qualitäten reduzieren läßt.

    Der Weg muss auch so gegangen werden, dass jederzeit dieOption zu neuer Anstrengung erhalten bleibt und eine Vertie-fung des Stoffes über den angepeilten Level hinaus erfolgenkann. Für den Normalfall geht jedoch ein aufgeklärter Laie ausdem Unterricht hervor, der dies an sich selbst registrieren unddeshalb zu neuer Anstrengung bereit werden kann.

  • Fachdidaktik PLUS LUCIS 2/99 5

    In der Graphik wird deutlich, dass der Niveauunterschied zwi-schen Grund- und Aufbauwissen dem Wissenszuwachs (imkonstruktivistischen Sinne, also als selbsterworbene Wissens-architektur) entspricht. Der Abstand zwischen dem Niveauhöchster Anstrengung und dem Endniveau entspricht der ge-wonnenen Einsicht in die Methoden, die zum Erwerb dieserErkenntnis geführt haben. Dies wird in dem Maße erleichtert,als die Methoden vom Schüler, etwa in Schülerübungen, ex-emplarisch selbst angewendet werden können.

    Genau diese Zusammenhänge sollen mit Hilfe geeigneter Ver-deutlichungen in der Lehrerbildung, hier besonders in PhaseIII ins Licht gestellt und der Kritik ausgesetzt werden.

    Ein Stromkreis soll mit den folgenden Elementen

    konstruiert werden:

    ___________________________________________Batterie Akku Graphitstab Glasstab

    Salzlösung Messgerät Glühbirne BleistiftGlimmlampe Krokodilklemmen Brennstoffzelle

    Solarwaffel Netztrafo Siliciumscheibe Elektromotor Kabel Drähte

    Elektrische Eisenbahn___________________________________________)UDJH��:DUXP�IXQNWLRQLHUW�GLH�HLQH�.RPELQDWLRQ�XQG�GLH�DQGHUH�

    QLFKW"• Spannungsgefälle (Spannungsquelle)• Kontinuierliche Elektronenwanderung (Stromkreis)• Widerstände gegen einen raschen Spannungsausgleich

    (Verbraucher)

    Fragen: Welche Eigenschaften kennzeichnen eine Spannungsquelle?Welche Eigenschaften kennzeichnen einen Leiter 1. Ordnung?Welche Eigenschaften kennzeichnen einen Leiter 2. Ordnung? Welche Eigenschaften kennzeichnen einen Verbraucher?

    • Unterschied zwischen e--Mangel und e--Überschuß auf-grund stoffimmanenter Eigenschaften oder äußerem Zwang(Polarisation)

    • Freibewegliche Ladungsträger: e-

    • Freibewegliche Ladungsträger: Ionen

    • Energieumwandlungsprozesse (Redox-Rkn., Reibung, ...)

    Frage: Worin äußern sich diese Eigenschaften konkret und undim Detail, z.B. bei einer elektrochemischen Spannungsquelle?

    Im weiteren Verlauf werden diverse Versuchsansätze reali-siert, wobei die Frage zu beantworten ist: Welches Verhaltenzeigen die Stoffe (Metalle, Nichtmetalle) im Medium Luftbzw, im Medium Wasser?Mg-Band, Cu-Blech, Fe-Nagel, Iod-Kristall, Ag-Blech, Chlorin deionisiertem Wasser.

    Im Fall Mg in Wasser kann sehr rasch eine positive Indikator-Reaktion ermittelt werden: Bromthymolblau verfärbt sich vongrün nach blau. Eine Blaufärbung der Lösung durch gebildeteKupfer(II)-Kationen läßt sich bereits nach wenigen Stundenfeststellen; sie kann durch Zugabe von wenig conz. Ammo-niak erleichtert und beschleunigt werden. Bei der Zugabe vonNatriumchlorid-Lösung zum Silberansatz ist keine Reaktion(AgCl-Nd.) nachweisbar. Die Iodfarbe tritt bald auf; durch Zu-gabe von AgNO3-Lösung lassen sich alsbald über die AgI-Bil-dung Iodid-Anionen nachweisen. Noch schneller gelingt derChlorid-Nachweis im Chlorwasser.

    Jedesmal kann direkt oder indirekt gezeigt werden, dass sichim Medium Wasser Elektronentransfer-Reaktionen abspielen.Edle Metalle wie Silber zeigen im beschriebenen Bedingungs-rahmen keine Reaktion, womit der Begriff "edel" konkrete Be-deutung erlangt. Die Richtung des Elektronentransfers istnicht immer gleich und nicht immer gleich stark. Metalle zei-gen unterschiedlich deutliche Oxidationsleistungen, Nichtme-talle unterschiedliche Reduktionsleistungen. In jedem Fall bil-det sich ein stoffimmanentes Halbzellen-Gleichgewicht her-aus, dessen Lage vom resultierenden Verhalten der Atome undKationen zueinander abhängt. Jeder Stoff besitzt bei standardi-sierten Bedingungen ein ihm eigenes Gleichgewicht.

  • 6 PLUS LUCIS 2/99 Fachdidaktik

    Als Schlußfolgerung ergibt sich bei Anwendung der vorhan-denen Grundwissensbereiche, dass die Metalle gegensätzlicheAufladung erfahren müssen. Der Fe-Nagel, das Cu-Blechmüssen sich demnach aufladen. Metalle erhalten dabei einenegative Ladung, da sich die Elektronen in ihnen anreichern,solange die Kationen in Lösung gehen. Bei den Nichtmetallen (I2, Cl2) disproportionieren die Mole-küle im Zuge ihrer Reaktion mit Wasser-Molekülen (Cl2 +H2O → HCl + HOCl). Aufgrund der Kompliziertheit beimVergleich "Me-Nichtme" kann auf die Betrachtung der Nicht-metalle verzichtet werden. Andererseits bietet sich deren Inte-gration in diesen Versuchsrahmen an, wenn die Herleitung derLösungstensionsreihe und später der Spannungsreihe als einweiteres Ziel anvisiert wird.Aus diesem Vorgang der Oxidationen kann allerdings nochkeine Spannungsquelle hergeleitet werden. Es muss hierzueine weitere Teilversuchsreihe gemacht werden.

    Kupfer-Blech in Silbernitrat-Lösung, Eisennagel in Magnesi-umchlorid-Lösung, Zink in Kupfersulfatlösung, Chlorwasserin Kaliumiodid-Lösung, Chlorwasser in Kaliumbromid-Lö-sung, Zink-Granalie in verd. Salzsäure, Magnesiumband inverd. Schwefelsäure.

    Die jeweiligen Abscheidungsvorgänge werden miteinanderverglichen und geordnet. Es gilt, Metall-Kationen scheidensich dann leicht als Atome ab, wenn sie sich anhand des zu-grunde liegenden hohen Abscheidungsdrucks als besondersunedel erweisen: Kupfer an Zink, Silber an Kupfer.Die Analogie bei Nichtmetallen und beim System Metall undSäure (H3O-Kationen) ist entsprechend der oben genanntenunterschiedlichen Bedingungen fallweise zu beachten bzw.nicht mit einzubeziehen.

    Die Folgerungen sind eindeutig. Bei der Kombination vonAtomen und Kationen (bzw. von Anionen und Molekülen) un-terschiedlicher Metall-Elemente kommt es zu Redox-Vorgän-gen. Diese ergeben sich in ihrer Richtung und Stärke aus denelektrochemischen Eigenschaften der beteiligten Elemente.Einige Halbzellenkombinationen zeigen sehr effiziente Reak-tionen, andere wiederum nicht. In jedem Fall muss jedoch ein"Kurzschluss angenommen werden. D. h. die Elektronen ge-hen unmittelbar vom negativierten Metall zum gelösten Kat-ion und die Solvatisierung der entstehenden Kationen des we-niger edlen Metalls geschieht im Austausch zur Desolvatisie-rung der Kationen des edleren Metalls aus der Lösung. DieseVorgänge sind auch durch ihre Energetik charakterisierbar. Ed-lere Metalle sind als Atome stabiler denn als Kationen. Uned-lere Metalle sind als Kationen energieärmer. Der begehrte Zu-stand wird entlang eines Energiegefälles spontan eingestellt,wenn die Gelegenheit des Elektronentransfers aufgrund einesKontakts gegeben ist.

    Die jetzt aufkeimende Idee besteht in der experimentellenKonstruktion eines längeren Weges für die Elektronen und zu-sätzlich eines Abschnittes, innerhalb dessen die Energie, wel-che durch den Stabilitätsgewinn umwandelbar wird, auch ge-winnbringend umgewandelt werden kann. Die so konzipierteVersuchsanordnung entspricht im einfachsten Fall dem Ent-wurf des Daniell-Elements. In je ein Becherglas wird eine mo-lare Lösung von Zinksulfat bzw. Kupfersulfat gegeben. Zink-stab und Kupferstab werden zugehörig eingetaucht, mit einerleitenden Verbindung (Kabel mit Krokodilklemmen) über ei-nen Elektromotor oder ein Glühlämpchen oder ein Messgerät

    (Ampere- oder Voltmeter) miteinander verbunden. Am Ver-braucher rührt sich nichts. Die Fehlersuche führt zur nötigenVerbindung der beiden Becherglasinhalte über einen Strom-schlüssel (KCl-Lösung).

    Jetzt ist Stromfluss interpretierbar: über den laufenden Motor,das glimmende Lämpchen, den Zeigerausschlag. Mit diesemSchritt ist die elektrochemisch funktionierende Spannungs-quelle entdeckt und es kann an ihrer Optimierung gearbeitetwerden. Hierbei ist beim Arbeiten vor Ort sehr wichtig, diesenAbschnitt gebührend herauszuarbeiten. Ziel ist es ja, Sie erin-nern sich, Kompetenzzuwachs erlebbar zu machen.

    Im weiteren Verlauf werden anhand von TeilversuchsfolgenLösungen und Elektroden ausprobiert, die in ihrer Kombina-tion immer noch bei ca. 1,0 bis 1,5 V Spannung liegen, dieaber hinsichtlich Materialkosten und Verschließbarkeit("Trockenelement") wirtschaftlich interessanter und alltags-tauglicher sind als das gebildete galvanische Element aus Zinkund Kupfer oder gar ein anderes aus Zink und Gold.

    Auf diesem Wege wird durch den Austausch von CuSO4-L.durch NH4Cl-L., dann von ZnSO4-L. durch dieselbe L. und ab-schließend von Kupfer durch Kohlenstoff das Leclanché-Ele-ment kreiert. Das Aufsägen einer Taschenlampen-Batterie läßtdiese Bauteile tatsächlich erkennen. Die Diskussion für dieAnwesenheit von Füllmaterial und Braunstein kann anschlie-ßend folgerichtig begründet werden.Am Ende dieses Schrittes kann erneut der Kompetenzzu-wachs, bezogen auf das trial-and-error-Verhalten am Anfangverdeutlicht werden. Der Weg durch die Elektrochemie ist allerdings noch nicht zuEnde. Die Diskussion um größere Spannungen, wiederver-wendbare Akkus und letztlich die elektrochemische Nutzungvon Lichtenergie führen fast automatisch zu einem analogenkleinschrittigen Bearbeiten der Problemlage.So kann jetzt mit Hilfe der Batterie Wasser (verd. Sre) im Hof-mannschen Zersetzungsapparat in Wasserstoff und Sauerstoffelektrolysiert werden. Beide Gase können als Knallgasreak-tion wiedervereinigt werden oder gewinnbringend in eineBrennstoffzelle eingebracht werden. Die didaktische Reduk-tion des Halbleiterproblems und die Erklärung des Verhaltensvon dotiertem Si in Solarwaffeln führen zu einem Schlußver-such. Auf deduktivem Wege wird der "Hofmann" mit einer 4.5 V-Waffel bei Sonnenschein betrieben. Die Lichtquelle Sonne ist auch im Modellversuch dem Lichtdes OH-Projektors vorzuziehen!

    [1] Haas, A.: Unterrichtsplanung im Alltag, Roderer, Regens-burg 1998

    [2] Vgl. Anton, M. A.: Chemieakzeptanz und Didaktik. Wiehat Chemieunterricht Zukunft?; in: Chem. Sch. 45 (1998)3, 180-183, 180.

    [3] Vgl. Mandl, H.; G. Reinmann-Rothmeier: Unterrichtenund Lernumgebungen gestalten; Forschungsbericht Nr. 60,Empir. Päd. u. Päd. Psychol., LMU-München 1995.

    [4] Vgl. Anton, M. A.: Die Reaktonsenthalpie - Woher kom-men die Zahlenwerte?; in: Chem. Sch. 45 (1998) 4, 207-211, 211.

    [5] Vgl. auch: Anton, M. A.: Die "Selbstverständlichkeit" derChemie und die "Unverständlichkeit" des Chemieunter-richts - zur Überwindung eines Dilemmas; in: Chem. Sch.45 (1998) 6, 384-385.

  • Aus der Forschung PLUS LUCIS 2/99 7

    Anfangs- und Endstadien der Sternentwicklung

    Wir verlassen nun das Reich der extragalaktischen Nebel undbegeben uns in unser Milchstraßensystem. Dort existiert einegroße Anzahl galaktischer Sternhaufen und Nebel, die man inihrer Vielfalt unterschiedlichen Entwicklungsstadien derSterne zuzuordnen gelernt hat.

    Beginnen wir mit den H II-Gebieten ionisierten Wasserstoffswie dem Adlernebel M16 im Sternbild Schlange (Abb. 18)und dem Lagunennebel M8 im Sternbild Schütze (Abb. 19). Inder Nachbarschaft dieser H II-Regionen befinden sich Mole-külwolken, in denen bei Temperaturen von nur 30 K der Was-serstoff molekular vorliegt. In diesen Molekülwolken entste-hen heute noch Sterne [PFA] - wenn auch, wie wir inzwischenwissen, nicht mehr so häufig wie im frühen Universum.

    In den H II-Gebieten selbst beträgt die Temperatur 10000 K,so daß Wasserstoff nicht molekular vorkommen kann. Es wür-den nicht nur die Moleküle durch die UV-Strahlung benach-barter junger, heißer Sterne dissoziiert. Atomarer Wasserstoffwird sogar ionisiert, und es sind gerade die scharfen Ionisati-onsfronten, die beiden Abbildungen ihr geradezu plastischesAussehen geben. Der ionisierte Wasserstoff ist grün codiert;rot steht für einfach ionisierten Schwefel und blau für doppeltionisierten Sauerstoff.

    Die Gassäulen des Adlernebels sind besonders dichte Wolkenmolekularen Wasserstoffs, die aus einer dunklen Molekül-wolke herausragen und der Photoerosion durch UV-Strahlungbislang widerstanden haben. Die längste von ihnen mißt etwa1 Lichtjahr, und wir sehen sie aus einer Entfernung von 7000

    Lichtjahren. Im Innern ist die Dichte des Gases so hoch, daßSterne entstehen können. Auch die "verdampfenden" Gasglo-bulen an den Spitzen der Säulen könnten Sternembryos beher-bergen.

    Bei dem 5000 Lichtjahre entfernten Lagunennebel geht einTeil der ionisierenden Strahlung von dem Stern in der Bild-mitte mit der Bezeichnung Herschel 36 aus. Die vertikalenKämme im unteren rechten Bildteil, die nur etwa 5 Lichttage(!) breit sind, machen das Hineinströmen von Sternwinden indie kühleren Teile der Wolke sichtbar. Die meisten der neu ent-standenen Sterne kann man hingegen optisch nicht nachwei-sen, da ihr Licht von mikroskopischen Staubteilchen absor-biert wird.

    Wie die Abbildung der großen Molekülwolke OMC-1 imOrion-Nebel durch die NIC-MOS-Kamera zeigt (Abb. 20),werden im infraroten Spektralbereich sogar ein offener Stern-haufen und der durch seine Sterne aufgeheizte interstellare

    Das Hubble-Weltraumteleskop

    Neue Perspektiven für die Astronomie – Teil 2

    Karl-Heinz Lotze

    Doz. Dr. Karl-Heinz Lotze, Friedrich-Schiller-Universität Jena, AG Physik- und Astronomiedidaktik, Max-Wien-Platz 1, 07743 JenaNachdruck aus Praxis der Naturwissenschaften - Physik 3/47 (1998) mit freundlicher Genehmigung des Aulis Verlags Deubner & Co, Köln

  • 8 PLUS LUCIS 2/99 Aus der Forschung

    Staub erkennbar. Im Zentrum der Aufnahme, deren Diagonaleeine Strecke von knapp 5 Lichtmonaten darstellt, befindet sichein massereicher junger Stern - ein sogenanntes Becklin-Neu-gebauer-Objekt. Die wolkigen Gebiete um das helle Objekt imrechten Bild stellen molekularen Wasserstoff dar.

    Abb. 21: Von der Kante gesehene protoplanetare Scheibe um einen jungen, im Orion-Nebel entstandenen Stern

    Der Orion-Nebel beherbergt in einer Entfernung von 1500Lichtjahren das uns nächstgelegene Sternentstehungsgebiet.Daher war es auch möglich, gleich mehrere junge Sterne mitzirkumstellaren Scheiben zu beobachten, aus denen Planetenhervorgehen könnten. Abb. 21 zeigt eines von insgesamt sechsbekannten Beispielen. Die von der Kante gesehene protopla-netare Scheibe aus Gas und Staub hat etwa den 17fachenDurchmesser des Sonnensystems, wenn man letzteren als dendoppelten Abstand des Pluto von der Sonne definiert. In derBildmitte ist das Streulicht des erst etwa eine Million Jahre al-ten Zentralsterns sichtbar. Es ist auch mit dem HST nicht mög-lich, Klumpungen innerhalb dieser Scheibe nachzuweisen, dieauf bereits entstandene Planeten hindeuten könnten. So kannman zwar nicht sagen, daß das HST Planeten um junge Sternenachgewiesen hätte, es hat aber Gebiete ausgemacht, wo Be-dingungen herrschen, unter denen Planeten entstehen könnenund vielleicht auch unser Sonnensystem vor 4,5 MilliardenJahren entstanden ist.

    Wenn in einem Protostern die Fusion von Wasserstoff zu He-lium beginnt, tritt ein - zumindest für sonnenähnliche Sterne -mehrere Milliarden Jahre lang anhaltender Gleichgewichtszu-stand ein. Der Schweredruck mit seiner Tendenz, den Sternunter seinem eigenen Gewicht kollabieren zu lassen, wirddurch den hydrostatischen Druck aus dem Sterninnern ausba-lanciert. Spektakuläre Bilder kann man aus dieser ruhigenPhase der Sternentwicklung nicht zeigen, jedoch verdankenwir gerade ihr unsere eigene Existenz.

    Ist das Zentralgebiet eines Sterns mit Helium angereichert undder Wasserstoff dort verbraucht, findet das Wasserstoffbren-nen in einer über dem Kern liegenden Schale statt. Gleichzei-tig schrumpft der Heliumkern und heizt sich auf, bis Helium inKohlenstoff und Sauerstoff umgewandelt wird. Äußerlichwird der Stern zu einem Roten Riesen, bei dem ein extremdichter, kleiner Kern von einer sehr dünnen, kühlen und ausge-dehnten Hülle umgeben ist. Viele Rote Riesen stoßen die oh-nehin nur lose gebundene Hülle ab; es entsteht ein sogenannterPlanetarischer Nebel. Der Kern des ehemaligen Roten Riesenist nun selbst ein Stern, der, wenn er seinen Kernbrennstoffverbraucht hat, zu einem Weißen Zwerg wird. Die Planetari-schen Nebel sind zwar nicht in ihrer äußeren Form den H II-Gebieten vergleichbar, haben aber mit ihnen gemeinsam, daß

    ihr Wasserstoffgas durch die UV-Strahlung des Zentralsternsionisiert und zum Leuchten angeregt wird.

    Obwohl diese Phase der Sternentwicklung mit einer Dauervon einigen tausend Jahren sehr viel kürzer ist als die der Fu-sion von Wasserstoff zu Helium, ist sie doch viel zu lang, alsdaß man die Entstehung eines einzelnen Planetarischen Nebelsverfolgen könnte. Es bleibt also nur die Hoffnung, verschie-dene Objekte zu finden, deren unterschiedliche Entwicklungs-stadien sich schließlich zu einem Gesamt-Szenarium zusam-menfügen lassen. Wir wählen zwei Beispiele aus, die bemer-kenswert viele Details zeigen.

    Abb. 22: PRC 96-05 Der Planetarische Nebel NGC 7027

    Der Planetarische Nebel NGC 7027 befindet sich im Sommer-sternbild Schwan und ist 3000 Lichtjahre entfernt. Die äußerenschwachen, konzentrischen Schalen in Abb. 22 deuten daraufhin, daß das Abstoßen der Sternatmosphäre anfangs langsam,sphärisch und schubweise geschieht. Bei den gelb-orange dar-gestellten Staubwolken ist die sphärische Symmetrie bereitsverloren gegangen. Schließlich sieht man den Zentralstern, derschon viele Eigenschaften eines Weißen Zwerges hat.

    Abb. 23: PRC 97-11 Der Planetarische Nebel CRL 2688 in je einer Aufnahme mit der Weitwinkelkamera WF/PC2 (li) und der Infrarotkamera NICMOS

    (re). Der Abstand zwischen den Enden der diametral entgegengesetzten Jets im rechten Bild ist so groß wie der 200fache Durchmesser des Sonnensystems

    Die konzentrischen Schalen des Planetarischen Nebels CRL2688 (Abb. 23 links) verraten noch deutlicher die Episoden-haftigkeit des Abblasens der Sternhülle. Aus dem Winkel-durchmesser der Schalen, ihrer gemessenen Expansionsge-schwindigkeit von 20 km/s und der Entfernung des Nebels von

  • Aus der Forschung PLUS LUCIS 2/99 9

    3000 Lichtjahren folgt, daß die Schübe in Abständen von 100bis 500 Jahren erfolgt sind. Damit überblicken wir in diesemeinen Bild, den Jahresringen von Bäumen vergleichbar, etwa10000 Jahre der Geschichte eines alternden Sterns. Der Blickauf den Zentralstern selbst wird durch Staub behindert. Die be-merkenswerten gekreuzten "Speichen", die wie ein Leucht-feuer von dem Stern ausgehen, könnten Sternlicht sein, dasdurch Löcher in dem Staub-Cocoon nach außen dringt oderaber von Materieströmen reflektiert wird, die der Stern aussen-det. Daß solche "Jets" existieren, beweist die farbcodierte In-frarotaufnahme mit der NICMOS-Kamera (Abb. 23 rechts).Die blau gefärbten Partien kennzeichnen an Staub reflektiertesSternlicht, die rot gefärbten Wärmestrahlung von molekula-rem Wasserstoff aus der Hülle des ehemaligen Roten Riesen.

    Wie wir wissen, hängt das Schicksal alternder Sterne von ihrerMasse ab, und nicht alle Sterne verlieren ihre Hüllen in GestaltPlanetarischer Nebel, um selbst als Weiße Zwerge zu enden[KIP]. Bevor wir auf andere Endstadien der Sterne eingehen,wollen wir uns kurz den Kugelsternhaufen zuwenden, die wirals die ältesten Objekte im Universum bereits erwähnt haben.

    R. Feynman [FEY] schrieb über Kugelsternhaufen wie z.B. 47Tucanae (Abb. 24): "Dieser große weiße Fleck ... sieht nur soaus, weil das Auflösungsvermögen der Instrumente versagt. InWirklichkeit besteht er aus lauter winzig kleinen Pünktchen,wie andere Sterne auch, die, säuberlich voneinander getrennt,sich selbst dann nicht berühren, wenn sie sich in diesem gro-ßen Kugelhaufen hin- und herbewegen. Er gehört zu denschönsten Dingen am Himmel und steht der Meeresbrandungoder den Sonnenuntergängen an Schönheit in nichts nach."

    Abb. 24: Der Kugelsternhaufen 47 Tucanae in einer Aufnahme der Europäischen Südsternwarte in Chile. Er befindet sich im

    Sternbild Tukan und ist 15000 Lichtjahre entfernt.

    Das HST ist in der Lage, die "weißen Flecke", also die Zentral-regionen der Kugelsternhaufen in einzelne Sterne aufzulösen.Während der typische Abstand zwischen den Sternen der Son-

    nenumgebung etwa 15 Lichtjahre beträgt, sind die Sterne imInnern der Kugelhaufen im Mittel nur 3 Lichttage (!) vonein-ander entfernt. Da ein Kugelsternhaufen eine sehr dichte An-sammlung alter Sterne ist, überrascht es nicht, daß unter diesenWeiße Zwerge gefunden wurden. Jedoch entstehen unter denBedingungen, die im Zentrum der Kugelhaufen herrschen,auch ganz neue Klassen von Sternen. So wurden in dem dich-ten Kugelhaufen M15, der in 30000 Lichtjahren Entfernungim Sternbild Pegasus steht, 15 sehr heiße Sterne mit Oberflä-chentemperaturen von 30000 K gefunden. Die meisten davonbefinden sich in einer gedachten Kugel mit einem Radius vonnur knapp einem halben Lichtjahr (Abb. 25). Während RoteRiesen ihre äußeren Hüllen von selbst abblasen, scheinen siediesen Sternen durch die Gezeitenwirkung anderer, vorbeizie-hender Sterne entrissen worden zu sein. Dadurch liegen ihreZentralgebiete, in denen die Energie erzeugt wird, frei. Sie ent-wickeln sich fortan anders, als wenn sie ihre Hüllen behaltenhätten.

    Abb: 25: Das Zentrum des Kugelsternhaufens M15

    Und noch eine Klasse von Sternen wurde in den KugelhaufenM15 und 47 Tucanae gefunden: die sogenannten "blue stragg-lers". Unter den vielen, erwartungsgemäß alten Sternen desKugelhaufens leuchten sie im blauen Licht junger Sterne. Da-durch, daß zwei Sterne beim Stoß oder als Komponenten einesDoppelsterns miteinander verschmelzen, entsteht ein Sterngrößerer Masse. Dieser Massengewinn ermöglicht dem Sternein "Zurückstellen seiner Lebensuhr", denn nun sind nukleareFusionsprozesse wieder möglich, die in den bereits gealtertenSternen vor der Verschmelzung nicht mehr hätten ablaufenkönnen.

    Aufnahme der Europäischen Südsternwarte vom 27.2.1987

    Wir kommen nun zu den Endphasen der Individualentwick-lung massereicherer Sterne, die sich in einer Supernova-Ex-

  • 10 PLUS LUCIS 2/99 Aus der Forschung

    plosion ihrer äußeren Hülle entledigen. Das seit Jahrhunderteneindrucksvollste Ereignis dieser Art wurde am 23. Februar1987 in der Großen Magellanschen Wolke entdeckt [SEG]. Inder Nähe des Tarantelnebels leuchtete eine Supernova auf (derhelle Stern im unteren Bildteil von Abb. 26), die seither dieBezeichnung SN1987A trägt. Die Vorgängersterne von Super-novae durchlaufen eine Folge von Kontraktionen und Kernre-aktionen, wobei immer schwerere Elemente bis zum Eisen fu-sioniert werden. Danach kollabiert der Eisenkern, bis sich einstabiler Neutronenstern mit der Dichte von Kernmaterie bildet.In diesem Stadium wird die Implosion des Sterns gestoppt,und es entsteht eine nach außen gerichtete Schockwelle, diedie Hülle des Sterns abbläst. SN1987A ist zwar kein typischerVertreter dieser sogenannten Supernovae vom Typ II, da bis-lang der Neutronenstern-Überrest nicht gefunden wurde. Auchwar diese Supernova etwa einhundertmal schwächer als an-dere dieses Typs, die für kurze Zeit heller sein können als dieganze Galaxie, die sie beherbergt. Dafür ist sie uns aber sonahe, daß die Explosionsdynamik im Detail verfolgt werdenkann (Abb. 27).

    Abb. 27: PRC 97-03 Die Supernova SN1987A mit ihrem Ringsystem in einer Aufnahme vom September 1994 und (darunter) die Gestaltentwicklung des

    infolge der Explosion entstehenden "Supernova-Überrestes"

    Die Supernova SN1987A ist von einem hellen Ring umgeben,dessen Materie bereits etwa 10000 Jahre vor der Explosionvom Vorgängerstern in einer Spätphase seiner Entwicklungausgestoßen wurde. Durch die UV-Strahlung des Supernova-Ausbruchs wurde der Ring zum Leuchten angeregt. Daß er alsEllipse erscheint, zeugt davon, daß der in Wirklichkeit kreis-förmige Ring gegen die Tangentialebene geneigt ist, die mansich am Ort der Supernova an die Himmelssphäre gelegt den-ken kann. Durch diese Schräglage und die endliche Ausbrei-tungsgeschwindigkeit des Lichtes bedingt, wurde die dem irdi-schen Beobachter zugewandte Ringpartie zuerst und die vonihm abgewandte erst später sichtbar, obwohl "vor Ort" alleTeile des Rings gleichzeitig von der UV-Strahlung des Zen-

    tralsterns erreicht wurden. Aus dem allmählichen Sichtbar-werden des Rings und den Winkelmaßen seiner großen undkleinen Achse kann man schon mit elementaren Mitteln dieEntfernung zur Supernova SN1987A zu 170000 Lichtjahrenbestimmen [HSTX].

    In den 10 Jahren nach der Supernova-Explosion haben sich diedabei ausgestoßenen Gasmassen etwa 2 Lichtmonate vomZentrum entfernt. Es ist erkennbar (Abb. 27 unten), daß dieGasmassen bipolar in Richtung der kleinen Achse des hellenRinges auseinanderfliegen, so daß die Achse der dadurch ent-stehenden "Hantel" auf der Ringebene senkrecht steht wieauch die des Doppelkegels, den man erhält, wenn man die bei-den anderen, schwächeren Ringe mit dem Zentralstern verbin-det. Weitere interessante Aufschlüsse über die Dynamik derSupernova-Explosion werden sich ergeben, wenn voraussicht-lich im Jahre 2002 die Explosionswolke den inneren Ring ein-holen wird.

    Supernova-Explosionen sind für den chemischen Aufbau desUniversums von großer Bedeutung. Wir wissen, daß in den"ersten drei Minuten" der kosmischen Entwicklung nur dieElemente Wasserstoff und Helium mit ganz geringen Beimen-gungen von Lithium und Beryllium synthetisiert werden konn-ten. Alle schwereren Elemente, insbesondere auch die für dieEntwicklung organischen Lebens entscheidenden, sind in denSternen entstanden und beim Ausstoßen von PlanetarischenNebeln und Supernova-Überresten an den interstellaren Raumzurückgegeben worden. Dadurch erhält der poetische Satz"Wir sind nur Sternenstaub" eine physikalische Bedeutung.Alle uns umgebende Materie, auch der Stoff, aus dem wirselbst sind, hat schon mindestens einmal den Lebenszyklus derSterne durchlaufen.

    Abb. 28: Ausschnitt aus dem als Cygnus-Bogen bekannten Supernova-Überrest

    Wie dies im einzelnen geschehen kann, zeigt ein kleiner Aus-schnitt aus dem als Cygnus-Bogen bekannten Überrest einerSupernova-Explosion, die sich in einer Entfernung von 2600Lichtjahren vor etwa 15000 Jahren im Sternbild Schwan er-eignet hat (Abb. 28). Die von der Supernova ausgehendeSchockwelle trifft auf interstellares Gas, verdichtet dieses,

  • Aus der Forschung PLUS LUCIS 2/99 11

    heizt es auf und regt es zum Leuchten an. Es entsteht die rela-tiv scharfe Schockfront, die das Bild entlang der von links un-ten nach rechts oben verlaufenden Diagonale durchzieht. Dervon oben nach unten verlaufende blaue Strahl ist sehr wahr-scheinlich von der Supernova ausgeschleudertes Gas, das miteiner Geschwindigkeit von etwa 1400 km/s in die durch dasinterstellare Medium gebremste Schockfront hineinrast. In dendabei entstehenden lokalen Verdichtungen können sogar, vonaußen angeregt, neue Sterne entstehen. Ob auch unsere Sonneso entstanden ist, wissen wir nicht. Jedenfalls enthält sie aberzu viel an schweren Elementen, als daß sie der ersten Sternge-neration angehören könnte.

    Eine Supernova-Explosion in unserem Milchstraßensystemwäre ein astronomisches Ereignis ersten Ranges. Wann sichein solcher Ausbruch ereignen wird, wissen wir nicht, aber die"Hoffnungen" ruhen auf dem mit 80 Sonnenmassen besondersmassereichen Stern Eta Carinae, dem Zentralstern des Carina-Nebels NGC 3372 (am oberen Bildrand von Abb. 29). DieserStern ist bereits Edmund Halley 1617 aufgefallen. Nach einemAusbruch im Jahre 1843 war er nach Sirius der zweithellsteStern am Himmel, ist dann aber wieder verblaßt. Wie wir seitden Beobachtungen mit dem HST wissen, hat die Explosions-wolke von damals ebenfalls jene bipolare Struktur, der wirschon mehrfach begegnet sind. Es ist nicht nur bemerkens-wert, daß sich in nur 150 Jahren beobachtbare Veränderungeneines Sterns vollziehen; das wird durch die große Masse imPrinzip verständlich. Eine ausgefeilte Bildverarbeitungstech-nik hat es nun sogar ermöglicht, Veränderungen sichtbar zumachen, die binnen 17 Monaten (!) ablaufen. Abb. 30 ist durchÜberlagerung zweier Aufnahmen des HST vom April 1994und September 1995 entstanden. Die Sternmaterie auf der äl-teren Aufnahme ist schwarz, die auf der jüngeren weiß darge-stellt. Obwohl Eta Carinae 8000 Lichtjahre entfernt ist, sinddie kleinsten abgebildeten Strukturen nur etwa so groß wie dasSonnensystem. Man erkennt auch deutlich, daß sich - wie zuerwarten - die ausgeschleuderte Materie in der Nähe des Sternsschneller bewegt als die in größerer Entfernung.

    Abb. 29: Der Carina-Nebel NGC 3372 mit dem hellen Stern Eta Carinae

    Abb. 30: PRC 96-23b Superposition zweier Aufnahmen des Sterns Eta Carinae vom April 1994 und September 1995

    Angesichts der großen Masse ist die Vermutung nicht abwe-gig, daß die Supernova-Explosion, zu der es dereinst vielleichtkommt, statt eines Neutronensterns ein Schwarzes Loch hin-terlassen wird.

    Die äußeren Planeten des Sonnensystems

    Wir beschließen unseren Streifzug durch Astronomie undAstrophysik anhand von Aufnahmen des Hubble-Weltraumte-leskops mit einem - im Vergleich zu den vorangegangenen Ab-schnitten - kurzen Blick auf die äußeren Planeten des Sonnen-

    Abb. 31: PRC 97-09a Der Mars in Opposition zur Sonne im März 1997

    Den größten Teil unserer Kenntnisse über vergleichende Pla-netologie, die Physik und Chemie der Oberflächen und Atmo-sphären der Planeten und ihrer Satelliten sowie über die Ent-stehung des Sonnensystems [GUR] verdanken wir naturgemäßkünstlichen Raumflugkörpern wie z.B. den Voyager-Sonden,die eigens zum Zwecke der Planetenerforschung das Sonnen-system durchfliegen oder auf seinen Planeten landen. Der Vor-teil des HST besteht darin, daß es während der 15 Jahre seinerBetriebsdauer Langzeitbeobachtungen und Beobachtungen im

  • 12 PLUS LUCIS 2/99 Aus der Forschung

    ultravioletten und infraroten Spektralbereich von Wetter- undOberflächenerscheinungen der Planeten und ihrer Satellitendurchführen kann. Wir beschränken uns im folgenden darauf,wenige Aufnahmen der Planeten Mars, Jupiter und Saturn zukommentieren, die das HST aus besonderen Anlässen gewon-nen hat.

    Am 17. März 1997 kam der Mars in Opposition zur Sonne undnäherte sich der Erde bis auf 98,6 Millionen Kilometer. Wasdie Entfernung angeht, war diese Opposition nicht besondersgünstig. Dennoch gelang mit dem HST wenige Tage vorher,am 10. März 1997, eine der schärfsten Marsaufnahmen, die jeaus Erddistanz gewonnen wurden (Abb. 31). Zu dieser Zeitwechselten auf der Nordhalbkugel des Planeten die Jahreszei-ten vom Frühling zum Sommer. Auffällige Strukturen auf derMarsoberfläche sind die zu dieser Zeit kleine Polkappe ausWassereis im Norden und die Syrtis Major Planitia genanntedunkle Struktur in der Bildmitte. Das riesige Hellas-Bassin imSüden ist ebenso wie große Vulkane, die sich am östlichen(rechten) Rand des Bildes befinden, von Wolken eingehüllt.

    Regelmäßige Aufnahmen der Marsoberfläche im Frühjahr1997, bei denen dem Auftreten von Staubstürmen besondereBeachtung geschenkt wurde, halfen, den Landeplatz der Path-finder-Sonde zu überwachen.

    Das herausragende den Jupiter betreffende Ereignis war zwei-fellos der Zusammenstoß des Kometen P/Shoemaker-Levy 9(1993e) mit dem Riesenplaneten am 16. Juli 1994. Bei seinerAnnäherung an Jupiter "spürte" der Komet das sich über seineLängsausdehnung ändernde Gravitationsfeld des Planeten.Die Gezeitenkräfte zogen den Kometen auseinander und frag-

    mentierten ihn, so daß sich die Bruchstücke auf individuellenKepler-Bahnen bewegten und zusammen den Anblick eineram 17. Mai 1994 über 1,1 Millionen Kilometer langen Perlen-schnur boten (Abb. 32). Das Perlenschnurphänomen spiegeltesich natürlich in der Jupiteratmosphäre wider, denn währenddie Bruchstücke des Kometen nacheinander einschlugen,drehte sich der Planet um seine Achse. Das erste der vier Bil-der von Abb. 33 (von unten nach oben) wurde fünf Minutennach dem Einschlag des auf Abb. 32 mit G bezeichneten Frag-ments am 18. Juli 1994 aufgenommen, das zweite eineinhalbStunden später. Im dritten Bild sehen wir, wie drei Tage späterdie Strömungen in der Jupiteratmosphäre das Erscheinungs-bild der Einschlagstelle verändert haben. Inzwischen ist(rechts von G) auch das Fragment L in die Atmosphäre einge-drungen. Das vierte Bild schließlich stammt vom 23. Juli1994.

    Im Jahre 1995 hat die Erde zweimal die Ringebene des Saturngekreuzt: am 22. Mai von Nord nach Süd und am 10. Augustin umgekehrter Richtung. Jedesmal wenn dies geschieht (unterwechselnden Sichtbarkeitsbedingungen etwa aller 15 Jahre),ist für kleine Teleskope das Ringsystem "verschwunden" undwird in großen von der Kante gesehen. Letzteres ist auf deroberen, vom 6. August 1995 stammenden Aufnahme (Abb.34) der Fall. Dem aufmerksamen Betrachter fällt der Ring-schatten auf, der zum Rand des Planeten hin leicht nach untengekrümmt ist, da sich die Sonne noch oberhalb der Ringebenebefindet. Links oben steht, deutlich als Scheibchen erkennbar,der größte Saturnsatellit Titan. Der fast genauso große Fleckauf dem Saturn ist dessen Schatten. Die vier Trabanten auf deranderen Seite des Planeten sind (von links nach rechts) Mi-mas, Tethys, Janus und Enceladus. Bei der unteren Aufnahmevom 17. November 1995 blicken wir von oben auf das Ringsy-stem und ahnen bereits wieder dessen Teilung in mehrereRinge. Tethys steht nun links von Saturn. Der andere Satellit,Dione, wirft einen langen, schmalen Schatten auf das Ringsy-stem, das die Sonne bald von unten bescheinen wird.

    Abb. 34: PRC 96-16 Anblick des Ringsystems des Saturn und einiger seiner Satelliten, während bzw. kurz nachdem die Erde 1995 die

    Ringebene von Süden nach Norden kreuzte.

  • Aus der Forschung PLUS LUCIS 2/99 13

    Selbstverständlich wurden auch über die anderen Planetenneue Erkenntnisse mit Hilfe des HST zutage gefördert. DerUranus galt lange Zeit als "langweiliger" Planet, weil es vonder Erde aus nicht gelang, Wolken in seiner Atmosphäre zubeobachten. Die NICMOS-Kamera hat nun im nahen Infrarotsechs riesige Wolkenfelder entdeckt, von denen jedes dieGröße eines irdischen Kontinents hat.

    Mehr als sechzig Jahre nach der Entdeckung des Pluto gelanges mit der Schwachlichtkamera erstmals, aus einer Entfernungvon knapp fünf Milliarden Kilometern Oberflächendetails aufdem Pluto zu erkennen, dessen Durchmesser ja nur zwei Drit-tel von dem des Erdmondes beträgt. Die schon lange gehegteVermutung, daß auch der Pluto einen Satelliten, Charon, hat,konnte mit dem HST noch vor der Installation der COSTAR-Optik bestätigt werden.

    Danksagung

    Der Verfasser dankt Herrn stud.phys. Thomas Lotze für dieComputerbearbeitung vieler der Abbildungen und seine Hilfebei der Endfassung des Textes.

    Quellennachweis der Abbildungen

    Abb. 1: Caltech Archives, Abb. 3: Harvard Archives, Abb. 13: [FRE], Abb. 15: [MEL]Abbn. 24, 26, 29: European Southern Observatory. Slide Sets"Objects in the Southern Sky" and "Supernova 1987A inLMC", ESO, Garching 1987 (http://www.eso.org)

    Alle übrigen Abbildungen: Space Telescope Science Institute,Baltimore, Maryland, operated by the Association of Universi-ties for Research in Astronomy (AURA), Inc., for NASA (http://oposite.stsci.edu/)

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    [TAM] Tammann, G.A., Wie alt ist das Universum?, Praxisder Naturwissenschaften / Physik 47(1998)(3) 2-5

    HCG87 (Hickson Compact Group 87) in einer HST-Aufnahme.

    Die drei großen Galaxien zeigen Spuren gegenseitiger Wechselwirkung: die Galaxie unten ist für eine Spiralgalxie im Zentrum stark deformiert. In der Galaxie links oben findet intensive Sternbildung statt, was bei galaktischen

    Kollisionen häufig ist. (Quelle: HST, 20. 7. 1999)

  • 14 PLUS LUCIS 2/99 Aus der Forschung

    Mach - Einstein - Thirring

    So uneindeutig die genaue Aussage des sogenannten "Mach-schen Prinzips" auch scheinen mag, so anregend war das Prin-zip doch für die Aufstellung der Allgemeinen Relativitätstheo-rie (ART) durch A. Einstein und für viele weitere Untersu-chungen dazu. Das wohl bedeutendste "Ergebnis" des Mach-schen Prinzips ist, daß Einstein nach einem ausgedehntenBriefwechsel mit dem holländischen Astronomen W. de Sitterüber das Machsche Prinzip zur relativistischen Kosmologiegeführt wurde, die heute unser Bild des Universums prägt. Einanderes "Ergebnis" der Auseinandersetzung mit dem Mach-schen Prinzip ist die theoretische Entdeckung des Thirring-Lense-Effektes (1918) im Rahmen der ART, der nun - nach 80Jahren! - wie es scheint tatsächlich beobachtet werden kann.

    Wegen der Uneindeutigkeit des Inhalts des Machschen Prin-zips, dessen Diskussion ein ganzes Buch füllen könnte, wollenwir hier keine Ideen aus dem unmittelbaren Dunstkreis desMachschen Prinzips heranziehen, um zum Thirring-Lense-Ef-fekt zu gelangen, sondern nur weiter unten einen Teilaspektkurz streifen. Vielmehr können wir direkt vom bekanntenÄquivalenzprinzip ausgehen, nach welchem Schwerefelder innicht zu großen Raumgebieten und Zeitintervallen durchÜbergang zu geeignet beschleunigten Bezugssystemen weg-transformierbar oder auch im schwerefreien Raum simulierbarsind. Illustriert wird dies gerne anhand der Einsteinschen Ge-dankenexperimente mit frei fallenden Aufzügen, oder heutzu-tage durch wirkliche Experimente in ballistisch fliegenden Sa-telliten. Das Schwerefeld, das bei solchen translativen Be-schleunigungen der Bezugssysteme wegtransformiert wird, istdas Newtonsche, beschreibbar durch das (konservative)Schwerkraftfeld. Nun fragen wir: welche Schwerkraftwirkun-gen werden durch rotative Beschleunigung eines Bezugssy-stems (Eigendrehung) lokal simuliert bzw. wegtransformiert?Die auftretenden Scheinkräfte sind 1. die nur ortsabhängige Zentrifugalkraft (Kraftfeld) und 2. die (auch geschwindigkeitsabhängige) Corioliskraft. Die Frage lautet also genauer: welche Schwerefelder verursa-chen geschwindigkeitsabhängige Kräfte von der Art der Co-rioliskraft, oder - formal-mathematisch - der Lorentzkraft?Man spricht hier auch von gravimagnetischen Kräften zumUnterschied von gravielektrischen (= Newtons Schwerkraft-felder).

    Derartige Schwerewirkungen treten in der NewtonschenTheorie überhaupt nicht auf und sind ein Spezifikum der ARTmit ihrer "tensoriellen" statt skalaren Beschreibung desSchwerefeldes. Wo sind solche Felder nun anzutreffen? DieAntwort ist: sie werden von rotierenden Massenverteilungenverursacht, also vom Vorhandensein einer Massenströmung.Ist dabei insbesondere diese Strömung stationär, sodaß dieMassendichteverteilung zeitlich konstant bleibt, so wäre nach

    Newton dasselbe Schwerefeld zu erwarten wie bei einer Situa-tion ohne Massenströmung, aber gleicher Dichteverteilung.Nach der ART hingegen sollte es die genannten Zusatzkräftegeben.

    Rechnerisch hat das H. Thirring in seiner Originalarbeit 1918nachgewiesen, wobei er der Fragestellung eine "Machsche"Einkleidung gibt, wie eingangs erwähnt: Beweist das Auftre-ten von Scheinkräften in rotierenden Bezugssystemen die Exi-stenz eines absoluten Raumes, relativ zu welchem die Rotationstattfindet (Newtons Standpunkt - vgl. seinen Eimer-Versuch),oder ist die Rotation relativ zu fernen Massen zu verstehen,wie Mach vorschlägt?

    Im zweiten Fall müßten dieselben Kräfte auch auftreten, wennman das Bezugssystem als ruhend, die fernen Massen dagegenals rotierend annimmt (Relativität der Trägheit(skräfte)).Diese letztere Situation setzt nun Thirring im Rahmen derART an und bestätigt das Auftreten der genannten Kräfte alsAuswirkungen der Gravitation der fernen Massen, die er durcheine große, dünne rotierende Kugelschale repräsentiert und de-ren Schwerefeld er nach der ART berechnet.

    Nach der Newtonschen Theorie wäre das Schwerefeld in die-ser "Innenraumsituation" Null. Das Auftreten gravimagneti-scher Kräfte in der beschriebenen Situation im Einklang mitMachs Ideen wurde von Einstein bereits 1913 in einer Vorläu-fer-Version der ART festgestellt1) - vgl. seinen Vortrag "Zumgegenwärtigen Stand des Gravitationsproblems" anlässlich der85. Naturforscherversammlung zu Wien, abgedruckt in Phys.Z. 14 (1913) 1249; insbes. p.1261: "Auch dieses Resultat ist

    1)Wir danken Herrn Prof. W. Pfister (Universität Tübingen) für diesen Hinweis.

    Der Thirring-Lense-Effekt - nach 80 Jahren jetzt im Experiment?

    Helmut Rumpf und Helmuth Urbantke

    Univ.-Prof. Dr. Helmut Rumpf und Univ.-Prof. Dr. Helmuth Urbantke, Institut für Theoretische Physik der Universität Wien

    Das Machsche Prinzip

    Ernst Mach (1838-1916) formulierte 1883 die Hypothese,daß die Trägheitskräfte durch die Gesamtheit der im Univer-sum vorhandenen Materie verursacht werden. Dementspre-chend sollte in einem Gedankenversuch die Trägheit einesKörpers verschwinden, wenn sämtliche übrige Materie ent-fernt wird. Entsprechend dem Newtonschen Eimerversuchkennzeichnet die parabolische Wölbung der Oberfläche einesmit Wasser gefüllten, rotierenden Eimers ein gegen den abso-luten Raum rotierendes Bezugssystem. Da es aber nachMach keinen absoluten Raum gibt, entsteht die Zentrifugal-kraft als Ursache der Wölbung aufgrund der Rotation relativzu den Fixsternen. Die umgekehrte Situation, nämlich dieRotation der Fixsterne um den ruhenden Eimer, ist nachMach weder gedanklich noch experimentell vom Newton-schen Eimerversuch unterscheidbar, deshalb muß die Was-seroberfläche auch hier gewölbt sein. Das Machsche Prinzipwar einer der Ausgangspunkte der Entwicklung der Allge-meinen Relativitätstheorie.

  • Aus der Forschung PLUS LUCIS 2/99 15

    im Sinne der Auffassung von der Relativität der Trägheit[Machsches Prinzip] vorauszusehen und längst vorausgesehenworden. Es ist bemerkenswert, dass die Theorie [d.i. die Vor-läuferversion!] auch in diesem Punkte jener Auffassung ent-spricht; leider ist der zu erwartende Effekt so gering, dass wirnicht hoffen dürfen, ihn durch terrestrische Versuche oder inder Astronomie zu konstatieren".

    In Zusammenarbeit mit dem Astronomen (und späteren Ma-thematiker) J. Lense wandte sich Thirring in einer Folgearbeitder Frage nach beobachtbaren Konsequenzen der genanntenKräfte zu, wobei nun weniger an Mach als an realisierbare Si-tuationen gedacht wurde. Dementsprechend wurde die großerotierende Kugelschale durch einen rotierenden Himmelskör-per ersetzt und der Einfluß von dessen Schwerefeld auf dieBahn von (kleineren) Körpern studiert, die den Himmelskör-per umlaufen ("Außenraumsituation"). Die Bahnstörungen,die gegenüber der Umlaufung eines nichtrotierenden Zentral-körpers auftreten, wurden unter dem Namen Lense-Thirring-Effekt oder, historisch richtiger2), Thirring-Lense(TL)-Effektzusammengefaßt. Die relativistische Bahnstörung im nichtro-tierenden Fall besteht bekanntlich in einer Drehung der Peri-apsis (Perihel, -gäum, -jovium, -astron etc.), während dieBahnebene noch erhalten bleibt. Im rotierenden Fall werdenweitere Bahnelemente gestört: Exzentrizität, Neigung derBahnebenen, Länge des aufsteigenden Knotens. Selbst die sä-kulären Störungen unter ihnen erweisen sich als numerischklein, am größten für gewisse Jupiter- und Saturnmonde, undbei den damaligen Meßgenauigkeiten als unmeßbar. (Hoff-nung geben hier einige durch die Voyager-Mission neu ent-deckte Monde dieser Planeten).

    Am Ende seiner ersten Arbeit bestimmte Thirring die Winkel-geschwindigkeit jenes lokalen Koordinatensystems, in demder Effekt des gravimagnetischen Feldes gemäß dem Äquiva-lenzprinzip wegtransformiert ist. Angesichts der erwähntenUngenauigkeiten bei der Beobachtung der vorhergesagtenBahnstörungen schlug 1959 L. Schiff vor, ein Präzisionsexpe-riment, in dem die Thirringsche Winkelgeschwindigkeit in derAußenraumsituation direkt mittels eines Gyroskops gemessenwird. (Im folgenden wird dieser Effekt als Thirring-Schiff-Ef-fekt bezeichnet.) Trotz der unvorstellbaren Präzision, die dazuerforderlich ist, wurde dieses Projekt noch in den sechzigerJahren von W.M. Fairbank und C.W.F. Everitt in Angriff ge-nommen. Dabei soll ein Satellit in eine Erdumlaufbahn ge-bracht werden, in dem mehrere frei rotierende Kreisel magne-tisch "aufgehängt" sind. Deren Präzession soll gegenüber ei-nem statischen Bezugssystem gemessen werden, bezüglichwelchem die Erde stationär rotiert3).

    Während sich der Realisierung dieses einfachen Grundgedan-kens große technische und finanzielle Schwierigkeiten in denWeg stellten, die den Start des jetzt "Gravity Probe B" genann-ten Satelliten zumindest bis zum Jahr 2000 hinauszögern, gibtes nun Anzeichen dafür, daß durch die Fortschritte sowohl derastrophysikalischen Beobachtungsmethoden als auch der Sa-

    tellitentechnik und -geodäsie der TL-Effekt im Sinn von Bahn-störungen der oben geschilderten Art tatsächlich gesehen wird.

    Laservermessung von umlaufenden Satelliten

    Die Satelliten LAGEOS (Laser Geodynamics Satellite,NASA, Start 1976) und LAGEOS II (NASA und AgenziaSpaziale Italiana, Start 1992) umkreisen die Erde in etwa 6000km Höhe mit einer Bahnneigung von 109,9° bzw. 52,65° zumÄquator und einer Bahnexzentrizität von 0,004 bzw. 0,014. Siesind nahezu baugleich (Kugeln von nur ca. 60 cm Durchmes-ser bei einer Masse von 406 kg), völlig passiv und mit ausWürfelecken zusammengesetzten Reflektoren umhüllt, umLaserpulse, die von der Erde durch Teleskope gezielt zu denSatelliten gesandt werden, zum Ausgangsort zu reflektieren.(Ähnliche Reflektoren wurden während der Apollo-Missionenauch auf dem Mond deponiert.) Durch Messung der Laufzeiteines Laserpulses ist es möglich, die Satellitenentfernung bisauf wenige Millimeter genau zu bestimmen. Der ursprünglicheZweck der Satelliten war die genaue Vermessung ihrer Bahn,um (geophysikalisch-lagerstättenkundlich bedeutsame) Unre-gelmäßigkeiten des Gravitationsfeldes der Erde zu bestimmen.Durch die kompakte Bauweise der Satelliten wird die Bahn-störung durch den Strahlungsdruck der Sonne und den Rest-luftwiderstand gering gehalten, sie muß aber dennoch berück-sichtigt werden. Für die Messung des TL-Effektes wäre esideal, wenn eine Satellitenbahn das Spiegelbild der anderenwäre, weil bei umgekehrter Bahnneigung die NewtonschenEffekte des nicht kugelsymmetrischen Erdkörpers (s.u.) demSpiegelbild entsprechen würden, nicht jedoch der gravimagne-tische Effekt der Erdrotation. Ein solcher Effekt könnte dannunmittelbar aus dem asymmetrischen Verhalten der beidenBahnebenen abgelesen werden. Natürlich stellt auch die ge-ringe Exzentrizität der Bahn des ersten Satelliten eine Er-schwernis für den Nachweis der Verschiebung des Perigäumsdar.

    Auch das derzeit beste Modell des Gravitationsfeldes der Erde("EGM-96"; an seiner Erstellung waren die LAGEOS-Satelli-ten selbst wesentlich beteiligt) enthält Unsicherheiten, die denTL-Effekt verdecken können. Die maßgeblichen Parametersind das aus der Abplattung der Erde resultierende Quadrupol-moment J2 der Massenverteilung und das nächsthöhere geradeMultipolmoment J4. Allein die Unsicherheiten in diesen bei-den Momenten und ihrer zeitlichen Veränderung4) führen ge-mäß der Newtonschen Theorie auf säkuläre Effekte von der-

    2)Wir danken Herrn Prof. F.W. Hehl (Universität zu Köln) für die Überlas-sung der Kopie eines Briefes von J. Lense an ihn, aus der dies klar hervor-geht. Es sei bemerkt, daß J. Lense in dieser Zusammenarbeit vor allem seine"handwerkliche" Kenntnis der himmelsmechanischen Störungsrechnung ein-brachte, andererseits aber schon vorher mit der ART vertraut war.3)Detaillierte technische Informationen über diesen Satelliten sind unter der Internet-Adresse http://einstein.stanford.edu abrufbar.

    LAGEOS-Satellit

  • 16 PLUS LUCIS 2/99 Aus der Forschung

    selben Größenordnung wie die auf Grund des Gravimagnetis-mus zu erwartenden (das gilt nicht für die höheren Momente),sodaß ein Nachweis des letzteren über diese Effekte ziemlichhoffnungslos erscheint. I. Ciufolini und seine Mitarbeiter ander Universität "La Sapienza" in Rom haben 1997 jedoch er-kannt, daß die beiden Satelliten drei Meßgrößen (die Präzessi-onsgeschwindigkeit ihrer Bahnebenen und die Präzessionsge-schwindigkeit des Perigäums von LAGEOS II) bereitstellen,die sich durch die 3 Unbekannten J2, J4 und µ ausdrücken las-sen, wobei der dimensionslose Parameter µ die Stärke des TL-Effekts mißt (µ = 0 für die Newtonsche Gravitation und µ = 1in der ART). Es ist also im Prinzip nur ein System von 3 Glei-chungen für 3 Unbekannte zu lösen. Allerdings muß zuvoreine Reihe von störenden Effekten eliminiert werden, dienichts mit EGM-96 zu tun haben. Zwei davon wurden bereitserwähnt, weitere sind kleine Variationen der Reflektivität derSatelliten auf Grund thermischer Effekte und der nicht kon-stanten Ausrichtung ihrer Rotationsachse, die Variation derRotationsgeschwindigkeit der Erde und die Wanderung ihrerPole, die Bewegung der Bodenstationen durch die Kontinen-talverschiebung und die gravitativen Störungen durch Mond,Sonne und Planeten. Nach Berücksichtigung dieser Faktorensind in der Tat die größten Fehlerquellen für die Bestimmungvon µ ausgeschaltet, und es verbleiben - zumindest theoretisch- nur noch die vergleichsweise kleinen Unbestimmtheiten derhöheren Multipolmomente J2n mit n ≥ 3.

    Die Präzession der Bahnebene kann für beide Satelliten mit ei-ner Genauigkeit von etwa 1 Millibogensekunde/Jahr (mas/a)gemessen werden, während der TL-Effekt ca. 31~mas/a aus-machen sollte. Während des vierjährigen Beobachtungszeit-raumes konnte auch das Perigäum von LAGEOS II mit einerGenauigkeit von ca. 25 mas verfolgt werden, was im Vergleichzu der gemäß dem TL-Effekt zu erwartenden Verschiebungvon -57 mas/a ebenfalls günstig ausfällt. Man beachte, daß inder Höhe der Satelliten 1 mas einer Strecke von etwa 6 cm ent-spricht! Das Endresultat der Analyse von vier Jahren Beobach-tung ist µexp = 1,1 ± 0,2, wobei die Fehlerangabe auf einer Ab-schätzung der verbleibenden Unsicherheiten, insbesondere be-züglich nichtgravitativer Störungen und der Bahnneigung derSatelliten, beruht. Damit scheint dem Team aus Rom der erstedirekte Nachweis des TL-Effekts und seiner Übereinstimmung

    mit der Vorhersage der ART bis auf 10 %, mit einem Gesamt-fehler von ± 20 %, gelungen zu sein.

    Es soll aber nicht verschwiegen werden, daß es seitens Fach-kollegen auch kritische Meinungen zur Fehlerabschätzunggibt.

    Präzedierende Akkretionsscheiben

    Der TL-Effekt fällt für Erdsatelliten deswegen so schwachaus, weil die gravimagnetische Kraft proportional zur gravi-magnetischen Feldstärke und zur Geschwindigkeit des Satelli-ten ist, und beide sind vergleichsweise klein. Es gibt jedocheine Klasse von astrophysikalischen Objekten, für die dieseEinschränkungen nicht gelten, nämlich Materie in der Umge-bung von Neutronensternen und Schwarzen Löchern, diedurch den Gravitationskollaps massereicher Sterne entstehen.Ist so ein kollabiertes Objekt Bestandteil eines Doppelsternsy-stems, so entzieht es seinem Partner Materie, die allerdings aufGrund der Drehimpulserhaltung nicht radial überströmenkann, sondern sich in Form einer Scheibe um das kollabierteObjekt anordnet. Diese sogenannte Akkretionsscheibe heiztsich auf Grund von Reibungsvorgängen so sehr auf, daß ther-mische Röntgenstrahlung emittiert wird. Die Scheibenbe-standteile spiralen wegen der Reibung immer weiter nach in-nen und stürzen letztlich in das Zentralobjekt. Innerhalb derScheibe durchlaufen sie aber eine quasistationäre Bahn, diedurch den Gravimagnetismus wesentlich beeinflußt werdenkann. Denn einerseits ist wegen der Nähe zum Zentralobjektund der Stärke seines (zum Drehimpuls proportionalen) gravi-magnetischen Dipolmoments das gravimagnetische Feldschon beträchtlich, und andererseits ist die Bahngeschwindig-keit nicht mehr klein im Vergleich zur Lichtgeschwindigkeit.Ist nun der innere Abschnitt der Akkretionsscheibe relativ zurÄquatorebene des Zentralobjekts geneigt, dann wird dieScheibe wegen des TL-Effekts um das Zentrum präzedierenund dieses, falls es sich um einen Neutronenstern handelt,möglicherweise periodisch verfinstern. Dies sollte sich in ei-ner Periodizität des auf der Erde eintreffenden Röntgenstrah-lungsflusses äußern. Gemäß der ART gibt es innerhalb von 3Schwarzschildradien vom Zentrum keine stabile Kreisbahnmehr. Dieser Wert markiert daher im einfachsten Fall den In-nenrand der Akkretionsscheibe; u. U. liegt er aber auch weiteraußerhalb. (Der Schwarzschildradius ist proportional zurMasse des Zentralobjekts und beträgt ca. 3 km für 1 Sonnen-masse). Im Fall eines Neutronensterns von etwa 1,5 Sonnen-massen ist die Bahnfrequenz eines Teilchens am Innenrand ca.1 kHz, und die TL-Präzessionsfrequenz sollte einige 10 Hz be-tragen.

    Seit Ende 1995 steht mit dem NASA-Satelliten RXTE (RossiX-ray Timing Explorer) erstmals ein Instrument zur Verfü-gung, das zeitliche Variationen des Röntgenspektrums mit derfür den Nachweis der TL-Präzession erforderlichen Genauig-keit auflösen kann (sogar bis zu einer Zeitskala von 0,1 ms).Tatsächlich hat "Rossi" quasiperiodische Oszillationen mit ty-pischen Frequenzen im kHz-Bereich entdeckt, die Phänome-nen in der Umgebung von kollabierten Objekten zugeschrie-ben werden. 14 dieser Objekte sind Neutronensterne in Dop-pelsternsystemen. Ihre Partner sind allerdings so schwer zu be-obachten, daß eine Massenbestimmung bisher nicht möglichwar. Typisch für das Fourierspektrum des Röntgenflusses vondiesen Quellen ist das Auftreten von Doppelpeaks. Ihre Fre-

    4)Neben dem Effekt der Gezeiten und Jahreszeiten gibt es hier auch eine säkuläre Komponente.

    Ein Netzwerk von Laser Ranging Stationen vermißt die Bahnen der LAGEOS-Satelliten auf besser als 1 cm.

  • Aus der Forschung PLUS LUCIS 2/99 17

    quenz von ca. 1 kHz driftet mit der Zeit, aber der Frequenzab-stand zwischen den beiden Peaks bleibt konstant. Im "magne-tosphärischen Schwebungsfrequenzmodell" wird die höhereder beiden Frequenzen der Keplerbewegung von Inhomogeni-täten am inneren Rand der Akkretionsscheibe zugeordnet undder Frequenzabstand mit der Rotationsfrequenz des Neutro-nensterns (entsprechend einer Rotationsperiode von ca. 3 ms)identifiziert. In einigen Fällen wird letztere Interpretation da-durch bestätigt, daß Röntgen-Ausbrüche dieselbe Rotationspe-riode verraten. Neuere Beobachtungen widersprechen aller-dings diesem Modell und deuten eher darauf hin, daß das Dop-pelpeak-Phänomen durch die relativistische Präzession desPeriastrons entsteht. (Dieser Effekt hat nichts mit der Rotationdes Zentralsterns zu tun und entspricht der berühmten (undviel kleineren!) Perihelpräzession des Merkur.) Der Frequenz-abstand wäre dann gleich der Präzessionsfrequenz, währendsich an der Bedeutung des höherfrequenten Peaks nichts än-dert.

    L. Stella (Astronomisches Observatorium Rom) und M. Vietri(Universität Rom 3) haben 1997 als erste darauf hingewiesen,daß in den Fourierspektren auch jeweils ein Peak in dem vonder TL-Präzession zu erwartendem Frequenzbereich auftritt.Da nach dem 3. Keplerschen Gesetz die Keplerfrequenz wie

    , die TL-Präzessionsfrequenz aber wie (entspre-chend dem Abfall eines gravimagnetischen Dipolfelds) vari-iert, sollte die Frequenz des "Präzessions-Peaks" wie das Qua-drat jenes des "Kepler-Peaks" variieren. Dieser Trend findetsich auch grob in den Daten wieder. Ist man darob gewillt, diePräzession der Akkretionsscheibe als erwiesen anzusehen, sostellt sich immer noch - ähnlich wie schon im Fall des Satelli-tenexperiments - die Frage, inwieweit die Präzession nur einNewtonscher Effekt der Asphärizität des Neutronensterns ist.Es stellt sich heraus, daß je nach Zustandsgleichung der Neu-tronensternmaterie das Quadrupolmoment einen geringen bisbeträchtlichen Beitrag zur Gesamtpräzession liefern kann undinnerhalb einer halb-Newtonschen Näherung Übereinstim-mung mit den Daten erreicht werden kann. Dies scheint jedochdurch eine genauere Rechnung im Rahmen der ART wieder inFrage gestellt, wonach das Quadrupolmoment und höhereMultipolmomente die Gesamtpräzession sogar signifikant aufetwa die Hälfte der beobachteten Frequenzreduzieren. Viel-leicht läßt sich diese Diskrepanz um einen Faktor 2 aber auchmit der Scheibengeometrie erklären. Ein weiterer Zweifel, obtatsächlich die TL-Präzession für die beobachtete Frequenzverantwortlich ist, ergibt sich daraus, daß eine typische Akkre-tionsscheibe gerade wegen der gravimagnetischen Kraft undihrer eigenen Viskosität dazu tendiert, sich in der Äquator-ebene des Sterns zu etablieren. Es bedarf also einer gesonder-ten Kraft, um den Innenrand der Scheibe wieder aus dieserEbene herauszukippen. Als Ursache dieser Kraft bietet sichnatürlich das i.a. nicht symmetrisch zur Rotationsachse lie-gende Magnetfeld des Neutronensterns an, das auch dem Pul-sarphänomen zugrundeliegt. Der TL-Effekt wurde aber ausder Annahme hergeleitet, daß die Teilchen nur gravitativ be-einflußt sind. Unter allgemeineren Bedingungen ist zumindesteine Modifikation der Präzessionsfrequenz zu erwarten. Ausdiesem Grunde ist die Frage, ob der beobachtete "Präzessions-Peak" in der Tat den TL-Effekt widerspiegelt, wohl noch alsoffen anzusehen.

    Dieselbe Vorsicht ist auch bei der Deutung der quasiperiodi-schen Oszillation im 10-Hz-Band angebracht, die man im

    Falle von Schwarzen Löchern (SL) mit Doppelsternpartnernbeobachtet. (Die SL-Natur des unsichtbaren Partners folgt dar-aus, daß seine Masse sich dynamisch zu mehr als 3 Sonnen-massen bestimmt, was über der Stabilitätsgrenze für Neutro-nensterne liegt). Hier kommt noch erschwerend hinzu, daß imGegensatz zu Neutronensternen eine direkte Bestimmung derRotationsperiode des SL nicht möglich ist. Andererseits er-zeugt das SL kein eigenes Magnetfeld, und das von der Akkre-tionsscheibe selbst erzeugte stört nicht so sehr. Deutet maneine quasiperiodische Oszillation als Folge der TL-Präzession,kann man aus ihrer Frequenz und der dynamisch bestimmtenMasse den Drehimpuls des SL herleiten. Dies haben W. Cui(MIT) und S.N. Zhang (NASA Marshall Space Flight Center)1997 für eine Reihe von stellaren SL durchgeführt und Über-einstimmung mit den Resultaten einer ebenfalls von ihnenstammenden anderen indirekten Methode zur Drehimpulsbe-stimmung gefunden. Interessant ist, daß demnach die 1994 inunserer Galaxis entdeckten beiden "Mikroquasare" (so ge-nannt wegen der von ihnen mit scheinbarer Überlichtge-schwindigkeit ausgestoßenen "Jets") nahezu mit der theore-tisch möglichen Höchstgeschwindigkeit rotieren.

    Zusammenfassend scheint es für alle Experimente verfrüht,von einer endgültigen Bestätigung des TL-Effekts zu spre-chen. Es ist aber zu hoffen, daß mit dem Sammeln weiterer Be-obachtungsdaten in den nächsten Jahren eine Klärung eintre-ten wird. Unabhängig davon verspricht das eingangs er-wähnte, im Bau befindliche Satellitenexperiment "GravityProbe B" eine Messung des Thirring-Schiff-Effekts mit einerGenauigkeit im Prozentbereich.

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    Peter HäußlerWolfgang BünderReinders DuitWolfgang GräberJürgen Mayer

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  • 18 PLUS LUCIS 2/99 Fachdidaktik

    1. Einleitung

    Obwohl das Fliegen mit dem Flugzeug heute nichts Unge-wöhnliches mehr ist, hat das Phänomen "Fliegen" an Faszina-tion kaum etwas verloren. Ein guter Grund eigentlich, dasFliegen auch im Schulunterricht zu thematisieren. Geht manaber der Frage nach, warum ein Flugzeug fliegt, stellt manfest, daß es offenbar ganz verschiedene Antworten auf dieseFrage gibt. Merkwürdig daran ist, daß jede dieser Erklärungenbis zu einem gewissen Grad überzeugen kann, aber die Zu-sammenhänge völlig unklar bleiben. Dieser Beitrag möchtedeshalb helfen, die verschiedenen Erklärungen in einen größe-ren Rahmen einzubetten. Im zweiten Teil werden darauf auf-bauend Vorschläge für einen alternativen Unterricht zur Flug-physik dargestellt. (Eine etwas ausführlichere Darstellung derfachlichen Analyse findet man unter [1].)

    2. Warum fliegt ein Flugzeug: Die drei häufigsten Erklärungen

    Eines der drei häufigsten Erklärungsmuster zum Fliegen istdie Druckerklärung. Demnach wird durch die besondere Formdes Tragflügels die Strömung so verändert, daß an der Ober-seite ein Unterdruck und an der Unterseite ein Überdruck ent-steht. Die Druckdifferenz liefert dann die Auftriebskraft, diedas Flugzeug in der Luft hält. Dieses Erklärungsmuster findetman bevorzugt in populärwissenschaftlichen Büchern undZeitschriften oder in Kinderbüchern.

    Ein anderes Erklärungsmuster, die Rückstoßerklärung, knüpftan das Wechselwirkungsgesetz an. Hervorgehoben wird, daßdie Tragfläche Luft nach unten umlenkt. Dabei muß die Trag-fläche nach dem Wechselwirkungsgesetz eine nach oben ge-richtete Kraft erfahren. Dieses Erklärungsmuster wird vor al-lem von Weltner propagiert (z.B. [2]) und hat inzwischen Ein-zug in eine Reihe von Schulbüchern gefunden.

    Ein drittes Erklärungsmuster vergleicht den Auftrieb mit derKraft auf den rotierenden Zylinder. Es findet sich z.B. im

    Gerthsen [3] und in vielen Lehrbüchern der Technischen Strö-mungslehre. Ähnlich wie ein rotierender Zylinder eine Krafterfährt, weil zur normalen Umströmung eine Kreisströmung(Zirkulationsströmung) hinzukommt, wird auch der Auftriebauf eine Zirkulationsströmung um die Tragfläche herum zu-rückgeführt.

    3. Fachliche Analyse des Zusammenspiels der drei Erklärungen

    3.1. Der zweidimensionale Fall

    Aus der Sicht der Strömungsmechanik ist tatsächlich die Zir-kulation der Schlüssel zur Beschreibung des Auftriebs. In ei-ner ersten guten Näherung kann man den Auftrieb zunächst füreine zweidimensionale Tragfläche in einem idealen reibungs-freien Fluid untersuchen. Eine zweidimensionale Tragflächekann man sich vorstellen als ein Tragflächenstück, dessen En-den mit Platten versehen sind, die eine Querströmung unter-binden (Abb. 1). Das Strömungsbild einer solchen Tragflächeohne Zirkulation gibt Abb. 2 wieder. Würde die Luft so strö-men, wäre der Auftrieb allerdings null. Wie die Strömung realaussieht, zeigt im Vergleich dazu Abb 3. Der Unterschied inden Strömungsbildern läßt sich nun durch die Zirkulations-strömung beschreiben, in der sämtliche Auftriebsinformationenthalten ist (Abb. 4). Das gleiche gilt auch für den rotieren-den Zylinder. Auch hier steckt die Auftriebsinformation in der

    Abb. 1: Modell einer zweidimensionalen Tragfläche

    Abb. 2: Strömungsbild einer Tragfläche ohne Zirkulation (nach [4, S. 108]). Hier entsteht kein Auftrieb.

    Abb. 3: Strömungsbild einer Tragfläche mit Zirkulation (nach [4, S. 107]). Hier entsteht Auftrieb.

    Wie erklärt man das Fliegen in der Schule?

    Versuch einer Analyse verschiedener Erklärungsmuster

    Rita Wodzinski

    Dr. Rita Wodzinski, Lehrstuhl für Didaktik der Physik, Universität München, Schellingstr. 4, D-80799 München

  • Fachdidaktik PLUS LUCIS 2/99 19

    Kreisströmung. In beiden Fällen berechnet sich der Auftriebnach derselben Gleichung, nämlich der Kutta-Joukowski-For-mel: F/l = Γ ρ u, wobei u die ungestörte Anströmgeschwindig-keit bezeichnet und Γ die Stärke der Zirkulation.

    Damit ist bereits eine erste Verknüpfung der drei Erklärungs-muster gefunden. Denn beschreibt man das Strömungsbild ei-ner Tragfläche mit Hilfe der Zirkulationsströmung, so beinhal-tet das automatisch auch, daß die Strömung oberhalb der Trag-fläche schneller und unterhalb der Tragfläche langsamer ist alsdie ungestörte Strömung und daß die Luft hinter der Tragflä-che nach unten umgelenkt wird.

    Eine Verknüpfung theoretischer Art liefert der Impu