20081121 tanger d

5

Click here to load reader

Transcript of 20081121 tanger d

Page 1: 20081121 tanger d

Mißglückt Hongkongs Eingliederung?

Tanger als warnendes Beispiel

Von Raymond Saner

Die Übergabefeiern vom 1.Juli 1997sind bereits Geschichte, und die Hong-konger fragen sich ebenso wie die ganzeWelt, ob die rasche Aufhebung der in derletzten Phase der Kolonialzeit erlassenenGesetze durch die neuen Gesetzgeber be-reits den Anfang vom Ende der Idee »einLand − zwei Systeme« einläutet. HältChina seine Versprechen und wahrt dieIdentität und Autonomie Hongkongs,oder wird es den Prozeß der Eingliede-rung Hongkongs in das Mutterland be-schleunigen? Wird diese territoriale Ein-gliederung reibungslos oder mit Er-schütterungen verlaufen?

Die Auguren unter den immer zahl-reicheren Hongkong- und Chinaexper-ten scheinen ungeachtet ihrer unter-schiedlichen Standpunkte in ihren Vor-hersagen erstaunlich übereinzustimmen.In der überwiegenden Mehrzahl erwar-ten sie eine durchaus funktionsfähigeEhe, eine kleine Minderheit befürchteteinige Übergangskonflikte, aber prak-tisch niemand rechnet offen mit derMöglichkeit eines eindeutigen Fehl-schlags. Und wäre es nicht geradezu be-leidigend vorauszusagen, China werde esnicht gelingen, Hongkong auf friedli-che, konstruktive und harmonische Wei-se einzugliedern?

Es ist jedoch an der Zeit, dieses Tabuzu brechen und an das Sprichwort zu er-innern, wonach derjenige, der sich nichterinnert, immer wieder die gleichen Feh-ler macht. Es ist eine bekannte Tatsache,daß Gemeinschaftsunternehmen, Fusio-nen und Übernahmen im Privatsektorvor allem wegen der unvereinbaren Un-terschiede der Kulturen, sei es der Kul-tur der Gesellschaft oder der Unterneh-menskultur, scheitern. Das gleiche läßtsich von Fusionen in Gestalt territorialerEingliederungen sagen. Aus ähnlichen

Eingliederungen völlig anderer Kultu-ren zu lernen, könnte deshalb für China,für Hongkong und für die ganze Weltnützlich sein. Denn viel steht auf demSpiel, nicht zuletzt das Schicksal vonsechs Millionen Menschen, die in dieserüberaus blühenden und dynamischenStadt leben.

Wie verliefen beispielsweise die Ein-gliederungen der Hafenstädte Hamburg,Triest oder Tanger in ihr jeweiliges Mut-terland? Besonders der letzte Fall ist in-teressant, er ist der jüngste seiner Art,und auch hier wurde eine blühende,hochentwickelte und international aus-gerichtete Hafenstadt in ein armes, un-terentwickeltes und nach innen gewand-tes Mutterland eingegliedert.

Tangers lange Geschichte geht bis aufdie Phönizier und Römer zurück, seineinternationale Bedeutung begann jedocherst mit einem britisch-marokkanischenHandelsvertrag im Jahr 1856, der denWarenverkehr über Tanger ankurbelte.Kolonialkriege und Annektierungenmarokkanischer Gebiete durch Spanienund Frankreich in der zweiten Hälfte des19.Jahrhunderts zwangen den SultanMarokkos, die InternationalisierungTangers zu akzeptieren. Angesichts ihrerstrategischen Lage an der Nahtstelle zwi-schen Atlantik und Mittelmeer und ge-genüber von Gibraltar, bestand Großbri-tannien darauf, daß diese Hafenstadtneutralisiert wurde, um den Einfluß sei-ner traditionellen Rivalen Frankreichund Spanien einzudämmen. Nach mehr-jährigen Verhandlungen erhielt Tangereinen internationalen Status, der zwarmehrfach geändert wurde, aber von 1923bis 1956, dem Jahr, in dem Marokkounabhängig wurde, Bestand hatte. AlsSonderzone behielt Tanger eine gewisseAutonomie, bis es 1960 mit einem grö-

Marginalien 651

Page 2: 20081121 tanger d

ßeren Gebiet seines Hinterlandes ver-einigt und damit zu einer Stadt wie alleanderen marokkanischen Städte wurde.

Ein umfassender Vergleich zwischenHongkong und Tanger ist hier nichtmöglich. Und kann man eine Stadt inNordafrika mit einer ostasiatischen Stadtwie Hongkong überhaupt vergleichen?Die einschlägigen statistischen Zahlenüber Handel und Wirtschaftswachstumlassen aber schnell erkennen, welche ge-waltige Macht die Stadt einmal inner-halb kurzer Zeit als Stapelplatz, Freihan-delszone, Finanzzentrum und Hafen mitmultikultureller Toleranz entwickelthatte. In seinen Glanzzeiten gab es inTanger französische, spanische, englischeund arabische Tageszeitungen, Rund-funk- und Fernsehstationen von inter-nationalem Ruf, Generalkonsulate allerwichtigen Länder der Welt und danebendie großartigen Villen berühmterSchriftsteller, Künstler und Filmstars.1

1 Vgl. Michelle Green, The Dream at the End of the World. New York: HarperCollins 1991.

Der Reichtum der Stadt war ebenso le-gendär wie ihr Geist der freien Markt-wirtschaft, von dem alle Teile der Bevöl-kerung durchdrungen waren − Christenund Juden, Muslime, Europäer, Araber,Amerikaner ebenso wie alle anderen eth-nischen oder konfessionellen Gruppen.

Für den Vergleich zwischen Hong-kong und Tanger von Belang sind die Er-eignisse in der Übergangsphase Tangersvon 1956 bis 1960. Freier Handel beruhtweitgehend auf der Existenz liberalerHandelsvorschriften, einer nichtinter-ventionistischen Regierung sowie kom-petenter und gegen Bestechung gefeiterBeamter. Dies alles gab es in Tanger, bisMarokko zum Zeitpunkt der Eingliede-rung die Spielregeln änderte, obwohl esdas Gegenteil versprochen hatte, näm-lich die einzigartigen politischen undverwaltungstechnischen Verhältnisse inTanger auch weiterhin zu gewährleisten.

Statt dessen wurde der freie Devisen-handel unterbunden und die Landeswäh-

rung als offizielle und einzige Währungeingeführt. Die Beamten erhielten zu-nächst die Erlaubnis, mehrere Pässe zubesitzen, wurden aber später gezwungen,den marokkanischen Paß zu nehmen undjede andere Staatsangehörigkeit aufzuge-ben oder aber ihren Arbeitsplatz zu ver-lieren. An die Stelle der zuvor völlig frei-en Besitzanteile an den Unternehmentrat ein obligatorischer marokkanischerMehrheitsanteil von mindestes 51 Pro-zent. Zeitungen in fremder Sprache wur-den zensiert, private fremdsprachigeSchulen geschlossen und die bisher ander internationalen Praxis ausgerichte-ten Rechtsverfahren dem traditionellenmarokkanischen Recht − bestehend ausübernommenem französischem Rechtund muslimischer Scharia − angegli-chen.

Alle diese Veränderungen bedeuteteneinen Vertrauensverlust und führten zueinem massiven Exodus von Kapital undMenschen. Von 1956 bis 1958 gingendie Ausfuhren um fast 53 Prozent zu-rück, und die Goldguthaben wurdennach Europa transferiert.2

2 Vgl. Jean-Louis Miege u.a., Tanger, port entre deux mondes. Paris: ACR Edition 1992.

Bankiers undDiplomaten verließen ihre Villen, undTausende seit Generationen ansässigenichtarabische Einwohner verließen inaller Eile das Land, wodurch der Anteilder nichtarabischen Bevölkerung vonmehr als 30 Prozent im Jahr 1959 aufweniger als ein Prozent im Jahr 1990 zu-rückging. Da inländische Wanderungs-bewegungen kaum kontrolliert wurden,strömten Tausende armer Bauern in dieStadt, die von dem höheren Lebensstan-dard angelockt wurden. Dadurch bra-chen die materiellen und sozialen Infra-strukturen zusammen, es kam zu Le-bensmittelknappheit, Arbeitslosigkeit,Inflation und einem deutlichen Absin-ken des Hygienestandards.3

3 Vgl. Lawdom Vaidon, Tanger, A Different Way. London: Scarecrow Press 1977.

Vom Standpunkt der jeweiligenHauptstadt aus betrachtet, haben Pe-king und Rabat ähnliche Sorgen. Das an

652 Marginalien

Page 3: 20081121 tanger d

der Peripherie Marokkos liegende Tan-ger mit seiner jahrzehntelangen ausge-prägt internationalen Ausrichtung undseinem hohen Anteil an Ausländern warauf Grund seiner strategischen Positionam Meer für Einflüsse von außen offenund damit ein potentielles Sicherheits-risiko für den zentralistisch angelegtenmarokkanischen Nationalstaat. Es warauch kulturell der großen marokkani-schen Minderheit der Berber näher ver-wandt, die etwa 30 bis 40 Prozent derBevölkerung Nord-Marokkos ausmach-ten und die seit jeher für weniger Zen-tralregierung durch eine überwiegendvon Arabern dominierte Aristokraten-und Technokratenklasse optierten.

Peking muß bei der EingliederungHongkongs ähnliche Aspekte berück-sichtigen. Die Stadt ist weltoffen, undihre Einwohner sind Ausländer sowieChinesen, die Kantonesisch sprechenund sich ihren südchinesischen Nach-barn näher fühlen als den Bürokraten ausBeijing: Deren Sprache ist Mandarin,und sie stehen für Zentralismus und an-tidemokratische Vernebelungstaktiken;kulturelle Freiheit bekämpfen sie alsgefährliches, vom Westen importiertesGedankengut.

Vom Standpunkt der nationalen Ein-heit haben beide Länder auch ähnlicheSorgen in bezug auf die Unverletzbarkeitihrer territorialen Grenzen. Die Einglie-derung Hongkongs tangiert auch dasheikle Problem Taiwan und etwaige Ten-denzen, die zum Auseinanderfallen undzur Aufsplitterung Chinas führen könn-ten. Daher die Nervosität bei der bloßenErwähnung der Unabhängigkeit Tai-wans oder Hongkongs und die Betonungvon Patriotismus und Gehorsam gegen-über dem Mutterland.

Marokko führt seit langem einenKampf in einem Gebiet der Westsahara,das früher spanischer Kolonialbesitz warund dessen Führer heute die Unabhän-gigkeit fordern, worin sie von einigenLändern unterstützt werden. Marokkohat seine Ansprüche auf dieses Gebietausgedehnt und mußte in der Folgemehrere bewaffnete Auseinandersetzun-

gen führen, um die Kontrolle über dengrößten Teil der Westsahara zu gewin-nen. Es ist fest entschlossen, seine Gren-zen um dieses Gebiet zu erweitern. Des-halb hat Marokko auch immer wieder dienationale Einheit, die Unterstellung un-ter die Zentralregierung und den geist-lich-kulturellen Primat des herrschen-den Königs betont. Forderungen vonim Untergrund operierenden Gewerk-schaftsführern nach einer Abschaffungder Monarchie und Einführung einerparlamentarischen Demokratie sind vomKönig aktiv bekämpft worden.

Unter dem Gesichtspunkt der natio-nalen Einheit ist es nachzuvollziehen,daß die zentralistisch-nationalistischenKräfte die wirtschaftliche Abhängigkeitihres Landes von einer einzigen Hafen-stadt verringern wollten, die nach ihrerAnsicht auch noch unter ausländischemEinfluß stand. Marokko baute deshalbCasablanca zu einer Hafenstadt aus, umden dominierenden wirtschaftlichen undkulturellen Einfluß Tangers zu beschnei-den. China könnte in gleicher Weise ge-neigt sein, die Entwicklung Shanghaiszu fördern, um aus wirtschaftlichen wieaus politischen Gründen die beherr-schende Position Hongkongs zu schwä-chen. Im Hinblick auf das innere Gleich-gewicht und die Gleichstellung der ein-zelnen Provinzen sind solche Bestrebun-gen durchaus verständlich, sie könntenjedoch den plötzlichen Zusammenbruchgerade der Stadt zur Folge haben, die diezum Aufbau des Landes erforderlichenfinanziellen und technischen Ressourcenliefert.

In Tanger kam es zu einem solchenZusammenbruch, den Marokko zwarüberlebte, aber nur auf Kosten einesgewaltigen Verlustes an wirtschaftlicherund kultureller Vitalität. Mittlerweileist Marokko bemüht, seine Fehler aus-zubügeln, indem es beispielsweise dasGebiet von Tanger zu einer Sonderwirt-schaftszone erklärt und Ausländern gün-stige Investitionsmöglichkeiten anbie-tet. Diese Versuche sind bis jetzt erfolg-los geblieben. Um das Vertrauen der in-ternationalen Investoren wiederherzu-

Marginalien 653

Page 4: 20081121 tanger d

stellen, bedarf es Rahmenbedingungen,die der wirtschaftlichen und sozialenDynamik Auftrieb geben, die Toleranzzwischen den einzelnen Bevölkerungs-gruppen und Konfessionen fördern undAusländer anlocken, die schließlich einunerläßliches Element der globalenWirtschaft sind. Solche Offenheit undgesellschaftliche Toleranz lassen sichjedoch nicht nur durch Verordnungenerzielen.

Um das Vertrauen der Investoren zugewinnen und zu erhalten, sind Zeit, Er-fahrung, Offenheit und ein fester Willeerforderlich. Ein freier Handel setzt einsolides Regierungs- und Verwaltungssy-stem voraus: verläßliche und transparen-te Vorschriften, diskriminierungsfreieBehandlung von Personen und Unter-nehmen, ständige Überwachung undAhndung korrupten Verhaltens der

Staatsdiener, garantierte Zugangsmög-lichkeiten zu den öffentlichen Dienstenfür alle Mitglieder der Gesellschaft, Ver-meidung von Monopolstellungen so-wohl privater als auch öffentlicher Un-ternehmen. Ein Vertrauensverlust dage-gen läßt sich an ganz konkreten Sympto-men ablesen, wie etwa einem drastischenAnstieg spekulativer Aktien- und Im-mobiliengeschäfte, wachsenden Infla-tionsraten, Devisenhortung und einersich plötzlich ausweitenden Flucht vonKapital und Menschen ins Ausland.

Genau diese Symptome waren vordem Zusammenbruch Tangers zu ver-zeichnen. Das Auftauchen solcher Sym-ptome sollte der neuen Hongkonger Re-gierung und vor allem den Regierungs-stellen in Beijing, die diese schwierigeÜbergangsphase in den Griff bekommenmüssen, als Warnung dienen.

654 Marginalien

Page 5: 20081121 tanger d

Note: This publication has been made available by CSEND.org with the agrement of the author.

The Centre for Socio-Eco-Nomic Development (CSEND) aims at promoting equitable, sustainable and integrated development through dialogue and institutional learning.

Diplomacy Dialogue is a branch of the Centre for Socio-Eco-Nomic Development (CSEND), a non-profit R&D organization based in Geneva, Switzerland since 1993.