1UP März 2015

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ICF BASEL MAGAZIN ISSUE N°10 — MÄRZ 2015 ICH DENKE, ALSO BIN ICH... HIER FALSCH? (UN)FRIEDENSSTIFTER? — S. 8 DAS LEID DER WELT SPRICHT GEGEN GOTT — S. 14 COGITO ERG O SUM — S. 22 GLEICH ≠ GLEICH — S. 26

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ICF Basel Magazin 1UP N°10 (März 2015)

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ICF BASEL MAGAZINISSUE N°10 — MÄRZ 2015

ICH DENKE, ALSO BIN ICH...HIER FALSCH?

(UN)FRIEDENSSTIFTER? — S. 8 DAS LEID DER WELT SPRICHT GEGEN GOTT — S. 14 COGITO ERG O SUM — S. 22 GLEICH ≠ GLEICH — S. 26

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Was man schon seit Jahrzehnten erzählt, bestätigt sich hier auch empirisch: Die christlichen Konfessionen schrumpfen weiter zusammen, die Entkirchlichung der Schweiz schreitet voran, die Zahl der Konfessionslosen steigt ständig an. Mit anderen Worten:

Der christliche Glaube verliert in unserem Land massiv an Attraktivität und Anhängern.

Für diese Entwicklung gibt es natürlich verschiedene Grün-de. Und man sollte sie auch differenziert bewerten – es gibt

ja z.B. Leute, die aus der Kirche austreten und überzeugte Christen bleiben. Und vor allem soll es viele geben, die in der Vergangenheit Mitglied einer Kirche waren, ohne sich wirk-lich noch als Christen zu verstehen. Ihr Austritt ist dann wohl einfach ein Akt der Ehrlichkeit und Konsequenz.

Auf jeden Fall aber besteht ein gewichtiger Grund, dass Men-schen die Kirche hinter sich lassen und sich vom Christentum distanzieren – oder sich gar nicht erst darauf einlassen! – in verbreiteten denkerischen Einwänden gegen den Glauben:

ICH DENKE,ALSO BIN ICH...HIER FALSCH?

»WIRD DIE SCHWEIZ ZUM LAND DER UNGLÄUBIGEN?«, FRAGT DIE GRATISZEITUNG 20 MINUTEN IN EINER SCHLAGZEILE VOM LETZTEN JAHR. »DER EXODUS AUS DEN KIRCHEN HÄLT AN«, TITELT DIE NZZ AM SONNTAG ETWAS NÜCHTERNER. DIE ARTIKEL BEZIEHEN SICH AUF EINE NEUE STUDIE ZUR RELIGIOSITÄT IN DER SCHWEIZ, DIE UNS AKTUELLE ZAHLEN ZUM ZUSTAND DES HIESIGEN (INSTITUTIONELLEN) CHRISTENTUMS LIEFERT. UND DIE SIND ERNÜCHTERND.

02 — EDITORIAL

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• Hat nicht die moderne Wissenschaft den Glauben an einen Gott, der die Welt erschafft und wundersam in die Ge-schichte eingreift, längst lächerlich gemacht?

• Sprechen nicht die Leiden dieser Welt, die unsäglichen Gräueltaten unserer Zeit, all die verheerenden Naturkata-strophen definitiv gegen einen liebenden Gott?

• Hat nicht gerade das Christentum mit Kreuzzügen und He-xenverbrennungen für einige der grössten Bosheiten der Menschheit gesorgt und sich damit selbst disqualifiziert?

• Und dann gibt es ja unüberschaubar viele verschiedene Religionen und Vorstellungen von Gott – warum sollte man ausgerechnet dem Christentum Glauben schenken?

• Ist die Bibel nicht ohnehin eine einzige Sammlung von My-then und Märchen, willkürlich von der Kirche zusammen-gestellt und in keiner Weise vertrauenswürdig?

Solche Fragen können die Glaubwürdigkeit des Christen-tums aushöhlen, zu schier unüberbrückbaren Zweifeln wer-den. Und es sind ja eben keine dummen Fragen, die man mit einer Handbewegung bzw. mit einem einzigen schlauen Satz vom Tisch wischen könnte.

Das sind gute, brennende Fragen, von deren Antwort tat-sächlich viel abhängt.

Wir wagen uns mit dieser Ausgabe von 1UP und der dazu-gehörigen Predigtserie an diese Fragen heran. Wir tun dies nicht in der Meinung, die Weisheit „mit dem Löffel gefres-sen“ zu haben. Aber wir wollen uns diesen Einwänden gegen

den Glauben ehrlich stellen – zum einen für uns selbst: denn wer will schon an einem Glauben festhalten, für den es keine guten Gründe gibt? Zum anderen aber für die vielen Men-schen, die sich solche Fragen auch stellen, und für die sie zu einem Hindernis geworden sind, sich mit dem Gott des Chris-tentums näher zu befassen.

DIE KIRCHE IST KEIN ORT, AN DEM DIE BESUCHER IHR GEHIRN AN DER GARDEROBE ABGEBEN MÜSSEN...

Dabei erwarten uns einige überraschende Entdeckungen und Einsichten. Und wir werden herausgefordert, unseren Verstand zu gebrauchen und die genannten Argumente ge-gen den christlichen Glauben ernsthaft zu prüfen. Denn die Kirche ist kein Ort, an dem die Besucher ihr Gehirn an der Garderobe abgeben müssen, um es im Gottesdienst auszu-halten, sondern vielmehr ein Ort, an dem Herz und Verstand aktiviert und bewegt werden…

»Ich denke, also bin ich… hier genau richtig!«

Autor: Manuel Schmid

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Zweifel, die wir alle haben

Zweifl er und Frager sind keine Gegner des Christentums: Zweifel sind nie schlecht, es ist nur schlecht, wenn man sich diesen nicht stellt. Wichtig ist die Auseinandersetzung mit den eigenen Überzeugungen und ein innerer Dialog mit dem Zweifel, egal ob gläubig oder ungläubig. Immer wieder stellt Garth die Möglichkeiten des Glaubens und des Unglaubens gleichberechtigt nebeneinander und arbeitet sich so Stück für Stück durch die Hauptzweifel am christlichen Glauben.

Die Frage nach dem Leid bleibt offen

Warum werden Menschen krank oder misshandelt, warum müssen sie leiden? Woher kommen Kriege, Kinderarmut, Seuchen und Naturkatastrophen, die Tausenden Menschen den Tod bringen? Garth versucht, mithilfe von vielen Schick-salsberichten Antworten zu fi nden und lässt den Leser ein-drücklich am Leben der Betroffenen teilhaben. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich der Gläubige zusätzlich zu seinen Qualen auch noch mit der Frage "Gott, warum lässt du mich so leiden?" abmühen muss. Eine abschliessende Antwort auf die Frage des Leides fi ndet Garth nicht.

Wann ist Toleranz Gleichgültigkeit?

Im "Supermarkt der Religionen" neigen Menschen unserer Kultur dazu, sich einen eigenen Religionen-Mix zu erstellen. Toleranz hat einen wichtigen Stellenwert in unserer Gesell-schaft und es wird schnell als intolerant bezeichnet, wer an einer verbindlichen Überzeugung festhält. Garth erklärt den Ursprung des Wortes Toleranz und den Unterschied zur heu-tigen Zeit, wo Toleranz eher der Gleichgültigkeit, der Belie-bigkeit zugeordnet wird. Dabei gilt oft derjenige als tolerant, der von allen Richtungen, z. B. Islam, Christentum und Bud-dhismus, gleich überzeugt ist, ohne sich auf eine bestimmte Glaubensrichtung festzulegen.

Wie viel Freiheit ist erlaubt?

Macht der Glaube unfrei? Kann man denn überhaupt frei-heitsliebend, emanzipiert und gläubig zugleich sein? Die Grenzen der Freiheit kann man mit einer Mutter vergleichen, die für ihr Kind sorgt und dafür ihre eigene Freiheit auf-gibt – im Bewusstsein, dass das Kind es wert ist. Die Liebe begrenzt unsere Freiheit. Und trotzdem würden die meisten Menschen dem Satz "Jeder Mensch hat das Recht, selbst zu

HAT GRÜNDE — GLAUBE AUCH

«WAS IST IHR HAUPTZWEIFEL AM CHRISTENTUM?» MITHILFE EINER UMFRAGE ERHIELT DER BERLINER PFARRER ALEXANDER GARTH SEHR VIELE ANTWORTEN AUF DIESE FRAGE. SEIN INTERESSE AN GUTEN ARGUMENTEN, DIE GEGEN DEN GLAUBEN AN GOTT SPRECHEN, ZEIGT, DASS ES VIELFÄLTIGSTE GRÜNDE FÜR ZWEIFEL GIBT: DAS LEID DER WELT, DER FRAGWÜRDIGE OPFERTOD JESU ODER AUCH DIE VERMEINTLICHE FREIHEIT DES MENSCHEN. IN SEINEM BUCH "ZWEIFEL HAT GRÜNDE – GLAUBE AUCH" (2014) BRINGT GARTH DIE ZWEIFEL VIELER POSTMODERNER MENSCHEN AUF DEN PUNKT UND ZEIGT EBENSO DIE GUTEN GRÜNDE, TROTZDEM AN GOTT ZU GLAUBEN.

04 — ZWEIFEL HAT GRÜNDE – GLAUBE AUCH

ZWEIFEL

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bestimmen, was für ihn wahr und gut ist" zustimmen. Was ist aber mit den Eltern, die ihre Kinder mit gutem Gewissen schlagen? Sie fi nden, Züchtigung sei ein wichtiger Teil der Kindererziehung. Und trotzdem ist körperliche Gewalt gegen das Gesetz. Anhand von mehreren Beispielen weist Garth auf, dass die eigene Freiheit eine Grenze hat, nämlich die Freiheit des Anderen. Garth beschreibt die Geschichte der gesellschaftlichen Massstäbe und kommt zu dem Punkt, dass die Zukunft der abendländischen Kultur entscheidend davon abhängt, "inwiefern sie eine Rückbesinnung auf die Wurzeln des christlichen Glaubens mit seinen Kraftquellen, seiner Spiritualität, seinem Humanismus, seinen Werten und Tugenden vollzieht."

Die provokante Lektüre zum Nachdenken und Weiterdis-kutieren!

Gleichermassen gibt sich Garth in den weiteren Kapiteln des Buches nicht mit den einfachen Antworten zufrieden. Er weiss, dass sich Zweifel nicht mit einfachen Antworten aus dem Weg räumen lassen und umgekehrt der Glaube nicht einfach auf guten Argumenten beruht. Mit seinem fl üssigen

Schreibstil beleuchtet Garth abwechselnd die theologische, philosophische und wissenschaftliche Seite vieler Fragen, die den Leser zum Mitdenken auffordern.

Es ist kein leichtfertiges, dahingeschriebenes Buch, aber trotzdem unterhaltsam und hilfreich für weitere Diskussi-onen. Das lebendige und teilweise humorvolle Buch provo-ziert – intellektuell, ehrlich, ermutigend und in grosser Soli-darität mit allen Zweifl ern. Denn Zweifel haben gute Gründe. Glaube auch.

Autorin: Salome Bäumler

05 — ZWEIFEL HAT GRÜNDE – GLAUBE AUCH

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«GOTT SEI DANK,GOTT EXISTIERT NICHT.WENN ABER,WAS GOTT VERHÜTEN MÖGE,GOTT DOCH EXISTIERT?»RUSSISCHES SPRICHWORT

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ICH BIN ENTTÄUSCHT VON DER KIRCHE! UND GLAUBE GLEICHZEITIG, DASS SIE DIE HOFFNUNG DER WELT IST – MIT ALL IHREN FEHLERN. UNTER CHRISTEN LIEGEN SEIT JEHER LICHT UND SCHAT-TEN DICHT BEIEINANDER: GROSSARTIGE WERKE SELBSTLOSER BARMHERZIGKEIT UND SCHÄNDLI-CHE GRÄUELTATEN SIND TEIL DER 2000-JÄHRIGEN KIRCHENGESCHICHTE.

Gott ist mit uns?

Es waren die Pietisten, in deren Tradition wir als Evangelikale stehen, die im England des 18. Jahrhunderts den Abolitionis-mus voranbrachten, um dann endlich 1833 die Abschaffung der Sklaverei zu erringen. Es waren aber auch Christen – und unter ihnen die grossen Reformatoren Luther und Calvin –, welche die Hinrichtung mutmasslicher Hexen über Jahrhun-derte verteidigt und so Tausende von Frauen um ihr Leben gebracht haben.

DIE KIRCHE HAT EIN IMAGEPROBLEM. ZU RECHT. IHRE GESCHICHTE IST EINE ZWIESPÄLTIGE – DAS UNTER DENTISCH ZU KEHREN MACHT KEINEN SINN. DENN WENN WIR AUFHÖREN, DINGE ZU BESCHÖNIGEN, ENTDECKEN WIRDEN WAHREN GLANZ DER KIRCHE.

08 — (UN-)FRIEDENSSTIFTER

(UN-)FRIEDENSSTIFTER?

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Schon die Urchristen hatten gegen die Todesstrafe ge-kämpft, mit dem Argument, dass Jesus am Kreuz alle Schuld bereits getilgt hätte – aber 85 % der Todesurteile in den USA seit 1976 wurden im sogenannten Bible Belt, wo konservative Christen das Sagen haben, gesprochen.

Unter der schrecklichen Naziherrschaft in Deutschland wa-ren es gläubige Christen wie die Bekennende Kirche (Dietrich Bonhoeffer) oder die Geschwister Scholl, die unerschrocken gegen Hitler gekämpft und dafür mit ihrem eigenen Leben

bezahlt hatten – während die grosse Mehrheit als «Deutsche Christen» voll und ganz auf den Nazi-Kurs auf-gesprungen waren. Übrigens: Auf den Gürteln vieler Wächter in Auschwitz und Birkenau hat man den Satz «Gott ist mit uns» eingraviert gefunden.

Ohne die Täufer gäbe es in der Schweiz keinen Zivildienst, ohne die religiös-konservative Rechte aber auch keinen zweiten Irakkrieg.

Eine durchzogene Geschichte also, um es nett auszudrücken. Die Kirche hin-terlässt, geschichtlich betrachtet, eine Spur des Segens aber auch eine der Verwüstung.

Und wie steht es um uns?

Es gibt Prediger, die auch im 21. Jahrhundert absurde Vorurteile und menschenverachtende Gedanken säen – und eine Menge solcher, die als selbstlose und selbstkritische, demü-tige Diener die Welt zu einem besseren

Ort machen. Es gibt heute unzählige Christen in Europa, die sich für die Schwachen, die Kranken und die Fremden ein-setzen – und so zum sozialen Frieden beitragen. Und es gibt solche, die im Namen des christlichen Abendlandes gegen «Alibaba und die 40 Dealer» auf die Strasse gehen

Wir sollten das alles nicht beschönigen. Aber wir dürfen uns auch nicht selbst diffamieren. Das Böse gehört zu den Struk-turen dieser Welt, es gehört zu jeder Gesellschaft; sobald Menschen zusammen sind, gibt es Machtkämpfe, Lügen, Ver-letzungen. Es gibt keine «reine Kirche», das ist eine Utopie! Die Kirche begeht dieselben Sünden wie «die Welt».

Das Vorbild ist Jesus am Kreuz

Das einzig Sinnvolle, was die Kirche tun kann und tun muss, ist: Von ganzem Herzen, mit ganzer Kraft und mit ganzem Ver-stand, Jesus ähnlicher zu werden. Jesus am Kreuz, der sich überwältigen lässt von den Gewaltbereiten; Jesus, der seine Kraft in den Schwachen zu zeigen gedenkt: »Meine Gnade ist alles, was du brauchst, denn meine Kraft kommt gerade in der Schwachheit zur vollen Auswirkung» (2. Korinther 12, 9).

Gottes suchende Liebe in die Welt zu tragen, kann nie bedeu-ten, andere zu unterdrücken. Sein Sohn stellt sich, wie der Vater, konsequent auf die Seite der Schwachen, und nimmt ihretwillen, wenn es sein muss, Gefahr auf sich.

Jesus begegnete allen Menschen unvoreingenommen, offen und hilfsbereit. Denn Frieden ist nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern genauso soziale Gerechtigkeit. Und diese wiederum ist nur möglich, wenn wir in unserem Alltag Ge-nügsamkeit, Respekt und Freundlichkeit praktizieren.

The medium is the message

Es ist schnell passiert, dass wir, auch als Christen selbst, zy-nisch werden gegenüber der Kirche. Wir hätten ja alle, weiss Gott, Grund genug dazu! Traurig wäre es trotzdem.

Kurz bevor Jesus die Welt verliess, übertrug er die Verant-

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wortung für seine Gemeinde an seine Jünger – einfache, zweifelnde, unreife Typen wie du und ich. Die Hoffnung der Welt auf den Schultern von ein paar jungen Frauen und Män-nern ohne Erfahrung und ohne Mittel? Menschen, die bis da-hin schon einige "Böcke geschossen", Jesus verleugnet, den eigenen Profit gesucht hatten?

Genau. Das ist nämlich die Botschaft: Gott zeigt sich im Feh-lerhaften; seine Gnade kommt «in der Schwachheit» zur Gel-tung. The medium is the message!

Das Medium sind wir. Zutiefst menschlich, manchmal ange-berisch, manchmal zerbrochen. Licht und Schatten. Barm-herzigkeit und Selbstsucht. Gott hat sich für eine höchst zerbrechliche Botschafterin entschieden, um seine Liebe den Menschen zu zeigen: seine Kirche.

Wenn sich die Kirche Jesus am Kreuz zum Vorbild nimmt, ist sie stark.

Autor: Andy Bäumler

EIN FRIEDENSGEBET

O HERR, MACH MICH ZU EINEM WERKZEUG DEINES FRIEDENS,DASS ICH LIEBE ÜBE, WO MAN HASST;DASS ICH VERZEIHE, WO MAN BELEIDIGT;DASS ICH VERBINDE, WO STREIT IST;DASS ICH DIE WAHRHEIT SAGE, WO DER IRRTUM HERRSCHT;DASS ICH DEN GLAUBEN BRINGE, WO DER ZWEIFEL DRÜCKT;DASS ICH DIE HOFFNUNG WECKE, WO VERZWEIFLUNG QUÄLT;DASS ICH LICHT ENTZÜNDE, WO DIE FINSTERNIS REGIERT;DASS ICH FREUDE BRINGE, WO DER KUMMER WOHNT.HERR, LASS MICH TRACHTEN:NICHT, DASS ICH GETRÖSTET WERDE, SONDERN DASS ICH TRÖSTE;NICHT, DASS ICH VERSTANDEN WERDE, SONDERN DASS ICH VERSTEHE;NICHT, DASS ICH GELIEBT WERDE, SONDERN DASS ICH LIEBE.DENN WER DA HINGIBT, DER EMPFÄNGT;WER SICH SELBST VERGISST, DER FINDET;WER VERZEIHT, DEM WIRD VERZIEHEN,UND WER STIRBT, DER ERWACHT ZUM EWIGEN LEBEN.

10 — (UN-)FRIEDENSSTIFTER

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«ALLES KOMMT AUF DIE LIEBE AN, DENN AM ENDE WERDEN WIR NACH

DER LIEBE BEURTEILT.»EDITH STEIN (TERESIA BENEDICTA VOM KREUZ, *1891, † 1942)

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CHRISTSEIN IST SO SCHWER

Das christliche Weltbild ist überholt. Mal ehrlich, für solch einen hinterlistigen, machtgeilen und besserwisserischen Gott haben wir in unserer aufgeklärten Gesellschaft keinen Platz mehr. Was wollen wir mit einem, der sich nie blicken lässt und uns unerfüllbare Ansprüche aufdrückt, nur um uns nachher reinzuwürgen, dass all unser Bemühen nicht ausreicht? Brauchen wir den tatsächlich? Nun ja, ääh – nein. Quod erat demonstrantum – unsere Gesellschaft ist ausgestiegen aus dem Vertrag mit dem Glauben, und die Welt dreht sich weiter. Es geht also auch ohne. Ganz ohne? Nein! Eine kleine unbeugsame Gemeinschaft hört nicht auf, den Vorurteilen der aufgeklärten Gesellschaft Widerstand zu leisten. Und das Leben ist nicht leicht für ihr ungläubiges Umfeld...

Wir kämpfen so viel, wir Christen. Ständig sind wir dabei, uns zu rechtfertigen, uns zu erklären, anderen die Vorzüge unserer Art zu leben anzuempfehlen und die Massstäbe zu halten, die wir für unser Leben als bindend betrachten. Wir sind konfrontiert mit all diesen seltsamen Meinungen über uns und unseren Gott.

Ist Christsein wirklich so schwer? Oder besser: muss es so schwer sein? Ich glaube nicht. Ich habe aufgehört, mich angegriffen zu fühlen, wenn einer seine Vorurteile verbreitet. Ich habe das Interesse daran verloren, mich zu entsetzen über die Welt, die wir gerne so böse und verblendet fi nden. Denn in jedem Vorurteil steckt ein Körnchen Wahrheit, und zurückzuverfolgen, welches Körnchen das ist und aus welchen Irrtümern, unbefriedigten Bedürfnissen und Verletzungen heraus der Rest des Vorurteils besteht, das ist so mühsam und anstrengend. Fakt ist ja jedenfalls, dass wir als Christen unseren Anteil haben an den Vorurteilen über das Christentum. Bizarr genug ist unsere Geschichte; blöd genug haben wir uns über so lange Zeit aufgeführt, dass es schwer wird zu glauben, dass wir das auch anders können:

- wir haben Kreuzzüge veranstaltet

- wir haben Hexen verbrannt

- wir haben Völker ausgerottet, um selbst mehr Platz zu haben

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Zu historisch? Zu lange her? Okay...

- wir hinterziehen Steuern

- wir schauen heimlich Pornos

- wir missbrauchen kleine Jungs

Alles zwar Leute, die sich Christen nennen, aber nicht du? Dann kommt hier deine persönliche Liste zum Ausfüllen. Wenn du Probleme hast, drei Beispiele zu finden, frag einen Nichtchristen aus deinem Umfeld, der hilft dir sicher gerne...:

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Wir haben es schwer in dieser Welt. Mit dem einen Bein stecken wir im Sumpf der Kirchengeschichte, mit dem anderen sollen wir grosse Glaubensschritte tun. Mit der einen Hand klammern wir uns an unser Gott beschränkendes Gottesbild, mit der anderen versuchen wir, Gott als den zu ehren, der er ist. Mit dem Kopf suchen wir angestrengt anstrengende Wege, Gottes Liebe in der Welt zu verbreiten, während unser Herz gerne selbst etwas von dieser Liebe hätte. Mit unserem Gewissen meinen wir, an Massstäbe gebunden zu sein, von denen die Menschen um uns herum glauben, dass es unsere sind, weil wir sie durch unser Verhalten dazu verleitet haben, das zu glauben, doch unsere Seele wäre so gern einfach nur frei.

Wir sehen: wir sind schuldig. Mitschuld an der Entstehung und an der Aufrechterhaltung der Existenz von Vorurteilen übers Christsein. Wir können nicht anders.

Und doch ist das genau das Objekt meiner Begierde: es anders zu können. Darüber hab ich mir Gedanken gemacht: Wie kann mein Leben Interesse an meinem Gott wecken, ohne dass alles so anstrengend ist?

Oh – da fällt mir als erstes der subtile Gedankensprung in meiner Logik auf: zuerst geht es um Vorurteile übers Christsein, dann geht es auf einmal um Gott persönlich. Das könnte interessant sein: Sollte es möglich sein, Gott durch mein Leben zu Wort kommen zu lassen, ohne ihn ständig mit meinem Verhalten, meinem schrägen Charakter und deren ideellen Ausscheidungsprodukten zu unterbrechen?

Was sagt uns denn die Bibel? Da erinnere ich mich an eine Stelle, wo davon die Rede ist, dass die Welt an der Liebe, die unter den Christen herrscht, Jesus und seine Mission kapieren soll. Ach so? Nicht an unseren tollen Argumenten? Nicht an unserer Fehlerlosigkeit? Nein? Nicht mal ein kleines Bitzeli?

Nein.

Kann es so schwer sein, das zu kapieren?

Nein.

Einfach nur lieben und lieben lassen!

Die Schwere fällt ab.

Machst Du mit?

Autor: Axel Brandhorst

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KINDER WERDEN IM SÜDSUDAN ZU TAUSENDEN ENTFÜHRT, UM SIE IN DIE PROSTITUTION ZU ZWINGEN ODER ZU KINDERSOLDATEN AUSZUBILDEN. FAMILIEN VERHUNGERN IN DEN ELENDSVIERTELN VON GROSSSTÄDTEN ODER STERBEN AN KRANKHEITEN, DIE IM REICHEN WESTEN NIEMANDEN BEUNRUHIGEN, WEIL ES LÄNGST WIRKSAME MEDIKAMENTE DAGEGEN GIBT. EIN TEENAGER WIRD VON SEINEN MITSCHÜLERN STRATEGISCH GEDEMÜTIGT UND FERTIG GEMACHT, BIS ER SICH IM KELLER SEINES HAUSES SELBST ERHÄNGT. EINE DROGENSÜCHTIGE FRAU BRINGT EIN KIND ZUR WELT, DAS ALS HIV-POSITIV DIAGNOSTIZIERT WIRD. EIN ALTER MANN VEREINSAMT IN SEINER KLEINEN WOHNUNG UND WIRD ERST MEHRERE WOCHEN NACH SEINEM TOD VOM HAUSABWART GEFUNDEN.TÄGLICH VERSORGEN UNS DIE MEDIEN MIT SOLCHEN SCHRECKENSMELDUNGEN. INDIVIDUELLES UND KOLLEKTIVES LEID, DAS BUCHSTÄBLICH ZUM HIMMEL SCHREIT…

DAS LEIDDER WELT SPRICHT GEGEN GOTT.

14 — DAS LEID DER WELT SPRICHT GEGEN GOTT

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Ein uraltes, hochaktuelles Problem…

Ich habe 5'000 Zeichen inkl. Leerzeichen zur Verfügung, um in diesem Heft Stellung zu nehmen zur Frage, ob das Leid dieser Welt nicht gegen die Existenz eines liebenden Gottes spricht. Vor einer solchen Aufgabenstellung kapituliert man am Besten gleich von Anfang an. Ganze Regenwälder wurden abgeholzt und Ozeane von Druckfarbe verarbeitet, um all die Bücher herzustellen, die sich mit diesem Problem auseinan-dersetzen.

Ich will darum im Folgenden nur einige – hoffentlich hilfrei-che – Gedankenanstösse geben für alle, die sich aus persön-lichen und intellektuellen Gründen die Frage nach Gott und dem Leid stellen.

Eine prägnante und oft zitierte Formulierung des Problems geht auf den Kirchenvater Lactantius zurück (der sie wie-derum auf den Philosophen Epikur zurückführt) – sie lautet etwa so:

• Entweder will Gott die Übel beseitigen, aber er kann es nicht: Dann ist Gott schwach und nicht allmächtig.

• Oder Gott kann die Übel zwar beseitigen, aber er will es nicht: Dann ist Gott missgünstig und nicht liebevoll.

• Oder aber er will und kann die Übel beseitigen – woher kommen dann die Übel und warum überwindet er sie nicht?

Tja, was sagt man dazu… Ziemlich wasserdicht, diese Argu-mentation, oder?

Und was dieses Problem alles schon voraussetzt…

Ich möchte zuerst einmal klar machen, was diese Formu-lierung – man spricht auch von einem Trilemma, also einer Wahl aus drei inakzeptablen Lösungen – bereits voraussetzt.

• Die obige Problemstellung setzt die Realität des Bösen voraus. Nur wenn man das Böse wirklich als (objektiv) böse anerkennt, tut sich eine Spannung zur Vorstellung eines guten und allmächtigen Gottes auf. Das scheint uns selbstverständlich, ist es aber nicht unbedingt. Im Hinduismus zum Beispiel besteht die Tendenz, das Böse als Illusion des verblendeten Bewusstseins abzutun, und auch verschiedene philosophische Ansätze verfolgen die-sen Weg. Dann aber brauche ich nicht zu fragen: »Warum

lässt Gott das Böse zu?«, sondern eher: »Warum nehme ich das als böse wahr – und wie kann ich meine Wahr-

nehmung ändern?«

• Dann setzt die Formulierung von Lactantius weiter die unzweifelhafte Güte Gottes voraus. Auch das versteht sich keineswegs von selbst. Nicht nur die alten griechi-schen Mythen, sondern viele östliche Religionen kennen bis heute die Vorstellung eigenwilliger, unberechenbarer, gleichgültiger oder sogar bösartiger Götter. Wenn aber Gott (oder die Götter) auch moralisch fragwürdig sein können, dann ist das Leid dieser Welt nicht weiter verwun-derlich. Ich muss mich dann nicht fragen, warum Gott das Übel nicht verhindert, sondern höchstens, wie es sich mit einem missgünstigen Gott am besten lebt…

• Und schliesslich spricht das obige Trilemma von der un-eingeschränkten Allmacht Gottes. Wenn Gott das Übel be-seitigen will (eben weil er gütig ist), es aber nicht beseiti-gen kann – dann ist er schwach und nicht allmächtig, sagt Lactantius. Diese Argumentation setzt also voraus, dass ein allmächtiger Gott alles tun kann, was er will. Klingt plausibel. Ist das nicht die naheliegendste Definition von Allmacht: All-Macht ist die Macht, alles tun zu können…? Und doch möchte ich auf den verbleibenden Zeilen gerade diese Voraussetzung des klassischen Problems von Gott und dem Leid hinterfragen…

Was kann ein allmächtiger Gott eigentlich so alles…?

Zuerst eine philosophische Rückfrage: Was bedeutet es denn eigentlich, »alles« tun zu können? Schränkt es Gottes Allmacht ein, wenn ich sage: Gott kann keinen eckigen Kreis zeichnen, kein überdachtes Freibad bauen und 16 nicht zur Primzahl machen?

Die christliche Theologie hat darauf meist mit Nein geant-wortet. Hier geht es um Widersprüche in sich, logische Un-möglichkeiten – sprich: Sinnlosigkeiten. Und, wie C.S. Lewis sehr schön sagt, wird eine Sinnlosigkeit nicht plötzlich sinn-voll, nur weil wir die Worte »Gott kann…« voranstellen:

»Es bleibt wahr, dass alle Dinge bei Gott möglich sind; das innerlich Unmögliche ist nicht ein Ding, sondern ein Nichts. Es ist für Gott genauso wenig möglich wie für das schwächste seiner Geschöpfe, von zwei einander ausschliessenden Alternativen beide zu verwirklichen; nicht weil seine Macht behindert wäre, sondern weil Unsinn eben Unsinn bleibt, selbst wenn er von Gott handelt.«

Nicht ohne Humor beschreibt auch der Theologe Klaus von Stosch diesen Sachverhalt:

16 — DAS LEID DER WELT SPRICHT GEGEN GOTT

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»Wenn Gott viereckige Kreise erschaffen kann, kann er auch gut und böse zugleich sein, die Zahl 7 mit dem Müsli seiner Grossmutter vergiften und machen, dass es immer kawum-melt, wenn du zuviel schawasselst.«

Wer kann sich gegen einen allmächtigen Gott durchsetzen…?

Und damit sind wir zurück bei der Frage nach dem Leid.

Könnte es sein, dass die Behauptung, ein allmächtiger Gott könnte problemlos alles Leid aus der Welt schaffen, irrege-leitet ist – dass sie von Gott erwartet, gewissermassen einen quadratischen Kreis zu zeichnen?

Die Bibel gibt uns gute Gründe anzunehmen, dass sich die Schöpfung im Allgemeinen und der Mensch im Besonderen der Liebe Gottes verdankt. Unser Universum ist ein freiwil-liger Ausdruck der Zuwendung Gottes, ein Produkt seiner kreativen Liebe. Gott ruft diese Welt ins Leben, nicht weil er sie braucht, sondern weil er sie will.

Und er schafft den Menschen, wie die Schöpfungsgeschichte sagt, »zu seinem Ebenbild« (1. Mose 1,26-27) – mit anderen Worten: zu seinem personalen Gegenüber, zu seinem Part-ner. Gott erklärt sich mit der Erschaffung des Menschen dazu bereit, uns in seine Liebe einzuschliessen und mit uns eine echte Geschichte zu schreiben!

In dieser Geschichte sind die Menschen nicht nur Statisten oder Marionetten. Sie prägen den Gang der Ereignisse mit und gestalten die Zukunft mit Gott zusammen… oder eben auch: gegen ihn. Die Geschichte Israels im Alten Testament und auch die Geschichte der Gemeinde im Neuen Testament lässt keinen Zweifel daran, dass sich Menschen oft gegen Gottes Absichten auflehnen und tatsächlich auch durchset-zen. Lukas stellt das an einer Stelle ganz nüchtern fest, als er den Dienst von Johannes dem Täufer beschreibt, der die Menschen aufruft, zu Gott umzukehren:

»Alle, die Johannes zuhörten, gaben Gott Recht und liessen sich von Johannes taufen. Nur die Pharisäer und die Geset-zeslehrer machten den Plan zunichte, den Gott für sie hatte; sie haben sich nicht von Johannes taufen lassen.« (Lukas 7,30)

Wörtlicher könnte man auch übersetzen: »Die Pharisäer aber und die Gesetzesgelehrten haben den Ratschluss Gottes für sich selbst wirkungslos gemacht, indem sie sich nicht von ihm taufen ließen.«

Wie aber ist das möglich, dass sich ein kleiner, aufbegeh-render Pharisäer gegen den allmächtigen Gott durchsetzt und dessen Absichten durchkreuzt? Was ist nur mit Gott los, dass er sich das gefallen lässt – outet er sich damit nicht als Schwächling?

Gottes Allmacht ist die Macht seiner Liebe…

Ich denke, wir sollten die Antwort darin suchen, dass Gott – gerade in seiner Allmacht! – eine Welt geschaffen hat, in der auch die Entscheidungen und Handlungen des Menschen ein Gewicht haben. Gott will im Menschen einen Partner finden, der sich aus freien Stücken auf ihn einlässt und seinem gu-ten Willen folgt.

Oder, um auf das Motiv der Schöpfung zurückzukommen: Gott sucht nach der authentischen Liebe des Menschen. Und die Suche nach Liebe hat nur Chancen auf Erfolg, wenn man sein Gegenüber nicht fernsteuert oder manipuliert, sondern bereit ist, den andern auch loszulassen. Der Mensch ist als das Ebenbild Gottes dazu berufen, die ausgestreckte Hand Gottes zu ergreifen und ein Leben in Gemeinschaft mit ihm zu führen – er ist damit aber zugleich ermächtigt, sich von Gott abzuwenden und nicht nur sich selbst, sondern auch anderen zu schaden.

Das beraubt Gott nicht seiner Allmacht, aber es macht klar, dass Gottes Allmacht die Allmacht seiner Liebe ist. In einer Welt mit Geschöpfen, die zur Partnerschaft mit Gott berufen und in eine echte Geschichte mit ihrem Schöpfer hineingestellt sind, kann Gott eben nicht »einfach alles Böse verhindern« – weil dieses Böse Teil der (rebellischen, eigen-willigen, frustrierenden) Geschichte ist, die der Mensch als Gegenüber Gottes schreibt.

Sind Gott also letztlich die Hände gebunden? Hat er sich selbst dazu verdammt, dem Elend dieser Welt tatenlos zuzuschauen, nur um den Freiraum des Menschen nicht zu verletzen?

Das Kreuz – Gottes Macht in Höchstform…

Nein. Nichts könnte weiter von dem Gott der Bibel entfernt sein als diese Vorstellung eines tatenlosen, passiven Gottes.

Unser Gott ist der Gott, der sich in Jesus Christus gezeigt hat. Er schaut dem Leiden dieser Welt nicht händeringend zu, sondern wagt sich mitten in unser Leiden hinein, offenbart sich uns in Jesus Christus.

17 — DAS LEID DER WELT SPRICHT GEGEN GOTT

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Und dieser Jesus zeigt uns, wie Gottes Allmacht »funktioniert«:

Nicht als kontrollierende Gewalt, die alles in seinen eisernen Griff nimmt, sondern als die Kraft seiner Liebe, die Menschen im Leid seine Hand entgegenstreckt. Nicht als diktatorisches Machtwort, dem alle Gehorsam leisten müssen, sondern als die Stimme seiner Barmherzigkeit, die Menschen in Not neue Hoffnung zuspricht. Nicht im Niederschlagen aller Aufleh-nung gegen seinen Willen, sondern im Aufrichten der Zer-brochenen und Geschundenen.

Ja, es stimmt: Dieser Gott, der sich in Jesus gezeigt hat, macht sich verletzlich, lässt sich überwinden, anspucken, sogar ans Kreuz schlagen. Und für manche ist das schon der Beweis für seine Schwachheit, seine fehlende Allmacht.

Aber wenn dieser Jesus noch am Kreuz seinen Peinigern ver-gibt, dann ist er damit alles andere als tatenlos und passiv. Vielmehr zeigt sich hier eine Liebe, deren Kraft die ganze Macht des römischen Imperiums übersteigt – eine Liebe, die zustande bringt, wozu schiere Gewalt nie fähig ist: Dass Men-schen von Grund auf verändert werden.

Wenn sich wirklich an Jesus ablesen lässt, was wir unter Gottes Macht zu verstehen haben, dann sollten wir die Erwar-tung verabschieden, dass Gott »die Dinge endlich wieder in seine Hand nimmt« und seinen Willen zwingend durchsetzt. So ist uns Jesus gerade nicht begegnet. Das ist nicht die Art von Stärke, die er uns bewiesen hat. Sein Eingreifen manipu-liert nicht von aussen an der Realität herum, sondern trans-

formiert sie von innen heraus – wenn Menschen mit seiner Liebe in Berührung kommen, werden Leidtragende getröstet und Übeltäter bewegt. Dann findet der neben Jesus mitge-kreuzigte Schwerverbrecher Frieden mit Gott, und der römi-sche Hauptmann bekennt fassungslos: »Tatsächlich, das ist Gottes Sohn!« (vgl. Markus 15,39)

Ich bin mir bewusst, dass sich damit längst nicht alle Fragen nach dem Leid in Wohlgefallen auflösen – aber es könnte sich zumindest lohnen, auf diesen Linien weiterzudenken…

Und auch wenn ich jetzt schon das Doppelte meiner maxi-malen Zeichenanzahl gebraucht habe für meine Stellung-nahme, nämlich 12‘022: Für dieses Zitat von Paulus muss der Platz noch reichen:

»Wir verkünden Christus, den gekreuzigten Messias. Für die Juden ist diese Botschaft eine Gotteslästerung und für die anderen Völker völliger Unsinn. Für die hingegen, die Gott berufen hat, Juden wie Nichtjuden, erweist sich Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn hinter dem scheinbar so widersinnigen Handeln Gottes steht eine Weisheit, die alle menschliche Weisheit übertrifft; Gottes vermeintliche Ohn-macht stellt alle menschliche Stärke in den Schatten.«

(1. Korinther 1,23-25)

Autor: Manuel Schmid

Allen, die sich ausführlicher mit diesem Thema beschäftigen möchten, seien diese Bücher anempfohlen:

18 — DAS LEID DER WELT SPRICHT GEGEN GOTT

Greg Boyd

Is God to Blame? Moving Beyond Pat Answers to the Problem of Evil.

2003

Gisbert Greshake

Warum lässt uns Gottes Liebe leiden?

2007

Klaus von Stosch

Theodizee

2013

Page 19: 1UP März 2015

DIE BIBELEIN MÄRCHENBUCH?

INTERVIEW MIT PROF. DR. ECKHARD HAGEDORNDOZENT FÜR NEUES TESTAMENT

AM THEOLOGISCHEN SEMINAR ST. CHRISCHONA

Page 20: 1UP März 2015

Herr Hagedorn, wie würden Sie die Bibel beschreiben, was ist ihre Aussage?

Die Bibel macht uns sehr ausführlich klar, wer Gott ist. Sie macht uns ebenso ausführlich klar, wer wir selbst sind. Und sie zeigt auf, wie beides zusammenkommt.

Die Bibel wird ja auch oft kritisiert, ihre Glaubwürdig-keit wird in Frage gestellt, sie wird als »Märchenbuch« bezeichnet. Was können Sie dem entgegnen?

Als ich den Begriff »Märchenbuch« im Zusammenhang mit der Bibel gehört habe, da dachte ich mir zuerst: Das wäre gar nicht so schlecht, wenn die Bibel ein Märchenbuch wäre. Denn solche Bücher lesen die Kinder noch richtig gerne. Wenn man alles andere um sich herum vergisst und nur noch das Märchenbuch liest, völlig eintaucht in die Geschichte, das find ich noch glatt!

Aber nun zur Frage der Glaubwürdigkeit: Allein die Zahl der Handschriften, die erhalten sind – beim Neuen Testament sind das etwa 6000 – zeigt, wie gut die Bibel überliefert ist. Da wird jeder Altphilologe neidisch und wäre froh, wenn er für seinen Cäsar so viele Schriften hätte.

Als ich anfing, regelmässig die Bibel zu lesen, habe ich mir nur wenige Gedanken über ihre Glaubwürdigkeit gemacht, ich habe dieses Buch schlichtweg nötig gehabt. Natürlich gab es auch Zeiten, wo ich das Gefühl hatte, mir bräche beim Lesen der Boden unter den Füssen weg. Es war gut, dass ich nie wirklich allein war, sondern immer Christen in meinem Umfeld hatte, die mich begleiteten. Ich bin heute sehr froh um diese schwierigen Zeiten. Ich will nicht wissen, wie trä-ge ich geworden wäre, wenn es mich nicht ab und zu richtig durchgeschüttelt hätte.

Was, glauben Sie, hält viele Menschen davon ab, sich mit der Bibel zu befassen?

Ich glaube, bei vielen Leuten herrscht eine „skeptische Grundstimmung“. Man fängt gar nicht erst an, intensiver da-rüber nachzudenken, die Bibel zu lesen und sich mit ihr aus-einanderzusetzen, weil es von vornherein schon so was von klar scheint, dass das alles Quatsch sein muss. Mich frustet

diese »Spiessbürgerskepsis« gegenüber der Bibel sehr. Man hat keine Ahnung, meint aber schon im Vorhinein zu wissen, dass dieses Buch nichts taugt. Wenn aber jemand beginnt, in der Bibel zu lesen, werden die Karten neu gemischt, dann wird’s richtig spannend! Wenn es gut läuft beim Bibellesen, passiert ja etwas ganz Besonderes. Wenn ich mich der Bibel persönlich stelle, dann dreht sich der Spiess um:

DANN BIN ICH PLÖTZLICH DER GEFRAGTE UND DANN STELLT SICH DIE FRAGE, WIE ICH MIT MEINEM LEBEN DARAUF ANTWORTE.

Woher kommt die Skepsis gegenüber der Bibel denn Ih-rer Meinung nach noch?

Es gibt kaum ein Buch, dass uns so stark widerspricht, wie die Bibel. Ich mag das eigentlich nicht so sehr, ich mag‘s lieber, wenn mir jemand zustimmt. [lächelt] Das wird den meisten Menschen so gehen. Ausserdem hat die Kirche im 19. Jahrhundert einen grossen Teil ihrer Intellektuellen verlo-ren. Es gab eine materialistische Grundtendenz, wobei man scheinbar nur noch die Wahl hatte zwischen Sozialismus und Nationalismus – beides war nicht automatisch kompatibel mit dem Christentum. Weiterhin gab es auch innerhalb der Kirche theologische Strömungen, die der Bibel sehr kritisch gegenüber standen. Zudem benahmen sich im Laufe der Geschichte – wie wir wissen – viele Christen daneben. Ein international bekannter Intellektueller und scharfer Kritiker des Christentums hat mir einmal Folgendes gesagt: „Intel-lektuell besteht für mich kein Grund, nicht Christ zu sein. Mein Problem ist aber , dass ich als junger Kerl jahrelang in einer christlichen Gemeinde gelebt habe, und was ich da so mitgekriegt habe, da hat es mir irgendwann abgestellt.“

All diese Dinge führten sicher zu einem Klima, das von Skep-sis gegenüber dem Christentum und damit einhergehend gegenüber der Bibel geprägt war und ist.

Um noch einmal auf den Intellektuellen zurückzukommen:

Auch ich habe natürlich Christen kennengelernt, die waren jetzt nicht so toll; aber ich mag die trotzdem irgendwie. Bei vielen Christen spürt man ein Heimweh nach Gott und nach

20 — DIE BIBEL – EIN MÄRCHENBUCH?

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Gottes Wort in der Bibel. Und auch aus ihrem Scheitern ent-steht dadurch oft etwas Neues, etwas Gutes.

Nun könnte man ja die Bezeichnung der Bibel als »Mär-chenbuch« auch so verstehen, dass ihre Ideale – neh-men wir zum Beispiel die Gebote - für viele Menschen unerreichbar scheinen, dass die Bibel völlig realitäts-fremd ist.

Schauen wir einmal an, was in der Bibel als Erstes passiert: Gott erschafft die Menschen und kümmert sich um sie. Er will, dass ihr Leben gelingt. Wenn man das begreift, merkt man, dass die Gebote in der Bibel aus dem sehr liebevollen Herzen Gottes kommen, der möchte, dass das mit dem Leben hinhaut. Wenn ich zum Beispiel kein Geld habe und neben mir ein Fünfliber rumliegt, der nicht mir gehört, ist das Gebot »Du sollst nicht stehlen« natürlich nervig. Sobald mir aber jemand mein Geld klaut, ist für mich völlig klar, dass es ein gutes Gebot ist.

Es gibt da eine Stelle im 5. Buch Mose, die man öfter lesen müsste. Da kommen Menschen aus anderen Völkern zum Volk Israel und meinen: »Was seid ihr denn für ein Volk, das so tolle Gebote hat und einen Gott, der sich so um euch küm-mert?!«* Da werden die tatsächlich neidisch auf Gottes Ge-bote. Wichtig ist dabei: Diese Menschen nehmen die Gebote nicht isoliert, sondern immer zusammen mit dem liebevol-len Gott wahr, der sie gegeben hat.

Wird Ihrer Meinung nach das Alte Testament vernachlässigt?

Eigentlich müsste das Alte Testament mit einem Seitenver-hältnis von 3:1 zum Neuen Testament einen klaren Sieg da-vontragen, doch leider sieht die Realität oft anders aus. Ein Christentum nur mit dem Neuen Testament und den Psalmen ist irgendwie magersüchtig. Oft waren ganz starke Prediger richtige Liebhaber des Alten Testaments. Die waren vital und kernig und haben nicht so rumgesülzt. Ich kenne eine Reihe von Leuten, die das Alte Testament gerne studiert haben und irgendwie ist es denen gut bekommen. Das Neue Testament wimmelt ja von Zitaten aus dem Alten, und die sind wie die berühmte Spitze des Eisbergs. Vom Alten Testament her betrachtet lernt man Jesus noch mal ganz anders schätzen. Das ist eigentlich total logisch.

Was möchten Sie unseren Lesern abschliessend mit auf den Weg geben, Herr Hagedorn?

Ich würde mir wünschen, dass Leute, die mal gesagt haben »Ein Christentum mit Altem Testament kann ich mir nicht mehr vorstellen«, später einmal sagen, »Ein Christentum ohne Altes Testament kann ich mir nicht mehr vorstellen.« Da wäre ich dabei!

* 5. Mose 4,6-8

Autor: Timon Ramstein

21 — DIE BIBEL – EIN MÄRCHENBUCH?

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ODER:WIDERLEGT WISSENSCHAFTDEN GLAUBEN?

COGITO ERGO SUM

22 — COGITO ERGO SUM

„Ich denke, also bin ich!“ Das ist der wohl bekannteste Ausspruch des Philosophen René Descartes. Er ist der Vater der Realitätslehre. Bedeutet diese Realität, dass es einen Gott nicht geben kann, weil er in unserer Reali-tät laut Realitätsregel nicht sichtbar sein kann?

Nein, ich bin nicht dieser Meinung. Es ging Descartes in sei-nem philosophischen Ansatz ja genau darum, die zu seiner Zeit weit verbreitete Meinung zu widerlegen, dass die zuver-lässigste Erkenntnis nur über die sinnliche Wahrnehmung zu gewinnen sei. Mit seinem Ansatz wollte Descartes die Frage nach der Existenz Gottes auf ein sichereres Fundament als nur die menschliche Wahrnehmung stellen.

In einem gewissen Sinn hat sich Descartes mit vergleichba-ren Fragen herumgeschlagen wie wir heute. Ein populärwis-senschaftliches Verständnis meint nämlich auch, dass nur, was wahrnehmbar bzw. messbar ist, auch existieren kann. Descartes würde ein solches Verständnis ablehnen und ich bin in dieser Angelegenheit seiner Meinung. Die Realität Got-tes steht und fällt nicht mit unserer Wahrnehmung.

Mit dem Zeitalter der Aufklärung ab dem späten 17. Jahrhundert kamen ja viele neue Lehren auf, die zum ersten Mal den „blinden“ Glauben in Frage stellten oder versuchten, diesen zu widerlegen. In der Mitte des 19. Jahrhunderts fasste die Lehre des sogenannten Darwi-nismus Fuss (Charles Darwin, britischer Naturforscher und Vater der Evolutionstheorie). Warum suchte der

Mensch nach einem anderen Sinn des Lebens, wenn er schon so lange einen hatte?

Der Sinn des Lebens ist sehr wichtig, aber das ist ja nur die eine Seite. Auf der anderen Seite muss sich das, was man glaubt, auch immer wieder an der Welterfahrung messen. Charles Darwin ist dafür ein gutes Beispiel. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gingen die meisten von einem statischen Naturbild aus. Die verschiedenen Tier- und Pfl anzenarten waren von Gott in ihrer aktuellen Form geschaffen worden und veränderten sich nicht. Darwin kam auf seiner mehrjäh-rigen Forschungsreise rund um die Welt zur Überzeugung, dass sich die Natur in einem ständigen Wandel befi ndet. Er sieht das Leid und die Grausamkeit in der Natur, seine eigene Tochter stirbt jung. Einen liebenden Gott kann er in all dem nicht fi nden. Dass sich Darwin nach alternativen Vorstellun-gen umsieht, kann ich nachvollziehen. Unser Glaube ergibt für uns nur dann Sinn, wenn er sich in unserem täglichen Le-ben bewährt. Ob dieser Glaube auch der Wahrheit entspricht, ist damit allerdings nicht automatisch mit entschieden.

Ist es schlechter für die Menschen, wenn sie nach ande-ren Antworten oder Möglichkeiten suchen, anstatt beim guten alten „Vater-Unser“-Glauben zu bleiben?

Ich fi nde es nicht schlecht, wenn Menschen ihren Glauben immer wieder hinterfragen. Schlussendlich ist der christli-che Glaube ja nicht einfach „blinder“ Glaube, sondern eine Frage des Vertrauens. Glaube im biblischen Sinn ist nicht

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COGITO ERGO SUMINTERVIEW MIT DR. DR. BEAT SCHWEITZERZELL- UND MOLEKULARBIOLOGE & THEOLOGETHEOLOGISCHES SEMINAR ST. CHRISCHONA – LEITER COMMUNITY, PROJEKTLEITER FERNSTUDIUM

zu verstehen als ein „für wahr halten“, sondern als Vertrau-en in Gott. Damit wird der Glaube zu einer Beziehungsfrage und dynamisch. Und wie wir aus unseren menschlichen Be-ziehungen wissen, muss man ständig daran arbeiten. Den eigenen Glauben, die eigenen Gottesvorstellungen immer wieder zu hinterfragen, ist für mich ein Arbeiten an meiner Beziehung zu Gott. Da dies ja nicht im luftleeren Raum ge-schieht, sondern auf einer Vertrauensbasis, darf ich da ge-trost Fragen stellen.

Oft hört man von Wissenschaftlern, die erst während oder gerade aufgrund ihrer Arbeit anfi ngen, an einen Schöpfer zu glauben. Sind das Ammenmärchen, die von übereifrigen und nach Anerkennung suchenden Chris-ten erfunden wurden?

Das hört man tatsächlich immer wieder. Doch ich fi nde die Aussage ziemlich unrefl ektiert. Der christliche Glaube ist nicht unbegründet. Die Auferstehung Christi ist zwar nicht bewiesen, aber das Grab war leer. Zudem gibt es mehr als 500 Zeugen, die Jesus nach seinem Tod begegnet sind (vgl. 1. Kor 15). Klar kann ich die heute nicht mehr fragen, aber zur Zeit der Verfassung des 1. Korintherbriefes waren von diesen Zeugen bestimmt noch viele am Leben.

Auch naturwissenschaftlich gibt es keinen Grund, weshalb ich nicht an Gott glauben sollte. Per Defi nition sucht die Naturwissenschaft nämlich einzig nach innerweltlichen Erklärungsmöglichkeiten. Damit ist für sie Gott von Anfang

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an keine Erklärungsoption. Dass sie ihn dann auch nicht fi ndet, ist ja logisch. Wer auf Grund dieser Basis behaupten will, es gebe keinen Gott, sollte zuerst seine eigenen Voraus-setzungen überprüfen. Die aktuellen Forschungsergebnisse gerade aus der Astrophysik lassen sich sehr gut mit einem Gottesglauben vereinbaren. Für viele Forscher machen diese Ergebnisse nur mit einer Gottesvorstellung überhaupt Sinn.

Fragt nicht vor allem ein Wissenschaftler, der sich ein-gehend mit der Entstehung und dem Verhalten bzw. Än-derung von Materie und Energie beschäftigt, umso mehr nach dem Ursprung seines Seins? Alles, jedes Denken und jede Überlegung muss doch schlussendlich zu der einen Frage führen: "Wo fi ng das an?“

Es ist in der Tat so, dass gerade unter Physikern die Frage nach Gott oder nach einer höheren Instanz auf Grund der Forschungen der letzten Jahrzehnte wieder vermehrt ge-stellt wird. Noch vor 100 Jahren ging man davon aus, dass das Universum unendlich gross und unendlich alt ist. Doch heute geht die Wissenschaft davon aus, dass das Universum zwar riesig, aber trotzdem begrenzt ist. Und das auch zeit-lich. Alles deutet auf einen Anfang hin, der sich jedoch einer exakten naturwissenschaftlichen Untersuchung entzieht. Wer sich mit solchen Fragen beschäftigt, kommt sicher um die Frage einer Erstursache nicht herum.

Wer sich nicht intensiv mit den Naturwissenschaften aus-einandersetzt, wird wohl eher über andere Fragen bei Gott landen, z.B. die Frage nach dem Sinn im Ganzen.

Ich las vor Kurzem das Buch: „Schuf Gott durch Evolu-tion?“, was ich sehr interessant fand. Müssen sich die Erschaffung der Welt durch Gott sowie eine naturwis-senschaftliche Erklärung wie z.B. die Evolutionstheorie gegenseitig ausschliessen?

Ich fi nde nicht, dass sich Gottes Wirken und naturwissen-schaftliche Erklärungen gegenseitig ausschliessen müssen. Gott könnte zum einen durch Wunder wirken. Das ist natur-wissenschaftlich schwierig nachvollziehbar. Was ja logisch ist, denn die Defi nition eines Wunders ist ja die Nicht-Er-klärbarkeit durch natürliche Vorgänge. Gott kann sich aber ebenso gut natürlicher Vorgänge bedienen, um sein Ziel zu erreichen. Für den Beobachter ist es dann unmöglich zu un-terscheiden, ob jetzt Gott gewirkt hat oder nicht.

Der ganze Streit um die Evolutionstheorie ist ein tolles Bei-spiel dafür. Entweder Gott oder Evolution. Doch diese beiden Optionen müssen nicht notwendigerweise Gegensätze sein. Sie sind nur dann Gegensätze, wenn ich von einem bestimm-ten Bibelverständnis herkomme. Die ganze Kreationismus-Debatte ist deshalb im Grunde ein Streit darum, ob die Bibel wortwörtlich verstanden werden muss oder nicht. Wer Gott hier mehr Spielraum lässt, muss nicht in Gegensätzen denken.

Dann gibt es ja auch die Streitgespräche um „Aliens“. Das Hauptargument von Christen gegen ausserirdi-sches Leben ist, dass nirgends in der Bibel solches er-wähnt wird. Gibt es noch mehr Gründe, nicht an anderes Leben zu glauben und was glaubst du?

Ich habe in der Bibel tatsächlich noch keine Hinweise auf Ali-ens gefunden. Allerdings habe ich auch das Gegenteil noch nicht gefunden. Die Bibel erscheint gegenüber Aliens also ziemlich neutral.

Die naturwissenschaftliche Forschung ist diesbezüglich si-cher nicht neutral. Der Fachbereich der Astrobiologie stellt sich dieser Frage intensiv. Programme wie SETI (= Search for Extraterrestrial Intelligence) suchen seit Jahren nach Spuren von Intelligenz und Leben in den Weiten des Alls. Bisher allerdings ohne Erfolg. Allerdings ist das Universum ganz schön gross. Experten gehen davon aus, dass es aus ca. 100 Milliarden Galaxien besteht. Die Vorstellung, dass es in einer dieser Galaxien irgendwo noch Leben gibt, ist meiner Meinung nach nicht unbegründet. Auf der anderen Seite beobachtet man im Universum eine verblüffende Feinab-stimmung wichtiger physikalischer Konstanten. Kleinste Abweichungen derselben hätten dazu geführt, dass kohlen-stoffbasiertes Leben nicht möglich wäre. Zudem liegt unser Planet Erde in einer privilegierten Region in unserer Galaxie, die ihm den nötigen Schutz und die richtigen Bedingungen für Leben, wie wir es kennen, bietet. Man spricht hier vom „Fine-Tuning“ und vom „Anthropischen Prinzip“. Aber eben: Bei 100 Milliarden anderen Galaxien ist es schon denkbar, dass auf einem anderen Planeten ebenfalls günstige Bedin-gungen herrschen. Persönlich gehe ich nicht davon aus. Das ist allerdings ein Bauchgefühl und wohl mitgeprägt durch das Denken unserer Zeit, in welcher der Mensch das Mass aller Dinge zu sein scheint.

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Ist Agnostizismus nicht die beste Antwort auf die Frage nach der Existenz Gottes? Wir können weder wissen, ob er ist, noch, ob er nicht ist.

Ich fi nde den Agnostizismus eine riskante Antwort. In mei-nen Augen verleitet er dazu, denkfaul zu werden und sich auf dem auszuruhen, was man nicht weiss. Der Agnostizis-mus bleibt einfach bei der offenen Frage stehen. In der Tat scheint mir die Frage nach Gott zwar nicht abschliessend beantwortbar, ich fi nde aber, dass man dennoch über gute Gründe für eine Existenz oder eine Nicht-Existenz Gottes nachdenken sollte. Du musst dir einfach die Bereitschaft be-wahren, deine momentane Sichtweise immer wieder neu zu hinterfragen und anzupassen.

Wie sieht es mit christlicher Archäologie aus? Es gibt Bücher über Ausgrabungsstätten, an denen „Beweise“ dafür gefunden wurden, dass die Bibel stimmt. So zum Beispiel in dem Buch „Und die Bibel hat doch Recht“. Es gibt viele Christen, die sich gegen solche „christlichen Archäologen“ wehren. In ihren Augen versucht man mit-tels Archäologie etwas zu beweisen – der Glaube setzt jedoch das blinde Vertrauen voraus. Was denkst du?

Ich fi nde es wichtig, dass die Archäologie und die Geschichts-forschung bestätigen können, was in der Bibel überliefert

wird. Wenn es für Jesus von Nazareth keine historischen Hinweise gäbe, wie könnten wir uns sicher sein, dass dieser Mann wirklich gelebt hat. Und soll ich dann glauben, dass ein Mann, der vielleicht gelebt hat, Gottes Sohn sein soll? Hier gibt uns die Archäologie ein wichtiges Fundament, indem sie zeigt, dass die biblischen Geschichten von ihrem histori-schen Gehalt her nicht einfach erfundene Geschichten sind. Ob dann Jesus auch tatsächlich der Sohn Gottes ist oder ob Gott tatsächlich zu Abraham gesprochen hat, das kann die Archäologie nicht beweisen.

Und zuletzt: Was ist für dich persönlich der grösste Be-weis dafür, dass Gott existiert?

Ich selber würde nicht von Beweisen, sondern von Hinwei-sen oder Indizien sprechen. Der wichtigste Hinweis für die Existenz (eines) Gottes ist für mich die Feststellung, dass es überhaupt etwas gibt. Warum ist nicht Nichts? Die Tatsache, dass es dich und mich gibt, dass es Materie und Naturgesetze überhaupt gibt, lässt sich mit einer Gottesvorstellung besser verstehen, als ohne. Deshalb ist das für mich der grösste Hin-weis auf Gott.

Autorin: Alejandra Martinez

Folgende Fachliteratur wird zur weiteren Auseinandersetzung und intensiveren Beschäftigung mit dieser Thematik von Beat Schweitzer empfohlen:

John Lennox

Hat die Wissenschaft Gott begraben?

Eine kritische Analyse moderner Denkvoraussetzungen

Alister E. McGrath

Naturwissenschaft und Religion – eine Einführung

Ian G. Barbour

Naturwissenschaft trifft Religion: Gegner, Fremde, Partner?

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= = = = =GLEICH ≠ GLEICH

So oder so ähnlich argumentierten einige meiner Bekannten, wenn das Gespräch auf Glauben, Gott und die Kirche kam. Und in der Tat, es gibt etliche Gemeinsamkeiten in den gros-sen Weltreligionen: Die Vorstellung eines Schöpfergottes ist z.B. keine Spezialität des Christentums. Neben den drei mo-notheistischen Religionen (Glaube an einen alleinigen Gott) Judentum, Christentum und Islam teilen viele andere Religi-onen diese Idee, dass unsere Welt und das Universum auf das Werk Gottes zurückgeht. Unzählige Schöpfungsmythen aus verschiedenen religiösen Traditionen erzählen von der Er-schaffung dieser Welt durch ein göttliches Wesen. Aber auch Erzählungen über die Sintfl ut oder Vorstellungen über das Gericht Gottes fi nden sich in etlichen Religionen. Sind wir also nun alle gleich oder sind wir uns einfach nur ähnlich?

Manches Mal habe ich mich in solchen Gesprächen gefragt, welches Motiv hinter diesem Argument „alle Religionen sind doch gleich...“ steckt. Bedeutet das, dass die Beliebigkeit der Religionen eine ernsthafte Auseinandersetzung damit überfl üssig macht? Oder soll mit der Aussage klargestellt werden, dass keine Religion für sich den Anspruch der Ex-klusivität erheben darf? „Unterschiede sind verboten!“ Wer etwas anderes behauptet oder sogar die Andersartigkeit he-rausstreicht, gilt dann schnell als intolerant und potentiell fundamentalistisch.

Szenenwechsel. Es ist Dienstag, 18:00 Uhr und ich sitze am Runden Tisch der Religionen. Er wurde 2007 von der Kan-tonalen Integrationsstelle Basel-Stadt ins Leben gerufen. Vertreter von rund 17 verschiedenen Religionen sitzen zu-sammen. Die in den beiden Basel öffentlich-rechtlich an-erkannten Kirchen, die beiden Dachverbände Evangelische Allianz und die Basler Muslim-Kommission. Ausserdem sind die Serbisch-Orthodoxe Kirche, die Islamische Gemeinschaft Bosniens, der Hindutempel Basel und die Baha’i-Gemeinde dabei. Seit Jahren beteilige ich mich als Vertreter der Evan-gelischen Allianz an diesem Runden Tisch, an dem es durch-aus auch mal eckig zu und her geht.

Dieses Mal sind wir zu Gast in einer Moschee in Basel. Wir treffen uns jeweils in einem der Räume der verschiedenen Religionsgemeinschaften. Heute gibt es sogar eine Füh-rung. Schuhe ausziehen ist angesagt. Hoffentlich habe ich kein Loch in meinen Socken, schiesst es mir durch den Kopf. Wäre ja peinlich. Kurzer Blick nach unten... alles klar! Dann folgen Erklärungen über Waschungen, Fastenzeiten, Opfer, Wallfahrten, Gebete, Almosengaben. Obwohl mir manches aus meinem Glauben ähnlich erscheint, bleibt mir sehr vie-les fremd. Anders. Sehr anders! Nein, wir glauben defi nitiv nicht dasselbe! Anschliessend geniesse ich die grosszügige Gastfreundschaft der Hausherren.

26 — GLEICH ≠ GLEICH

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= = ?

27 — GLEICH ≠ GLEICH

«IM GRUNDE GENOMMEN GEHT ES DOCH BEI ALLEN GROSSEN WELTRELIGIONEN IMMER UM DASSELBE: AUF DER EINEN SEITE STEHT EIN ALLMÄCHTIGER GOTT UND AUF DER ANDEREN SEITE WIR MENSCHEN, DIE DIESEN GOTT IRGENDWIE ERNST NEHMEN UND DANN AUCH ETWAS FÜR IHN TUN ODER LASSEN SOLLTEN, UM DADURCH EIN SINNVOLLES LEBEN ZU LEBEN. DIE UNTERSCHIEDE ZWISCHEN DEN RELIGIONEN SIND HÖCHSTENS KULTURELL GEFÄRBT UND MARGINAL.»

Mit meinem Tischnachbarn, einem Hindu aus der Region, unterhalte ich mich angeregt über sein Bauprojekt: Den Bau eines Tempels. Die Schwierigkeiten, die er beim Umbau schildert, kommen mir bekannt vor: Feuerpolizei, Schall-schutzaufl agen und Kanaldichtigkeitsprüfungen machen auch vor Hindutempeln und ICF-Hallen keinen Halt! Eine Gemeinsamkeit, die wir ganz sicher haben, ist der rege Austausch mit dem Bauinspektorat! Aber unseren Glauben – nein, den teilen wir nicht! Und das muss und will ich auch nicht! Wir sind uns sogar einig: Es gibt grosse Unterschiede. Die Vorstellung, dass dieser Gott des Christentums sich als Mensch mitten unter uns Menschen begibt, einer von uns wird, aus reiner Liebe zu seinen Geschöpfen – diese Vorstel-lung kann mein Tischnachbar nicht mit mir teilen.

Je länger ich über diesen Satz „alle Religionen sind doch gleich...“ nachdenke, desto mehr regt er mich auf. Es gibt die Unterschiede. Und man darf und soll sie auch benennen dürfen! Diese eigenartige „Gleichmachung“ führt in eine falsche Richtung. Die Spannungsverhältnisse gilt es auszu-halten, besser gesagt, zu ertragen und zu tolerieren – nicht nur am Runden Tisch, sondern auch in meinem persönlichen Glauben! Toleranz bedeutet eben nicht, dass alles gleich sein muss, sondern dass man den Andersdenkenden und -glaubenden im besten Sinne toleriert, dass man ihn erträgt, OHNE ihn gleichmachen zu wollen!

Das ist das, was uns Jesus in unzähligen Begegnungen immer und immer wieder vorgemacht hat: Den Anderen annehmen und lieben, auch wenn er komplett anders denkt, lebt und glaubt. DAS ist in meinen Augen auch eine der tatsächlichen Besonderheiten des Christentums: Dass da ein allmächtiger Gott sich selbst begrenzt und es aus Liebe akzeptiert, dass seine Geschöpfe ihren eigenen Weg gehen! Mit allen Konse-quenzen.

Ich habe grossen Respekt für die Menschen, die ich am Run-den Tisch kennen gelernt habe. Und mit Jesus vor Augen möchte ich einen Teil meines Weges mit ihnen gehen, sie lieben und achten und für sie beten. Mit dem Wunsch, dass auch sie eines Tages diese grosszügige Liebe von Jesus ken-nenlernen können.

Autor: Ralf DörpfeldAutor: Ralf DörpfeldAutor: Ralf Dörpfeld

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