2009_35 Krieg Der Deutschen 1939

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Der Spiegel-2009/35

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Dachzeile

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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Deutschland war geteilt, die Welt betrauerte rund 60 Millionen Tote, und die Frage,wer das Inferno des Zweiten Weltkriegs zu verantworten habe, wurde nach 1945

eher schlicht beantwortet: Skrupellos habe Adolf Hitler seine Expansionspläne ver-folgt. 70 Jahre nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 führe dieUrsachenforschung, so Titelautor Klaus Wiegrefe, 44, „zu differenzierteren Ergeb-nissen“. Im Fokus stehe heute mehr das Versagen der deutschen Eliten – und dieDebatte darüber, ob Großbritannien oder Frankreich den Krieg hätten verhindernkönnen. Einer der Frontsoldaten war der ehemalige Bundespräsident Richard von

Weizsäcker, 89. Im SPIEGEL-Gespräch mit denRedakteuren Martin Doerry, 54, und Wiegrefespricht er über den Tod seines Bruders Heinrich,der am zweiten Kriegstag fiel, ein paar hundertMeter neben ihm. Der Inlandsauflage liegt eineDVD von SPIEGEL-TV-Autor Michael Kloft, 48,zum Thema bei. Am 29. August sendet Vox ab20.15 Uhr unter dem Titel „Der seltsame Sieg“eine vierstündige SPIEGEL-TV-Dokumentationüber den Frankreich-Feldzug (Seite 58).

Sie sollten, im Regierungsauftrag, US-Diplomaten im Irak schützen und wurdendurch mutmaßliche Kriegsverbrechen bekannt: Mitarbeitern der amerikanischen

Sicherheitsfirma Blackwater werden etliche Morde zur Last gelegt. Gabor Steingart, 47,SPIEGEL-Korrespondent in Washington, nahm mit ehemaligen Blackwater-Bediens-teten Kontakt auf und zeichnet die Geschichte eines Söldner-Unternehmens nach, das,so Steingart, „für die Düsternis der Amtszeit des Präsidenten George W. Bush steht“.An diesem Freitag entscheidet ein Bundesgericht, ob eine Klage gegen die Firma, diesich mittlerweile in Xe umbenannt hat, zugelassen und ein dunkles Kapitel der US-Außenpolitik aufgearbeitet wird (Seite 86).

Monatelang prüften SPIEGEL-Reporter Mar-kus Grill, 41, und Mitautorin Martina Kel-

ler, 49, die seltsamen Verbindungen zwischenrechtsmedizinischen Instituten in der Ukraineund der bayerischen Firma Tutogen. In Tausen-den Seiten interner Protokolle und Lieferlisten,die ihnen zugespielt worden waren, fanden sieHinweise darauf, dass das Unternehmen in derUkraine einer Vielzahl von Leichen Knochenund Muskeln entnehmen ließ, um sie für eine weitere Verwendung aufbereiten zu lassen. Angehörige der Verstorbenen sollen darüber allenfalls unzureichend informiert worden sein. Die Beteiligten schwiegen zumeist; immerhin gewährteWladimir Jurtschenko, Leiter der Rechtsmedizin in Kiew, Einblick in die Geschäfts-praktiken von Tutogen (Seite 76).

Beschwerlich war der Weg, den die Familie Kazim zurücklegenmusste, nachdem sie in den siebziger Jahren Pakistan verlassen

hatte und nach Deutschland gekommen war. Hasnain Kazim, 34, in-zwischen Südasien-Korrespondent für SPIEGEL und SPIEGEL ON-LINE mit Sitz in Islamabad, beschreibt im neuen SPIEGEL-ONLINE-Buch „Grünkohl und Curry“ (dtv; 14,90 Euro), wie schnell seinerFamilie die Integration gelang – und warum die Kazims dennoch 16 Jahre auf die deutsche Staatsbürgerschaft warten mussten.

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Wiegrefe, Weizsäcker, Doerry

Keller, Jurtschenko, Grill in Kiew

Hausmitteilung24. August 2009 Betr.: Titel, USA, Tutogen, Buch

Im Internet: www.spiegel.de

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In diesem Heft

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Schwache Schulnoten Seite 36

Wie gerecht geht es im Klas-senzimmer zu? Wenn Lehrerihre Schüler benoten, berück-sichtigten sie nicht nur derenLeistung, sagt der deutschePisa-Chef und Bildungsfor-scher Eckhard Klieme. DieZensuren seien insofern nichtobjektiv, die Zeugnisse nichtvergleichbar. Nach Meinungdes Forschers sollte deshalbnicht allein die Abiturnotedarüber entscheiden, ob je-mand einen Studienplatz er-hält. Schüler mit Zeugnissen in Siegen

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Schwierige Wunschkoalition Seite 20

Ob es für eine schwarz-gelbe Koalition reicht, ist die spannendste Frage des Wahl-kampfs. Kanzlerin Merkel und FDP-Chef Westerwelle sprechen von ihrer Wunsch-koalition, doch anders als noch vor vier Jahren fehlt Union und FDP ein gemeinsamesProjekt. Klar ist bislang nur, dass sie nicht mehr neoliberal sein wollen. Personell wäreSchwarz-Gelb in vielem eine Wiederholung der Kohl-Ära. Manche Parteifreundeglauben, Merkel wäre die Fortsetzung einer Großen Koalition sogar lieber.

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Das gruselige Geschäftmit Leichenteilen Seite 76Im Medizinbetrieb hat sich ein lukrativer Handelmit Leichenteilen entwickelt. Weltweit verwertenUnternehmen alles, was der Körper zu bieten hat:Knorpel, Muskelhüllen, Haut. Auch eine deutscheFirma mischt in dem Geschäft mit: Sie beziehtKnochen Verstorbener aus der Ukraine. Mediziner im OP

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Titel

Der Zweite Weltkrieg kostete rund 60 MillionenMenschen das Leben – warum wurde Hitlernicht gestoppt? ................................................. 58SPIEGEL-Gespräch mit Richard von Weizsäckerüber seinen Dienst in der Wehrmacht und denKriegsverbrecherprozess gegen seinen Vater .... 70

Deutschland

Panorama: Schweizer Briefkastenfirma sollWadan-Werften finanzieren / Bei Wahlsiegwill Steinmeier Afghanistan-Abzug aushandeln /Ex-Stasi-Spion sponsert Zweitligisten Union Berlin ............................ 15Bundestagswahl: FDP und Union streiten über den Kurs einer möglichenschwarz-gelben Koalition .................................. 20Kommentar: Warum die Wahlkampfstrategievon SPD-Chef Müntefering gescheitert ist ........ 24Linke: Oskar Lafontaine will die SPD im Saarland und in Thüringen in rot-rote Bündnisse locken ............................ 26Karrieren: Der einstige Kohl-Berater und SED-Kritiker Gerhard Besier soll für die Linke in den sächsischen Landtag einziehen .............. 27Umwelt: Interview mit dem künftigenPräsidenten des Umweltbundesamts, Jochen Flasbarth, über Klimaschutz undElektroautos ..................................................... 28Terrorismus: Die Bundesanwaltschaftermittelt erneut gegen die frühere RAF-Terroristin Verena Becker ............ 29Affären: Das misslungene Krisenmanagementvon Gesundheitsministerin Ulla Schmidt ......... 30Politikberatung: Die dürftige Bilanz des Deutschen Ethikrats ................................... 32Polizei: Spektakuläre Mafia-Ermittlungen inBerlin scheinen sich als Posse zu erweisen ....... 34Bildung: Interview mit dem deutschen Pisa-Chef Eckhard Klieme über Sinn und Unsinn von Schulnoten ..................... 36Unternehmen: Siemens wird hochrangigeManager aus Korruptionszeiten nicht los ......... 38Bayern: Die CSU-nahe Hanns-Seidel-Stiftungunterstützte kroatische Rechtsextremisten ....... 39Umwelt: Der Kali-Bergbau an der Werrabedroht die Natur – eine Pipeline zur Nordseekönnte das Problem lösen ................................ 42

Gesellschaft

Szene: Bildband über künstliche Ferienparadiese / Die Angst der Rothaarigenvor dem Zahnarzt ............................................. 47Eine Meldung und ihre Geschichte – wie ein diebischer Fuchs in der Eifel wütete ..... 48Diplomatie: Die Republik Abchasienversucht, ein Staat zu werden .......................... 50Ortstermin: Wie ermittelt Deutschlanddie Kreditwürdigkeit seiner Bürger? ................ 57

Wirtschaft

Trends: Hausdurchsuchung in Privaträumen der Ex-Porsche-Bosse / Siemens und Bahn planenUS-Einstieg / BSH-Affäre zieht Kreise ............. 74Gesundheit: Wie die deutsche Firma Tutogen einen schwunghaften Handel mit Leichenteilen aufgebaut hat ............................. 76Anlegerschutz: Ermittler entdecken ein dubioses Netzwerk hinter dem Börsenguru Markus Frick ......................... 81Mode: Interview mit Designer Wolfgang Joopüber die Krise der Luxusbranche und dieZukunft seiner eigenen Marke Wunderkind ..... 82

Merkel Westerwelle

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Politik auf Rädern Seite 30

Der Dienstwagen ist der Ort, an dem Kanzler und Minister Macht ausüben, lieben,sterben, jubeln, verzweifeln und einen Freund fürs Leben finden. Der Bürger dagegenahnt schnell Anmaßung und Missbrauch – wie jetzt bei Ulla Schmidt.

Wahrheit und LegendeSeite 118

Mumia Abu-Jamal soll 1981 in Phila-delphia einen Polizisten erschossen ha-ben und wartet seitdem auf seine Hin-richtung. Seine Unterstützer, darunterSchriftsteller und Nobelpreisträger, hal-ten ihn für unschuldig. Was aber, wenner ein falscher Held ist?

Lagerhaft für Chinas neue Süchtige Seite 136

China fürchtet eine neue Droge: ZehnMillionen Teenager gelten als internet-abhängig. Aus Sorge stecken viele Elternihre Kinder in zweifelhafte Entzugscamps.Dort arbeitet man manchmal mit Psycho-logie, meist mit militärischem Drill undoft mit Schlägen. Ein Junge wurde zuTode geprügelt.

Abu-Jamal-Graffito in Berlin

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Chinesen im Internetcafé

Söldner mit Mordauftrag Seite 86

Die CIA soll Mitarbeiter der Firma Blackwater für Anschläge auf Qaida-Terroristen rekrutiert haben. Das geht aus einem Memo hervor,in dem Mitglieder der Attentat-Teams genannt werden. Washington be-reitet sich auf eine weitere Debatte über das Erbe der Ära Bush vor.

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Obama, Blackwater-Kämpfer beim Training in den USA 2006

Ausland

Panorama: Der russische Nato-BotschafterDmitrij Rogosin über die Suche nach derverschwundenen „Artic Sea“ / Tourismusschock rund ums Mittelmeer ............ 84USA: Stellte Washingtons privateSöldnertruppe Auftragskiller für die CIA? ....... 86Afghanistan: Irak-erfahrene Marine-Infanteristen sollen Erfolg im Kampf gegendie Taliban erzwingen ...................................... 88Israel: Netanjahus Deutschlandbesuch –Stippvisite aus einem zerrissenen Land ............ 92Russland: Die vergessenen Terroropfer von Beslan .................................... 95Global Village: Wie Geschichtenerzählerin der Elfenbeinküste Frieden stiften wollen .... 97

Wissenschaft · Technik

Prisma: Airbus entwickelt Sinkflugautomatikfür den Notfall / Wahrheiten über die Spanische Grippe ............................... 98Medizin: Die Ära der klinischen Versuchemit embryonalen Stammzellen bricht an ........ 100Umwelt: Konzepte gegen Wasserverschwendung in Trockenregionen .... 102Computer: Wie gefährlich ist der Einzug selbständig handelnder Rechneran den Börsen? ............................................... 104Psychologie: SPIEGEL-Gespräch mit demAlternsforscher Hartmut Radebold und seiner Frau Hildegard über Leben, Lust und Leid mit siebzig ............................... 106

Sport

Szene: Wada-Chef David Howman über neueWege im Anti-Doping-Kampf / Verfahren gegenden Präsidenten von Eintracht Frankfurt ........ 111Leichtathletik: Die Geschichte der jüdischenHochspringerin Gretel Bergmann ................... 112

Kultur

Szene: Deutsche Architekten bauen an einerÖko-Oase in der Wüste bei Abu Dhabi / DerMusiker The Edge über die elektrische Gitarreund den Dokumentarfilm „It Might Get Loud“... 116Mythen: Der Heldenkult um den schwarzenTodeskandidaten Mumia Abu-Jamal ............... 118Bestseller ...................................................... 122Musik: Digital entstaubte Edition desGesamtwerks der Beatles ................................ 123Essay: SPIEGEL-Redakteur Dirk Kurbjuweitüber Politiker und ihre Dienstwagen .............. 128Dichter: Rüdiger Safranskis Geschichte derFreundschaft zwischen Goethe und Schiller ... 130Literaturkritik: „Der Tod meiner Mutter“ von Georg Diez .............................................. 134

Medien

Trends: Fia-Boss Mosley klagt weiter / KipptSpringers 68er-Tribunal? / Interview mitDésirée Nick über Männersuche via TV ......... 135Internet: Elektroschocks und Prügel – Chinasharte Entzugscamps für Computersüchtige ..... 136

Briefe ................................................................ 8Impressum, Leserservice ........................... 140Register ......................................................... 142Personalien ................................................... 144Hohlspiegel /Rückspiegel ........................... 146Titelbild: Foto AKG

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Kurzsichtigkeit des Homo politicusNr. 34/2009, Titel: Schrott sei Dank – Die Abwrack-prämie: Bilanz einer deutschen Subventions-Orgie

Krisen entstehen wie ein Stau auf derAutobahn und enden auch so. Die Vorher-sagen sind meist unscharf, wenn nicht garfalsch, doch im Nachhinein ist eigentlich al-len klar, dass es so kommen musste. Krisensind notwendig, sie korrigieren Fehlent-wicklungen der Märkte sowie der staat-lichen Interventionen und stellen alles aufden Prüfstand. Das weiß eigentlich jeder.Auch, dass sie zu Ende gehen. Und den-noch entfaltet jede Rezession ein absurdesSpektakel sich gegenseitig überbietenderstaatlicher Nothelfer, die mit dem Geld an-derer, auch künftiger Generationen, vorallem einem helfen wollen: sich selbst. Berlin Ralf Wagner

Es ist noch gar nicht so lange her, da spra-chen viele derer, die nun die Prämie loben,noch vom unbedingt notwendigen Sub-ventionsabbau. Und nun? Die Regierungerfindet eine komplett neue Subventionund schafft damit eine Anspruchshaltungin der Bevölkerung, die uns Steuerzahlernoch teurer zu stehen kommen könnte, alses die fünf Milliarden eh schon tun. Dem-nächst wird dann nämlich kaum noch einBürger bereit sein, sich ein neues Auto zukaufen, wenn der Staat (und damit die All-gemeinheit) ihm dies nicht auf irgendeineWeise finanziert. Dies ist wieder einmalein Beweis für die Kurzsichtigkeit desHomo politicus, der nur bis zur nächstenWahl denkt.Potsdam Martin Henniger

In der Diskussion der Experten zur Ab-wrackprämie bedaure ich einen Mangel anVertrauen in die Kräfte des Marktes. DieRolle des Gebrauchtwagenmarktes und der„Autos für Afrika“ wird unterschätzt undnur am Rande abgehandelt. Mit einer Alt-autoabgabeprämie aufgrund einer Export-bescheinigung anstatt einer Abwrack-garantie wäre das Ziel tatsächlich bessererreicht worden. Wehrheim (Hessen) Martin Dietz

Ja, in meinem Fall war es gut, dass es dieAbwrackprämie gab. Ich war gezwungen,im Juni meinen neun Jahre alten Peugeot206 abzuwracken: Drehstabfeder gebro-chen, Auspuff kaputt, TÜV fällig, alter 1,9-Liter-Saugdiesel mit roter Umwelt-zonenplakette, Kfz-Steuer-Erhöhung zu-sätzlich. Ich habe die 2500 Euro Abwrack-prämie eingesetzt für ein 2,99 Meter langesAuto made in Japan mit 99 Gramm CO2-

Emission und 68 PS bei 20 Euro Jahres-steuer (Hundesteuer ist teurer). Mehr Auto(Toyota iQ) braucht kein Mensch.Nidda (Hessen) Peter Hartung

SPIEGEL ONLINE Forum

Letztendlich lässt das ganze Subventions-theater um die Abwrackprämie nur fol-genden Schluss zu: Vor dem Hintergrundallgegenwärtiger Sorgen und Krisen hätteman diese verkaufsfördernde Maßnahmefür Neuwagen treffenderweise „Ablenk-prämie“ nennen sollen.Frankfurt am Main Pedro Ferreira

Die positive CO2-Bilanz, die im Artikelvorgerechnet wird, ist nur die halbe Wahr-heit über den ökologischen Sinn der Ab-wrackprämie. Die Herstellung eines Neu-fahrzeugs kostet neben Kohlendioxid auchsehr viel Material. Dieses wird aus wert-vollen (größtenteils nichtregenerativen)Rohstoffen gewonnen und verschwendet,wenn dafür ein funktionierendes Auto inder Schrottpresse landet. Was im Hinblickdarauf an der Abwrackprämie ökologischsein soll, bleibt mir ein Rätsel.München Robert Schmohl

Entschleunigung, Downsizing – schicke Vokabeln für eine hoffentlich real ein-tretende Bewusstseinsänderung, die derGrundfrage Rechnung trägt: Was sollWachstum denn noch bewirken in denwestlichen Gesellschaften, in denen die Be-völkerung schrumpft? Diese „heilige Kuh“gehört nun mal – zumindest im Westen –geschlachtet.Oettingen (Bayern) Heiner Stadlbauer

Ein Tempolimit für deutsche Autobahnenund strenge gesetzliche Vorgaben zur Ener-gieeffizienz neuer Kraftfahrzeuge sowieallgemein eine Verkehrsberuhigung undweniger CO2-Emissionen durch das der-zeitige Verkehrschaos auf deutschen Stra-ßen, dies alles würde deutlich mehr Vor-teile für Wirtschaft und Umwelt glei-chermaßen bringen. Die Abwrackprämiehingegen ist ein Stück aus dem Tollhauseiner völlig orientierungslosen etabliertenPolitik. Die absurde Abwrackprämie alsUmweltprämie zu titulieren ist der Gipfelan Zynismus.Hamburg David Perteck

Briefe

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„Alles muss raus! Der überalterte Karren, der schwächelnde, energiefressende Kühlschrank,die olle Ölheizung im Keller, das alte Haus, die Bruchbude, weg damit, her mit den staat-lichen Subventionen, lassen wir uns doch nicht lumpen. Die Antike glaubte ans Schicksal, die Christenheit glaubt an den Allmächtigen, diemoderne aufgeklärte Welt glaubt an den Staat.“

Dr. Friedrich Stentzler aus Berlin im SPIEGEL ONLINEForum zum Titel „Schrott sei Dank – Die Abwrackprämie: Bilanz einer deutschen Subventions-Orgie“SPIEGEL-Titel 34/2009

Diskutieren Sie auf SPIEGEL ONLINE• Titel Hat die Appeasement-Politik der Franzosen und

Briten zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs beigetragen?www.spiegel.de/forum/Weltkrieg2

• Karrieren Sollte Ulla Schmidt nach der Dienstwagen-affäre zurücktreten? www.spiegel.de/forum/UllaSchmidt

• Todesstrafe Ist der zum Tode verurteilte Mumia Abu-Jamal schuldig? www.spiegel.de/forum/Todesstrafe

Geheuchelte GrundsatztreueNr. 33/2009, Ministerpräsidenten: Im thüringischen

Landtagswahlkampf profitiert Dieter Althaus politisch von seinem schweren Skiunfall

Ihrem Porträt des thüringischen Minister-präsidenten fehlt eine kritische Betrach-tung seiner Amtszeit. Wie hat sich die Zahlder Arbeitsplätze entwickelt? Wie vieleSchulabgänger haben keinen Ausbildungs-platz? Wie hoch ist das Wirtschaftswachs-tum? Wie stark hat sich der FreistaatThüringen verschuldet? Gerade vor einerWahl sind es solche Fragen, die bei der

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Autoverschrottung in Salzgitter

Die „heilige Kuh“ Wachstum schlachten

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Entscheidung am 30. August eine Rollespielen (sollten). Homestorys sind eherdazu geeignet, von einer wenig erfolgrei-chen Bilanz abzulenken.Dresden Andreas Meißner

Es ist doch erstaunlich, wie Maßstäbe ver-schoben werden können: Der eine Politikerhat einen Menschen getötet und ist, vorallem dank des „Einsatzes“ bestimmterMedien, danach beliebter als vorher. Dieandere Politikerin wird von denselbenMedien wegen einer angeblichen Dienst-wagenaffäre öffentlich gekreuzigt, wobeisich im Nachhinein herausstellt, dass kei-nerlei rechtliches Vergehen vorliegt. Er-schreckend.Dinslaken (Nrdrh.-Westf.) Heinz Surmann

Von Herrn Althaus heißt es, er sei sensiblergeworden. Das gesunde moralische Emp-finden eines objektiven Betrachters kommtzu einem anderen Ergebnis. Kurze Zeitnach dem Schuldigwerden am Tod einesMenschen kehrt er aus Gründen des Macht-erhalts zum politischen Tagesgeschäft zu-rück. Dass ein solches Verhalten in einerPartei, die sich christlich nennt, überhauptnicht schadet, macht sie der bloß geheu-chelten Grundsatztreue verdächtig.Gersthofen (Bayern) Hans Gerbig

nimmt. Familie ist etwas, das negativ be-setzt ist für sie, das zu Streit und Trennungführt, denn so haben sie es bei ihren Elternerlebt.Berlin Berit Schwarz

Familien werden nach wie vor steuerlichmassiv benachteiligt. Plastisch ausge-drückt: Man klaut den Familien die Sauvom Hof und gibt ihnen einige Kotelettszurück. Beide Elternteile werden vomStaat gezwungen zu arbeiten, um zu exis-tieren. Von der Leyen blendet mit ihrerPolitik Mütter aus, die gern Vollzeit fürihre Kinder da sein wollen. Wir hätten gern mehr als zwei Kinder, können uns das aber schlichtweg nicht leisten, trotzeines Akademikergehalts. Familien habenkeine starke Lobby, das ist das eigentlicheProblem.Würzburg Michael Kröger

Leider lebt auch heute noch eine Viel-zahl von deutschen Personalchefs im fins-tersten Mittelalter und verweigert jun-gen Frauen Führungspositionen, weil sieschwanger werden könnten, etwas älterenFrauen diese Positionen, weil sie schul-pflichtige Kinder haben und darum nichtflexibel sind, und noch älteren Frauen, weilsie jetzt zu alt sind. Mit diesem Wissen imHinterkopf wird manch junge Frau, die vielGeld und Zeit in ihre Ausbildung gesteckthat und heute vor der Entscheidung steht,ob sie Kinder will, sich dies reiflich über-legen.Haßloch (Rhld.-Pf.) Sigrid Raquet

Es geht nicht nur um Elterngeld, Kitas oderdie Erhöhung des Kindergelds. Es geht umeinen klassischen Generationenwandel, umdie Abkehr von veralteten Modellen unddie Hinwendung zu neuen, unsicheren,dafür vielleicht umso spannenderen Ideen.Um den eigenen Weg einer Generation

(„Krisenkinder“), die sich ohnehin schonschwertut, ihn zu finden. Es geht um Patch-work-Familien, Multijobber, Weltreisendemit Kindern und auch mal um Männer inElternzeit, zu denen immer noch gern ge-sagt wird: „Aber Daniel, kein Arbeitgeberwill einen Mann, auf den er monatelangverzichten muss und der nur für seine Fa-milie seine Karriere riskiert“ (O-Ton mei-

Briefe

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Ministerpräsident Althaus

Beliebter als vorher?

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Rätsel AkademikerfrauNr. 33/2009, Familienpolitik:

Ursula von der Leyens Ringen um die Geburtenrate

Allmählich platzt mir der Kragen, wennich dauernd lesen muss, Akademikerinnenverweigerten die Fortpflanzung – so alskönnten wir ohne Zutun eines PartnersKinder in die Welt setzen. Es sind in ersterLinie nicht die Akademikerinnen, die sichmit der Elternrolle schwer identifizierenkönnen, sondern die Akademiker. In ihrenbesten Reproduktionsjahren überlegen dienämlich, wie sie ihr Berufs-Ich aufpolierenkönnen, ob dreimal im Jahr nach Asienfliegen zu wenig ist und ob sie noch malstudieren sollen. Mit nicht erwachsen wer-den wollenden Akademikern können Frau-en nun einmal keine Familie planen. Berlin Daniela Vidic

Ich gehöre zu den Frauen, die den Poli-tikern so ein Rätsel sind: Akademikerin, 42 Jahre alt, kinderlos, Single. Dass ichkein Kind habe, ist nicht meine freie Ent-scheidung – ich bin darüber sehr traurig.Ich hatte einige mehrjährige Partnerschaf-ten. Meine Partner wollten immer keinKind, sie hatten panische Angst davor, dassein Kind „alles kaputtmacht“. Sie hattenAngst vor der Verantwortung, Angst davor,dass der Sex nachlässt, wohl auch Angstvor dem Erwachsenwerden. Wir haben esmit der „Generation Scheidungskind“ zutun, mit Männern, die häufig ohne Vateraufgewachsen sind, ohne Vorbild, das ih-nen zeigt, wie man Verantwortung über-

Ministerin von der Leyen in Hamburg

Vollzeitmütter ausgeblendet

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Prüfintervalle ignoriertNr. 33/2009, Verkehr: SPIEGEL-Gespräch mit Bahn-Chef

Rüdiger Grube über seine ersten hundert Tage im Amt und das schwierige Erbe seines Vorgängers

Herr Grube beweint, dass die Bahn fürDinge kritisiert werde, für die sie keineVerantwortung habe. Leider vergisst eraber zu erwähnen, dass die Bahn dafürverantwortlich ist, dass durch den völligüberzogenen Personalabbau bei der Berli-ner S-Bahn ein funktionierendes Nahver-kehrsmittel fast vollständig zum Erliegenkam. Hätte man die Züge der vorgeschrie-benen regelmäßigen Kontrolle und War-tung unterzogen, wäre die Entgleisung ei-nes Zuges wie am 1. 5. wohl zu verhinderngewesen. Allen Warnungen zum Trotzwurden zur Gewinnmaximierung Fristengestreckt, die Fahrzeugreserven wegopti-miert und Werkstattkapazitäten bis zur

Unkenntlichkeit geschrumpft. Einsicht istwohl nicht zu erwarten.Berlin Astrid A. Kaelisch

Betriebsrat der S-Bahn Berlin

Es ist schon dreist von Herrn Grube, dieUrsachen des Berliner S-Bahn-Chaos al-lein dem Hersteller zuzuschreiben undnicht etwa der Tatsache, dass Wartungs-stätten geschlossen, massenweise Perso-nal entlassen und Prüfintervalle ignoriertwurden, um möglichst viel Geld aus der S-Bahn herauszupressen und das geplanteBörsenabenteuer der Bahn so mitzufinan-zieren.Berlin Mario Männel

ICE bei Einfahrt in Dresden-Neustadt

Einsicht nicht zu erwarten

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Wie unmündige KinderNr. 33/2009, Armut: In einem Dorf in Namibia wird dasKonzept des Grundeinkommens für jedermann erprobt

Die Aussichten für eine Einführung desBasic Income Grant (BIG) in ganz Namibiasind schlecht. Nur eine einzige politischePartei Namibias, die allerdings nicht imParlament vertreten ist, bekennt sich zumBIG. Die BIG-Koalition und die deutscheevangelische Kirche als ihr Hauptsponsormögen sich mit der Aussicht trösten, dassein BIG vielleicht in Deutschland kommt.Ihre intensive Öffentlichkeitsarbeit inDeutschland über das Pilotprojekt in Na-mibia nährt den Eindruck, dass es der Kir-che letztlich weniger um Namibia als dar-um geht, für die deutsche Debatte um einbedingungsloses Grundeinkommen ein realexistierendes Beispiel vorweisen zu kön-nen. Vielleicht hat die namibische Regie-rung gemerkt, dass sie funktionalisiert wer-den soll.Windhuk (Namibia) Dr. Rigmar Osterkamp

Es gibt sicherlich bemerkenswerte Bei-spiele für einen Weg heraus aus der Armut,wie der von Ihnen beschriebene Fall vonFrau Frieda Nembwaya zeigt. Die zweiSchlüsse aber, die Sie ziehen, müssten rich-tigerweise lauten: „Entwicklungshilfe istkeine Lösung, und Afrika ist nicht zu hel-fen.“ Zumindest so lange nicht, wie Bil-dung, Aufklärung und Erziehung vernach-lässigt werden und dubiose Potentaten,Kleptomanen und Nepotisten vom „dum-men“ Volk gewählt und geduldet werden.Kapstadt Hubert Verweyen

Vor 1990 gab es dieses „Dorf“ nicht. Esentstand durch illegales Siedeln auf ver-staatlichtem Boden rund um den Otjivero-damm. Was verlangen Sie jetzt von unsangrenzenden Farmern, die Sie so verteu-feln? Jeder Mensch in Namibia weiß, dasses in Otjivero keine Arbeit gibt. Und trotz-dem hat sich seit den BIG-Zahlungen dieEinwohnerzahl dort verdoppelt. Man kannnur hoffen, dass es wirklich bald ein lan-desweites BIG gibt oder aber den Haar-manns das Geld ausgeht, damit sie nichtnoch mehr ahnungslose Menschen aus ih-rer Arbeit in dieses Elend locken.Omitara (Namibia) Dieter Held

Viele Jahre habe ich als weißer Farmer inNamibia gelebt. Die realistische Schilde-rung des Verhaltens der deutschstämmi-gen Nachfahren alter Kolonistenfamilien

kann ich leider nur bestätigen. Alle deretwa 50 Farmer, die ich kennenlernte, wa-ren gedanklich noch im Rassismus verhaf-tet, behandelten ihre schwarzen Mitarbei-ter wie unmündige Kinder und nicht wiegleichwertige Menschen. Weil ich das nichtso handhaben wollte und das Schweigenüber diese Verhältnisse gebrochen habe,gelte ich bis heute bei den namibischenweißen Farmern als Nestbeschmutzer. NurBildung kann dazu verhelfen, dass dieschwarzen Menschen ihre Angst vorWeißen verlieren, die sie immer noch ausgutem Anlass haben müssen.Marxzell (Bad.-Württ.) Ulf G. Stuberger

Gut recherchiert, genau beobachtet, sensi-bel geschrieben. Aus Indien und Bangla-desch kenne ich ähnliche Erfolgsbeispiele.Eine bessere Welt ist möglich, wenn armeMenschen ein Leben in Würde führen kön-nen – auch durch ein staatlich garantiertesGrundeinkommen. Die Welt braucht einGrundrecht auf ein Grundeinkommen.Baden-Baden (Bad.-Württ.) Franz Alt

Publizist

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An-schrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elek-tronisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet:[email protected]

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Briefe

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Korrekturenzu Heft Nr. 34/2009Der in der Bildunterschrift auf Seite124 erwähnte ZDF-Moderator heißtTheo Koll.

zu Heft Nr. 33/2009Seite 87: Der Anfang des Gebetsrufs„Allah ist groß“ wird von den Dächernin Teheran gerufen, steht aber nicht inder ersten Sure des Korans. Das aufSeite 49 gedruckte Foto zeigt nicht das Farmer-Ehepaar Lüttwitz, sondernden Farmer Baas und seine Frau.

zu Heft Nr. 32/2009 Seite 53: Die Behauptung, dass nurMänner die Bluterkrankheit bekom-men können, ist falsch. Die beschrie-bene Hämophilie A tritt bei Frauennur sehr selten auf.

Bewohner von Otjivero mit Geldscheinen

Ein Weg aus der Armut

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ne Mutter). Ist das noch so? Ich glaubenicht. Und es ist an uns, diesen GlaubenWahrheit werden zu lassen.Hamburg Eva Böbel

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N I E D E R S A C H S E N

Mitarbeiterin belastetMinisterin

Wegen ihrer Amtsführung gerät dieniedersächsische Kultusministerin

Elisabeth Heister-Neumann (CDU) inErklärungsnot. Vertrauliche Unterlagenlegen den Verdacht nahe, dass sie ihreLandesschulbehörde angewiesen hat,gegen den schärfsten Kritiker ihrerSchulpolitik, den Gewerkschaftsfunk-tionär Eberhard Brandt, ein Disziplinar-verfahren einzuleiten. Und das, obwohldie Behörde zuvor bereits festgestellthatte, dass für diesen Schritt keinerleiVeranlassung bestehe. In einer vertrau-lichen Sitzung des Kultusausschussesdes Landtags hat sie im Mai nach Erin-nerung von Zeugen allerdings ausdrück-lich bestritten, in der Sache Weisung er-

teilt zu haben. Hintergrund der Ausein-andersetzung war ein Antrag Brandts,wegen seiner Gewerkschafts- und Per-sonalratstätigkeit zwei weitere Stundenvom Unterricht freigestellt zu werden.Das Ansinnen war im Frühjahr vomLand überraschend abgelehnt worden.Inzwischen hat sich Brandt mit demLand auf eine Freistellung geeinigt. Ineiner nun aufgetauchten vertraulichendienstlichen Erklärung schildert eineDezernentin der Landesschulbehörde,

ihr Vorgesetzter, Behördenleiter UlrichDempwolf, habe sie am 27. März ange-wiesen, bis spätestens 16 Uhr desselbenTages Vorermittlungen gegen Brandteinzuleiten trotz ihrer Bedenken undmit Hinweis auf die „Vorgaben derHausspitze des Kultusministeriums“und der „politischen Bedeutung“ desVorgangs. Weiter heißt es, ihr Chefhabe gesagt, „von der Ministerin sei be-reits angekündigt worden, dass gegenHerrn Brandt disziplinarisch vorgegan-gen werde“. Auch am 21. April hat dieMinisterin demnach Einfluss auf dasVerfahren genommen. Per Mail habe ihrDempwolf an dem Tag mitgeteilt, „ersei nach erneuter Klärung mit der Spit-ze des niedersächsischen Kultusministe-riums heute angewiesen worden“, dieim Entwurf vorliegende Disziplinarver-fügung unverzüglich abzuschicken. Zuden Vorgängen wollten sich weder Heis-ter-Neumann noch Dempwolf äußern.

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Panorama Deutschland

W E R F T E N

WindigerDeal

Der von Bundeskanzlerin An-gela Merkel (CDU) und dem

russischen Präsidenten DmitrijMedwedew unterstützte Verkaufder insolventen Wadan-Werftenin Wismar und Rostock an Wita-lij Jussufow ist womöglich einwindiger Deal. Denn Schiffbau-aufträge, wie sie Berater desrussischen Präsidenten in einemPapier bei den deutsch-russi-schen Konsultationen im Juli inMünchen in Aussicht gestellt hat-ten, werden wohl nicht realisiertwerden. Sieben Transportschiffe(Stückpreis: 80 Millionen Euro)und zwei Eisbrecher (Stückpreis:95 Millionen Euro), so die Präsidentenberater, wolle der Edel-metallkonzern Norilsk Nickel in Mecklenburg-Vorpommernordern. Doch ein Sprecher des Unternehmens dementiert: DieNeuformierung der Firmenflotte sei bereits seit Februar ab-geschlossen. Auch Gazprom-Sprecher Sergej Kuprianow wiesMeldungen aus dem Präsidenten-Umfeld zurück, die Gazprom-Tochter Gazflot plane Bestellungen beim neuen Besitzer derehemaligen Wadan-Werften: „Wir haben nicht vor, unsereFlotte zu erweitern.“ Auch in anderen Punkten gibt es nochoffene Fragen. Offizieller Käufer der Werften ist die „Gevor IVAG“, eine Briefkastenfirma in der schweizerischen SteueroaseZug. Die Frage, wer hinter der unter der Adresse „c/o Treu-hand von Flüe AG, Baarerstrasse 95, 6301 Zug“ erreichbarenAktiengesellschaft steht, beantwortete Jussufow in den Ver-

handlungen mit einem schlichten „Ich“. Ebenso knapp wardie Antwort des Sohnes von Gazprom-Aufsichtsrat Igor Jussu-fow auf die Frage, woher er die 40 Millionen Euro Kaufpreisnehmen wolle: „Eigenkapital.“ Doch allem Anschein nach fälltes Jussufow junior schwer, das Geld aufzutreiben. Sicher ist,dass Mitte vergangener Woche nachträglich einzelne Passagendes Kaufvertrags geändert wurden. Dazu passt, dass der Kreml– nach Angaben von Moskauer Geschäftsleuten – derweilDruck auf Oligarchen ausübt, Jussufow junior finanziell unterdie Arme zu greifen. Aufträge zum Bau neuer Schiffe hat der29-Jährige jedenfalls noch nicht. Schon in den Gesprächenzum Verkauf der Werften hatte er seine Verhandlungspartnermit einem freimütigen Geständnis verblüfft: „Warum soll ichdenn schon akquirieren, bevor ich die Werften habe?“

Heister-Neumann

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Witalij Jussufow (o.), Igor Jussufow, Wadan-Werft in Rostock-Warnemünde

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Horst Köhler

Angela Merkel

Ursula von der Leyen

GuidoWesterwelle

Karl-Theodorzu Guttenberg

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„Dieser Politiker ist mir unbekannt“

Panorama

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Straßenbau im Bayerischen Wald

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K O N J U N K T U R PA K E T

Kein Erfolg in Sicht

Der Bundesrechnungshof hat Zweifelan der Wirksamkeit des Konjunk-

turpakets II angemeldet. Es erscheine„zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht ge-sichert, dass das gewählte Instrumentden angestrebten Erfolg wird erreichenkönnen“, schreibt die Bonner Behördein einem Bericht an den Haushaltsaus-schuss des Bundestags. Um die Kon-junktur zu beleben, stellt die Bundes-regierung im Rahmen des im Januarbeschlossenen Pakets zehn Milliarden

Euro für zusätzliche Investitionen von Ländern und Kommunen bereit.Von dem Geld seien bisher aber nuretwa 95 Millionen Euro bei jenenFirmen angekommen, die die geplantenArbeiten an Schulen, Straßen undanderen öffentlichen Einrichtungen ausführen sollen, bemängeln die Prüferdes Bundesrechnungshofs. „Die Höheder abgerufenen Mittel lässt Zweifelzu“, ob das ursprüngliche Ziel der Bun-desregierung erreicht werden könne.Bis zum Jahresende sollen eigentlichfünf Milliarden Euro an Bauunterneh-men, Handwerksbetriebe und andereFirmen fließen.

A F G H A N I S T A N

Steinmeier will Plan für Abzug aushandeln

SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Stein-meier will im Falle eines Sieges bei der Bun-

destagswahl einen „konkreten Fahrplan“ fürden Abzug der deutschen Soldaten aus Afghani-stan aushandeln. Er werde „als Kanzler daraufdrängen, dass wir mit der neuen afghanischenRegierung eine klare Perspektive für Dauer undEnde des militärischen Engagements erarbei-ten“, sagte der Außenminister dem SPIEGEL.Darüber will Steinmeier bei der Verlängerungdes „Afghan Compact“ verhandeln. Dieses in-ternationale Hilfsabkommen läuft 2010 aus.Nach dem Willen Steinmeiers sollen konkrete-re Zielvorgaben für die schrittweise Übernahmeder Verantwortung durch die afghanische Poli-zei und Armee festgelegt werden. Steinmeierdrängt zur Eile, weil US-Präsident BarackObama „den Einsatz schnell und erfolgreich zu

Ende bringen“ wolle: „Das müssen wir auchtun. Ziel ist es, das Land so schnell wie möglichwieder in die volle Kontrolle einer demokra-tisch gewählten Regierung zu übergeben.“ EinDatum für den Abzug festzulegen, nannteSteinmeier „unverantwortlich“, weil das „nurdie Taliban ermuntern würde, sich bis dahinauf die Lauer zu legen“. Er warf Verteidi-gungsminister Franz Josef Jung (CDU) vor, bloßfür „zehn Jahre Weiter-so“ zu plädieren. DieCDU solle ihr „bedenkliches Hickhack“ in derAbzugsdebatte beenden, sagte er mit Blick aufdie Forderung von Ex-VerteidigungsministerVolker Rühe, in zwei Jahren den Abzug einzu-leiten (SPIEGEL 34/2009). Zugleich verlangteSteinmeier von Jung den „verstärkten Einsatzvon Feldjägern“ der Bundeswehr für die Aus-bildung der afghanischen Sicherheitskräfte. Steinmeier (r.) in Masar-i-Sharif 2008

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Veränderungen bis zu 3 Prozent liegen im Zufallsbereich, sie werden deshalb nicht ausgewiesen. TNS Forschung für den SPIEGEL am 18. und 19. August; 1000 Befragte

Alle Angaben in Prozent

Frank-Walter

Steinmeier ChristianWulff

PeerSteinbrück Klaus

WowereitHorst

SeehoferRenateKünast

WolfgangSchäuble

FranzMüntefering

Olaf Scholz

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SigmarGabriel

Ulla Schmidt

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„Wichtige Rolle“ seltener gewünscht als in der Juli-Umfrage

„Wichtige Rolle“ häufiger ge-wünscht als in der Juli-Umfrage

JürgenRüttgers

Im Julinicht aufder Liste

SPD-Minister verlierenTNS Forschung nannte die Namen von 20 Spitzenpolitikern.

Anteil der Befragten, die angaben, dass der jeweiligePolitiker künftig „eine wichtige Rolle“ spielen solle

Veränderungen zur letzten Umfrage im Juli 2009

Franz JosefJung

F U S S B A L L

Sponsor von der Stasi

Von einem früheren Stasi-Offizierwird der neue Hauptsponsor des

Zweitliga-Aufsteigers 1. FC UnionBerlin, dessen Anhänger zu DDR-Zei-ten als regimekritisch galten, kontrol-liert. Jürgen Czilinsky, Aufsichtsratschefder Firma International Sport Promo-tion (ISP), war von September 1982 anhauptamtlicher Mitarbeiter der Stasi-Hauptverwaltung Aufklärung (HVA)und dort in der AbteilungIV eingesetzt, die für dieAusspähung militärischerEinrichtungen der Bundes-republik zuständig war.Bislang hatte Czilinsky an-gegeben, vor der Wende im„DDR-Außenhandel“ tätiggewesen zu sein. Stasi-Un-terlagen belegen dagegen,dass der heute 51-Jährige in seiner Dienstzeit mindes-tens 26 operative Vorgängebetreute, darunter konspi-

rative Objekte, potentielle Agentenan-wärter und mehrere Inoffizielle Mitar-beiter, von denen eine (IM „Christine“)im hessischen Gießen spionierte. Nochheute pflegt Czilinsky Kontakte zu altenKameraden. In einer seiner BerlinerFirmen, an der bis zum vergangenenJahr auch der FDP-Bundestagsabgeord-nete Joachim Günther beteiligt war,firmiert laut Handelsregister ein ehe-maliger HVA-Kollege Czilinskys als Co-Geschäftsführer. Czilinsky, der amvorigen Freitag in der Republik Kongounterwegs war, bestätigte dem SPIEGEL

auf Anfrage seine frühereArbeit für die HVA. ZuFragen, die sich auf seineoperative Arbeit bezogen,wollte er jedoch „keineAngaben“ machen. Dermillionenschwere Sponso-ring-Deal zwischen ISP undUnion Berlin hatte EndeJuni für Aufregung in derFußballwelt gesorgt – vorallem weil bis heute unklarist, wer die Geldgeber derISP sind.

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Deutschland

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B I L A N Z

GroßkoalitionäreDefizite

Nach eigenem Eingeständnis ist dieGroße Koalition in wichtigen Poli-

tikfeldern gescheitert. Das geht aus ei-ner Aufstellung des Bundeskanzleramtshervor, die die Beschlüsse der schwarz-roten Regierung seit 2005 und ihre Um-setzung auflistet. So konnten sich Unionund SPD trotz Finanzkrise nicht dazudurchringen, die Zuständigkeiten vonBundesbank und Bundesanstalt fürFinanzdienstleistungsaufsicht besser zuverzahnen. „Nicht mehr in der 16. Le-gislaturperiode“, heißt es lapidar in derAufstellung. Das angestrebte Umwelt-gesetzbuch, das alle ökologisch relevan-

ten Vorschriften aufnehmen sollte,scheiterte ebenso an Meinungsverschie-denheiten in der Koalition wie das Bun-deswaldgesetz. Auch auf dem Arbeits-markt konnte die Regierung von Kanz-

lerin Angela Merkel (CDU) nicht alleZiele erreichen. Trotz Boom gelang esin den vergangenen vier Jahren nicht,die durchschnittliche Dauer der Jugend-arbeitslosigkeit auf drei Monate zu

drücken. Zwar sank der Wertvon 18,7 Wochen im Jahr2005 auf 13,9 Wochen 2008.Mittlerweile sind Arbeitsloseunter 25 Jahren aber wiedereine Woche länger ohneBeschäftigung. Andere Maß-nahmen blieben im parla-mentarischen Verfahrenstecken, zum Beispiel dieAbschaffung des Hoch-schulrahmengesetzes. DerPrivatisierung der Flug-sicherung verweigerte Bun-despräsident Horst Köhlerdie Zustimmung.

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Deutschland Panorama

L E I C H T A T H L E T I K

Nachspiel für Harting

Mit seiner Kritik gegenüber demDeutschen Leichtathletik-Verband

bei der WM in Berlin hat Diskus-Welt-meister Robert Harting, 24, seinen Ar-beitgeber verärgert. Harting ist Zeitsol-dat bei der Bundeswehr und Mitgliedder Sportfördergruppe in Berlin. Weiler vor seinem WM-Start die Verbands-spitze scharf attackierte („Leute wieunseren Präsidenten Clemens Prokopbrauchste eigentlich nicht“), erwartetihn jetzt eine Belehrung durch seinenVorgesetzten. „Ich werde ein Gesprächmit Robert Harting führen“, sagt Ober-stabsfeldwebel Walter Hettinger, Leiterder Sportfördergruppe. Eine Disziplinar-maßnahme werde es nicht geben. „Esgeht nur darum, ihn zu belehren, er istschließlich ein Repräsentant der Bun-deswehr, sein Verhalten gegenüber demVerband, den Medien und der Öffent-lichkeit war nicht in Ordnung“, so Het-tinger. Bei der WM äußerte sich Hartingauch abfällig über Dopingopfer undpflegte so sein Rabaukenimage.

K L I M A S C H U T Z

Ziel verfehltDie Bundesregierung wird die selbst-

gesteckten Ziele zur Verminderungdes Kohlendioxidausstoßes nicht errei-chen. Zu diesem Ergebnis kommt eineneue Studie des Aachener Ingenieur-und Beratungsunternehmens EUtech imAuftrag der internationalen Umwelt-organisation Greenpeace. Bei der Um-setzung des von der schwarz-roten Koa-lition in Meseberg 2007 beschlossenenKlimaschutzpakets seien viele Umwelt-maßnahmen „ausgeklammert“ oder„von Lobbyverbänden stark verwäs-sert“ worden. Weder eine ökologischorientierte Reform der Kfz-Steuer nocheine weitreichende Sanierungspflichtbei Altbauten oder ein striktes Ver-bot von Nachtspeicherheizungen seiendurchgesetzt worden. Nach Berech-nungen von EUtech sei damit bis 2020,auch aufgrund eines lahmenden Aus-baus von Offshore-Windparks, nur eineEmissionsminderung von unter 30 Pro-zent zu erreichen – die Bundesregie-rung hatte 40 Prozent versprochen. Dader Gesamtausstoß von Kohlendioxidin der Energiewirtschaft zudem über-raschend auf zuletzt über 385 MillionenTonnen gestiegen sei, fordern die Ex-perten einen radikalen Umbau derEnergieerzeugung. Nötig seien der Aus-bau von Gaskraftwerken, Kraft-Wärme-Kopplung und eine stärkere Nutzungerneuerbarer Energien, die schon 2020für den Stromverbraucher zu Preisvor-teilen führen könne. Offshore-Windenergieanlage

Junge Arbeitsuchende in Hamburg

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Am Dienstagabend schwebt für kur-ze Zeit ein Gespenst am fried-lichen, abendroten Himmel von

Freiburg. Hingezaubert hat es der Kanz-lerkandidat der SPD. Frank-Walter Stein-meier steht auf einer Seebühne am Randedes Biergartens und spricht darüber, wiegrausam es mit einer Regierung aus FDPund Union werden würde.

„Viele Leute fragen mich: Ist es wirklichso schlimm mit Schwarz-Gelb, wie die So-zialdemokraten immer tun?“ SteinmeiersAntwort lautet, wenig überraschend: ja. Istes. Eine solche Regierung wolle die Sozi-alleistungen kappen, den Kündigungs-schutz lockern, den Staat arm machen, da-mit die Reichen weniger Steuern zahlen.Mit jedem seiner Sätze wird das Gespenstbedrohlicher.

„Deshalb bitte ich Sie: Sagen Sie das alldenen, die meinen, dass es mit Schwarz-Gelb nicht so schlimm wird!“

Steinmeier und die anderen Sozialde-mokraten beschwören das schwarz-gelbeGespenst dieser Tage in allen Winkeln derRepublik, in jeder Rede, in jedem Inter-view. Es ist das gleiche Gespenst, das schonGerhard Schröder vor vier Jahren imWahlkampf erfolgreich beschwor. Damals

wirkte es auf viele stark und bedrohlich.Und nun? Ist Schwarz-Gelb nicht ein ziem-lich schlappes Gespenst geworden? Kannman damit noch Leute erschrecken?

Bisher wirken CDU, CSU und FDP je-denfalls nicht gerade wie eine geschlosse-ne Formation mit klarem Ziel. Das Wahl-volk weiß momentan nicht, was es merk-würdiger finden soll: die Konzeptlosigkeitder sogenannten Wunschpartner oder de-ren Zerstrittenheit.

Seit Wochen tobt zwischen Liberalen undKonservativen ein echter Zickenkrieg. Danennt CSU-Chef Horst Seehofer FDP-ChefGuido Westerwelle höhnisch „Sensibel-chen“, während FDP-Vize Rainer Brüderleden Konservativen „parasitäres“ Verhaltenvorwirft. So gehässig gehen beide Seiten indiesen Wochen miteinander um, dass manmeinen könnte, es handle sich nicht umWunschpartner, sondern um Erzfeinde.

Anders als im Sommer 2005, als AngelaMerkel und Westerwelle inbrünstig für einschwarz-gelbes Reformprojekt warben,steckt diesmal eine Verzagtheit, sogar einegewisse Unlust in ihrem Werben. Sie wollen auf Samtpfoten an die Regierungschleichen, verstohlen, ohne eine gemein-same Idee, ohne Kampf.

Was soll denn das schwarz-gelbe Pro-jekt 2009 sein?

Vor vier Jahren teilten Liberale undKonservative eine Vision. Als entschie-dene Reformmannschaft hatten sie sichden Wählern vorgestellt, als Bündnis, dem Schröders Agenda nicht weit genuggegangen war, das tiefere Einschnitte und größere Zumutungen verlangte. DieSchlagworte damals hießen Kopfpauscha-le und Bierdeckel, es waren Chiffren füreine Gesellschaft, deren Antrieb vor allemeines sein sollte: der Wettbewerb. Der Zeit-geist, auf dem sie surften, war der Neo-liberalismus.

Jetzt aber wirkt Schwarz-Gelb wie einAnachronismus, überholt, aus der Zeit ge-fallen. Die Jahre, in denen Journalisten,Wissenschaftler und Politiker um die radi-kaleren Reformvorschläge wetteiferten,sind vorbei. Die Finanzkrise hat nicht nurviele Milliarden, sondern auch den Glau-ben an die Kraft des Marktes verschluckt.Es hätte etwas Merkwürdiges, wenn aus-gerechnet die FDP, die Lieblingspartei derBanker, in diesem Herbst in die Regierunggewählt würde. Zudem verweigert sich dieFDP beharrlich den Herausforderungendes internationalen Klimawandels. Ginge

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FDP-Chef Westerwelle: „Mutti hat wieder eine tolle Rede gehalten“

B U N D E S T A G S W A H L

Schlappes GespenstIm Sommer 2005 wollten Angela Merkel und Guido Westerwelle, getragen vom Zeitgeist,

ein Reformbündnis für Deutschland schmieden. Vier Jahre später ist von diesem Elan nichts übrig geblieben. Ein Projekt gibt es nicht, Schwarz-Gelb scheint zu spät zu kommen.

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FDP GrüneCDU/CSU SPD Die Linke

13

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Infratest dimap für ARD-Deutschlandtrend; 18. und 19. August

Sonntagsfrage „Welche Partei würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?“

35,2

Wahlergebnis 2005

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CDU/CSU/FDP

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Deutschland

Page 13: 2009_35 Krieg Der Deutschen 1939

es nach den Liberalen, würde das deut-sche Klimaschutzprogramm systematischzusammengestrichen.

Das Gefühl von Gemeinsamkeit kannzwischen Union und FDP in diesem Wahl-sommer schon deshalb nicht aufkommen,weil das Misstrauen gewaltig ist. Beide bezeichnen den anderen zwar als Lieb-lingspartner, verweigern ihm aber die Ex-klusivität. „Ich kann und will Herrn Wes-terwelle nicht vertrauen“, bekannte vorwenigen Wochen CSU-Chef Seehofer. Inder Union gehen sie fest davon aus, dassWesterwelle zur Not auch Frank-WalterSteinmeier zum Kanzler einer Ampelre-gierung machen würde.

Westerwelle wiederum verlangt von derUnion, sie solle der Großen Koalition und– noch wichtiger – einem Pakt mit denGrünen abschwören. Das aber will Merkelnicht. Wo zu viele Hintertüren offenste-hen, kann weder Vertrauen noch Euphorieaufkommen.

Das schwierige Verhältnis zwischen Li-beralen und Konservativen spiegelt sichauch in der Beziehung ihrer Vorsitzenden.Merkel und Westerwelle gehen heute weitnüchterner miteinander um als bei ihremersten gemeinsamen Anlauf zur Macht. IhrVerhältnis trägt Züge einer enttäuschtenLiebe, wobei Westerwelle die Rolle desEnttäuschten zukommt.

Im kleinen Kreis spricht der FDP-Chefgern von „Mutti“, wenn er die Kanzlerinmeint. „Mutti hat wieder eine tolle Redegehalten“, sagt er dann. Es ist abfällig gemeint. Westerwelle ist von Merkel alsKanzlerin der Großen Koalition enttäuscht,er fühlt sich persönlich verletzt.

Als es noch keine Große Koalition gab,lief es besser zwischen den beiden. Manmochte sich, es gab viele Gemeinsamkei-ten. Beide waren liberal, beide musstensich gegen eine verbiesterte Altherrenrie-ge in ihrer Partei behaupten.

Die Bundestagswahl 2005 bereitete denPlänen für eine gemeinsame Zukunft einEnde. Westerwelle hatte geglaubt, dass ermit Merkel nicht nur politische Ideen teile.Er dachte, dass eine Freundschaft entstan-den sei.

Merkel dachte anders, für sie gibt es kei-ne Freundschaft in der Politik. Sie war jetztKanzlerin der Großen Koalition, Wester-welle war Oppositionsführer. Sie verhin-derte mehrmals, dass der FDP-Chef imBundestag unmittelbar auf ihre Regie-rungserklärungen antworten durfte. Sieunterhielt sich demonstrativ mit Partei-freunden oder – noch gemeiner – mit FranzMüntefering oder Steinmeier, währendWesterwelle im Plenum ihre Politik at-tackierte. In den Zeitungen stand, wie häu-fig sie Franz Müntefering eine SMS schick-

te, während Westerwelle selbst kaum nochKurznachrichten bekam.

Als Merkels Parteifreund, HamburgsErster Bürgermeister Ole von Beust, vorder Landtagswahl im Februar 2008 einePräferenz für die Grünen erkennen ließ,schwieg Merkel zu Westerwelles Ärger. DieFDP verpasste den Einzug in die Bürger-schaft, die CDU ging das erste schwarz-grüne Bündnis auf Landesebene ein.

Aus Rache reiste Westerwelle danach ins Sauerland, um mit Merkels ErzfeindFriedrich Merz publikumswirksam zuwandern.

Merkel und Westerwelle haben sich seit 2005 enorm gewandelt. Letztlich sindsie beide sozialdemokratischer gewor-den, auch wenn sie das selbst bestreitenwürden.

Westerwelle hat in den vergangenen vierJahren versucht, seriös zu werden. In An-sätzen ist ihm das sogar gelungen. Früherhabe er eben „manche Unsicherheit mitfrechen Sprüchen kompensiert“, gestehter heute. Zu diesen Sprüchen gehörten vorallem Kampfansagen gegen Arbeitnehmer,Gewerkschaften („Plage für unser Land“)und „Sozialromantiker“ in der Union. Ergefiel sich als Anwalt der Freiberufler undFrühaufsteher.

Davon ist nicht viel geblieben, auch Wes-terwelle hat sich weichspülen lassen. Die

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Kanzlerin Merkel: Im Wahlkampf treibt sie ihre Mannschaft an die Grenze der Selbstverleugnung

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Spaltung der deutschen Gesellschaft warihm bis vor kurzem relativ schnuppe.Heute sagt er im kleinen Kreis, er habefrüher „Ungerechtigkeit nicht so wahr-genommen“.

Entsetzt habe er bei Begegnungen undGesprächen erfahren, dass die Ersparnissefürs Alter bei vielen Arbeitslosen „in denGully“ verschwinden. Deshalb werde er ineinem Koalitionsvertrag „persönlich durch-setzen, dass das Schonvermögen bei Hartz-IV-Empfängern auf 750 Euro pro Lebens-jahr verdreifacht wird“.

Noch radikaler ist Merkels Wandlungausgefallen. Um dies zu erkennen, genügtein Besuch ihrer, nun ja, Wahlkampfauf-tritte. Sie legt sich auf nichts fest, sie ver-schenkt Allgemeinplätze wie Frau Holleihre Daunen.

„Die Wahl ist wichtig, weil jede Bun-destagswahl wichtig ist“, sagt sie am Don-nerstag auf dem Domplatz von Münster.Dann merkt sie, dass das ein wenig dürftigklingt, und legt nach. „Die Wahl ist auchwichtig, weil Deutschland in einer nichteinfachen Situation ist.“ Wenn man Merkelnicht deutlich erkennen würde, könnteman meinen, es handle sich um eine derWahlkämpfer-Parodien, die derzeit in denKinos laufen.

Die Angela Merkel des Jahres 2009 isteine Konsequenz der Angela Merkel desJahres 2005. Die hatte den sicher geglaub-ten Wahlsieg fast verspielt und sich nurmit Mühe als Kanzlerin einer Großen Ko-alition retten können. So etwas, das schworsie sich, würde ihr nicht wieder passieren.Nie wieder würde sie den Leuten Refor-men und Zumutungen ankündigen. Mitihrem Wahlkampf der Unverbindlichkeittreibt Merkel nun ihre ganze Mannschaftan die Grenze zur Selbstverleugnung. Be-sonders eindrücklich lässt sich dies zurzeitbeim neuen Superstar der Union beob-achten.

Karl-Theodor zu Guttenberg verdanktseine hohe Popularität ja nicht nur seinemmanierlichen Aussehen, sondern vor allemdem Ruf, Klartext zu reden und zu seinenÜberzeugungen zu stehen. Erworben hater sich diesen Ruf mit einem einzigen„Nein“, gesagt in jener Nacht, als die Re-gierung um die Zukunft von Opel verhan-delte und den Autozulieferer Magna alsRetter erwählte. Guttenberg hielt das fürfalsch, seither lieben ihn die Leute.

Vermutlich würde Guttenberg gern häu-figer sagen, was er denkt und was er fürrichtig hält.

Im März, erst kurz im Amt und noch inder Euphorie des Anfangs, erteilte der Mi-nister seinen Mitarbeitern den Auftrag, einPapier zu erarbeiten, eine Gesamtschaudessen, was wirtschaftspolitisch notwen-dig und wünschenswert ist.

* Kanzler Helmut Kohl (r.) mit der Ministerin für inner-deutsche Beziehungen, Dorothee Wilms, und Außen-minister Hans-Dietrich Genscher 1987 in Bonn.

Ein paar Monate später hielt Guttenberg61 Seiten mit dem sperrigen Titel „Indu-striepolitisches Gesamtkonzept“ in denHänden. Darin stand alles, was einemWirtschaftsliberalen lieb und teuer ist: we-niger Kündigungsschutz, Schluss mit Min-destlöhnen, Schluss mit reduzierten Mehr-wertsteuersätzen, dafür aber niedrige Un-ternehmensteuern. Es waren Forderungen,mit denen Merkel 2005 zum Teil nochselbst in den Wahlkampf gezogen war.

Doch als Guttenbergs Liste an die Öf-fentlichkeit gelangte, brach Panik aus imKanzleramt. Erst distanzierte sich Merkelvon ihrem Wirtschaftsminister, dann di-stanzierte dieser sich von sich selbst. DasKonzept sei nicht seines, beteuerte er.

Es stimmt vermutlich, dass Guttenbergnicht alle Vorschläge seines Hauses sinn-voll findet. Es ist aber auch anzunehmen,dass er vieles, was in dem Papier steht, un-

terstützt. „Was geschriebenwird, wird auch gedacht“,kommentierte GuttenbergsParteichef Seehofer den Vor-gang im kleinen Kreis.

Nun will Guttenberg dasPapier selbst überarbeiten.Ob er die neue Fassung nochim Wahlkampf veröffentlicht,lässt er offen. Vorerst sucht erZuflucht im Reich der Esote-rik. „Es ist nicht mein Anlie-gen, Ihnen 50 oder 60 SeitenKonzept vorzulesen“, rief erseinen Zuhörern vergange-nen Dienstag auf dem Bon-ner Münsterplatz zu. „Ichwill einfach mein Herz zu Ih-nen sprechen lassen.“

Dafür erntet er kräftigenJubel. Guttenberg kann auchdeshalb so strahlen, weilSchwarz-Gelb sonst fast nuraltbekanntes Personal anbie-ten kann.

Bei der Union dürften jeneMinister weitermachen, dieschon die vergangenen vierJahre um Merkels Kabinetts-tisch saßen. Die FDP würde

mit noch älteren Gesichtern anrücken, dar-unter die halbe Bonner Republik.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,58, ist bereits 1996 als Justizministerinzurücktreten, 13 Jahre später soll sie insselbe Amt zurückkehren. Rainer Brüder-le, 64, der langjährige Minister aus Rhein-land-Pfalz, hofft schon seit mehreren Jahr-zehnten auf einen Ministerposten imBund. Nun endlich soll sich sein Wunscherfüllen. Sein älterer Rivale Hermann OttoSolms, 68, dient seiner Partei seit derKohl-Ära als Schatzmeister. Nun würde erzur Krönung seiner Karriere gern Finanz-minister werden.

Schon zweimal hat es schwarz-gelbe Re-gierungen in Deutschland gegeben. Dieerste hielt sich von 1961 bis 1965, die zwei-te währte 16 lange Jahre. Von Reformdy-namik waren beide nicht geprägt. Aus derÄra Helmut Kohl sind allenfalls die Außen-

politik im Jahr der Einheitund die Europapolitik inguter Erinnerung geblieben.Eine Reformregierung warSchwarz-Gelb jedoch nicht.Notwendigen Maßnahmen,vor allem in den Sozialsyste-men, verweigerte sich die Re-gierung Kohl und überließden rot-grünen Nachfolgerneinen riesigen Problemberg.

Dass es auch bei einerNeuauflage nicht viel schnei-diger zugehen wird, will allenvoran CSU-Chef Seehofer si-cherstellen, der sich als Ge-sundheitsminister unter Kohläußerst wohl fühlte. Sein Ziel

Deutschland

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CSU-Politiker Seehofer, Guttenberg: Herz sprechen lassen

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Schwarz-gelbe Regierung*: Reformen wurden vertagt

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Page 15: 2009_35 Krieg Der Deutschen 1939

ist es, alle forschen Pläne der FDP zu ver-hindern. „Wenn Herr Westerwelle glaubt,es wird nach der Wahl ein neoliberalesStreichkonzert geben, lernt er den Wider-standsgeist der CSU kennen“, droht See-hofer. Er hat sich schon genau überlegt,welche FDP-Ideen er blockieren wird.

Eine Lockerung des Kündigungsschutzeswill der CSU-Chef genauso verhindern wiedie Abschaffung der branchenbezogenenMindestlöhne. „Da werden wir ein Stopp-schild setzen.“ Außerdem ist Seehoferstrikt dagegen, dass die FDP die alte Ideeeiner Kopfpauschale im Gesundheitswe-sen aufwärmt. „Die Zustimmung zu einerPrämie wird es mit mir auf keinen Fall ge-ben“, sagt er.

Ärger steht auch beim Thema Gentech-nik ins Haus. Die Liberalen planen, denkommerziellen Anbau von Genpflanzen inDeutschland wieder zuzulassen – Seehoferwill dagegenhalten. Ähnlich vertrackt istdie Lage bei der Innenpolitik.

Im Frühsommer trafen sich die Innen-experten von FDP und Union in Berlin zueinem vertraulichen Gespräch in der Par-lamentarischen Gesellschaft. Bei Spargelwollten die Abgeordneten ausloten, wasman in einer gemeinsamen Regierung aufden Weg bringen könnte.

Bald war klar, dass nichts geht. Die Uni-onsleute mussten erkennen, dass die GroßeKoalition für sie nicht so schlecht war –immerhin konnten sie mit ihr die Anti-Ter-ror-Datei durchsetzen, Online-Durchsu-chungen von Computern und Strafen fürdie Ausbildung in Terrorcamps. Am Endedes Abends raunzte der CSU-Mann Hans-Peter Uhl über den Tisch, dass die Union

keinesfalls die Aufweichung der Sicher-heitsgesetze zulassen werde.

Seehofer steht mit seiner Gegnerschaftzur FDP nicht allein da. Auch SaarlandsMinisterpräsident Peter Müller findet, dieLiberalen dürften keinesfalls das Reform-tempo vorgeben. „In einer schwarz-gelbenKoalition wird die CDU dafür sorgen, dassnicht alles der Logik des Marktes unter-worfen wird“, sagt Müller. Den Kündi-gungsschutz will er unangetastet lassen,obwohl die FDP drängelt, wenigstensfrühere CDU-Vorschläge umzusetzen. „Wirsollten die Menschen nicht mit solchen De-batten verunsichern.“

Das findet auch Jürgen Rüttgers, seinKollege aus Nordrhein-Westfalen, der alsErster darunter leiden würde, sollte sichein Proteststurm gegen ein schwarz-gelbesBündnis erheben. Rüttgers muss sich imMai 2010 wieder zur Wahl stellen, da wäredie neue Bundesregierung erst ein paarMonate im Amt. Deswegen wird er genaudarauf achten, dass in Berlin nichts be-schlossen wird, was ihm die Wähler inNRW übelnehmen könnten.

Angela Merkel wird vermutlich vielVerständnis für Rüttgers aufbringen. Auchfür die Bundeskanzlerin wäre es ein De-saster, sollte die Macht im bevölkerungs-reichsten deutschen Bundesland nach nurfünf Jahren wieder an die Sozialdemo-kraten fallen. Denn spätestens dann wäreauch die schwarz-gelbe Mehrheit imBundesrat verloren. Merkel wäre ge-zwungen, alle wichtigen Gesetzesprojektemit der SPD abzustimmen, was einer in-formellen Wiederauflage der Großen Ko-alition gleichkäme.

Könnte man da nicht gleich beim Originalbleiben? Wirtschaftsliberale wie der frühe-re Fraktionschef Friedrich Merz, aber auchführende Politiker der CSU sind sicher, dassKanzlerin Merkel am liebsten eine Neuauf-lage der Großen Koalition hätte.

Vieles spricht dafür, dass sie recht ha-ben. Die weitere Zusammenarbeit mit derSPD böte aus Sicht der Kanzlerin zahlrei-che Vorteile. Merkel müsste keine neueRolle für sich finden, sie wäre weiter dieRegierungschefin, die sich aus dem Par-teienstreit heraushält.

In einer Koalition mit den Liberalenwäre das nicht möglich. Auf einmal gäbe esim Parlament eine starke Opposition. DieGewerkschaften ließen sich wieder gegendie Regierungspolitik mobilisieren, dieSPD würde Schwarz-Gelb weiter zur Ge-fahr für den sozialen Frieden erklären.Das alles spricht aus Merkels Sicht gegenSchwarz-Gelb.

Im kleinen Kreis redet sie gelegentlichoffen darüber. „Mit der FDP war es auchnicht einfacher“, sagt sie, wenn sich einerihrer Parteifreunde über die Sozialdemo-kraten beschwert. Unter Kohl saß Merkelsieben Jahre lang in einem christlich-libe-ralen Kabinett.

Wenn es für Schwarz-Gelb reicht, bleibtMerkel keine Wahl, als mit der FDP eineRegierung zu bilden. Der Druck aus ihrerPartei wäre zu groß. Ihre persönliche Prä-ferenz wäre es nicht unbedingt. „Wenn Siees sich aussuchen könnte“, sagt ein Mit-glied der Unionsspitze, „dann würde siemit der SPD weiterregieren.“

petra bornhöft, markus feldenkirchen,

ralf neukirch, rené pfister

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Gebäudereiniger im Berliner Reichstag: CDU und CSU haben sich mit branchenbezogenen Mindestlöhnen angefreundet

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Deutschland

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Wahlkampf können wir sowiesobesser, hat Franz Münteferingimmer gesagt. War doch so:

die Kampa 1998, die Wunderwaffe derSPD, die Gerhard Schröder ins Amtbrachte. Dann 2002: mit fulminantemFinish Edmund Stoiber abgefangen.Der durfte sich am Wahlabend nur fürein paar Stunden als angehender Kanz-ler fühlen. 2005 hätte Schröder dasKunststück beinahe mit Ange-la Merkel wiederholt, als er einen großen Rückstand inden Umfragen fast noch wett-gemacht hätte. Gefühlt wardas beinahe ein Sieg.

Aus dieser Reihe machteMüntefering ein Naturgesetz.Die CDU begann schon, andieses Naturgesetz zu glauben.

Jetzt zeigt sich, dass es diesesNaturgesetz nicht gibt. JederWahlkampf ist neu. Einstmalsgute Wahlkämpfer können pat-zen. Was früher funktionierte,muss nicht wieder klappen.Was einmal modern war, istplötzlich muffig, peinlich.

Im Wahlkampf 2005 hatFranz Müntefering zweierleibehauptet: Angela Merkelkann es nicht. Und: Nach derWahl werde es von ihr heißen:Sie tanzte nur einen Sommer.

Beides erwies sich später alsfalsch, aber erst einmal war eskess und traf einen Nerv. Zwi-schen zugespitzter Behaup-tung und der Einschätzung der Leutegab es einen Zusammenhang.

Im Wahlkampf 2009 sagt Müntefe-ring, Merkel könne schon mal die Um-zugskisten packen. Das soll wieder sokess sein wie damals, ist aber völlig ent-rückt, weil der Behauptung jeder Be-zug zur Wirklichkeit fehlt. Es klingt wieder Sound aus einer anderen Zeit, alshabe sich der Discjockey in einem Clubvergriffen, weil er auf einen Hit setzte,bei dem früher die Tanzfläche kochte.Und nun leert sich der Saal bei dieserNummer. Sie zieht nicht mehr. Sie istout. Die Lichter flackern, der Basswummert, und keiner tanzt.

Müntefering ist der Mann, der ausder Zeit gefallen ist. Die Fußballver-

gleiche („Wir sind in der 80. Minute,und es steht 0:2“) gehen längst auf den Wecker, das Münte-Deutsch („Ichkann Partei“) ist nicht mehr put-zig, sondern grammatisch falsch, dieKunstpausen und Zigarillo-Rauch-fäden sind nicht mehr cool, sondernblasiert.

Aber er macht weiter, er kann nurso, wie der gealterte Achtziger-Jahre-

DJ. Merkel solle endlich aus ihrer Eckerauskommen und sich dem Kampf stel-len, ein Boxbild, immerhin. Aber eswendet sich gegen ihn, weil es mindes-tens in dem Maße die eigene Ohn-macht thematisiert wie die Feigheit derKanzlerin.

Er sagt mehrmals, dass der Kanzle-rin die Arbeitslosen egal seien, weil siesich nicht auf ein konkretes Ziel fest-legt. In Merkels Amtszeit ist die Zahlder Arbeitslosen von fünf Millionen aufdrei Millionen gesunken. Selbst wennsie von Schröders Vorarbeit profitierthat, sind Merkel diese Zahlen schwerstreitig zu machen – und die Attackegeht abermals am Gefühl der meistenLeute vorbei.

Nichts zieht, erste Panik kommt auf.Versuch, Irrtum, neuer Versuch, das istder Wahlkampf der SPD. Die auffälli-gen Finanzhaie und Föhne mit Hemd-kragen der Europawahl, des Präludi-ums für den Bundestagswahlkampf,sind nach der Niederlage verschwun-den und durch altbackene Klientel-sprüche („Gesundheit darf kein Luxus-produkt werden“) ersetzt worden.

Wahlkampf können wir so-wieso besser – das stimmt nichtmehr. Ein Verdacht: Lag es alldie Jahre vorher gar nicht ander Kampa, an Münteferingoder Kajo Wasserhövel, son-dern an dem begnadeten Solis-ten Gerhard Schröder? Undder Rest war Mythos?

Das allein wäre eine schlim-me Erkenntnis für die SPD.Aber es ist noch schlimmer.Müntefering macht nicht nurtaktische Fehler. Er ist strate-gisch gescheitert. Denn demHauptsatz „Wahlkampf kön-nen wir sowieso besser“ gingein anderer voraus. Der ganzeSatz lautete: Wir gehen jetztin die Große Koalition, undWahlkampf können wir so-wieso besser. Im Grunde wares ein Kausalsatz: Weil wirWahlkampf besser können,können wir in die Große Ko-alition gehen.

Große Koalition tut weh,aber sie geht vorbei, und es

geht gut für uns aus. Mit diesem Ver-sprechen hat Mose Müntefering dieSPD in die Große Koalition unter An-gela Merkel gelockt. Das Versprechenhieß ganz persönlich: Ich führe euchaus dieser Gefangenschaft als Wahlsie-ger wieder heraus.

Danach sieht es bisher, dezent for-muliert, nicht aus. Und wenn es nichtklappt, werden sich viele in der SPDverraten und verkauft fühlen. Ganz per-sönlich von einem Mann, der schon fürsich in Anspruch genommen hat, aufdem nächsten Parteitag unabhängigvom Wahlausgang wieder zum Vorsit-zenden gewählt zu werden. Noch so einMüntefering-Satz, der sich anhört wiedas Echo aus einer vergangenen Zeit.

K O M M E N T A R

Münteferings VersprechenVon Christoph Schwennicke

Er macht weiter, er kann nur

so, wie der gealterte

Achtziger-Jahre-DJ. Es klingt

wie aus einer anderen Zeit.

„Merkel kann die Umzugskisten packen“

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Wahlergebnis inThüringen vomJuni 2004

Wahlergebnis im Saarland vom September 2004

August-

Umfrage

August-

Umfrage

Sonntagsfrage„Welche Partei würden

Sie wählen, wenn amnächsten Sonntag

Landtagswahl wäre?“

CDU

CDU

SPD

SPD

FDP

FDP

Grüne

Grüne

Linke

Linke

34

26,1

43,0

14,5

4,5 3,6

24

19

68

Infratest dimap fürARD-Deutschlandtrend

18. bis 20. August;1000 Befragte,

Angaben in Prozent

LANDTAGSWAHL THÜRINGEN / SAARLAND

38

47,5

30,826

5,29

5,6 62,3

15

Zurückhaltung gehört nicht zu OskarLafontaines Tugenden. Es gab Zei-ten, da begrüßte er an der Saar je-

den Busfahrer, der von der SPD zur Lin-ken überlief, schadenfroh und öffentlich-keitswirksam mit Handschlag. Nun polterter auf Parteiveranstaltungen und Sommer-festen mit hochrotem Kopf gegen die CDU und Ministerpräsident Peter Müller,verhöhnt die Grünen und schimpft auf dieFDP – nur über seine alte Partei und derenSpitzenkandidat Heiko Maas ist kein bösesWort mehr zu hören.

Die ungewohnte Schonung der SPD istStrategie. Wenn am kommenden Sonntagan der Saar und in Thüringen gewähltwird, will Lafontaine seine Ernte einfahren.In beiden Ländern droht den CDU-Minis-terpräsidenten Peter Müller und DieterAlthaus der Verlust ihrer absoluten Mehr-heit. Nicht zuletzt Lafontaines jahrelangerRachefeldzug gegen die SPD hat die eins-tige Volkspartei in den 20-Prozent-Bereichgedrückt. Doch jetzt hält er die Zeit fürgekommen, linke Bündnisse zu schmieden.Langsam sollen die Wähler an eine spä-tere Machtübernahme im Bund gewöhntwerden.

Lafontaine spekuliert auf gleich zweiPremieren: das erste rot-rote Bündnis imWesten und den ersten Ministerpräsiden-ten, der von seiner Partei gestellt wird.Doch die Linke hat ein Luxusproblem, zu-mindest in Thüringen: Sie könnte zu starkwerden. Die SPD scheut sich, als Junior-partner in ein rotes Bündnis einzusteigen.In beiden Ländern hat sie sich festgelegt,mit den Postkommunisten nur zu koalie-ren, wenn sie selbst den Ministerpräsiden-ten stellt. Trickreich sucht die Linksparteideshalb nach sozialdemokratisch verträg-lichen Lösungen.

Im Saarland scheint das vergleichsweiseeinfach zu sein. Nirgendwo sonst sind sichLinke und SPD so nah wie in dem kleins-

ten Flächenland. Die großen Themen, dieSPD und Linke im Bund weiter trennen –Hartz IV, Rente, Afghanistan-Einsatz –,spielen dort kaum eine Rolle.

Die problematischste Personalfrage müs-sen SPD und Linke im Saarland wohl oh-nehin nicht beantworten. Da die Linke inden Umfragen zurzeit doch deutlich schwä-cher abschneidet als die SPD, könnte La-fontaines früherer Zögling Heiko Maassein Wahlversprechen halten.

Um für das möglicherweise erste rot-rote Kabinett im Westen der Republikmöglichst keine Hürden aufzubauen, plantLafontaine bewusst mit Minister-Kandida-ten, die auch von der SPD akzeptiert wer-den können. Heinz Bierbaum, 62, einMann mit langjähriger Gewerkschaftsver-gangenheit und Professor an der Hoch-schule für Technik und Wirtschaft in Saar-brücken, könnte Wirtschaftsminister wer-den. Die Ex-Grüne Barbara Spaniol, 45,verfügt über viel Parlamentserfahrung undist als Quotenfrau für Bildung im Ge-spräch. Und der Sozialpolitiker der Saar-Linken, Volker Schneider, 54, hat sich alsRenten- und Arbeitsexperte der Bundes-tagsfraktion auch bei der SPD einen Na-men gemacht.

Komplizierter ist die Lage in Thüringen.Programmatisch sind sich Linke, SPD undGrüne auch hier sehr nah und zudem einigin dem Ziel, Althaus endlich abzulösen.Doch wer stellt dann den Ministerpräsi-denten? Die Demoskopen sehen die Linkevor den Sozialdemokraten. Bei Infratestdimap kommt Lafontaines Partei auf 24,die SPD auf nur 19 Prozent, die Grünenliegen bei 6 Prozent.

„Die SPD ist hier der Kleine“, dröhntSpitzenkandidat Bodo Ramelow, „wir sindder Koch, die SPD ist der Kellner.“ DieLinkspartei will zumindest davon träumendürfen, den ersten Ministerpräsidenten ausihren Reihen zu stellen. Aber genau diesenErfolg und diese Aufwertung wollen SPDund Grüne verhindern. Unermüdlich wie-derholt SPD-Spitzenkandidat ChristophMatschie seine Bedingung für ein Bündnismit der Linken. Das solle es nur geben,wenn die Sozialdemokraten den Minister-präsidenten stellen könnten – ihn.

Dass die SPD dafür stärker sein müsseals die Linkspartei, wiederholt Matschieallerdings nicht mehr. Und auch Ramelowerhebt in der Öffentlichkeit nicht mehr den

26 d e r s p i e g e l 3 5 / 2 0 0 9

L I N K E

Koch oder KellnerOskar Lafontaines Partei Die Linke will die SPD nach den

Landtagswahlen im Saarland und in Thüringen in rot-rote Bündnisse locken – als Probelauf für den Bund.

Wahlkampf der Linken in Thüringen: In aller Stille einen Notfallplan entwickelt

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Linkspolitiker Ramelow

„Die SPD ist der Kleine“

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Anspruch auf den Posten („Ich brauchekeinen Schreibtisch“), sondern reklamiertinzwischen sibyllinisch nur „als stärkstePartei das Vorschlagsrecht“ für sich. Daslässt offen, ob der Vorschlag zwangsläufigRamelow heißen muss.

Die Linke hat in aller Stille einen Not-fallplan entwickelt, um in Thüringen mit-regieren zu können. Wenn der Vorsprungder Linken vor der SPD klein ist, könntesie eine Verzichtslösung anbieten und alsJuniorpartner einsteigen. Liegt die Parteiaber wie in den Umfragen mehr als vierProzentpunkte vor den Sozialdemokraten,wäre ein Angebot für Lafontaine und sei-ne Getreuen ein Signal der Schwäche, dasauch der eigenen Basis und den Wählernnur schwer zu vermitteln wäre.

Für diesen Fall – so die Überlegung –könnte nach der Wahl innerhalb der SPDeine Palastrevolte gegen Matschie ange-zettelt werden. Denn der hatte sich fest-gelegt und wird nicht zuletzt deshalb vonRamelow als „Matschilanti“ verspottet, inAnspielung an die gescheiterten Macht-spiele der hessischen SPD-Spitzenkandi-datin Andrea Ypsilanti.

Innerhalb der thüringischen SPD gibt eseinen linkenfreundlichen Flügel rund umden ehemaligen Landeschef Richard De-wes. Doch Matschie hatte sich seinen Anti-Ramelow-Kurs durch eine Mitgliederbe-fragung bestätigen lassen und sich so dieSpitzenkandidatur gegen Dewes gesichert.Auf der Landesliste und im Vorstand plat-zierte er ausreichend eigene Unterstützer.

So ist ein Ministerpräsident von Rame-lows Gnaden die wahrscheinlichste Vari-ante, falls es möglich sein sollte, Althausabzulösen. Dass dann nicht der stärkereKoalitionspartner den Regierungschefstellt, wäre ein Novum in der bundesdeut-schen Politik. Vor allem Lafontaines Co-Parteichef Lothar Bisky drängt auf eineRegierungsbeteiligung, weil die Linke ne-ben dem Berliner Senat dringend rot-roteReferenzprojekte brauche, um ihr Imageals reine Protestpartei loszuwerden. Er istsich sicher, dass es nach der Wahl „einenklugen Kompromiss“ geben werde.

Um nicht das Gesicht zu verlieren, wür-de Ramelow in diesem linken Planspielden Ministerpräsidentenjob zunächst fürsich reklamieren und als Stärkster zu Koa-litionsgesprächen einladen. Dann könnteSPD und Grünen ein attraktives Paket anMinisterposten angeboten werden – weitmehr, als ihnen mit dem schwächerenWahlergebnis zustehen würde.

In Erwartung eines Neins könnte dieLinke schließlich mitten im Bundestags-wahlkampf die SPD als „undemokratisch“und „machtgeil“ vorführen, um am Endein Thüringen großmütig bei einem „linkenReformbündnis“ (Ramelow) mitzumachen.Die Tolerierung einer Koalition aus SPDund Grünen schließt Ramelow jedenfallskategorisch aus: „Wir wollen regieren.“

Markus Deggerich, Simone Kaiser

Es gibt Wandlungen, die verlangennach einer Erklärung. Wie wird einüberzeugter Atheist zum streng-

gläubigen Muslim, was macht aus einemfriedfertigen Familienvater einen Amok-schützen? Und wie kommt ein konser-vativer Professor, der über Jahre zu denbevorzugten Gesprächspartnern HelmutKohls zählte, zur Partei Die Linke?

Gerhard Besier hat einen Großteil seinesLebens auf der rechten Seite zugebracht.Er ist Theologe und Historiker, was einengegen politische Aufwiegeleien schon ein-mal weitgehend immunisiert; aus seinerFeder stammt das Standardwerk über denSED-Staat und die Kirche, einige Jahre hater das Hannah-Arendt-Institut für Totalita-rismusforschung in Dresden geleitet.

Nichts wies bislang auf einen Ausbruchaus der geordneten, konservativen Lebens-welt hin, auf die Hinwendung gar zu einerPartei, die in einer Reihe von Ländernimmer noch für so gefährlich gehalten wird,dass der Verfassungsschutz sie unter Beob-achtung hat. Wenn die Sachsen am kom-menden Sonntag zur Wahl gehen, wird Be-sier danach wohl für die Linke im Landtagsitzen, er steht auf Listenplatz 18, das reicht.

Also: Was ist da passiert?„Nun ja“, sagt Besier und blinzelt fröh-

lich in die Nachmittagssonne, „ich findeeinfach, dass es Zeit für einen Macht-wechsel in Sachsen ist.“ Zwanzig Jahre seijetzt die CDU in Dresden am Ruder, erhabe schon immer etwas gegen Staatspar-teien gehabt, da liege das Engagement fürdie Linke doch nahe, denn nur sie sei in

der Lage, der jetzigen Regierung gefährlichzu werden. Das klingt nachvollziehbar undein wenig irre zugleich.

Die Geschichte wäre unvollständig,wenn man nicht hinzufügen würde, dassBesier einen ganz persönlichen Grund hat,einen Machtwechsel herbeizuträumen.Jede Konversion braucht einen Treibsatz,in seinem Fall war es die Auseinanderset-zung um seinen Platz als Direktor am Han-nah-Arendt-Institut, der ihn erst von denChristdemokraten entfremdete und dannzur Linkspartei trieb.

Von Anfang an gab es Är-ger, weil sich der aus Heidel-berg zugezogene Historikernicht an die Spielregeln inDresden halten wollte. Er fandes zum Beispiel nicht in Ord-nung, dass die Linken von derCDU um ihren Platz im Bei-rat gebracht worden waren,und sagte das auch. Im In-stitut mussten die Mitarbeiterplötzlich Englisch sprechen,weil der neue Direktor dieForschungsgebiete ausweitete.Besier hat damit keine Pro-bleme, er hat viel in Amerikagelebt, er hat sich auch Pol-nisch und Schwedisch bei-gebracht, aus Neugier, wie

er sagt. Er ist überhaupt ein sehr um-triebiger Mensch, der sich für originelle Ideen begeistert, das überfordert mancheLeute.

Am Ende wurde ihm sein Einsatz fürReligionsfreiheit zum Verhängnis, der dieScientology-Organisation und die ZeugenJehovas mit einschloss, es gab ein bisschenbestellte Empörung, dann ließ ihn die CDUüber die Klinge springen. Er hat nichtnachgefragt, wie die Linken auf ihn ge-kommen waren, als sie ihm im Frühjahrein Mandat antrugen, aber auch umge-kehrt gab es erstaunlich wenig Fragen.

So wird jetzt im sächsischen Landtagwohl erstmals ein Abgeordneter der Links-partei sitzen, der viele sozialpolitische Vor-stellungen seiner Partei schlicht „Unsinn“findet, auch die Forderung nach einemsofortigen Abzug der Bundeswehr ausAfghanistan, und der mit den meisten Mit-gliedern nicht viel am Hut hat. Von einerVeranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stif-tung, die er neulich besuchte, erinnertBesier vor allem die „muffige Wärme“, diesich beim Erinnerungsaustausch der altenKader einstellte.

Wahrscheinlich ist es so: Der Professormöchte einfach gern auch im Landtag einpaar Reden halten und den alten Wider-sachern bei der Gelegenheit die Meinunggeigen. Was hat er zu verlieren? Der Postenals Professor an der Universität ist ihm sicher – „und die Linken“, sagt Besier, „diekönnen mir nicht in die Parade fahren,denn dann würden sie ja alle Vorurteileüber sich bestätigen“. Jan Fleischhauer

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K A R R I E R E N

„MuffigeWärme“

Der frühere Kohl-Berater und SED-Kritiker Gerhard

Besier will für die Linke in densächsischen Landtag ziehen.

Historikerfreunde Besier, Kohl 2001: Was ist da passiert?

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SPIEGEL: Herr Flasbarth, als künftiger Prä-sident des Umweltbundesamts sind Sie soetwas wie der oberste Klimaschützer derRegierung. Ist der Ökokollaps noch zustoppen?Flasbarth: Sonst säße ich nicht hier.Deutschland hat die Chance, ein Modellzu sein. In einem Kraftakt hat die GroßeKoalition beschlossen, den Kohlendioxid-Ausstoß bis 2020 um 40 Prozent gegenüber

1990 zu senken. Da sind wir wirklich wei-ter als alle anderen Industrieländer.SPIEGEL: Ist das Ziel auch zu erreichen?Flasbarth: Die beschlossenen Schritte rei-chen nur für ein Minus von 35 Prozent.Deshalb sollte die neue Bundesregierungsofort ein neues Klimapaket auflegen. Weilwir davon ausgehen müssen, dass ein Teilder heutigen Maßnahmen nicht vollständigfunktioniert, brauchen wir einen Puffer,um das Ziel bis 2020 sicher zu erreichen.Das neue Klimapaket sollte weitere zehnProzentpunkte CO2-Reduzierung bringen.SPIEGEL: Wie lässt sich das machen?Flasbarth: Wir müssen ernsthaft an den Ge-bäudebestand heran, an die Landwirtschaftund vor allem an den Verkehr.SPIEGEL: Wollen Sie sich mit dem Ruf nacheinem Tempolimit unbeliebt machen?Flasbarth: Man kann ja meinetwegen sa-gen, dass ein Tempolimit nicht geht, weil esbei den Autofreunden serienweise Herz-stillstand auslöst. Aber dann muss mandarlegen, wo sonst im VerkehrsbereichCO2 eingespart werden kann. Unsere Au-tos sind auch deshalb so schwer und ver-brauchsstark, weil sie dafür ausgelegt sind,bei 180 Stundenkilometer nicht aus der

Kurve zu fliegen. Das steigert den Ver-brauch, auch wenn man nicht rast. Ein Ab-rüstungsprogramm hin zu effizienten,schicken Leichtbauautos ist nötig.SPIEGEL: Die Industrie will jetzt doch imgroßen Stil Elektroautos produzieren.Flasbarth: Das reicht nicht. Würde manheute sein Elektroauto nachts aufladen,hätte man ein Atomauto. Denn Kernener-gie hat gerade dann einen bedeutenden

Anteil an der Stromerzeugung. Wenn aberdie Energieversorgung umgebaut wird, derStrom in Zukunft aus erneuerbarer Ener-gie kommt und die Autos nachts über-schüssigen Windstrom speichern, wäre dasein Riesenfortschritt.SPIEGEL: Aber 2020 soll es erst eine MillionElektroautos geben.Flasbarth: Das ganze Verkehrssystem mussauf den Prüfstand. Im Bundesverkehrswe-geplan, der die Entwicklung der Verkehrs-infrastruktur beschreibt, spielt Klimaschutzbisher kaum eine Rolle. Die Gewichtungzwischen öffentlichem und individuellemVerkehr ist völlig falsch. Wir brauchen nachder Wahl einen neuen Verkehrswegeplan,der dem öffentlichen Verkehr eindeutigVorrang gibt. Einige Straßenbauprojektewerden auf der Strecke bleiben müssen.SPIEGEL: Wird die Wirtschaft da nicht auf-heulen, der Wohlstand sei in Gefahr?Flasbarth: Als Ökonom finde ich es sehrbemerkenswert, dass dieselben Leute, dieuns Umweltschützern immer ökonomischeUnkenntnis vorgeworfen haben, nun durchHabgier weltweit Millionen Arbeitsplätzezerstört haben. Und in der Umweltbrancheentstehen weiter neue Arbeitsplätze.

SPIEGEL: Welche Zielmarke verfolgen Siebeim Klimaschutz?Flasbarth: Ein CO2-freies Deutschland bis2050 ist ein Projekt, das ich mit der wis-senschaftlichen Expertise des Umweltbun-desamts vorantreiben will. Wir werden derPolitik darlegen, wie das möglich wäre.SPIEGEL: Gehört Atomkraft dazu?Flasbarth: Nein. Bei der Atomkraft treteich ganz in die Fußstapfen meines Amts-vorgängers Andreas Troge, der nicht wieich in der SPD, sondern in der CDU ist.Der Atomausstieg hat erst den Freiraumdafür geschaffen, nicht immer auf dienächste Anti-Atom-Demo zu starren, son-dern auf die Energie der Zukunft. SPIEGEL: Hat Kohle eine Zukunft?Flasbarth: Das ist die wichtigste energie-politische Entscheidung, die ansteht. Nachder Wahl sollte es möglichst rasch einennationalen Kohledialog von Politik, Wirt-schaft, Wissenschaft, Umweltverbändenund Gewerkschaften geben. Unsere Fach-leute am Umweltbundesamt haben ausge-rechnet, dass wir bis 2020 keinen Neubauvon Kohlekraftwerken brauchen.SPIEGEL: Das würde bedeuten, dass alte,ineffiziente Kohlekraftwerke länger laufen.Flasbarth: Wenn man neue Anlagen baut,sind sie Jahrzehnte in Betrieb und könnendem Umbau zu einer nachhaltigen Ener-gieversorgung im Weg stehen.SPIEGEL: Umweltverbände gehen auch ge-gen die unterirdische CO2-Speicherungvor, die Kohlekraftwerke sauberer machensoll. Haben Sie dafür Verständnis?Flasbarth: Wer solche Speicher mit Atom-mülllagern vergleicht, übertreibt maßlos.Wenn man sieht, wie sehr andere Länderauf Kohle setzen, wäre es riskant, die CO2-Entsorgung komplett zu verdammen. We-nige Länder haben bei der Kohle ein sol-ches Know-how wie wir. Da haben wireine Verantwortung, das auch großtech-nisch zu erproben. In welchem Umfangwir das dann in Deutschland anwenden,ist eine Aufgabe für den Kohledialog.SPIEGEL: SPD-Kanzlerkandidat Frank-Wal-ter Steinmeier will die Steinkohleförde-rung nach 2018 fortsetzen. Passt das zu denumweltpolitischen Zielen?Flasbarth: Wie viel Kohle verbrannt werdensoll und wo die Kohle herkommt, sind zweiverschiedene Fragen. Ich würde aber da-von abraten, den Kohleabbau weiter zusubventionieren. Das Geld ist für den um-weltfreundlichen Umbau der Energiewirt-schaft dringender nötig.SPIEGEL: Also doch weg von der Kohle?Flasbarth: Das geht aus vielen Gründennicht schlagartig. Als Jugendlicher in Duis-burg-Rheinhausen habe ich mich gegen dieLuftverpestung engagiert. Als dann dieNachricht kam, das Stahlwerk werde ge-schlossen, war mir doch mulmig zumute.Solche Befindlichkeiten muss man beimWeg in die ökologische Industriegesell-schaft berücksichtigen.

Interview: Christian Schwägerl

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Künftiger UBA-Chef Flasbarth, Kohlekraftwerk bei Köln: „Neues Klimapaket nach der Wahl“

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„Elektroautos reichen nicht“Der designierte Präsident des Umweltbundesamtes (UBA),

Jochen Flasbarth, 47, über schärfere Klimaziele, die Verschlankungdes Autos und seine Pläne für einen nationalen Kohlekonsens

Page 20: 2009_35 Krieg Der Deutschen 1939

Ihre Vergangenheit als RAF-Terroristinschien Verena Becker seit langemhinter sich gelassen zu haben. Wegen

sechsfachen Mordversuchs und schwererräuberischer Erpressung war sie im De-zember 1977 zu lebenslanger Freiheitsstra-fe verurteilt worden, im Gefängnis hattesie sich glaubwürdig vom bewaffnetenKampf losgesagt. Im November 1989 kamsie frei, nachdem der damalige Bundes-präsident Richard von Weizsäcker sie be-gnadigt hatte.

Verena Becker, 57, hat sich in Berlin einebürgerliche Existenz aufgebaut, doch ihreVergangenheit wird sie nicht los.

Vor einigen Wochen offenbarte sie ei-nem Vertrauten am Telefon, wie sehr siedas Geschehen der siebziger Jahre nochimmer beschäftige – die bleiernen Jahredes RAF-Terrorismus, die sich ins kollekti-ve Gedächtnis der Deutschen einbrannten.Sie denke oft an all das, sagte Becker. Undja, sie wolle ihre Gedanken dazu aufschrei-ben. An ihrem Computer.

Becker fühlte sich sicher am Telefon. Sieahnte nicht, dass es heimliche Zuhörer gab.Sicherheitsbeamte lauschten dem Dialog,und sie waren sofort elektrisiert: Eine

frühere Terroristin wollte über ihre Zeitbei der RAF schreiben? Über den in we-sentlichen Teilen noch immer ungeklärtenMord an Generalbundesanwalt SiegfriedBuback am 7. April 1977 etwa? Über ihreRolle in dieser Zeit mit all ihrem Wissen?

Becker wusste nicht, dass die Fahnderseit dem Frühjahr auch verdeckt gegen sieermittelten. Anlass waren zwei Gutachten.Das BKA selbst und ein forensisches Insti-tut im westfälischen Münster hatten 32Jahre nach dem Mordanschlag auf Bubackund zwei Begleiter Briefumschläge und Be-kennerschreiben untersucht, die RAF-An-gehörige seinerzeit an die Medien ver-schickt hatten.

Und sie waren fündig geworden. Auf allen zehn Briefumschlägen wurden zwei-felsfrei DNA-Spuren von Becker nach-gewiesen. Die Expertise stützt, was Fahn-der seit den siebziger Jahren annehmen:Becker gehörte der Kommandoebene anund kennt die Hintergründe und den Hergang der Mordtat in Karlsruhe wie nur wenige.

Die Frage etwa, wer dem dreiköpfigenMordkommando angehörte und wer Bu-back erschoss, ist nach wie vor offen. Ver-urteilt wurden dafür die RAF-MitgliederKnut Folkerts, Christian Klar und BrigitteMohnhaupt – nach einer teilweise aber-witzigen Beweisführung. Dass das Trio dieTat gemeinsam begangen habe, „liegt aufder Hand“, heißt es etwa in der dünn be-legten Urteilsbegründung von 1985.

Becker, nun wieder im Visier der Fahn-der, wusste offenbar mehr. Sie hatte sich,wie der SPIEGEL (17/2007) enthüllte, imGefängnis Verfassungsschützern anvertrautund den ehemaligen RAF-Mann StefanWisniewski bezichtigt, auf Buback gefeuertzu haben. Der SPIEGEL hatte zudem auf-gedeckt, dass sich Knut Folkerts am Tattag

sehr wahrscheinlich in den Niederlandenaufgehalten hatte. Dennoch wurde er vomOberlandesgericht Stuttgart wegen des Bu-back-Mordes verurteilt.

Als Becker nun am Telefon ankündigte,über ihre Zeit als Terroristin schreiben zuwollen, erkannten die Fahnder schnell diemögliche Brisanz der mitgeschnittenenÄußerungen. Würde sich jetzt auf einmaldie Möglichkeit bieten, den Fall Bubackendlich aufzuklären?

Die Bundesanwaltschaft erwirkte einenDurchsuchungsbeschluss für Beckers Woh-nung in Berlin. Doch die Ermittler ließensich Zeit. Becker sollte in Ruhe ihre Erin-nerungen aufschreiben können. Und sogriffen sie erst am vergangenen Donners-tag zu.

Bei der Durchsuchung fanden die Be-amten einen Laptop und mindestens zweiweitere Rechner. Sie nahmen die Gerätemit, deren Festplatten nun ausgewertetwerden. Beckers Anwalt Walter Vennedeygab sich nach der Beschlagnahmung gelas-sen. Die Bundesanwaltschaft habe „nichts,was über den früheren Ermittlungsstandhinausgeht“, sagt er. Schließlich sei ein Er-mittlungsverfahren gegen Becker wegendes Buback-Mordes vor langer Zeit einge-stellt worden.

Tatsächlich war Becker bereits im ver-gangenen Jahr durch das Ergebnis neuerkriminaltechnischer Untersuchungen vomVerdacht der unmittelbaren Tatbeteiligungam Buback-Mord entlastet worden. Siewurde „als (Mit-)Verursacherin der Misch-spuren“ an einem Motorradhelm, einemHandschuh und einer Jacke, welche dieMörder Bubacks bei ihrer Flucht naheKarlsruhe zurückgelassen hatten, „ausge-schlossen“, bescheinigte ihr die Bundes-anwaltschaft. Carsten Holm,

Marcel Rosenbach

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T E R R O R I S M U S

BegehrteErinnerungen

Ermittler haben bei der Ex-RAF-Terroristin Verena Becker mehrere

Computer sichergestellt. Von der Auswertung erhoffen sie sichHinweise auf die Buback-Mörder.

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Tatort des Buback-Mordes, RAF-Terroristin Becker nach der Urteilsverkündung 1977: DNA-Spuren auf zehn Briefumschlägen

Page 21: 2009_35 Krieg Der Deutschen 1939

Ulla Schmidt steht auf der Bühne, esgeht um die Gesundheit, ein kom-pliziertes Thema, da kommt im Pu-

blikum auf dem Aachener Marktplatzplötzlich Heiterkeit auf. „He, Ulla“, ruftvon hinten ein etwa 30-jähriger Mann, erzeigt seine gespreizten Hände vor derBrust, „hier, guck mal.“ Die Finger desMannes klammern sich an ein imaginäresLenkrad. Es soll so aussehen, als säße eram Steuer eines Autos und führe Schlan-genlinien. Die Umstehenden feixen, einJugendlicher grölt. Der Mann spitzt sei-nen Mund und imitiert das Geräusch einerHupe: „Ulla, tut, tut.“

Selten so gelacht: Für die Bundesge-sundheitsministerin hat am Donnerstagvergangener Woche der Straßenwahlkampfbegonnen. Wo immer die SPD-Politikerindieser Tage auftritt, kann sie mit Spott undHäme rechnen. Es braucht nur einer„Auto“, „Spanien“ oder eben „tut, tut“zu sagen, schon wissen alle Bescheid.

Der Gag funktioniert sogar, wenn dieMinisterin gar nicht da ist. FDP-Chef GuidoWesterwelle hat Pointen mit der „Dienst-wagen-Ulla“ in sein Wahlprogramm ein-gebaut. Der sonst so schöngeistige Frei-herr Karl-Theodor zu Guttenberg von derCSU beginnt seine Reden gern damit, dasser von seiner angeblichen Beinahe-Ver-spätung erzählt. „Ich habe nämlich Pro-bleme gehabt, meinen Dienstwagen zu fin-den“, sagt er nach einer Kunstpause. „Datobt dann der Saal, und zwar nicht nur inBayern“, sagt Guttenberg.

Diese Woche geht der Spaß weiter:Schmidt hat angekündigt, am Mittwoch vorden Haushaltsausschuss des DeutschenBundestags zu treten und die Angelegen-heit mit ihren Dienstfahrten aufzuklären,und zwar endgültig. Das wäre dann ihrfünfter Erklärungsversuch in fünf Wochen.Bislang ist es Schmidt noch bei jedem Auf-tritt gelungen, ihre Lage zu verschlimmern.

Dabei ist die Angelegenheit verworrengenug. Mal hat Schmidt erklärt, sie habeihren Dienstwagen aus rein dienstlichenGründen an ihren Urlaubsort in Spanienbestellt. Dann sprach sie plötzlich von ei-ner Privatfahrt. Die Kosten für den Steuer-zahler bezifferte sie in einer ersten Versionauf 500 Euro, in einer zweiten Variante auf 3200 Euro und in der dritten womög-lich auf null. Gangster tauchten in derGeschichte auf und ein Gasanschlag undschließlich sogar wieder der schwarze

Mercedes, was für Ulla Schmidt womöglicheine gute Gelegenheit gewesen wäre, dieAffäre mit ein paar Worten der Reue undEntschuldigung zu beenden.

Doch die Ministerin sieht gar nicht ein,dass sie irgendetwas falsch gemacht hat.Ihr Fahrer muss mit dem Dienstwagen fast2000 Kilometer quer durch Europa nachSpanien rollen, und das alles nur, damitsie bei zwei Terminen in der Nähe ihresUrlaubsortes mit der schönen Limousinevorfahren kann. Muss wirklich erst derRechnungshof ein Gutachten vorlegen, umder Ministerin klarzumachen, dass hier ge-gen das Gebot der Wirtschaftlichkeit ausder Dienstkraftfahrzeugrichtlinie der Bun-desverwaltung verstoßen wird?

Ach was, befindet Ulla Schmidt. Nichtsie ist die Geisterfahrerin, alle anderen sind

auf der falschen Spur. „Korrektes Verhal-ten darf nicht zum Vorwurf führen, manhandle unmoralisch“, sagt sie. „Wenn doch,müssen die Richtlinien geändert werden.“

Da sind dann sogar einige Parteifreundefassungslos. Immerhin ist es vielen anderenMinistern bislang ganz gut gelungen,dienstliche und private Fahrten auseinan-derzuhalten. „Ich würde mich nicht soverhalten“, sagt Thüringens SPD-Spitzen-kandidat Christoph Matschie, der be-

fürchten muss, dass die Affäre auch sei-nem Ergebnis bei der Landtagswahl amkommenden Sonntag schaden wird.

Kritik aus den eigenen Reihen stacheltUlla Schmidt aber eher an. Dass SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeiersie nach dem missglückten Spanien-Tripzunächst nicht in sein Wahlkampfteam be-rief, erfüllt sie mit stillem Zorn. Zwar hat-te sie gegenüber Steinmeier anfänglichselbst von der Möglichkeit gesprochen,ihren Rücktritt einzureichen. Doch in derSPD gehen sie davon aus, dass es sich eherum ein taktisches Manöver gehandelt hat.Schmidt habe Steinmeier zwingen wollen,sich zu ihr zu bekennen.

Tatsächlich haben die Vertrauten der Mi-nisterin eine Theorie entwickelt, wonachdie Affäre längst ausgestanden wäre, wenn

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A F F Ä R E N

Die GeisterfahrerinJahrelang hat Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt gegen

Lobbyisten gekämpft und Funktionäre bekriegt. Nun scheitert sie in der Dienstwagenaffäre – an sich selbst.

Politikerin Schmidt im Dienstwagen, beim Wahlkampftermin vergangene Woche in Aachen:

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Steinmeier nicht gewackelt, sondern vonBeginn an an Ulla Schmidts Seite gestan-den hätte.

Augen zu und durch – mit dieser Strate-gie hat die Gesundheitsministerin gute Er-fahrungen gemacht. Fast neun Jahre hatsie sich im Amt gehalten. Länger hat das inihrem Job vorher keiner geschafft. Schmidtwertet ihr Überleben als Sieg über denmedizinisch-industriellen Komplex, auchwenn ihre lange Dienstzeit nach Meinung

vieler Experten mit einer nicht ganz solangen Erfolgsbilanz zusammengeht.

Die Stimmungsmache von großen Teilender Ärzteschaft hat sie ebenso ausgeses-sen wie die Wutwelle der Patienten nachEinführung der Praxisgebühr. Selbst Mord-drohungen konnten sie nicht aus dem see-lischen Gleichgewicht bringen. Schmidtzählte mitunter zu den am schärfsten be-wachten Mitgliedern der Bundesregierung,was für sie in den Jahren 2004 und 2005den erfreulichen Nebeneffekt hatte, dassder Einsatz ihres Dienstwagens bei jederFahrt gerechtfertigt war: wegen der ver-schärften Sicherheitsbedingungen. In derÖffentlichkeit präsentierte sie sich weiterals rheinische Frohnatur.

Den dazu nötigen Rückhalt holte sie sichbei einigen engen Vertrauten, die ihr auch

jetzt als Ratgeber dienen. Nach jahrelangenAuseinandersetzungen im Gesundheitswe-sen teilen Schmidt und ihre Berater dieWelt sauber in zwei Lager ein. Auf der ei-nen Seite stehen sie, auf der anderen Sei-te alle anderen. Und so konnte es passie-ren, dass aus einer vergleichsweise läppi-schen Angelegenheit ein Lehrstück überRealitätsverlust in der Politik geworden ist.

Die Ministerin sagt, der Vorwurf, sie seiabgehoben, schmerze sie selbst sehr. Sie

kenne doch die Menschen, deren Sorgenund Sehnsüchte. Sie sei immer eine Politi-kerin zum Anfassen gewesen.

Richtig daran ist, dass die Politikerin UllaSchmidt gern Menschen anfasst. Wenn siein Aachen durch die Stadt geht, kommt sienur langsam voran, weil ständig einer imWeg ist, den sie begrüßen will. Schmidttätschelt Wangen, streichelt Haare, drücktHände; sie umarmt Männer, Frauen, Kin-der. Es sieht so aus, als träfe sie allenthal-ben ihre liebsten Freunde.

Aber nur auf den ersten Blick. Finsterdreinblickende Leibwächter des Bundes-kriminalamts beargwöhnen jeden, der indie Nähe der Ministerin gerät. Für Verab-redungen ist ihre persönliche Referentin,ihre Pressestelle oder der Leiter ihres Aa-chener Wahlkreisbüros zuständig. Ein Mit-

arbeiter trägt Schmidt Autogrammkartennach. Die Unterschriften stehen schondrauf.

Bei ihrem Auftritt in Aachen tritt plötz-lich ein Mann vor die Ministerin. UllaSchmidt begrüßt ihn herzlich, man kenntsich. Der Mann hat ihr Fotos von einer Fei-er mitgebracht. Es handelt sich um privateSchnappschüsse, auf denen eine offenbargut gelaunte Ministerin mit anderen Leu-ten zu sehen ist.

Die meisten Menschen würden auf sol-che Fotos vermutlich mit spontaner Freu-de reagieren, mit einem Scherz und viel-leicht einer kleinen Anekdote. Doch UllaSchmidt hat für Fotos jetzt keine Verwen-dung. Die Zeit drängt, und es sind noch soviele Menschen auf dem Platz, die sie be-grüßen will, sie braucht die Hände frei.Und so muss sie die Fotos nur kurz hinterihren Rücken halten, und schon springtihre Referentin herbei, um die Bilder ab-zunehmen, in eine Mappe zu stecken undin Gedanken schon den Brief zu formulie-ren, den der freundliche Spender dem-nächst in seinem Briefkasten finden wird.

Schmidt ist an eine solch aufmerksameDienerschaft gewöhnt. Und so ist es keinWunder, dass sie die Kritik am Urlaubs-einsatz ihres Dienstwagens nicht versteht.So hat sie es schließlich in jedem Jahr ge-halten.

Schmidt ist der Meinung, dass sie sichsogar besonders ehrenwert benommen hat.Das Gerücht, der Chauffeur ihres Dienst-wagens sei in Wahrheit ihr Liebhaber,weist sie via „Bunte“ empört zurück. DieGeschichte, die Schmidts Leute verbrei-ten, klingt vielmehr so, als schulde die Fa-milie des Fahrers ihr großen Dank. Weildie Frau des Chauffeurs erkrankt war, habeSchmidt ihm erlaubt, den 15-jährigen Sohnmitzunehmen. Der Junge wäre ja sonstwomöglich unbetreut daheimgeblieben.

Als sicher gilt, dass die Reise des Jungenfür Schmidt recht teuer wird. Weil das Kindmit im Auto saß, kann die Ministerin nachden strengen Regeln für den Dienstwagen-gebrauch die An- und Abreise ihres Fahrersnicht als Dienstfahrt deklarieren. Die Tourwird vielmehr ihren Privatfahrten zuge-rechnet. Schmidts Berater haben bereitsgrob ausgerechnet, was das für ihre Chefinbedeutet. Der geldwerte Vorteil, den sie beider nächsten Einkommensteuererklärungangeben muss, geht in die Tausende.

Am Ende könnte die Sache womöglichnoch teurer werden. Hinter den Kulissendrängen Spitzenvertreter der SPD ihreNoch-Koalitionspartner aus CDU und CSUdarauf, die Aufarbeitung der Dienstwagen-affäre auf die Zeit nach der Bundestags-wahl zu vertagen. Dafür, so die Zusage,sollten dann auch alle Fahrten der Vergan-genheit überprüft werden.

Dass Ulla Schmidt nach der Bundes-tagswahl noch Ministerin ist, halten die Be-teiligten offenbar für ausgeschlossen.

Alexander Neubacher

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„He, Ulla, tut, tut“

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Die Erwartungen waren groß. Einneuer Deutscher Ethikrat, vomBundestag legitimiert und mit

26 Koryphäen besetzt, würde der Gesell-schaft die Chancen und Risikenbiowissenschaftlicher Umbrü-che aufzeigen, würde komplexeThemen erschließen und alsFrühwarnsystem für bioethischeKonflikte dienen. Als „unver-zichtbares Instrument in einerverantwortungsbewussten Ge-sellschaft“ pries Forschungsmi-nisterin Annette Schavan (CDU)das Gremium, das im Frühjahr2008 seine Arbeit aufnahm.

Inzwischen drängen die Ethik-räte ihren Auftraggebern denEindruck auf, dass sie verzicht-bar sind. Keine einzige Mei-nungsäußerung haben sie bisherzustande gebracht, kein rele-vantes Thema besetzt, keinerleiEinfluss auf die Politik genom-men. Die Stimmung ist entspre-chend mies. Die Unzufrieden-heit mit dem Vorsitzenden, demfrüheren BundesjustizministerEdzard Schmidt-Jortzig (FDP),wächst.

Eigentlich sind dies aufregen-de Zeiten für Bioethiker. De-menz wird zur Volkskrankheit,Pharmakonzerne arbeiten amGehirndoping, für die Stamm-zellforscher bricht die Ära kli-nischer Versuche an (siehe Sei-te 100).

Doch mit Zukunftsthemendieses Formats befasst sich derRat nur punktuell, im Rahmenfolgenloser Einmaltagungen. Inden eigentlichen Sitzungen widmet mansich lieber abstrakten, zeitlosen Themen(„Was ist der normative Anspruch gesund-heitsökonomischer Evaluationen?“) undLieblingsanliegen einzelner Mitglieder wieder „Babyklappe“. Die Frage, ob eine Mut-ter ihr Baby anonym bei einer Hilfsorga-nisation abgeben darf, soll nun Gegenstandeiner ersten Stellungnahme sein, die „vor-aussichtlich im September“ erscheint, wieSchmidt-Jortzig sagt. „Langwierig undmühsam“ verlaufe die Abfassung, gibt der

Vorsitzende zu. Am Ende werde es sichaber lohnen. Doch es ist ein Thema tragi-scher Einzelfälle und eher etwas aus dem19. Jahrhundert, als es von Findelkindernwimmelte – aber wohl kaum ein Leitthemader nächsten Jahrzehnte.

Man sei „in der Suchphase, bei derSelbstfindung“, hat der VorsitzendeSchmidt-Jortzig häufig gesagt. Inzwischengreifen solche Entschuldigungen nichtmehr. „Wir haben die bisherige Amtszeitkomplett verplempert“, sagt ein Ethikrat,der nicht namentlich genannt werden will,aber mit der Einschätzung nicht allein ist.

Als jüngst doch einmal ein Komplex mitgroßer Sprengkraft auf die Tagesordnungkam, die „Synthetische Biologie“, diekünstliche Lebewesen hervorbringenkönnte, ließen die Ethikräte nicht die

führenden Wissenschaftler des Feldes auf-marschieren. Sie begnügten sich mit demÜberblicksreferat einer wissenschaftlichenMitarbeiterin.

Die wies zwar auf „philosophische Konsequenzen der Erschaffung künstlicher Lebewesen“ hin und darauf, dass eine„qualitativ neue Stufe der Lebensmani-pulation“ möglich sei. In deutschen undinternationalen Labors laufen bereits Ex-perimente dieser Art. Doch der Vorsitzen-de Schmidt-Jortzig beschied, das klinge zu

sehr nach Zukunftsmusik, sei also „nochnicht interessant“.

Wenig später legte die Nationale Aka-demie der Wissenschaften umfassend dar,was für eine gewaltige Dimension die neueBiologierichtung hat – peinlich für denEthikrat. Dessen Mitglieder beschäftigensich lieber mit Fehden untereinander. Rätewie die Juristen Spiros Simitis und Kris-tiane Weber-Hassemer, die zuvor im Vor-gängergremium, dem Nationalen Ethikrat,waren, beharken sich mit Ethikhütern ausder früheren Enquetekommission des Bun-destags. Die wenigen Neulinge haben dasGefühl, zwischen den zwei Lagern einerzerstrittenen Familie gelandet zu sein.

Es rächt sich, dass der Deutsche Ethikratnach Proporz, Beziehungen und Partei-nähe besetzt wurde, mit Ex-Politikern wie

dem früheren Ministerpräsiden-ten Erwin Teufel, emeritiertenProfessoren und Honoratioren.Diven besetzen Plätze, für diees deutlich kompetentere An-wärter gibt. Zu viele spröde Ju-risten und zu wenige Kennerder Biowissenschaften sind anBord. Der introvertierte JuristSchmidt-Jortzig hat es bishernicht geschafft, die Gruppe hin-ter einem relevanten Großpro-jekt zu versammeln.

Dem früheren NationalenEthikrat wurde der „Geburts-fehler“ diagnostiziert, ein Ge-schöpf des damaligen Bundes-kanzlers Gerhard Schröder(SPD) zu sein und damit keinezeitgemäße Legitimation zu ha-ben. Der neue Deutsche Ethik-rat weiß sich dagegen im Besitzvoller parlamentarischer Rü-ckendeckung. Doch das hat dieArbeit nicht verbessert.

Dem alten Ethikrat hatteKanzler Schröder mit der Bitte,die Forschung an embryonalenStammzellen zu begutachten,hohen Erfolgsdruck und vielAufmerksamkeit beschert. Ar-beitsaufträge an das neue Gre-mium gab es bisher weder vomParlament noch von der Bun-desregierung. „Da ist bishernichts gekommen“, kritisiertSchmidt-Jortzig. Aber der Rathat die Gelegenheit bislang

nicht genutzt, sich mit eigenen, zukunfts-weisenden Schwerpunkten einen Namenzu machen.

Der Ethikrat dümpelt vor sich hin. Ihmkönnte das gleiche Schicksal drohen wiedem Innovationsrat von BundeskanzlerinAngela Merkel (CDU). Weil es eine Natio-nale Akademie der Wissenschaften gibt,die als zentrale Instanz der Politikberatunggedacht ist, beerdigte Merkel den Innova-tionsrat kurzerhand. Christian Salewski,

Christian Schwägerl

Deutschland

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P O L I T I K B E R A T U N G

Selbstfindungfür Diven

Der neue Deutsche Ethikrat wirdseinen Aufgaben nicht gerecht. Er

sorgt nicht für Durchblick in der Biopolitik, sondern dient den Räten als Beschäftigungstherapie.

Deutscher Ethikrat, Embryonenforschung: Kein Profil entwickelt

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Seit Jahrhunderten schon sind Ge-heimsprachen für Kriminelle unver-zichtbar. Lohnende Einbruchsobjek-

te markieren Gauner mit versteckten Zei-chen, Terroristen reden von „Teig“, wennsie Sprengstoff meinen. Fragen Mafiosi amTelefon nach „weißen Fensterläden“, istKokain gemeint. Auch Vokabeln aus derLandwirtschaft scheinen zu den geheimenCodes zu gehören.

Es war am 26. Juli, gegen 20.30 Uhr, alsder in Palermo geborene Maurizio P., 44,am Telefon fragte, ob denn die Kuh schongemolken sei. Da lachte sein LandsmannFilippo F., 59, am anderen Ende der Lei-tung, schwärmte von seinem Berlin-Besuchund vom Milchvieh: „Zwei Euter“ habedie Kuh, und zwar „zweimal so dick“.

Am Telefon waren an diesem lauenSommerabend jedoch nicht nur zwei Sizi-lianer mit Melkphantasien, sondern Ex-perten des Bundeskriminalamts (BKA).Kuh und Euter, kombinierten die Lauscher,damit könne nur eine Bankfiliale in Berlingemeint sein.

Tage später sorgten vermummte Män-ner für Aufsehen in der Hauptstadt. Be-amte eines Sondereinsatzkommandos stan-den mit Maschinenpistolen an Verkehrs-knotenpunkten, die Spezialeinheit GSG9überwachte mehrere Straßenzüge inKreuzberg-Friedrichshain. In einem Café

am Lausitzer Platz nahm die Polizei am31. Juli acht Italiener fest („eingebunden indie Organisierte Kriminalität auf Sizilien“),wegen des „Verdachts der Verabredung ei-nes Verbrechens“. Palermo an der Spree –das ist immer heißer Stoff.

Seitdem wird viel spekuliert. Plantetatsächlich eine „Mafia-Bande“ („BerlinerMorgenpost“) in Berlin einen Raubüber-fall? Oder war der Zugriff nicht doch einFlop? Denn der spektakulären GSG-9-Ak-tion folgte ein zweiter erstaunlicher Schritt.Am 12. August beantragte die Berliner

Staatsanwaltschaft bei Gericht die Auf-hebung des Haftbefehls. BKA und BerlinerJustiz interpretieren den Fall nun unter-schiedlich. Von ganz schweren Jungs istweiterhin in Wiesbaden die Rede, von„Aufschneidern“ dagegen in Berlin, die daetwas „aufgeblasen“ hätten – womit nichtetwa die acht Verdächtigen, sondern dieursprünglichen Tippgeber gemeint sind,die Polizisten in Palermo. Manchmal liegenVerdacht und Verschwörungstheorie ebennah beieinander.

Es war das internationale Alarmsystemmit dem klangvollen Namen „Sirene“,über das am 17. Juni beim BKA eine bri-sante Nachricht der italienischen Kollegenaus Palermo eintraf. Am kommenden Tagwollten demnach zwei Sizilianer nachDeutschland reisen, geplant sei ein Raub-überfall auf einen Juwelier. Als Beigabefolgten die Handynummer eines mutmaß-lichen Komplizen in Deutschland und derHinweis auf die Vorstrafen der beidenReisenden. Einer war schon wegen einesBankrotts in Haft, der andere wegen einesRaubes.

Das BKA machte also seinen Job, ge-nau wie die Staatsanwaltschaft in Berlin.Ein Ermittlungsverfahren wurde eröffnet,Telefonüberwachungen wurden geschaltet,ein Observationskommando auf die Spurgesetzt. Schnell war der mutmaßlicheKomplize ausgemacht, ein seit langem inBerlin-Kreuzberg lebender Italiener, dervor Jahren beim Scheckbetrug ertapptworden war: Michele P., 56. Seine Woh-nung wurde fortan observiert.

Doch der Tipp aus Italien erwies sichals nicht sonderlich präzise. Keiner dermutmaßlichen Gangster traf am 18. Juniin Berlin ein. Erst am 26. Juli landeten dreiItaliener in Tegel, einen Tag später reistendrei weitere über Prag nach Berlin. Undweil Italiener viel telefonieren, wuchs dieBande aus Sicht der Ermittler schnell aufacht Personen an. Auch ein älterer Herrwar darunter, ein 71-jähriger Pensionär, ein

Mann ohne Vorstrafen, abermit Herzproblemen.

Zu diesem Zeitpunkt hät-ten die Fahnder nachdenk-lich werden können. EinHinweis, der nicht ganzstimmt, ein älterer Herr aufEinbruchstour in Berlin?Aber der Verdacht war nunmal in der Welt, und so wur-de rund um die Uhr nachIndizien gesucht. Einmaletwa – schon kurz nach Mit-ternacht – saßen die Italie-ner in einem Berliner Café,als einer von ihnen eineBewegung machte, die demobservierenden Beamtenberichtenswert schien. Mit

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Spezialeinheit GSG9: Alles wertloser Mist

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Zwei Euter, kein BlablaPlante die Mafia einen Banküberfall in Berlin?

Erst verdächtigten Ermittler acht Italiener, dann die italienischen Behörden – der Aufschneiderei.

Deutschland

Vermeintliches Einbruchsziel in Berlin

„Dann bist du Madame“

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dern sie auch dokumentieren und ver-gleichbar machen, um die Vergabe vonChancen – Studienplätze, Plätze an weiter-führenden Schulen, Ausbildungsplätze –zu legitimieren. Noten sind also auch eine Basis für halbwegs gerechte Entschei-dungen.SPIEGEL: Ist das nicht ein bisschen wenig:ein halbwegs gerechtes Bildungssystem?Klieme: Ein hundertprozentig gerechtesSystem gibt es nicht, weder in unserer Ge-sellschaft noch in unserem Bildungswesen.Auch mit standardisierten Tests kann manGerechtigkeit und Vergleichbarkeit zwarsteigern, aber nicht erzwingen. Deshalb istein Bildungssystem, das Entscheidungenallein von Tests abhängig macht, wie esteilweise in den USA der Fall ist, für michkeine Alternative.SPIEGEL: Aber Sie selbst haben es schon als„kontrafaktische Annahme“ bezeichnet,dass Lehrer objektiv urteilten. Klieme: Noten haben einen subjektivenAnteil, das ist richtig. Lehrer benoten nichtnur die Leistung, sondern auch das En-gagement, die Motivation und das Poten-tial, das sie in einem Schüler sehen. Das istpädagogisch gesehen auch sinnvoll …SPIEGEL: … schränkt aber die Vergleichbar-keit ein.Klieme: Ja, insofern gibt es eine hundert-prozentige Vergleichbarkeit nicht. Aberwie gesagt: Standardisierte, zentrale Testssind ein Orientierungsrahmen für Lehrerund kein Ersatz für deren eigenes Urteil.

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„Halbwegs gerecht“Der deutsche Pisa-Chef und Bildungsforscher Eckhard Klieme

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Schüler mit Zeugnissen in Siegen: „Die Noten sind besser als ihr Ruf“

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der linken Hand habe einer der Männersich an die Hüfte gegriffen, die Jacke nachhinten geworfen und das Ziehen einerWaffe nachgeahmt. Ein anderes Mal hättengleich mehrere Angehörige der ominösenReisegruppe eine Sparkasse durch denHaupteingang betreten, später mehrmalsund in unterschiedlicher Zusammenset-zung sowohl die Vorder- als auch dieRückseite einer Filiale der Postbank ab-gelaufen, also ausgekundschaftet. Auch beimehreren Juweliergeschäften hätten dieMänner Auslagen angeschaut.

Bestätigt sah das BKA seinen Verdachtauch durch die Telefonüberwachung, undzwar nicht nur durch das Gespräch überKühe und Euter. Mehrfach war an denHandys von einem Grundstücksgeschäftdie Rede, das viel Geld bringen solle. „Ge-schäft“ registrierten die Ermittler, damitkönne nur der geplante Raub gemeint sein. Selbst ein Wutausbruch: „Mensch,was ist das für ein Scheißdurcheinandermit denen“, schien für eine BandenbildungBeleg zu sein. Eine Bemerkung einesmutmaßlichen Gangsters zu seiner Freun-din aber alarmierte besonders: „Wenndiese Woche alles über die Bühne geht,dann bist du Madame. Hast du verstan-den? Und das ist echt kein Blabla … Dasgeht schnell, zack, zack.“ Auch der Dia-log – „Wie geht’s?“ – „Hm, hm … Na ja,wir versuchen gerade, wenn’s möglich ist,früher nach Hause zu kommen.“ – schienden Spezialisten für Organisierte Krimi-nalität suspekt. Gedeutet wurden solcheSätze als Anzeichen für den bevorstehen-den Raubüberfall.

Und so wurde es etwas ungemütlich, erstfür die Italiener, dann für die Ermittler.Kaum waren die acht Männer in Haft,musste der älteste mit Herzproblemen ins Haftkrankenhaus, während die Poli-zei vergebens nach gerichtsfestem Belas-tungsmaterial suchte. Eine Perücke, eineSchreckschuss- und eine Luftpistole warendie gesamte Ausbeute der Durchsuchungs-aktion. Alles wertloser Mist, wie es bei derBerliner Justiz heißt.

Auch die Vernehmungen verliefen ohneErfolg. Zum Urlaub seien sie in Berlin,rechtfertigten sich mehrere Verdächtige.Er wolle Schmuck aus der Heimat in Berlinverkaufen, ließ sich ein anderer ein, womiter die Besuche bei Berliner Juwelierge-schäften begründete und sich womöglichder Anfangsverdacht der italienischen Er-mittler erklärt.

Die waren nun die letzte Hoffnung derFahnder. Und so machten sich zwei BKA-Beamte auf nach Palermo. Doch die Italiener stellten – wie es im Amtsdeutschheißt – „keine Beweismittel“ zur Verfü-gung, auch nichts Konkretes in SachenOrganisierte Kriminalität. „Wir brauchtenButter bei die Fische“, sagt ein Ermittler.„Aber es gab weder Fische noch Butter.“

Aller Voraussicht nach wird das Verfah-ren demnächst eingestellt. Stefan Berg

Klieme, 54, verantwortet seit Jahresan-fang den Pisa-Test in Deutschland undwar Sprecher der Autorengruppe, die denNationalen Bildungsbericht 2008 erstellthat. Er hat Mathematik und Psychologiestudiert und ist am Deutschen Institut fürInternationale Pädagogische Forschungsowie als Professor für Erziehungswis-senschaft an der Goethe-Universität inFrankfurt am Main tätig.

SPIEGEL: Herr Professor Klieme, in denmeisten Bundesländern hat die Schuleschon wieder begonnen. Viele Schüler zit-tern nun wieder vor schlechten Noten.Wäre es nicht besser, den Schülern diesenStress zu ersparen und auf Zensuren undZeugnisse zu verzichten?Klieme: Nein. Das Bildungssystem mussKompetenzen nicht nur vermitteln, son-

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Deutschland

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getragen. Können Sie verstehen, dass dasmanchen aufstößt?Klieme: Ich finde diese Sprache unschön,diese Anglizismen, und auch das WortQualitätssicherung passt nicht richtig zurPädagogik. Aber ich bin davon überzeugt,dass man ein Interesse daran haben sollte,welche Bildungsinhalte wie vermittelt wer-den. Dazu gehört auch, genau nachzu-schauen, was tatsächlich erreicht wordenist. In unserer Desi-Studie, der ersten na-tionalen Leistungsstudie, haben wir fest-gestellt, dass von den Hauptschülern nurein Drittel das Ziel erreicht hatte, das lautLehrplan erreicht werden muss. Das hattevorher niemand gedacht – man war einfachdavon ausgegangen, dass das Ziel in derRegel erreicht wird. SPIEGEL: Es war allen egal, ob Schülertatsächlich etwas lernen?Klieme: Man begegnet nach wie vor einerverbreiteten Einstellung: Wenn die Stim-mung stimmt, also wenn die Lernfreudeund die Motivation und das Engagementhoch sind, dann ist man schon zufrieden.Das Engagement und die sozialen Fähig-keiten der Schüler werden ausgespieltgegen die kognitiven Leistungen. Das istleider ein Grundmotiv der Bildungsdiskus-sion in Deutschland, aber mir ist beidesgleich wichtig!SPIEGEL: Heute haben wir all diese Schüler-studien mit den schönen Namen: Desi,Timms, Pisa, Iglu. Hinzu kommen Ver-gleichsarbeiten und Zentralabiture. Über-treiben wir jetzt in die andere Richtung:Erst haben wir zu wenig gemessen, jetzt messen wir zu viel? Klieme: Wir hatten einen enormen Nach-holbedarf im Vergleich zu anderen west-europäischen und amerikanischen Län-dern, nicht nur den USA. SPIEGEL: Wo stehen wir heute?Klieme: In der Wissenschaft haben wir auf-geholt, auch durch Pisa. Aber wir habennoch nicht so recht verstanden, dieses Wis-sen in der Praxis zu nutzen. Bei uns ist diepädagogische Diagnostik, also das Erfas-sen, Verstehen und Beurteilen von Leis-tung und Leistungsschwierigkeiten, völligunterentwickelt. Noch heute sagen mir Re-ferendare, davon verstünden sie nichts, dassei nicht Teil ihrer Ausbildung. Die sinddann entsprechend unsicher, was das Ent-decken von Förderbedarf oder auch dieNotengebung betrifft. SPIEGEL: Wir messen alles, aber wir ma-chen nichts daraus?Klieme: Ich muss zugeben, dass ich selbstvor zehn Jahren gedacht habe: Wenn maneiner Schule oder einem Lehrer Feedbackgibt, dann tut sich schon etwas. Inzwischengehen wir viel stärker in den Dialog mitSchulen. Aber tatsächlich werden die Er-gebnisse noch nicht ausreichend genutzt –vor allem nicht da, wo es wirklich Proble-me gibt. Diese Schulen brauchen guteRückmeldung und mehr Unterstützung.

Interview: Markus Verbeet

nigstens innerhalb eines Landes ähnlicherwird. SPIEGEL: Muss man denn wirklich schonGrundschüler mit schlechten Noten behel-ligen? Klieme: Ich sage nicht, dass man Noten un-bedingt auch schon ganz früh braucht.Pädagogisch wichtig ist von Anfang an dieindividuelle Rückmeldung. Ein Vergleichmit anderen und eine Gesamtbilanz, wiesie in Noten stecken, werden dann wichti-ger, wenn es auf den Abschluss zugeht undwenn Chancen verteilt werden. Da brau-chen wir Noten, aber wir sollten uns auchhier nicht allein auf sie stützen. Bei derVergabe von Studienplätzen sollte es wei-tere Kriterien geben.SPIEGEL: Das heißt: Wo es wichtig wird,sollen wir Noten wichtig nehmen – aber sowichtig dann auch wieder nicht?Klieme: Die Noten müssen ergänzt werden.Ich habe eine Zeitlang am Zulassungstestfür Mediziner mitgearbeitet, der in derKombination mit der Abiturnote eine guteAussagekraft besitzt. Eine Mischung vonsolchen lokalen Kriterien wie der Abitur-note und standardisierten Kriterien wiedem Medizinertest ist das Beste. SPIEGEL: Immer mehr Hochschulen führeneigene Eingangstests ein.Klieme: Wenn Studienplätze Mangelwaresind, ist mir vieles lieber, als nur die Notezu berücksichtigen oder gar nur zu losen.Aber man muss schauen, ob die Verfahrenhalten, was sie versprechen. Ich würdemeinen Kindern nicht empfehlen, sich ei-nem Test zu stellen, den sich die Professo-ren einer Universität nebenbei ausgedachthaben. Einen Test zu erstellen, das ist eineprofessionelle Kunst, die man beherrschenmuss. SPIEGEL: Wenn heute über Bildung gere-det wird, geht es häufig um Evaluation,um Leistungsmessung, und man hört Wör-ter wie Top-down-Ansatz, Output oderOutcome. Die Pisa-Studie, deren deut-schen Teil Sie verantworten, hat dazu bei-

Abiturprüflinge in Düsseldorf: „Wenn die Stimmung stimmt, ist man schon zufrieden“

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Sonst würden sie die Pädagogik kaputt-machen.SPIEGEL: Wie gerecht ist denn das Urteildes einzelnen Lehrers?Klieme: Die meisten Lehrer schaffen esrecht gut, so etwas wie eine Rangliste auf-zustellen: Wer ist der Beste, wer ist derNächstbeste? Und zwar ohne allzu großeVerzerrungen. Die Noten sind besser alsihr Ruf, sie sind zumeist eine faire Be-urteilung …SPIEGEL: … aber doch nur innerhalb einerKlasse.Klieme: Genau. In dem Moment, wo mandie Noten über Klassen, Schulen oder garBundesländer vergleicht, bricht das Sys-tem zusammen. Wir wussten ja schon vorJahrzehnten, dass die Standards in denBundesländern unterschiedlich sind, gera-de in den Oberstufen. Zentrale Abschluss-prüfungen, wie sie in den meisten Bundes-ländern eingeführt worden sind, könnendazu führen, dass die Notengebung we-

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Wer die Kanzlei von Knut Müller,40, in München-Schwabing be-sucht, merkt schnell, dass die Ge-

schäfte der Firma (Motto: „Spaß am Er-folg“) florieren. Selbst am Abend huschennoch Gäste und Mandanten über die Flu-re, darunter einstige Top-Manager großerKonzerne oder der Krisen-Bank HypoReal Estate. Der Arbeitsrechtler Müller giltals Spezialist für schwierige Fälle.

Das erfährt zurzeit auch der Siemens-Konzern leidvoll, der nur einige hundertMeter entfernt residiert. Müller und seineMannen vertreten knapp ein Dutzend ehe-malige Konzernmanager, die im Zuge derSchmiergeldaffäre gehen mussten, darun-ter auch der frühere Finanzchef der einstbesonders anfälligen Kommunikations-sparte, Michael Kutschenreuter.

Ab Herbst muss der sich vor dem Münch-ner Landgericht unter anderem wegen desVorwurfs der Untreue und Bestechung ver-antworten (SPIEGEL 25/2009). Aus einemanderen Verfahren dürfte Kutschenreuterdagegen als Sieger hervorgehen: aus demStreit mit seinen Ex-Arbeitgeber um diefristlose Beendigung seines Vertrags.

Siemens wird dem im Winter 2006 vor-übergehend inhaftierten und kurz danachabgelösten Ex-Top-Manager bis Ende 2008nicht nur sein Jahresgehalt in sechsstelligerHöhe zahlen müssen. Zusätzlich darf Kut-schenreuter wohl auch ansehnliche Ein-

nahmen aus der Nutzung von Aktienop-tionen behalten, die er im Dezember 2007einlöste.

Das Unternehmen hatte ihm damalsgleich vier fristlose Kündigungen geschickt.Doch das Münchner Oberlandesgericht er-klärte sie allesamt für unwirksam. WichtigeFristen seien versäumt worden. Sollten dieStreitparteien sich nicht gütlich einigen,muss sich demnächst der Bundesgerichts-hof (BGH) mit dem Fall beschäftigen.

Siemens wird die Schatten der Vergan-genheit nicht los. Und was auf den erstenBlick wie juristische Spiegelfechterei klingt,könnte sich als Lehrstück für den Umgangmit korruptionsanfälligen Mitarbeitern auchbei anderen Firmen erweisen.

Nachdem sich die neue Konzernspitzeunter dem Österreicher Peter Löscher undAufsichtsratschef Gerhard Cromme Ende2008 mit den US-Behörden auf eine Straf-zahlung in dreistelliger Millionenhöhe ge-einigt hatte, schien der Schmiergeldskandalweitgehend ausgestanden – abgesehen vonnoch anhängigen Schadensersatzforderun-gen an knapp ein Dutzend Ex-Vorstände.

Doch nun schwappt eine Flut von Pro-zessen in die Gerichte. Neben Kutschen-reuter klagen derzeit knapp zwei Dutzendweitere Ex-Siemensianer im In- und Aus-land gegen ihre Kündigung. Als knifflig er-weisen sich insbesondere einige Auslands-fälle. Dort gelten mitunter extrem kurzeFristen für die Trennung von untreuen An-gestellten. Manche Länder verlangen vordem Rauswurf eine rechtskräftige Verur-teilung wegen Korruption.

Auch die ersten entschiedenen Fälle inDeutschland lassen für den Konzern nichtsGutes ahnen: In der Regel schlugen sichdie Richter auf die Seite der Geschassten.

Schon Ende vergangenen Jahres er-klärte das Münchner Arbeitsgericht denRauswurf eines Siemens-Managers in Sau-di-Arabien für unwirksam. Der Mann hat-te sich auf Anweisung seines VorgesetztenGeld auf sein Privatkonto überweisenlassen und es anschließend bar unter an-

derem an seinen Chef übergeben. Derwollte damit offenbar Aufträge ergatternoder die Bezahlung von Rechnungen be-fördern.

Da auch Siemens selbst nicht genug zurEindämmung der Korruption unternom-men habe, sei die Kündigung des Mannesunverhältnismäßig und treuwidrig, argu-mentierten die Richter. Im Juni bestätigteauch das Landesarbeitsgericht die Ent-scheidung. „Mein Mandant ist nach wievor bei Siemens beschäftigt“, frohlocktsein Berliner Anwalt Bernhard Steinkühler.

Noch bizarrer wirkt auf juristische Lai-en der seit rund anderthalb Jahren schwe-lende Rechtsstreit zwischen Kutschenreu-ter und seiner alten Firma. Obwohl er beiSiemens bereits Anfang 2007 Hausverboterhalten hatte, zahlte der Konzern ihmzunächst bis zum November seine Bezügeweiter. Womöglich ein Anreiz, bei seinenzahlreichen Vernehmungen bis Ende Juni2007 amtierende oder frühere Vorständenicht allzu massiv zu belasten?

Erst am 28. November, gut ein Jahr nachBekanntwerden des Korruptionsskandals,beschloss die Siemens-Führung auf Emp-fehlung eines kurz zuvor eingerichtetenExpertengremiums, sich von Kutschenreu-ter zu trennen – allerdings wohl zu spät.

Bereits kurz nachdem die erste Kündi-gung vom 3. Dezember am nächsten Mor-gen bei dem Manager eingetroffen war,versilberte der Aktienoptionen aus denJahren 2003 bis 2005 und deponierte denNettoerlös auf einem Treuhandkonto. DerKonzern schob daraufhin weitere Kündi-gungen nach – ohne Erfolg.

Ein Siemens-Sprecher will sich mitRücksicht auf das noch laufende Verfahrennicht äußern. Wegen der Bedeutung desFalles hoffen die Siemens-Manager nun,dass der BGH doch noch zu ihren Gunstenentscheidet. Kutschenreuter selbst wirdden Ausgang des Prozesses wohl aus derFerne verfolgen. Er ist mittlerweile ausge-schieden – nach Ablauf der regulären Kün-digungsfrist. Dinah Deckstein

Deutschland

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A F F Ä R E N

Schatten derVergangenheit

Siemens wird seine Korruptions-affäre nicht los: Hochrangige

Ex-Manager klagen gegen ihre fristlose Kündigung –

und haben sogar Erfolg.FALK

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Siemens-Zentrale in München, Konzernchef Löscher, Aufsichtsratschef Cromme: Prozessflut nach dem Schmiergeldskandal

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d e r s p i e g e l 3 5 / 2 0 0 9 39

gung in Osijek. Zweimal, am 3. April undam 24. Mai 2006, reiste die Leiterin derStiftungsdependance in Zagreb nach Osi-jek, um mit Djapiƒ-Mitarbeitern die Kon-ferenz vorzubereiten – ein Vorgang, dendie Stiftung heute als lediglich „protokol-larische Begegnung“ herunterspielt.

Im Dienst von „Demokratie, Friedenund Entwicklung“ ist die CSU-nahe Orga-nisation in vielen Weltgegenden aktiv. Alspolitische Bildungsarbeit war wohl auchdas erneute Aufeinandertreffen von HSPund Hanns-Seidel-Stiftung im Jahr 2007 zuverstehen. Die Münchner hatten für kroa-tische Parteien Seminare zur Vorbereitungdes Parlamentswahlkampfs organisiert,unter den Gästen waren angeblich auchDjapiƒ und seine Gefolgsleute. Der Gene-ralsekretär der Partei, Vlado Jukiƒ, be-hauptet gar, dass „sehr viele HSP-Mitglie-der“ an den Schulungen teilgenommenhätten: „Die Schulungen halfen uns sehr,es war ein großer Ansporn.“

Die Hanns-Seidel-Stiftung erklärt dage-gen, sie habe die HSP 2007 nicht eingela-den und keinen Kontakt gehalten. Manhabe vielmehr mit der Stiftung der kon-servativen kroatischen Partei HDZ zusam-mengearbeitet. Möglicherweise wurdenEinladungen so an Djapiƒ’ Leute weiterge-reicht. Efraim Zuroff vom Simon Wiesen-thal Center beklagt die Arglosigkeit, mitder die CSU einem Ustascha-Verehrer au-genscheinlich begegnet. „Djapiƒ und seinePartei haben sich nicht geändert, das istim Dezember 2006 klargeworden.“

Damals präsentierte die HSP auf ihremParteitag in Zagreb als Stargast den Pop-sänger Marko Perkoviƒ, genannt „Thomp-son“, nach einer legendären Schnellfeuer-waffe. Djapiƒ feierte auf der Bühne mitdem Barden. Die „Frankfurter Allgemei-ne“ bezeichnet den Musiker als „Hass-Sän-ger“, denn seine Texte gelten als rassistischund handeln auch von Konzentrationsla-gern der Ustascha. John Goetz,

Conny Neumann

An nationalistischen Kräften herrschtim politischen Spektrum der Repu-blik Kroatien kein Mangel. Doch

Anto Djapiƒ, 51, der frühere Oberbürger-meister von Osijek, steht ganz am Rand derrechten Front des Landes. Auf Fotos ent-bietet er den Hitler-Gruß, in Ansprachenverherrlicht Djapiƒ die von den deutschenNazis in Kroatien gestützte „Ustascha“-Re-gierung. Für Experten des Simon Wiesen-thal Center in Jerusalem ist er vor allemeines: „ein Neofaschist“.

Teile der CSU und die parteinaheHanns-Seidel-Stiftung hat das nicht abge-halten, ihn zu empfangen und seine Parteials „Projektpartner“ in einem Stiftungsbe-richt aufzulisten, Anhänger sollen in Wahl-kampfführung geschult worden sein.

Die letzten Kontakte zu Djapiƒ, Chefder Hravatska Stranka Prava (HSP), der„Partei des Rechts“, liegen zwei Jahrezurück, weshalb sich manche Christsozialenicht mehr erinnern mögen. Tatsächlichaber haben es die CSU und die Stiftung derHSP leichtgemacht, sich mit Verbindungenzur bayerischen Volkspartei zu brüsten. ImJuli 2005 schaffte es Djapiƒ ins Maximilia-neum, den Sitz des Landtags.

Die Bayerisch-Kroatische Gesellschaftund ihr Vorsitzender, der CSU-Abgeord-nete Konrad Kobler, ließen sich dort vonDjapiƒ über Kroatiens Weg in die Euro-päische Union informieren. Mit auf derBühne: Bernd Posselt, ein Spitzenmann derCSU in Brüssel und Mitglied im EU-Kroa-tienausschuss der Frak-tion der EuropäischenVolkspartei.

In Ungarn und denUSA war Djapiƒ weitzurückhaltender empfan-gen worden, nach Israeldurfte er nur als Tou-rist einreisen; vor derHolocaust-GedenkstätteJad Vaschem hatten dieWachen Anweisung, demPolitiker den Zutritt zuverwehren.

Aus Bayern aber kehrteDjapiƒ mit der erwünsch-ten Propagandawirkungzurück. „Es war ein gelun-genes Treffen“, schwärmte

der HSP-Chef in der kroatischen Presse:Er habe nicht nur mit Posselt diskutiert,sondern auch mit dem damaligen baye-rischen Europaminister Eberhard Sinner;und er sei in der Hanns-Seidel-Stiftung mitSusanne Luther, Büroleiterin für Auswärti-ge Beziehungen, zusammengetroffen.

„Wir sprachen darüber, ob die CSUdabei helfen könne, die HSP in die Frak-tion der Europäischen Volkspartei aufzu-nehmen“, schildert Djapiƒ seine Mission.Posselt ist die Begegnung inzwischen un-angenehm. „Mit Djapiƒ“, sagt er, „will ichnichts zu tun haben.“ Auch die Stiftungmüht sich jetzt um größtmögliche Distanz.Zunächst heißt es, ein Besuch von Djapiƒsei nicht bekannt. Dann erinnert man sichdoch. Im Frühjahr 2005 habe es Versuchegegeben, ihn und seine Partei „salonfähig“zu machen und „vom extrem rechtenRand“ in die politische Mitte zu führen,erklärt Luther. Ihre „Vorbehalte angesichtsder Berichte über rechtsextremistische undantisemitische Tendenzen“ in der HSP sei-en aber nicht zerstreut worden. Man habevon weiteren Kontakten abgesehen.

In einem Stiftungsbericht von 2006 wirddie Djapiƒ-Truppe dennoch als „Projekt-

partner“ aufgeführt: „DieHSP versucht sich alsPartei des Mitte-Rechts zupositionieren, wobei siebetont, ihr Vorbild sei dieCSU.“

Im Widerspruch zu Lu-thers Aussage steht auch,dass die Stiftung ihre Be-ziehung zu den Ultrarech-ten Ende 2006 vertiefte.Sie veranstaltete unter an-derem mit der HSP-Stadt-spitze eine Wirtschaftsta-

* Oben: 1997 in Split bei einer Fei-er zum 56. Jahrestag der Bildungder faschistischen Ustascha-Regie-rung; unten: im Juli 2005, Internet-auftritt der HSP Bayern.

Anhänger der kroatischen „Partei des Rechts“*: Größtmögliche Distanz?

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Gastredner Djapiƒ in München*

Mit Arglosigkeit begegnet

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GelungenesTreffen

CSU-Politiker und die parteinaheHanns-Seidel-Stiftung

unterstützten mehrfach KroatiensRechtsextreme – und

reklamieren nun Erinnerungslücken.

Page 29: 2009_35 Krieg Der Deutschen 1939

Es ist eine idyllische Wiese dort hinterder alten Schachtanlage, und wer siebetreten will, zieht am besten Gum-

mistiefel an. Der Boden ist auch im Som-mer feucht; grün und lila leuchten Pflanzenin der Sonne. Der Europäische Queller ge-deiht hier wunderbar. Feinschmecker lie-ben die fleischigen Stängel im Salat. Sieschmecken nach Salz, nach Fisch und nachMeer. Dort, an der Küste, wächst Salicor-nia europaea am besten. Und hier, in derMitte Deutschlands, in der thüringischenGemeinde Dippach an der Werra, wo inder Luft ein Hauch von Wattenmeer liegt.

Klaus Reinhardt zieht ein kleines Mess-gerät aus der Tasche und taucht es in eineWasserlache. „Der Salzgehalt nimmt stän-dig zu“, sagt er, „hier spielt die Natur völ-lig verrückt.“ Reinhardt ist Vorsitzenderder Bürgerinitiative „Für ein lebenswertesWerratal“. Er misst die Leitfähigkeit unddamit die Salzkonzentration. „Vor Jahrenwar das noch ein normales Feld, aber nunwächst die Salzfläche immer weiter.“ Miteiner kleinen Pfütze hat es angefangen, in-zwischen ist die Salzwiese groß wie einFußballfeld.

Wenige hundert Meter entfernt fließt dieWerra braun und träge vorbei. Im Wassertreiben Brackwasseralgen, die in der Ost-see zu Hause sind. Lange schon gibt es

statt Lachsen, Neunaugen und KarauschenNeuseeländische Zwergdeckelschneckenund Tigerflohkrebse. „Die Werra ist deram stärksten belastete Fluss in ganz Mittel-europa“, sagt der Kasseler Ökologe UlrichBraukmann.

Im Städtchen Gerstungen, fünf Kilome-ter von Dippach entfernt, ist schon vor fünfJahren die Salzkonzentration in einemBrunnen innerhalb kürzester Zeit um das70fache gestiegen, und auch andere Mess-stellen registrierten alarmierende Werte.

„Potentiell ist das Trinkwasser in der ge-samten Werra-Region bedroht“, befürchtetRainer Fuchs vom Hessischen Landesamtfür Umwelt und Geologie. Vor allem dann,wenn Salzwasser aus dem Untergrund auf-steigt und das darüberliegende Süßwasserverdrängt.

Riesige Salzberge in der Landschaft, Salzin Flüssen, Salz auf Wiesen, Salz imGrundwasser – die Verseuchung einesganzen Landstrichs ist der Preis des Kali-Bergbaus, der vielen Menschen in der Mit-telgebirgsregion zwischen Kassel, Fuldaund Eisenach in den vergangenen hundertJahren Arbeit und einen bescheidenenWohlstand verschafft hat.

Es ist der klassische Konflikt zwischenProfitinteressen und Arbeitsplätzen auf dereinen und der Umwelt auf der anderen Sei-

te. Und die Natur war es, die in diesemKampf bislang immer verloren hat. Dochnun sieht es so aus, als würden sich dieGewichte in diesem Streit verschieben. DieUmweltprobleme haben sich über die Jahr-zehnte akkumuliert und drängen nunbuchstäblich an die Oberfläche, wo sie sichnicht länger ignorieren lassen.

Seit über hundert Jahren wird Kali, einwertvoller Dünger, in Gruben entlang derFlüsse abgebaut. Vier Bergwerke betreibtder größte Salzhersteller der Welt, die Kas-seler K+S AG, in der Werra-Region undgibt so 6000 Menschen Arbeit. Allein imKreis Hersfeld-Rotenburg stellen die Kali-Kumpel zehn Prozent aller sozialversiche-rungspflichtigen Beschäftigten.

Doch mit jeder Tonne Kali, die aus demUntergrund kommt, wächst auch die Um-weltbelastung der Region. Bei der Pro-duktion entstehen salzhaltige Abwässer,die von den Bergleuten seit langem in denFluss geschüttet oder in den Boden ge-pumpt werden. Das hat sich seit hundertJahren nicht geändert.

Fünf Millionen Tonnen Dünger und in-dustrielle Vorprodukte setzte K+S im ver-gangenen Jahr ab. Auf jede verkaufte Ton-ne kommt die fünffache Menge Rohsalz,die an die Erdoberfläche gefördert wird.Das meiste davon landet auf Halden oder

42 d e r s p i e g e l 3 5 / 2 0 0 9

Salzhalde an der Werra in Heringen

U M W E L T

Alarm am Monte KaliMit dem Kali-Abbau an der Werra hat der Großkonzern K+S Milliarden verdient,

doch der Preis dafür ist hoch: Der Fluss ist der schmutzigste in Mitteleuropa, Salzlaugebedroht das Grundwasser. Eine Pipeline zur Nordsee könnte den Bergbau retten.

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Werra

Salzhalde

Heringen

Salzhalde

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Mögliche Pipeline-TrassenEntlang der Weser oder parallel zur bestehenden Midal-Gaspipeline

50 km

1 km

im Abwasser. Sieben Millionen Kubikme-ter Salzlauge leitete der Salzkonzern jähr-lich in die Werra ein; noch einmal die glei-che Menge wurde tief in den Untergrundgepumpt.

Nur die Wirtschaftskrise hat im ver-gangenen Winter die Natur entlastet. Alsdie Bergleute auf Kurzarbeit gesetzt wur-den, fror die Werra wegen der geringe-ren Salzfracht erstmals seit Jahrzehntenwieder zu.

Schon seit Jahren stehen sich in der Re-gion Bürgerinitiativen, Umweltverbände,Behörden und Industrielobby unversöhn-lich gegenüber. „Derartige industrielle An-lagen sind leider immer auch mit gewissenEinschränkungen oder Unannehmlichkei-ten verbunden“, sagt etwa der Bad Hers-felder Landrat Karl-Ernst Schmidt undspricht aus, was auch viele Bürger denken.Die Sicherung der Jobs stehe an „ersterStelle“.

Doch die Behörden, die bislang groß-zügig die Einleitung der Abwässer geneh-migten, stehen mittlerweile unter Druckdurch neue Wasserschutzvorschriften undEU-Richtlinien. Hinter verschlossenenTüren wird deshalb um eine Lösung ge-rungen. Es geht um ein kühnes Groß-projekt zur Rettung des Kali-Bergbaus.

Eine Pipeline über Hunderte Kilometerkönnte in Zukunft das Salz in die Nordseeschwemmen.

Eine Lösung muss dringend her, denndie laxe Haltung der Behörden hat dasProblem offenbar dramatisch verschärft.Die Beamten wollten den Fluss besonderspreisgünstig entlasten und hatten angeord-nete, die Abwässer im Untergrund zu ver-senken. Es war eine scheinbar bewährteMethode. Schon 1925 schütteten Bergleu-te Salzlauge in „Schluckbrunnen“ statt indie Werra. Später wurde die salzige Suppemit Druck unter die Erde befördert.

Auf diese Weise ist ein gigantischer, un-terirdischer Salzsee entstanden, der mit500 Quadratkilometer Fläche fast so großist wie der Bodensee. Wo er genau liegt,weiß niemand. Klar ist nur, dass es ihngibt, denn in den vergangenen 80 Jahrenlandete etwa eine Milliarde KubikmeterSalzabwasser unter Tage.

Kein Problem, versicherten bislang stetsdie zuständigen Behörden. Schließlich be-finde sich einige hundert Meter unter der Erdoberfläche eine poröses Gesteins-schicht, der Plattendolomit, der sich idealals Speicher eigne. Als K+S 1970 Salzlaugebei der Grube Wintershall im Untergrundentsorgen wollte, beruhigte der Vertreterdes Hessischen Landesamtes für Boden-forschung besorgte Bürgermeister, dass beider Versenkung „die gegenüber dem volks-wirtschaftlichen Nutzen dieser Abwasser-beseitigung äußerst geringen Schäden dasErstaunlichste“ seien.

Doch im vergangenen Jahr bestätigteeine Untersuchung, wovor der ThüringerGeologe Fritz Deubel die Behörden schonin den vierziger und fünfziger Jahren ge-warnt hatte: Die Brühe wandert im Unter-grund. Ein Fünftel, so die aktuelle Bilanz,sei bereits über Quellen und „diffuse Ein-träge“ in die Werra gelangt. Schlimmernoch: 300 Millionen Kubikmeter Salz-abwasser seien in den darüberliegendenBuntsandstein geflossen, aus dem auch dasTrinkwasser gewonnen wird. „Die Versen-

kung muss so schnell wie möglich auf-hören“, fordert deshalb WasserexperteFuchs vom Hessischen Umweltamt.

Doch wohin mit der salzigen Brühe? Inden Fluss, wie es die DDR seit 1968 mach-te, weil sie Sorge um ihre Brunnen hatte?Das verhindert schon die EU, die den Län-dern vorschreibt, ihre Gewässer bis 2015 ineinen „guten ökologischen Zustand“ zubringen. In der Werra muss die Belastungmit Chlorid bis dahin auf maximal 200 Mil-ligramm pro Liter gesenkt werden. Der-zeit ist das 12,5fache erlaubt.

Und auch der Härtegrad des Wassers, dervon der Konzentration des Kalziums undMagnesiums abhängt, muss deutlich redu-ziert werden. 1999 hoben die Behörden denerlaubten Wert auf 90 Grad deutscher Här-te an, selbst im Zweiten Weltkrieg warennur 50 erlaubt. Dabei gilt Leitungswasserschon ab 18 Grad als so hart, dass Wasch-maschinen und Kaffeeautomaten die Ver-kalkung droht.

„Der Ernst der Lage“ sei der Unterneh-mensführung durchaus bewusst, versichertK+S-Sprecher Oliver Morgenthal im vier-ten Stock der gläsernen Konzernzentrale inKassel. Doch schließlich gehe es auch umsgroße Ganze: „Wofür braucht man dasZeug? Kali?“, doziert Morgenthal und reißtbeide Arme in die Luft. „Die Weltbevöl-kerung wächst. Und alle wollen etwas zuessen haben. Darum.“

Der Dünger ist für die Aktiengesell-schaft ein gutes Geschäft. Im vergangenenJahr, dem besten der Firmengeschichte,machte K+S 1,3 Milliarden Euro Gewinn.Zur Belohnung stieg das Unternehmen inden Dax-Index der 30 börsenstärks-ten deutschen Aktiengesellschaften auf.„Natürlich kann man sagen, die verdienenMilliarden und schütten ihr Abwasser inden Fluss“, räumt Morgenthal ein. Ande-rerseits habe sich der Zustand der Werraseit der deutschen Wiedervereinigungdeutlich verbessert. „Damals trieben graueSchaumkronen auf dem Wasser“, sagt er,„und heute beschweren sich die Angler

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Deutschland

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Ministerpräsident Koch mit K+S-Manager Bethke: Pipeline ohne Alternative

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Salz im FlussEntsorgung von Rückständen im hessisch-thüringischen KalirevierJahresangaben, Bezugsjahr 2006

Salzsole

Salzsole

Förderschacht

15 Mio. Tonnen

7 Mio. m3

Einleitung in die Werra

SalzlakeAbraumsalze

7 Mio. m3

Versenkung im Untergrund

Salzlake steigt teilweise wieder nach oben

Aufschüttung auf Salzhalden

Kaliproduktion

5MillionenTonnen

Plattendolomit

grundwasserhaltigeSchicht

über die vielen Kormorane am Fluss. Ja,fressen die etwa Algen?“

Tatsächlich hat K+S schon in den siebzi-ger Jahren ein elektrostatisches Verfahrenentwickelt, mit dem bestimmte Mineralsal-ze auf trockenem Weg getrennt werdenkonnten. Dadurch fielen weniger Abwässeran, zugleich aber wuchsen die Halden –und wurden ebenfalls zum Problem. InNeuhof bei Fulda hat K+S 100 MillionenTonnen Abraumsalz zu einem gigantischenBerg aufgetürmt. Regnet es auf die Halde,suppt das Salz unten weg. 700000 Kubik-meter Lauge entstehen dadurch im Jahr.Täglich transportieren etliche Tanklasterdie Abwässer zur Werra.

Die größte Halde liegt im Werra-Städt-chen Heringen. Ein grauweißer Berg, 250

Meter hoch, 1100 Meter lang, 700 Meterbreit. 150 Millionen Tonnen Salz liegenhier, bis zu 275 Millionen sollen es nachden Plänen von K+S werden. Die Einhei-mischen nennen das Monstrum Monte Kaliund versuchen, das Beste aus ihrem Haus-berg zu machen. Ende August soll es dortoben eine Premiere geben, ein Konzert.Drei Alphornbläser werden spielen.

Die Halde sei die „größte künstliche Er-hebung Europas“, schwärmt BürgermeisterHans Ries, ein ehemaliger Grüner. „Ge-gen diesen Giganten nimmt sich das Welt-wunder Cheopspyramide mit lediglich 4,5Millionen Tonnen geradezu niedlich aus.“Die Attraktion wird dem Ort wohl nochlange erhalten bleiben. Selbst wenn derKali-Bergbau irgendwann einmal beendetsein werden sollte, wird es 500 bis 1000Jahre dauern, bis der Regen den Salzbergaufgelöst hat.

Mit Folie abdichten lässt er sich nicht,dafür ist er zu groß. Für eine Abdeckungmit Erdreich sind die Hänge zu steil, und

selbst wenn die Halde abgeflacht würde,dürfte das mindestens 300 Jahre dauern.Zehn Stunden am Tag müsste alle sechsMinuten ein Lastwagen seine Ladung aufden Berg kippen.

„Prinzipiell möglich“ wäre es allerdings,die Halde abzutragen und wieder unterTage zu schaffen, sagt K+S-Sprecher Mor-genthal. Doch das ist zu teuer. Acht Europro Tonne. „Wir verdienen unser Geld da-mit, dass wir etwas aus dem Berg rausho-len, und nicht, dass wir etwas hineinbrin-gen“, sagt er.

Das stimmt nicht ganz. In Heringen hateine E.on-Tochter gerade für 110 MillionenEuro eine Müllverbrennungsanlage ge-baut. Der rotgestrichene Ofen soll nichtnur Abwärme an das benachbarte Kali-

Werk liefern. Die Verbrennungsrückstän-de von 270000 Tonnen Müll pro Jahr be-kommt K+S – um sie im Stollen zu ent-sorgen.

Im vergangenen Herbst versprach K+Simmerhin, 360 Millionen Euro in neueTechniken zu investieren und die Abwas-sermenge dadurch bis zum Jahr 2015 aufsieben Millionen Kubikmeter zu halbieren.Dafür ließ sich das Unternehmen im Fe-bruar von der hessischen und der thürin-gischen Landesregierung zusichern, dass„durch geeignete Gestaltung von Verwal-tungsverfahren und die Ausschöpfung der behördlichen Verhandlungsspielräumegrößtmögliche Investitionssicherheit“ ge-schaffen werde. Der Vertrag wurde am 4. Februar unterzeichnet, dem letzten Tag,an dem in Wiesbaden die CDU-Alleinre-gierung im Amt war.

Inzwischen allerdings ist klar, dass dasPaket nicht ausreicht. Wenn die Erlaubniszum Versenken im Boden 2011 endet,wird womöglich die Belastung des Flusses

steigen, weil das Abwasser dann ebendort eingeleitet wird. Das Unternehmenplant zudem, „hartes Salzwasser“ in denGrund zu pumpen, und zugleich weiche,früher versenkte Lauge aus der Tiefe her-aufzuholen, was kaum genehmigt werdendürfte.

Dafür verärgerte die Übereinkunft denrunden Tisch, den die beiden Länder imvergangenen Jahr eigens gegründet hat-ten, um eine gemeinsame Lösung für denGewässerschutz zu finden. Erst kurz vorder Unterschrift wurden die 24 Mitgliederdes Gremiums informiert, in dem Bürger-meister neben Ministerialbeamten desBundes, Naturschützern und Gewerk-schaftsvertretern sitzen. Über 70 Vorschlä-ge hat die Runde bereits diskutiert. Dazugehörte die Möglichkeit, das Salz der Ab-raumhalden Kommunen als Streusalz zuschenken.

Zu den Favoriten der Runde gehört einVorschlag, der schon in den siebziger Jah-re diskutiert worden war. Eine gewaltigePipeline könnte die Salzlauge zur Nord-see schaffen. Erst Ende des Monats willdie Runde ihre Empfehlungen abstimmen,aber zumindest für Moderator Hans Brink-mann, den ehemaligen Präsidenten derUni Kassel, ist das eine „sehr greifbare“Lösung: „Es ist die einzige Methode, alleUmweltziele zu erreichen und zugleich denBergbau aufrechtzuerhalten.“

Zwei mögliche Trassen sind denkbar.Entweder soll die Salzlauge parallel zurbestehenden Gaspipeline Midal diagonaldurch Norddeutschland nach Emden oderaber entlang der Weser führen. Noch al-lerdings weiß niemand, wie viele Natur-und Vogelschutzgebiete dafür durchquertwerden müssten. Nun soll eine Machbar-keitsstudie in Auftrag gegeben werden.

K+S aber bereiten nicht nur die kalku-lierten Kosten von 700 Millionen EuroSorgen, sondern auch das kompliziertejuristische Genehmigungsverfahren undmögliche Klagen. Denn es gibt viele, die beieinem solchen Projekt mitreden dürfen.

Die hessische Landesregierung hat sichnoch nicht offiziell festgelegt. Intern ist inWiesbaden aber inzwischen klar, dass eskeine Alternative zu dem Salzrohr gibt.Mehr noch: Die Behörden drängen K+S,dass spätestens im nächsten Jahr der Bauin die Wege geleitet werden müsse. DieZeit dränge, nicht nur wegen der Situationan der Werra. Auch die Verklappung vonSalzlauge in der Nordsee ist umstritten.

Widerstand kommt bereits vom nörd-lichen Nachbarn. „Das Wattenmeer istWeltkulturerbe“, sagt der niedersächsi-schen Umweltminister Hans-Heinrich San-der (FDP), „eine Einleitung der Abwässerwäre keine gute Lösung.“

Und selbst die EU könnte Ärger berei-ten. Denn Brüsseler Richtlinien schützennicht nur die Flüsse – sondern auch dieMeere. Matthias Bartsch,

Michael Fröhlingsdorf

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Deutschland

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d e r s p i e g e l 3 5 / 2 0 0 9 47

Szene Gesellschaft

MORTEN ANDERSEN

Quezada

S C H M E R Z E N

Rote Angst

Das Kreischen des Bohrers, der Ge-ruch von Desinfektionsmittel, die

Schmerzen bei einer Wurzelbehandlung– der Termin beim Zahnarzt macht denPatienten Angst. Für Menschen mitroten Haaren scheint das Problem aller-dings noch gravierender: Forscher derCleveland-Klinik in Ohio fanden her-aus, dass Rothaarige bedeutend mehrPanik vor dem Zahnarzt haben alsandere Menschen. Grund dafür sei das veränderte Gen MC1R, unter ande-rem verantwortlich für die rote Farbe.Bereits vor einigen Jahren hatten Wis-senschaftler die These veröffentlicht,dass die Genmutation neben der Haar-farbe auch für eine höhere Schmerz-empfindlichkeit verantwortlich sei. Diebetroffenen Menschen erhielten häufignicht genug Betäubungsmittel undmachten deshalb schmerzvolle Erfah-rungen. Die Studie aus Ohio bestätigtnun den Verdacht. Zahnärzte befrag-ten 144 Menschen, 85 von ihnen trugendas veränderte Gen in sich. Das Ergeb-nis: Rotschöpfe vermeiden den Besuchbeim Zahnarzt mehr als doppelt so oft –aus Angst vor den Schmerzen.

Was war da los,Herr Quezada?

B I L D B Ä N D E

Falsche Ferien

Warum reist der Mensch? Um sichzu erholen und zu bilden. Weil er

Urlaub hat, den er nehmen muss, aberauch, weil er auf Fotoalbum-Abendenin der Heimat beweisen will, dass erwirklich da war, in der Ferne. Dass mandafür längst nicht mehr weit und teuerverreisen muss, sondern Exotik um dieEcke findet, zeigt derBildband „Fake Holi-days“ – einer der amü-santesten dieser Saison.Mehrere Jahre reisteFotograf Reiner Riedlerum die Welt auf derSuche nach Ersatzorten,nach falschen Urlaubs-paradiesen aus Plastikund Gips, in denenMenschen dafür zahlen,in der Kopie des Ori-ginals zu stehen. Billigerist das allemal. Wie einEthnologe erforschteder Österreicher Movie-Parks, Disney-Worldsund künstliche Frei-zeitwelten, knipste Pal-

men im brandenburgischen TropicalIslands, das Titanic-Hotel in Antalya,den Petersdom in Shenzhen und Jesusam Kreuz in Florida. War in DubaisSkihalle, war viel in Japan und immerwieder im neuen China. Eine leise Ent-täuschung ist den Urlaubern oft ins Ge-sicht geschrieben, die Welt wird kleinerund erreichbarer – trister wird sie auch.

Reiner Riedler: „Fake Holidays“. Moser Verlag, München; 144 Seiten; 59 Euro.

Der venezolanische Arbeiter RolandoQuezada, 31, über einen lebensgefähr-lichen Friedhof

„Oft kann ich meinem toten FreundCarlos nicht die Ehre erweisen, ein Be-such auf dem Friedhof von El Consejo istfür mich lebensgefährlich. Deswegen dieWaffe. Dabei habe ich der Gewalt längstabgeschworen. Bis vor einem Jahr ge-hörte ich noch zu einer der härtestenGangs der Gegend, mein Alltag bestandaus Entführungen, Erpressung, Raub.Zweimal saß ich im Knast. Dort erfuhrich von dem Projekt Alcatraz: Einer derreichsten Männer Venezuelas, der Rum-fabrikant Alberto Vollmer, bietet Leutenwie mir eine zweite Chance, er gibt unseinen Job und eine Unterkunft. Heutefülle ich Rum in Flaschen und lebe mit an-deren ehemaligen Schwerstverbrechernauf einer kleinen Farm. Aber für unserealten Kumpel sind wir jetzt natürlich derFeind. Überall lauern sie uns auf, sogarhinter Grabsteinen.“

Skihalle in Dubai

REIN

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Gesellschaft Szene

Das ParfumWie ein Fuchs in einem kleinen Dorf Zwietracht säte

Sie standen in ihren Gärten, sahensich auf der Straße, sahen hinüber zumGehsteig, lächelten unsicher, sprachenvorsichtig, unterhielten sich, nach eini-ger Zeit, auch über die fehlenden Schu-he. Sie betrachteten sich jetzt genauer.

„Hast du meine Schuhe gesehen?“,fragten sie sich gegenseitig. Könnten es,bestenfalls, Kinder gewesen sein? Wersonst schlich nachts um die Häuser?Fremde? Einheimische?

Mittlerweile hatte auch die Tageszei-tung begonnen, über die Vorfälle zu be-richten. Das Dorf Föhren musste ler-nen, mit einem Rätsel zu leben.

Peter Glasner sagt, er sei relativ langegelassen geblieben. Die Fassung verlorer erst, als ein paar Wochen später einerseiner Arbeitsschuhe fehlte, 200 Eurohatte das Paar gekostet, Größe 49, miteinem Gewicht von 1,4 Kilo. Der Dieb,da war sich Glasner sicher, musste einMensch gewesen sein, einer von ihnen.

Nach einem Jahr, im Mai, fehltenGlasner sieben Schuhe, zwei Paare, drei

einzelne. Heidi Heinz fehlten sieben,aber den Rekord hielt eine andere Fa-milie mit 14 Schuhen.

Föhren war jetzt zu einem ungemüt-lichen Ort geworden, Skepsis war dieStimmung des Alltags.

Es war am 29. Mai, als Rolf Willer-scheidt, 50 Jahre alt und Revierleiter,mal wieder seine Runde durch denWald drehte. Er hatte vom Tal aus rote Stellen in den Wipfeln zweier Fich-ten entdeckt. Willerscheidt wollte dieBäume zum Fällen markieren. Sie la-gen an einer schwer zugänglichen Stel-le, der Revierleiter erreichte sie nichtgleich, geriet an einen Ort, an dem ernie zuvor gewesen war, in 17 Jahrennicht. Unterhalb der Felskante ent-deckte er den Bau eines Fuchses, mit

zehn Eingängen, zwei Schlaf-mulden.

Das Haus von Peter Glas-ner lag rund 200 Meter ent-fernt.

Vor dem Bau lagen Schu-he, bestimmt 200 Stück, alteund neue. Turnschuhe, Gum-mistiefel, Sandalen, Clocks,Wanderschuhe, Halbschuhe,Tennisschuhe. Adidas. Asics.Nike. Willerscheidt machteFotos. Denn er dachte, etwasgesehen zu haben, was ihm,wenn er es erzählte, nie-mand glauben würde.

Später machte Willer-scheidt sich auf den Weg undsuchte nach Erklärungen. Erhörte, dass Fuchsjunge gernspielen. Ihre Mütter oder ihreVäter mussten die Schuhealso für sie geholt und den

Hang hinaufgetragen haben. Füchse mö-gen, als sei es ein betörendes Parfum,den Geruch von menschlichem Schweiß,sagten die Experten, so, wie Marder denGeruch von Autokabeln mögen.

Einen Teil der Schuhe packte Willer-scheidt ein, wie Beweisstücke, die einenTäter überführt haben. Sein Chef, derBesitzer des Waldes, veranstaltete dannauf dem Schlossplatz ein Fest, mit Bierund Bratwürsten und den Schuhen. DieStimmung an diesem Tag war heiter, be-freit von einem hässlichen Verdacht.

Peter Glasner fand seinen Arbeits-schuh schnell. Der Schnürsenkel fehlte,der Stiefel war schmutzig, seine Frauschrubbte ihn, steckte Zeitung hinein,trocknete ihn im Wohnzimmer, hinterverschlossener Tür.

Und der Fuchs? „Der geht woandershin“, sagt Willerscheidt. Er habe neulicham Bau 15 neue Schuhe entdeckt.

Barbara Hardinghaus

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE

Der erste Schuh, der verschwand,war der Pantoffel von PeterGlasner. Er hatte ihn hinausge-

stellt auf die Terrasse. Den zweiten fander später in der Garage.

Glasner, ein großer Mann mit Brille,Pensionär, früher Siemens-Mitarbeiter,hatte sich dann ein wenig umgesehen.Sein Haus, mit weißem Flachdach amHang, zeigt von der einen Seite zumDorf, von der anderen in RichtungWald. Glasner blickte auf das Dorf, auf Föhren inRheinland-Pfalz, blickte aufseine Nachbarn und über-legte.

Alles war doch eigentlichimmer friedlich gewesen.Man hatte sich, im Großenund Ganzen, gut verstandenin den Straßen Am Rei-schelbach, In der Rotheck,Am Meulenwald. HinterGlasner lag der Wald.

Es geht steil hinauf vonhier aus, fast wie auf einerSkirampe. Ganz oben liegtein Ausflugsgebiet mit Wan-derwegen, der Meulenwald,Teil der südlichen Eifel. Kie-fern wachsen darin, Fichten,Lärchen, auch Laubbäume,Eichen, Eschen. Der Meu-lenwald ist eine Gegend mitviel Licht, mit violett leuchtendem Fin-gerhut, aber auch mit geheimnisvollendunklen Stellen, das sind die Versteckeder Tiere.

Rehe, Wildschweine, Dachse, einpaar Hasen wohnen an diesen Stellenund auch Füchse, rund 30 Tiere. Glas-ner sah weiter in Richtung Dorf.

Er hatte früher mal einen alten VWKäfer am Waldrand abgestellt und spä-ter unterhalb des Kotflügels Knocheneines Fuchses gefunden.

Im Dorf, das hörte Glasner beim Bä-cker, vermissten nun auch andere Be-wohner ihre Schuhe. Heidi Heinz fehl-ten ein Gartenschuh und die Laufschu-he ihrer Söhne. Auch anderen Familienfehlten Schuhe. Sie wunderten sich;eigenartig war gewesen, dass diejenigen,die Schuhe vermissten, dicht beiein-ander wohnten, alle in den Straßen AmReischelbach, In der Rotheck, Am Meu-lenwald.

Willerscheidt

Aus der „Süddeutschen Zeitung“

HARALD

TIT

TEL

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Sie können schreiben, was Sie wollen.Aber ...“, sagt der Ministerpräsident,„... bitte lachen Sie nicht über uns.“

Alexander Ankwab füllt die Cognac-Glä-ser. „Auf die Freiheit!“

Wenige Wochen zuvor ist eine Bazookaauf den Dienstwagen des abchasischenRegierungschefs abgefeuert worden. Er seiwohl jemandem zu nahe getreten, sagtAnkwab: „Es war der vierte Anschlag.Aber noch lebe ich. Auch Abchasien lebtnoch, oder?“

Alexander Ankwab ist Ministerpräsidenteines Landes, in dem die Städte Pzyb,Gwylrypsch oder Gjatschrypsch heißen.Und das – „bisher!“ – diplomatische Be-ziehungen nur zu Russland und Nicaraguaunterhält. Und zum Gaza-Streifen, aberder zählt derzeit nicht.

Die einzige internationale Organisation,in der dieses Land repräsentiert ist, ist dieOrganisation nichtrepräsentierter Natio-nen und Völker (Unpo), ein Weltverband

der Idealrepubliken und befreiten Zonen,der Ethno-Minderheiten und Phantom-staaten.

Alexander Ankwab wird von seinen Mit-arbeitern „Anthony Hopkins“ genannt, weiler aussieht wie der britische Schauspieler.Aber Ministerpräsident Ankwab schauspie-lert nicht. Er meint es ernst: „In zehn Jah-ren kann Abchasien eine Art Monaco wer-den. Kein Investor stört sich an unseremStatus. Singapur wollte kürzlich gleich al-les aufkaufen, Hotels, den Flughafen, dieStrände. Das ging uns zu schnell.“

Abchasien liegt im Kaukasus, dort, woEuropa langsam nach Asien hin ausläuft.Bis 1993 gehörte das Land zu Georgien.Seit es sich für souverän erklärt hat, ist„Abchasien“ der Versuch eines Landes,sich selbst zu erfinden. Als Staat erinnertes manchen Realpolitiker an jene Leute,die plötzlich beschließen, in einer Höhleim Stadtwald zu leben und eine eigeneSprache zu sprechen.

Am 26. August 2008 hatten AbchasiensMinisterpräsident und seine Bürger ein Ro-binson-Crusoe-Erlebnis. Sie waren nichtallein. Russland hatte Abchasien aner-kannt. Alexander Ankwab erfuhr davonaus dem Fernsehen. Russland hatte geradedie abtrünnige georgische Provinz Süd-ossetien besetzt (beziehungsweise befreit),und die EU versuchte, zwischen Russlandund Georgien zu vermitteln. Da stellte sichder russische Präsident vor die Kamerasund verkündete, seine Regierung habe dieebenfalls abtrünnige Provinz (beziehungs-weise Nation) Abchasien anerkannt, si-cherheitshalber.

Damit ist Abchasien eines der jüngs-ten Mitglieder der Staatengemeinschaft,wenn auch nur ein Bastard. In diplomati-schen Schriftsätzen wird es mit ABC ab-gekürzt (das Kürzel Südossetiens lautetSOS).

Die ABC-Republik hat keine eigeneWährung, kann kein Geld drucken und auf

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D I P L O M A T I E

Die ABC-RepublikAbchasien, ein Bastardstaat der Weltgemeinde, wurde vor einem Jahr von Russland anerkannt. Esliegt geopolitisch brisant, jederzeit einsetzbar als Kriegsgrund zwischen altem Osten und neuem

Westen. Was passiert, wenn eine Nation versucht, sich selbst zu erfinden? Von Alexander Smoltczyk

Russische Soldaten, georgische Kriegsgefangene 2008: „Die Georgier wollten uns mit Gewalt umbringen, die Russen mit Süßigkeiten“

BELA S

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Gesellschaft

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RUSSLAND

TSCHE-

TSCHENIEN

ABCHASIEN

TÜRKEI ARMENIEN

GEORGIEN

ASERBAI-DSCHAN

Sotschi

Pizunda

Trabzon

Schwarzes

M e e r

Tiflis

50 km

Suchumi

SÜDOSSETIEN

BERG-

KARABACH

Ka

uk

as

us

Inguri

dem Finanzmarkt auch keine Krediteaufnehmen, weil es sie völkerrechtlichnicht gibt. Für den Rest der Welt ist dasLand nur eine größenwahnsinnige ProvinzGeorgiens, mit so viel Einwohnern wieKassel.

Nun brauchte einen Abchasien nicht zuinteressieren, wenn es nicht im Kaukasusläge, in jener heißen Zone der geopoli-tischen Tektonik. Als sich dort vor einemJahr der Kaukasus-Krieg zwischen Russ-land und Georgien zuspitzte, reiste derdeutsche Außenminister Frank-WalterSteinmeier alarmiert nach Suchumi. Undnicht, um mit Premierminister AnkwabCognac zu trinken. Abchasien ist diplo-matisches Sudoku des höchsten Schwie-rigkeitsgrades, ein jederzeit einsetzbarerCasus Belli zwischen altem Osten undneuem Westen. Es gibt Experten, diesagen, der nächste europäischeKrieg würde irgendwo zwischenKrim und Kaukasusgebirge aus-brechen.

In der Zwischenzeit ist Frie-den. „Auf eure Kanzlerin! Auf die deutsch-abchasische Freund-schaft!“ Mit diesen Worten über-reicht Ankwab Gastgeschenke.Teuer riechende Prospekte, einenMessing-Wimpel mit einer wü-tenden Amazone, dem Staats-wappen, eine Uhr mit der ab-chasischen Nationalflagge, einerHandfläche vor grün-weißen Strei-fen. Es sind Existenzbeweise ei-nes Staats, den es eigentlich nicht

gibt und der eigentlich auch nicht zu be-treten ist.

In den Sicherheitshinweisen des Aus-wärtigen Amts in Berlin heißt es: „Abcha-sien ist grundsätzlich für den internatio-nalen Reiseverkehr gesperrt. Eine legaleEin- und Ausreise ist weder über die ge-orgisch-russische Grenze noch über dieWaffenstillstandslinie entlang des Inguri-Flusses möglich. Vor Reisen nach Abcha-sien wird ausdrücklich gewarnt.“

Trotz dieses Hinweises gibt es an derNordgrenze den Grenzposten Psou, einpathetisches, ziemlich heruntergekomme-nes Zementportal, an dem russische Tou-ristenbusse warten. Für die Russen sindAbchasiens Strände wie Rimini, nur bes-ser: Es ist billig, alle verstehen einen, undman braucht seine Rubel nicht zu wech-seln.

Ein Lada ist mit Eiern beladen, aus demKofferraum eines anderen ragt eine Wa-genachse heraus. Daneben stehen zweiPorsche Cayenne mit frischem ABH-Kenn-zeichen. Die Fahrer sind im Duty-free-Shop verschwunden, wo man für Euro„Bounty“ und schottischen Whisky kaufenkann.

Weil die Südgrenze nach Georgien ge-schlossen ist, kann man nur über das rus-sische Schwarzmeerbad Sotschi einreisen.Nichtrussen müssen sich daher neben demabchasischen Visum noch ein russischesTransitvisum besorgen und aufpassen, dassGeorgien davon nie etwas erfährt.

Theoretisch könnte man auch im Hafenvon Trabzon einen türkischen Bootsbesit-zer bestechen, damit der einen durch dieSeeblockade Georgiens schleust. Eine ris-kante und illegale Technik, mit Hilfe deren

der gesamte Überseehandel Ab-chasiens abgewickelt wird.

Als Benetton im Mai die Eröff-nung einer Filiale in Abchasienankündigte, sprach GeorgiensAußenminister von einem „ver-brecherischen“ Plan und drohtemit Vergeltung. Benetton zogzurück.

Es ist gut 3000 Jahre her, dassJason und die Argonauten hiernach dem Goldenen Vlies such-ten. Damals hieß das Land nochKolchis, und an einem der ört-lichen Kaukasusgipfel wühlte einAdler in den Eingeweiden desPrometheus. Der hatte damals

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Straßenverkäuferin in der abchasischen Hauptstadt Suchumi: Für die Russen sind die Strände wie Rimini, nur billiger

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schon die göttliche Ordnungdurcheinandergebracht.

Heute heißt die HauptstadtSuchumi – beziehungsweise ab-chasisch politisch korrekt Su-chum ohne i, denn 3500 Abcha-sen sollen nicht umsonst im Un-abhängigkeitskrieg 1992/93 fürFreiheit und Rechtschreibunggestorben sein. So war einer derersten Verwaltungsakte nach derBefreiung das Überpinseln allerEndungs-i aus den Ortsnamender Karten. Tipp-Ex als Waffe.

Abchasien war einmal „dierote Côte“, ein subtropischerZipfel Sowjetreich, und ehema-lige DDR-Bürger können nichtohne Wehmut an diese Strändedenken, die Palmen, die Manda-rinenbäume.

Die Bürostuben der gesamtenSowjetunion wurden mit Topf-pflanzen aus Abchasien belie-fert. Es gab eine Zuchtstation fürPaviane, vor der heute ein Hel-dendenkmal steht. Es ist einGranitblock in Form eines Man-telpavians, darin eingraviert der Dank desSowjetvolks für all die aufopferungsvollenExperimente im Kampf gegen Typhus undPolio.

Noch vor zehn Jahren war Suchumi einebefreite, aber völlig zerstörte Stadt, in dernachts die Schüsse der Schmugglerbandenzu hören waren und Autos umherrasten,die als einziges Kennzeichen eine Plakettedes ADAC aufwiesen.

Inzwischen fahren Oberleitungsbusse.Man sieht geöffnete Banken, und vormPuschkin-Gymnasium stehen Jugendlichein Schuluniformen. Im Kino läuft ein Louis-de-Funès-Film mit abchasischen Unter-titeln. Es gibt Ampeln, eine Kinderbi-bliothek, Geschwindigkeitskontrollen, undeine Frau führt ihren Dackel an einer Flexi-Leine spazieren. Das allein ist noch keinBeweis für eine funktionierende Zivil-gesellschaft. Aber es steht doch in gewis-sem Widerspruch zum Sicherheitshinweisdes Auswärtigen Amts in Berlin.

Abchasien hat sogar ein NationalesOlympisches Komitee. So steht es nebender Tür eines Büros, im Souterrain des an-sonsten ziemlich ausgebrannten ehemali-gen Sowjetgebäudes am Platz der Freiheit.

Der Sportminister zündet sich eine Par-liament-Zigarette an, bläst den Rauch ausund sagt: „Wir haben an der Domino-Welt-meisterschaft teilgenommen. Ziemlich er-folgreich.“ Der Sportminister ist ein hage-rer ehemaliger Panzerkommandant von 45Jahren. Zum Glück verdiene seine Frauganz gut, sagt der Minister, sonst könnte ersich das Amt gar nicht leisten.

„Wir hoffen, auch bei den OlympischenSpielen in London 2012 dabei zu sein.“Leider erlaube das IOC keine Teams zwei-felhafter Staaten. „Eigentlich müsste Ab-

chasiens Fußballnationalmannschaft alsoin georgischen Trikots auflaufen.“ DerSportminister schaut in die Runde, als hät-te er einen Witz erzählt.

„Unser Fußballverband ist 100 Jahre alt.Wieso werden unsere Aufnahmeanträgevon der Fifa immer wieder abgelehnt? DieVerhandlungen mit der InternationalenSambo-Föderation sind dagegen auf gutemWeg.“ – Sambo? – „Ja. So eine Art sowje-tisch-russisches Judo.“

Im Jahr 2014 werden in Sotschi, direktan der abchasischen Grenze, die XXII.Olympischen Winterspiele abgehalten wer-den. Vergebens hatte ein im georgischenExil wirkendes Gegen-„Olympisches Ko-mitee Abchasiens“ versucht, die Spiele zu

verhindern. Nun sollen 14 Millionen Ton-nen Sand, Kies und Beton aus Abchasienfür die Bauten geliefert werden. JedeTonne zementiert den Status quo. Viel-leicht war „Sotschi 2014“ auch ein Grundfür die russische Anerkennung des Lan-des. Es wäre unschön, an jeder Biathlon-Loipe mit Partisanenbeschuss rechnen zumüssen.

Die politische Macht Abchasiens passt inein Gebäude. Es ist ein sandgestrahlterStalin-Bau an der Uferpromenade, wo esbittersüß nach Pomeranzenbäumen undEukalyptus riecht. Hier wohnt der Staats-präsident, um die Ecke gelangt man insParlament, und gegenüber ist der Eingangzum Büro des Premierministers und sei-nes Kabinetts. Heute allerdings ist kaumjemand da, weil die Mutter des Staatsprä-

sidenten gestorben ist und fast alle auf demFriedhof sind.

Die Abchasen basteln sich ihren Staatmit dem gleichen Ernst zusammen, dergleichen irritierenden Sorgfalt, mit derBastler sich den Eiffelturm aus Zündhöl-zern nachbauen. Im Parlament, einem anden Sitzungssaal einer Kreissparkasse er-innernden Raum im Parterre, sind diewichtigsten der zwölf Parteien vertreten,von der Sozialpolitischen Bewegung Aid-gilara bis zur Abchasischen Volkseinheit.

Für das offizielle Europa ist Abchasiendennoch eine Art Räuberrepublik, woSchieber und überdrehte Historiker ihrenSeparatismus austoben. Deswegen hatauch Maxim Gwindschija Schwierigkeiten,

in die richtigen Büros vorge-lassen zu werden. Auf seinemSchreibtisch steht das Schild:Stellvertretender Außenmi-nister der Republik Abcha-

sien. „Wenn ich etwa mit den baltischenRepubliken sprechen will“, sagt der Spit-zendiplomat, „geben sie mir Termine beidrittklassigen Beamten.“

Gwindschija ist 33 Jahre alt, verdient200 Dollar im Monat und wohnt mit seinerFamilie in einem Plattenbau am Stadtrand.Seine Frau leitet die erste abchasische Mo-del-Agentur und organisiert jedes Jahr die– von der Staatengemeinschaft nicht aner-kannte – Wahl der Miss Abchasien.

„Wir wollen kein Frontstaat gegen denWesten sein“, sagt Maxim Gwindschija.„Viele Politiker des alten Europa verste-hen das. Aber die neuen Europäer bauenihre Haltung auf antirussischen Vorurtei-len.“ Dabei sei Abchasien vielleicht dieeinzige funktionierende Demokratie imKaukasus.

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Ministerpräsident Ankwab: „Auf eure Kanzlerin!“

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Sie bauen sich ihren Staat, wie Bastler sich

den Eiffelturm aus Zündhölzern bauen.

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„Eure NGOs haben uns Menschen-rechtskurse finanziert, peacekeeping undconflict training. Haben wir alles besucht“,sagt er. „Aber Russland hat uns die Pen-sionen für die Alten bezahlt. 20 MillionenDollar jedes Jahr.“

Russland würde auch alle Exporte auf-nehmen, vor allem Mandarinen und Bau-material für Olympia. Sein Handy meldetsich. „Excuse me ...“ Es ist der Gesandtein Tiraspol, der Hauptstadt der Transni-strischen Moldau-Republik, ebenfalls nichtanerkannt.

Die Welt, in der sich der Diplomat Ma-xim Gwindschija bewegt, ist eine, von derdie westliche Öffentlichkeit keine Ahnunghat. Es ist die Unpo, die Völkerfamilie derNichtrepräsentierten, eine Gegen-Uno mitVollversammlung, Generalsekretär und Si-cherheitsrat, die sich regelmäßig trifft.Gwindschija kennt den Außenminister derBuffalo River Dene Nation, steht in locke-rer Verbindung mit der Regierung Belu-tschistans, Burjatiens und den Krim-Tata-ren. Das sei auch gut und informativ, sagter: „Aber wir brauchen die EU.“

Seit über zehn Jahren versuchen Unound Europäer, zwischen Georgien und Ab-chasien zu vermitteln. Streitpunkte warenimmer die Rückkehr der überwiegend ge-orgischen 250000 Flüchtlinge und die terri-toriale Integrität Georgiens. Die EU-Di-plomatie betonte dabei zwei Grundprinzi-pien: Unverletzlichkeit nationaler Grenzenund Demokratie. Im Fall Abchasiens passtbeides nicht zusammen.

Der deutsche Diplomat Dieter Bodenwar Chef der Blauhelmmission in Geor-gien, Unomig, gewesen. Er schrieb einenPlan, wonach Abchasien als autonome Re-publik nach Georgien zurückkehren sollte.

Georgien stimmte zu, Abchasien lehnte ab.Man fürchtete die Rache: „Die schlagenuns doch tot“, sagt der Vizeaußenminister.

Georgien soll, so wollen es die USA,möglichst rasch Mitglied der Nato werden.Offiziell muss Deutschland das auch wol-len. Aber seit den Kriegstagen im August2008 ist die Begeisterung etwas verhaltener.

Stalin hatte die damalige AbchasischeSozialistische Sowjetrepublik 1931 seinemGeburtsland Georgien als autonomes Ter-ritorium zugeschlagen. Für die einen wardas eine Gebietsreform, für die anderender Beginn des kulturellen Genozids.

Auf jeden Fall kam es seit 1957 mehroder weniger alle zehn Jahre zu Protestender Abchasen.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion woll-ten die Abchasen von Georgien, was Geor-gien von der Sowjetunion wollte: die Unab-hängigkeit. Aber die Abchasen waren nachden Vertreibungen (beziehungsweise Aus-wanderungen) und diversen Umsiedlun-gen (beziehungsweise Bodenreformen) nurnoch eine Minderheit im eigenen Land.

„Abchasien ist das einzige Land derWelt, wo Stalins Politik wiederhergestelltwerden soll. Beim Lunch sagen mir diewestlichen Diplomaten, dass unsere Unab-hängigkeit eine Tatsache ist. Aber wenn’sernst wird, schweigen sie.“ Das sagt BatalObachija, der abchasische Ströbele, einMenschenrechtsaktivist mit hagerem Schau-spielergesicht.

Im Krieg befehligte er ein Frauenbatail-lon, heute ist er die personifizierte Oppo-sition im Land und bereit für jede Ketzerei– fast jede: „Abchasien und Georgien sindgenauso verschieden wie Frankreich undDeutschland. Immer wenn die beiden Län-der vereint waren, gab es einen Genozid.“

Obachija ist eigentlich Ar-chäologe. Im Kaukasus sind His-toriker ständig mobilisiert. Siehaben dem Streit zwischen Ab-chasen und Georgiern Worteund Gründe gegeben. Sie habenscharfsinnig auf kulturelle Nu-ancen geachtet, haben Abwei-chungen in den Trachten derBergbauern herausgearbeitetund uraltes Unrecht angezeigt.Die Debatte um die Ingoroqva-These, wonach die Abchasen nieeine eigenständige Volksgruppegewesen seien, hat vermutlichmehr Blut fließen lassen als jeein Streit zwischen Philologen.

„Die abchasische Kultur ist dieälteste auf dem Gebiet der ehe-maligen Sowjetunion“, so beginnteine fröstelnde Dame im Falten-rock ihre Führung durchs Abcha-sische Nationalmuseum (ehemals:Abchasisches Museum). Sie zeigtauf das Modell einer Siedlung derBronzezeit: „Damals konnte manAbchasien noch nicht von Geor-gien unterscheiden.“

Während des Unabhängigkeitskriegs1992 hätten, sagt sie, georgische Milizendas Museum gestürmt, den Direktor ver-prügelt und alle Teppiche eingepackt. Ei-nes der ersten Ziele im Bürgerkrieg sei dasabchasische Nationalarchiv gewesen.

So genießen Historiker in Abchasienhöheres Ansehen als viele Generäle. Wennsie nicht sowieso Generäle sind.

Abchasiens erster Präsident, WladislawArdsinba, war ein Experte für Keilschriftenund die toten Sprachen des Orients. Bisheute besteht die alte Führungsgarde über-wiegend aus hochgebildeten Männern, dieihr Leben damit verbracht hatten, den Ur-sprung der abchasischen Sprache im vier-ten vorchristlichen Jahrhundert und dieKonturen des ersten abchasisch-kartweli-schen Königreichs zu erforschen.

Der Krieg hatte ihre Bibliotheken, Ke-ramikfunde und Habilitationsaufzeich-nungen zerstört. Alles war ihnen genom-men. So wurden sie Politiker. Die Histori-ker regierten ihren Forschungsgegenstand.Beziehungsweise das, was von ihm nochübrig war.

Im Saal IX des Museums hängt das Bildeines weißbärtigen, seine Pfeife rauchen-den Bauern: „Nikolai Schapkowski“, sagtdie Führerin ohne jede weitere Erklärung.Das war jener angeblich 140-jährige Mann,von dem Henri Barbusse 1929 berichteteund der das Treffen mit dem französischenDichter noch um zehn Jahre überlebensollte. Das Bild daneben sei der „Chor derHundertjährigen“, sagt die Frau.

Nirgendwo werden die Menschen älterals im Kaukasus. Sofern sie einander nichtvorher umbringen.

Das Taxi ist ein nach Benzin und „Wun-derbaum“ riechender Wolga. Am Rück-

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Abchasische Offiziersanwärter bei der Ausbildung: Trainieren für den Häuserkampf

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spiegel baumeln Boxhandschuhe, und allesvibriert unter armenischer Tanzmusik.„Druschba“, brüllt der Fahrer und dass erlieber Touristen aus Leipzig fahren würdeals Russen.

Aber die kommen nicht. Ohne Fährver-bindung in die Türkei und ohne Direktflü-ge nach Europa ist Abchasien auf die Tou-ristenbusse aus Sotschi angewiesen. Seitdie russische Wirtschaftsblockade gelockertist, seit sich die russischen Touristen wiederan die Sandstrände von Suchumi und Pi-cunda legen dürfen, erwacht die Wirtschaftaus dem Koma. Exil-Abchasen kommenaus Moskau, Istanbul, Damaskus zurückund stecken ihr Geld in Kurhotels undRestaurants.

Im Mai erst unterzeichneten AbchasiensWirtschaftsministerin und der russische Öl-konzern Rosneft eine Rahmenvereinba-rung über die Ausbeutung der Schwarz-meerreserven an Öl und Gas. Bei seinemBesuch am 12. August hat Putin die Mo-dernisierung der Grenz- und Militäranla-gen versprochen, für 354 Millionen Euro.Den Georgiern sei einfach nicht zu trauen,sagte der Premier.

Und seit Präsident Bagapsch ankündig-te, russische Firmen sollten Abchasienszerstörtes Eisenbahnnetz managen undden Flughafen ausbauen, protestiert dieOpposition gegen den Ausverkauf des na-tionalen Erbes. In den zwölf Monaten seitder Anerkennung hat sich die Russophiliedoch sehr gelegt. „Die wollen uns auf-fressen“, ist inzwischen die gängige Ein-schätzung. Überall gibt es russische Zei-tungen, und über einigen Tankstellenweht nur noch die russische Flagge.

Die Immobilienpreise haben sich be-reits verdoppelt. Usbekische Wanderar-

beiter hämmern an den Dachstühlen,während die Söhne der Kriegshelden inihren BMW die Küstenstraße rauf- undrunterjagen.

Der abchasische MobilfunkanbieterAquafon hat 100000 Kunden, und es gibtnoch einen zweiten. Der Strom kommtvom Inguri-Stausee in den Bergen. DasKraftwerk wird von Georgiern und Ab-chasen gemeinsam betrieben. Auch wäh-rend des Krieges kam niemand auf dieIdee, daran etwas zu ändern.

Das Wunderbaum-Taxi hält vor demehemaligen Sanatorium des sowjetischenKomponistenverbands. Hier trainiert ge-rade das abchasische Heer für den Häu-serkampf. Die Rekruten werfen sich zwi-

schen die Rabatten, nehmen Deckung hin-ter Palmen und versuchen, dabei ein erns-tes Gesicht zu machen.

„Wir arbeiten an einem Abkommen zur Militärkooperation. In Zukunft wirdes so sein: Wer Abchasien angreift, greiftRussland an.“ Sagt Garri Kupalba. Er istMathematiklehrer, Generalmajor und stell-vertretender Verteidigungsminister. Dierussischen „Friedenstruppen“ haben sichim Oktober 2008 in die Kasernen zurück-gezogen. Mehrere tausend russische Sol-daten sind weiterhin in Abchasien statio-niert.

Die abchasischen Streitkräfte dagegenbestehen, sagt Kupalba, im Wesentlichenaus 120 tschechischen Panzern, einem er-beuteten LAR-160-Raketenwerfer israeli-scher Produktion und 5000 Soldaten. Exil-

Abchasen hätten ein paarSchnellschlauchboote mitMG-Aufsatz gespendet fürden Aufbau der Schwarz-meerflotte Abchasiens.

„Es ist doch so: Die Geor-gier wollten uns mit Gewaltumbringen, die Russen mitSüßigkeiten. Da ist doch klar,wofür wir uns entscheiden,oder?“, sagt Hibla, eine Stu-dentin an der Universität vonSuchumi – „Suchum. Ohnei“, sagt sie. Vor ihr liegt dasSchwarze Meer, unbeweglichwie ein kalter Teich.

„Wir wissen, dass wir in ei-ner globalisierten Welt leben.Wir wollen keine Sowjetmen-schen mehr im Parlament,sondern junge, gebildete Leu-te, die etwas von internatio-nalen Beziehungen verste-hen. Wieso nehmt ihr unsnicht ernst?“

Hinter ihr, vorm Riva-Ho-tel, sitzen murmelnd die Al-ten und schwenken ihre Zi-

garetten im milchigen Licht. Dahinterwiederum die Gipfel des Kaukasus, woirgendwo Europa versickert. Bis dorthinkamen 1942 die deutschen Truppen – undnicht weiter.

Hibla gehört noch zu Europa. Mit ihren20 Jahren hat sie bereits Politik studiert, einhalbes Jahr in den USA gelebt, arbeitetnebenbei bei einer NGO für Jungunter-nehmerinnen und will Diplomatin werden.„Und dann Außenministerin“, sagt sie. Dasmeint sie ernst.

Hier am Ufer hat Suchumi mehr vonBaden-Baden als von Bagdad.

Auf der demolierten Seebrücke wirdSushi angeboten, ein russisches Pärchenschlendert die Promenade entlang, zu

groß, zu breit, zu grell ge-kleidet. Vielleicht werden die Russen eines Tages dieugly Americans Abcha-siens.

Hibla schaut ihnen nach und sagt: „Rus-sen verstehen übrigens kein Wort von dem,was wir reden. Unter anderem haben wirsieben verschiedene k-Laute“, sagt Hibla,die künftige Außenministerin. Und beginnteine Reihe komplizierter Übungen im hin-teren Rachenraum.

Für Völkerrechtler mag die Republik Ab-chasien eine Einbildung sein. Eine Auto-suggestion. Aber doch so gut gespielt, dasszwischen Realität und Fiktion kaum mehrzu unterscheiden ist. Nichts wirkt heute sounwirklich wie der Status dieses Landesals georgische Provinz.

Und nichts so real wie der Ernst eines 20-jährigen Mädchens, das am Ufer desSchwarzen Meeres steht und gymnastischeÜbungen mit dem Gaumensegel macht:„Hören Sie es?“ ™

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Studentin Hibla: Komplizierte Übungen im hinteren Rachenraum

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Schnellschlauchboote mit MG-Aufsatz sind

die Schwarzmeerflotte Abchasiens.

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Ilse Aigner hat heute morgen einenschönen Blumenrock und eine optimis-tische Jacke angezogen, und jetzt, sagt

sie, habe sie eine „Froage“. Sie ist in Feld-kirchen-Westerham, Oberbayern, geborenund erst seit einigen Monaten Landwirt-schafts- und Verbraucherschutzministerinin Berlin. Eine freundliche Frau, die das Rrollt, oft lächelt, auch wenn nicht klar ist,warum, und von der gesagt wird, dass sienur Ministerin werden durfte, weil sie ge-nau das macht, was CSU-Parteichef HorstSeehofer ihr sagt. Aigner steht in einemBesprechungsraum ihres Ministeriums undstellt den Journalisten die Froage, es istwie bei einem Quiz: „Wie viele Bundes-bürger wissen, was der Score-Wert ist?“

Die Journalisten, die aufihre Einladung hierhin ge-kommen sind, haben keineAhnung.

„Zwölf Prozent“, sagt Aig-ner, und obwohl klar ist, dassdieser Wert dürftig ist, lächeltIlse Aigner.

Genau genommen ist derScore-Wert eine Zahl für dasMisstrauen. Und inzwischenauch für das Grundgefühl ei-ner Gesellschaft, die sich nichtmehr vertraut, seit sich Kre-ditinstitute und Kunden ge-genüberstehen wie Gegner.Der Score-Wert ist eine ArtKopfnote, vergeben wie frü-her in der Schule, nur ebennicht von Lehrern, sondernvon der Wirtschaft. Die Zahlsoll vorhersagen, wie wahr-scheinlich es ist, dass Menschen ihren Ver-pflichtungen nachkommen. Ob man zahlenkann, wenn man einen Handy-Vertrag ab-schließt, einen Ratenkredit vereinbart oderim Internet einen Fernseher kauft.

Ein guter Wert heißt: solventer Kunde,zahlt bestimmt. Ein schlechter Wert be-deutet: Vermutlich wird er irgendwann Är-ger beim Bezahlen machen. Nahezu jederDeutsche hat einen ganz persönlichenScore-Wert. Kaum ein Mensch kennt ihn.Kaum ein Mensch weiß, dass ein zweiterMensch von ihm existiert, ein Second Lifegewissermaßen, zusammengebaut aus Sco-ring-Punkten.

„Es geht um die Frage: Kriege ich über-haupt einen Kredit? Wenn ja, zu welchenKonditionen? Kriege ich einen Handy-Vertrag? Kriege ich einen Mietvertrag? Das

ist ein ganz zentraler Punkt“, sagt Ilse Aig-ner. Sie wird heute eine Studie zu demThema vorstellen. Sie will „Licht ins Dun-kel“ bringen.

In den Rechnern von Wirtschaftsaus-kunfteien ist im Lauf der Zeit eine Par-allelwelt entstanden. Kleine, digitale Bio-grafien von fast allen Deutschen sind hierangelegt worden. Die Schufa, die bekann-teste Auskunftei des Landes, hat Infor-mationen zu 65 Millionen Personen ge-speichert. Die Schufa hat zu 65 Millio-nen Menschen ein bisschen was gehört,und deshalb hat sie zu 65 Millionen eineMeinung.

Die Methode kann man mit der einergeschwätzigen Hausmeisterfrau verglei-

chen. Das Scoring ist Tratsch auf Industrie-niveau gewissermaßen. Ein paar Informa-tionen, ein paar Erfahrungen, daraus folgtein Urteil, der Score-Wert. Im Unterschiedzur Hausmeisterfrau bedienen sich dieScorer statistischer Verfahren und mathe-matischer Modelle, aber dabei entstehenmerkwürdige Dinge.

Weiß die Auskunftei beispielsweise, dassman geschieden ist (Hausmeisterfrau:Schrecklich, die armen Kinder, was der anUnterhaltszahlungen zahlen muss) oderdass man oft bestellte Waren zurückgege-ben hat (Ein Querulant, na danke), dannwirkt sich das alles negativ auf den Score-Wert aus. Kommt hinzu, dass man selb-ständig ist (Hätte er was Richtiges gelernt,ich sag nur Wirtschaftskrise) und in der In-nenstadt wohnt (In Bahnhofsnähe? Ver-

mutlich trinkt er) – dann hat man eingroßes Problem.

Auskunfteien sind Unternehmen, diebisher vom Datenschutz ausgenommen zu sein scheinen. Vermieter, Banken, Mo-bilfunkanbieter, sie alle bekommen aufAnfrage den Score-Wert möglicher Kun-den genannt. Und wenn es dumm läuft,gibt es keinen Mietvertrag, keinen Kre-dit, kein Handy. Die Hausmeisterfrau ausder Parallelwelt kann Biografien zer-schmettern.

„Das eigentliche Problem ist, dass dieFehlerquote der gesammelten Daten vielzu hoch ist“, sagt Ilse Aigner. „Bei denuntersuchten Auskunfteien sind die Ver-braucherdaten in bis zu 45 Prozent der

Fälle fehlerhaft gespeichertworden.“

Wahrscheinlich hängt Ver-trauen, das Fundament einerGesellschaft, auch davon ab,ob irgendwelche Zahlen rich-tig oder falsch gespeichertwerden.

Vier große Auskunfteienwurden in der Studie unter-sucht. Schufa, CreditreformConsumer, Arvato Infoscoreund Bürgel. 100 Personensollten ihre Daten einsehenund überprüfen. Es zeigtesich, dass der Unterschiedzwischen der Parallelweltund der realen riesengroßwar. Manchmal waren Mo-bilfunkverträge gemeldet, diegekündigt waren, dann gabes Kreditkarteneinträge, ob-

wohl die Testperson diese Kreditkarte garnicht besaß.

Aigner steht vor einer großen Wand, diein fröhlichen Farben gestrichen ist. Siespricht von der Verantwortung der Aus-kunftdateien, von der fragwürdigen Zuläs-sigkeit von Score-Werten zur Bonitätsbe-wertung. Ab 2010 wird es ein neues Gesetzgeben, das Gesetz zur Änderung des Bun-desdatenschutzgesetzes.

In Zukunft werden die Bürger einmalim Jahr kostenlos bei den einzelnen Aus-kunfteien nachfragen dürfen, wie der ei-gene, tagesaktuelle Score-Wert lautet, wieder Score-Wert zustande kam. Ilse Aignerlächelt.

Der Fortschritt liegt vermutlich darin,dass jeder erfahren kann, warum ihm nie-mand mehr vertraut. Juan Moreno

Gesellschaft

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Second LifeOrtstermin: Das Ministerium für Verbraucherschutz legt offen, wie die Kreditwürdigkeit der Bundesbürger ermittelt wird.

Ministerin Aigner: Methode einer geschwätzigen Hausmeisterfrau

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Titel

Sprung ins DunkleEs gab Chancen, Hitlers „Drittes Reich“ zu stoppen – sie wurden alle verpasst.

Mit dem deutschen Überfall auf Polen begann vor 70 Jahrender Zweite Weltkrieg, und die Deutschen jubelten über die Siege der Wehrmacht.

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Diktator Hitler am 5. Oktober 1939

bei der Siegesparade in Warschau

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Zum Schluss des Gesprächs gibt sich der„Führer“ sentimental: Er sei ja „Künstlervon Natur und nicht Politiker“. Sei die pol-nische Frage erst gelöst, werde er „sein Le-ben als Künstler beschließen“.

Kaum ist der Diplomat weg, gibt Hitlerden Angriffsbefehl. Es ist 15.02 Uhr.

Drei Stunden später trifft eine Meldungaus London ein. Großbritannien hat de-monstrativ das schon vor Monaten verein-barte Militärbündnis mit Polen unter-zeichnet. Also doch kein Bluff der Briten?

Nicht lange danach überreicht der italie-nische Botschafter einen Brief Mussolinis:Die Italiener erklären sich außerstande, aneinem Krieg teilzunehmen. Mit eisigemGesicht verabschiedet Hitler den Diploma-ten. Die nächste Stunde verbringt er damit,auf und ab zu laufen und auf den treulosenVerbündeten zu schimpfen.

„Der Führer grübelt und sinnt“, notiertPropagandachef Joseph Goebbels, „das istfür ihn ein schwerer Schlag.“

Gegen 19 Uhr erteilt Hitler neue Order:„Sofort alles anhalten.“

Das Kunststück gelingt: Obwohl dieKriegsmaschinerie bereits angelaufen ist,wird der Angriff gestoppt. Nur einen Son-dertrupp, der im Handstreich einen strate-gisch wichtigen Eisenbahntunnel in Süd-polen nehmen soll, erreicht die Nachrichtnicht rechtzeitig. Die Soldaten stoßenkaum auf Widerstand, besetzen den Bahn-hof und kehren erst am nächsten Tagzurück. Eine deutsche Delegation ent-schuldigt sich offiziell für den „Zwischen-fall“. Da sei einer „unzurechnungsfähig“gewesen.

Also: der Frieden gerettet. Oder dochnicht?

Europa im Sommer 1939. An der Spitzeder mächtigsten Militärmacht des Konti-nents steht ein Diktator, von dem der da-malige Außenamts-Staatssekretär Ernstvon Weizsäcker, Vater des späteren Bun-despräsidenten Richard, sagt, er sei „keinMann der Logik oder der Räson“.

Was für eine Untertreibung.Der junge Offizier Nikolaus von Vor-

mann stößt in jenen Tagen zur Entouragedes „Führers“. Er sitzt dabei, wenn Hitlerbeim Mittagessen oder abends seine Ge-treuen um sich schart, und verblüfft regi-striert der Neue, dass die Meinung desReichskanzlers oft um 11 Uhr „ganz an-ders lautet als seine Ansicht um 12 oder 1Uhr“. Mal will er in jenen Tagen Polen an-greifen, auch wenn das einen Weltkriegbedeutet, dann wieder soll der Waffengangverschoben werden.

Nur eine Option taucht im wirbelndenGedankenkosmos des Adolf Hitler nichtauf: dauerhafter Frieden.

Der Veteran des Ersten Weltkriegs, derdie zerfetzten Leichen seiner Kameradenin den Schützengräben sah und selbst Op-fer eines Giftgasangriffs war, hat die Nie-derlage nie verwunden. Politik ist für denSozialdarwinisten die „Führung und der

Am 25. August 1939 ist die Dienst-wohnung Adolf Hitlers in der AltenReichskanzlei in Berlin wie immer

mit Blumenarrangements geschmückt. Vordem Gartensaal leuchten prächtige Sträu-ße. Doch Hitler, eigentlich ein Liebhabersommerlicher Blütenpracht, hat dafür andiesem Freitag keinen Blick.

Der Diktator, in braunem Rock undschwarzer Hose, wirkt abgearbeitet, un-ruhig wandern die tiefliegenden Augen,die Schultern hängen. Der oberste Nazi istnervös.

Etwa 150 Kilometer östlich Berlinsverläuft seinerzeit die deutsch-polnischeGrenze. Dort stehen 54 deutsche Divisio-nen mit etwa 1,5 Millionen Mann bereit,um ihre Stellungen zu beziehen; 3600 ge-panzerte Fahrzeuge und über 1500 Flug-zeuge sind für den „Fall Weiß“ vorgesehen– den Angriff auf Polen am nächstenMorgen. Es fehlt nur noch der Befehl des„Führers“.

Doch soll Hitler jetzt angreifen? Waswerden dann Paris und London unterneh-men, die Verbündeten Warschaus? Undwie wird sich Hitlers Bundesgenosse Beni-to Mussolini positionieren? Italien gilt alsbedeutende Großmacht, die die britischenSeekräfte im Mittelmeer binden kann.Aber wird der Duce mitmachen, der erstseit dem Vortag vage über den anstehen-den Waffengang informiert ist?

In den Räumen Hitlers geht es zu wieauf einem Gefechtsstand. Mehrere Dut-zend Parteigrößen sind versammelt, da-zwischen einige Offiziere; auf Fenstersim-sen, Sesseln, Tischen stehen Telefone, vondenen aus ununterbrochen gesprochenwird. Diverse Brillen liegen herum, damitder kurzsichtige Diktator jederzeit eineSehhilfe zur Hand hat. Immer wieder ziehtsich Hitler zu Einzelgesprächen in das Mu-sikzimmer oder in den Gartensaal zurück.Zwei SS-Männer sorgen dafür, dass nie-mand stört.

Kurz vor dem Mittagessen lässt der Dik-tator nachfragen: Bis wann müsse er denMarschbefehl geben? Antwort vom Gene-ralstab des Heeres: 15 Uhr.

Da kündet Trommelwirbel aus dem Eh-renhof der Neuen Reichskanzlei von derAnkunft des britischen Botschafters, SirNevile Henderson. Der Brite kennt bereitsden Weg; Hitlers Büro zweigt von der gi-gantischen Marmorgalerie ab, die mit 146Metern exakt doppelt so lang ist wie ihrVorbild, der berühmte Spiegelsaal desSchlosses in Versailles. Besucher sollenschon auf dem Weg zum Diktator allenMut verlieren.

Hitler will Henderson freilich nicht ein-schüchtern, er will ihn locken mit einemAngebot. Das „Dritte Reich“ sei bereit, dieExistenz des britischen Weltreichs zu ga-rantieren und den Briten Hilfe zu leisten,wo immer eine derartige Hilfe erforderlichsein sollte. Zentrale Bedingung: Londonmüsse den Krieg gegen Polen hinnehmen.

Kriegsbeginn in Polen

am 1. September 1939

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Quelle: Bayerischer Schulbuch-Verlag, Brockhaus Atlas zur Geschichte, dtv-Atlas Weltgeschichte, Großer Historischer Weltatlas,Militärgeschichtliches Forschungsamt, Putzger Historischer Weltatlas

POLEN

LITAUEN

LETTLAND

DEUTSCHES REICH

FRANKREICHauch Bündnismit der Sowjetunion

GROSS-

BRITANNIEN

SaargebietVölkerbund-

Verwaltung

RheinlandentmilitarisierteZone

ITALIEN

TSCHECHO-

SLOWAKEI

ÖSTERREICH

DÄNEMARK

NIEDER-LANDE

BELGIEN

SCHWEIZ UNGARN

JUGOSLAWIEN

RUMÄNIENauch Bündnismit Italien

SCHWEDEN

Danzig

250 km

FRANKREICH

GROSS-

BRITANNIEN

250 km

SPANIEN

SCHWEIZ

NIEDER-

LANDE

BELGIEN

Bündnis mitItalien

Bündnis um die„Kleine Entente“

PolitischeZusammenarbeitmit Frankreich

Das isolierte Reich 1933 . . .

Ablauf des geschichtlichen Lebenskamp-fes der Völker“. Ohne Krieg herrsche Still-stand, und Stillstand sei gleichbedeutendmit Untergang. O-Ton Hitler: „Es lebe derKrieg – selbst wenn er zwei bis acht Jahredauert.“

Wer sich derart an Tod und Verderbendelektiert, ist zum Frieden nicht fähig.

Am 1. September 1939 hat das Schwan-ken ein Ende. Die Wehrmacht fällt im Mor-gengrauen ins Nachbarland ein. SS-Män-ner in polnischer Uniform haben zuvorGrenzzwischenfälle inszeniert, und dieLeichen ermordeter KZ-Häftlinge werdender Weltöffentlichkeit als Opfer polnischerAggression präsentiert.

Vormittags um kurz nach zehn verkün-det ein sich empört gebender Hitler mitheiserer Stimme im Reichstag: „Seit 5.45Uhr wird jetzt zurückgeschossen.“ Nichteinmal die Uhrzeit stimmt – der deutscheÜberfall erfolgte eine Stunde früher.

Zwei Tage danach ist aus dem deutschenAngriff ein Weltkrieg geworden. NebenGroßbritannien und Frankreich erklärenauch die Commonwealth-Mitglieder Au-stralien, Indien, Neuseeland dem „DrittenReich“ den Krieg; kurz darauf folgen Süd-afrika und Kanada.

Und das ist erst der Anfang. 2194 Tage währt das große Schlachten.

Am Ende befindet sich das Reich mit 54Staaten im Krieg. Insgesamt 110 MillionenSoldaten kämpfen zwischen Murmanskund Marseille, Tokio und Tobruk gegen-einander, mit Flammenwerfern oderKlappspaten, mit Handgranaten oder Ma-schinengewehren.

Das von Hitler entfesselte Inferno bringteine in der Geschichte der Menschheit niegesehene Eskalation der Gewalt mit sich.Rund sechzig Millionen Tote sind danachzu beklagen, darunter über die HälfteFrauen, Kinder und Alte; allein im Holo-caust sterben sechs Millionen Menschen.

Wie ein gewaltiges Erdbeben zerstörtHitlers Krieg für immer jene Weltordnung,in der Europa im Zentrum steht; seit 1945bestimmt vor allen Amerika den Pulsschlagdes globalen Organismus. Die Westver-schiebung Polens, die bis 1989 währendeVorherrschaft der Sowjetunion in Osteu-ropa, die Teilung Deutschlands – ohne denZweiten Weltkrieg hätte es all das nicht ge-geben.

Was für eine Bilanz. Und wenn man den Zeitgenossen Glau-

ben schenkt, hat dies alles ein 1,75 Metergroßer und gut 70 Kilogramm schwererMann verursacht, dessen gutturale Aus-sprache seine österreichische Herkunft ver-rät: Adolf Hitler aus Braunau am Inn.

Aber kann ein Mensch, und sei er alsDiktator noch so mächtig, ganz allein dieWelt in Flammen aufgehen lassen?

Seit einiger Zeit haben sich Zweifel ander zunächst allseits akzeptierten Sichtdurchgesetzt; das Bild ist deutlich komple-xer geworden. Gewiss bleibt, dass es ohne

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Massenidol Hitler beim NS-Erntedankfest bei Hameln 1937: „Es lebe der Krieg – selbst wenn er

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DEUTSCHES REICH

POLENSOWJETUNION

FINNLAND

ITALIEN

UNGARN

SLOWAKEI

JUGOSLAWIEN

RUMÄNIEN

BULGARIEN

ALBANIENTÜRKEIKriegseintritt auf

Seiten der Alliierten

am 1. März 1945GRIECHEN-

LAND

LITAUEN

LETTLAND

DÄNEMARK

SCHWEDEN

ESTLAND

DEUTSCHES

REICH

FRANKREICH

ITALIEN

SOWJET-UNION

SCHWEIZ UNGARN

JUGOSLAWIEN

RUMÄNIEN

LITAUEN

LETTLAND

Paris

Berlin

PragSaargebietdurch Volks-abstimmung1935

Sudetenland1938

RheinlandEinmarsch 1936

MemellandMärz 1939

ProtektoratBöhmenund MährenMärz 1939

Protektorat Böhmenund Mähren

Österreich„Anschluss“1938

SLOWAKEI

Danzig

Warschau

250 km

Deutschland mobilisiert

4,6 Mio. Soldaten,

davon:

1,5 Mio. Soldaten

an der Ostfront

Deutscher Angriffab 1. September

Sowjetischer Angriffab 17. September

Polenfeldzug

deutsch-sowjetischeDemarkationslinie28. September

POLEN

Hitlers Verbündete

spätere VerbündeteHitlers

Gegner Hitlers

spätere Gegner Hitlers

neutrale Staaten

. . . und der Kriegsbeginn . . . Hitlers Verbündete 1939 . . .

1,3 Mio.polnischeSoldaten

Hitler den Weltkrieg nicht gegeben hätte.Sicher ist allerdings auch: Eine Reihe vonFaktoren trug dazu bei, dass aus denKriegsphantasien des Nazi-Führers Wirk-lichkeit werden konnte.

Zum einen war da die Willfährigkeit derkonservativen Eliten im Militär, in der Ver-waltung, in der Wirtschaft. Sie teilten nichtHitlers krude Idee eines Rasseimperiums,und viele von ihnen fürchteten auch einenKrieg mit den Westmächten. Doch sieträumten von der Weltmacht und strebtennach einem Großdeutschland, das zumin-dest den Osten Europas dominierte. Män-ner wie Franz Halder, Befehlshaber desHeeres, der im Frühjahr 1939 verkündete,seine Männer müssten Polen überrennenund würden dann „erfüllt mit dem Geistgewonnener Riesenschlachten bereitste-hen, um entweder dem Bolschewismusentgegenzutreten oder nach dem Westengeworfen zu werden“.

Zum anderen half, mit Leibeskräften, diedeutsche Bevölkerung. Hitler war in keinerWeise der ungeliebte Despot, sondern das„Sprachrohr der nationalistischen Massen“,wie sein Biograf Ian Kershaw analysiert,und der Diktator berauschte sich an derBegeisterung, die ihm die Deutschen entge-genbrachten. Erst in dem Wechselspiel zwi-schen „Führer“ und Volk bildete sich jeneHybris, die dann in den Untergang führte.

Dieser Befund wird auch nicht dadurchin Frage gestellt, dass bei Kriegsbeginn aufStraßen und Bahnhöfen Jubelszenen aus-blieben. Inzwischen weiß man, dass dieStimmung nach den ersten Siegen raschumschlug. Die Deutschen waren trotz derMillionen Toten des Ersten Weltkriegsnicht zu Radikalpazifisten geworden; sie

wollten nur einen zu hohen Blutzoll ver-meiden.

Am 20. September notierte der ameri-kanische Journalist William Shirer aus Ber-lin, er müsse „den Deutschen erst nochfinden – selbst unter denen, die das Regimenicht mögen –, der irgendetwas schlechtfindet an der Zerstörung Polens“. Solangegrößere Verluste ausblieben, werde dies„kein unpopulärer Krieg“ sein. Eine tref-fende Prognose.

Und schließlich bereiteten die Spätfol-gen des Ersten Weltkriegs den Boden fürdie Katastrophe. Diverse Mächte suchtendie Nachkriegsordnung zu revidieren,schon bald herrschte pure Anarchie. Italiens Faschisten, Japans Militärs, dieSowjetunion unter Josef Stalin, auch dasObristenregime in Polen – sie alle strebtennach Einflusszonen oder Imperien und ko-operierten dafür zeitweise mit den Nazis.Sogar die Demokraten in Großbritannienund Frankreich kamen dem Diktator ent-gegen. Viel zu lange, wenn auch überwie-gend aus einem ehrenwerten Motiv: Siewollten den Frieden retten.

Am Anfang waren freilich die Deut-schen. Als Hitler 1933 Reichskanzler wur-de, lag der Erste Weltkrieg nicht einmaleine Generation zurück, doch eine Auf-arbeitung der eigenen Rolle war un-terblieben. Enttäuscht von der Niederlageund gekränkt von den Bestimmungen desVersailler Vertrags, sannen Deutsche allerSchichten und politischen Couleur auf des-sen Korrektur. Der Revisionismus, urteiltder Historiker Rolf-Dieter Müller, war „diestärkste Kraft“ im Land.

Das „Dritte Reich“ war zu dieser Zeit in-ternational isoliert (siehe Grafik); die De-

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zwei bis acht Jahre dauert“

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mokraten in London, Paris und Prag hiel-ten ebenso Distanz wie das faschistischeItalien und die Sowjetunion. Der brauneKanzler fürchtete in der ersten Zeit sogareinen Präventivkrieg der Nachbarländer –eine übertriebene Sorge.

Denn schon bald zeigte sich, wie brü-chig die Nachkriegsordnung geworden war. Ausgerechnet die Junta Polens, dasunter dem Zweiten Weltkrieg mehr leidensollte als jedes andere Land (siehe Grafik Seite 69), ließ sich mit Hitler auf eine„Juniorpartnerschaft“ (Historiker FrankGolczewski) ein. 1934 schlossen Warschauund Berlin einen Nichtangriffspakt, derHitler fortan im Osten den Rücken frei-hielt. Das polnische Regime nutzte seiner-seits die Konstellation, um Nachbarländerunter Druck zu setzen, gegen die WarschauAnsprüche erhob.

Hitler sah sich dabei zunächst in der fürihn ungewohnten Situation, das Auswär-tige Amt und die Militärs zu bremsen. DieGeneralität strebte eine schnellere undumfassendere Aufrüstung an, als es derDiktator außenpolitisch für opportun er-achtete.

Auch so wirkte das Tempo auf die Zeit-genossen atemberaubend, mit dem das„Dritte Reich“ die Fesseln von Versaillesabschüttelte. Am 10. März 1935 gab Luft-fahrtminister Hermann Göring bekannt,dass er über eine Luftwaffe verfüge, eineknappe Woche später verkündete Hitlerdie Einführung der Wehrpflicht, um dieWehrmacht auf 550 000 Mann aufzu-stocken – beides glatte Brüche des Versail-ler Vertrags, der eine weitgehende Abrüs-tung Deutschlands festlegte.

Hitler stürmte indes durch offene Tore,denn längst hatten die europäischen Sie-germächte des Ersten Weltkriegs – Groß-britannien, Frankreich, Italien – erkannt,dass die Bedingungen von Versailles einemdauerhaften Frieden im Weg standen. Undwer weiß, wie die Geschichte des 20. Jahr-hunderts verlaufen wäre, wenn die Alliier-ten der unpopulären Weimarer Republikall das zugestanden hätten, was sie schließ-lich murrend akzeptierten, als der Diktatores sich nahm.

Immerhin lud im Frühjahr 1935 Mus-solini den britischen Premier RamsayMacDonald und den französischen Mi-nisterpräsidenten Pierre-Étienne Flandin

ins mondäne Grandhotel in Stresa am Lago Maggiore. Der Jugendstilbau liegtdirekt an der herrlichen Uferpromena-de, und der eitle Mussolini reiste pro-pagandawirksam mit dem Schnellboot an. Dann versprachen sich der italieni-sche Volksschullehrer, der schottischePazifist und der schnauzbärtige Franzo-se in die Hand, „mit allen geeigneten Mitteln“ künftige Übergriffe Hitlers zuahnden.

Den Duce empörten vor allem Versucheösterreichischer Nazis, in Wien die Machtzu übernehmen. Er verlangte eine „Straf-expedition“ gegen Berlin: „Sie alle, die Siehier versammelt sind, wissen, dass Deutsch-

land die Absicht hat, alles bis nach Bagdadzu erobern.“

Aber derselbe Mussolini träumte sei-nerseits von der Wiedergeburt eines römi-schen Reichs, und dazu sollte Abessiniengehören, das heutige Äthiopien. WenigeMonate nach Stresa griff er das afrikani-sche Kaiserreich an, was sein Verhältnisvor allem zu den Briten nachhaltig schä-digte.

Mit diabolischem Geschick wusste Hitlerdie Konstellation für sich zu nutzen. Er lie-ferte insgeheim den Afrikanern Waffen,um einen vorzeitigen Sieg der Italiener zuverhindern; zugleich bot er dem interna-tional isolierten Mussolini Wirtschafts- undRüstungshilfe an.

Anfang 1936 hatte der „Führer“ dieItaliener, wo er sie haben wollte. Ein umUnterstützung buhlender Mussolini er-klärte die sogenannte Stresa-Front „als einfür alle Mal tot“ und ließ Hitler nun wis-sen, er habe keine Einwände, sollte Öster-reich ein Satellit Deutschlands werden.Bald sprach Mussolini von der AchseRom–Berlin.

Ohne italienischen Schutz war Öster-reich dem Druck des „Dritten Reichs“ aus-geliefert. Fiele Österreich erst in den deut-schen Machtbereich, verschlechterte sichauch die strategische Situation der Tsche-choslowakei. Und hatte Hitler erst Pragund Bratislava aus dem Weg geräumt, warPolen kaum mehr erfolgreich zu verteidi-gen, Nichtangriffspakt hin oder her.

„Der Führer ist glücklich“, notierteGoebbels.

Allerdings blieb das Reich an seinerWestgrenze verwundbar, und dieser

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Panzerparade in Nürnberg 1935: Aufrüstung bis zum Bankrott

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„Ich habe eigentlich

noch nie solche

Angst ausgestanden.“

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Sachverhalt ließ Hitlers großen Gegen-spieler Winston Churchill später urteilen,„niemals hätte sich ein Krieg leichterverhindern lassen“ als der Zweite Welt-krieg.

Im Westen Deutschlands galt eine Re-gelung aus dem Versailler Vertrag, dieAußenminister Gustav Stresemann 1925ausdrücklich akzeptiert hatte. Im Rhein-land und längs einer Zone von 50 Kilo-metern östlich des Stroms durfte es keinedeutschen Panzer geben, keine Garnison,keinen Fliegerhorst. So war es für die fran-zösische Armee jederzeit möglich, dasRuhrgebiet – die Waffenschmiede des„Dritten Reichs“ – ohne große Opfer zubesetzen. Ein unerträglicher Zustand, wienicht nur die Nazis, sondern auch fast alleführenden deutschen Militärs und Diplo-maten urteilten.

Am 7. März 1936 war es so weit. Nochvor Tau und Tag rollten die ersten Güter-züge, beladen mit Feldkanonen und Zug-pferden, ans östliche Rheinufer. Dabeiagierte Hitler überaus vorsichtig. Er schick-te nur gut 30000 Soldaten in die entmilita-risierte Zone; und gerade einmal 3000 derMänner durften den Strom überquerenund an die Grenze vorrücken. Der Befehllautete, einen Kampf mit den Franzosenunbedingt zu vermeiden und stets in derLage zu sein, innerhalb einer Stunde denRückzug antreten zu können.

Doch die Franzosen unternahmen –nichts. Während begeisterte Rhein- undSaarländer den Landsern zujubelten, tagtein Paris das Kabinett. MinisterpräsidentAlbert Sarraut wollte sich die Zonekeinesfalls „rüde und einseitig“ nehmenlassen. Wie er später berichtete, stand erdamit in Frankreich allerdings weitgehendallein. Die Bevölkerung, die Parteien, dieKollegen – alle traumatisiert vom ErstenWeltkrieg, der überwiegend auf französi-schem Boden ausgetragen worden war.

Als Generalstabschef Maurice Gamelinin wohlformulierten Sätzen vortrug, bei ei-nem Vormarsch sei mit stärkstem deut-schem Widerstand, ja mit einem Krieg zu rechnen und Frankreich für einenOffensivfeldzug nicht gerüstet, nickten dieKabinettsmitglieder beifällig und schobendie Entscheidung den Briten zu. Nur wenndiese mitmachten, wollte man selbst aktivwerden.

London winkte ab. Wenn schon dieFranzosen ohne Wenn und Aber nicht be-reit waren, warum sollten dann die SöhneBritannias ihr Leben riskieren?

Der französische Geheimdienst schätztedamals die Zahl der deutschen Soldatenim Rheinland auf absurde 295000 Mann;die Spezialisten hatten die Mitglieder vonSS, SA und anderen Nazi-Organisationenmitgezählt. Heute weiß man: Eine Divisionhätte ausgereicht, um Hitlers Soldaten zuvertreiben.

„Ich habe eigentlich noch nie solcheAngst ausgestanden … Wenn die Franzo-

sen wirklich Ernst gemacht hätten, wärees für mich die größte politische Niederla-ge geworden“, gestand der Diktator spätereinem Vertrauten.

Statt des befürchteten Fehlschlags er-lebte er einen Triumph – und was für ei-nen. Die Deutschen feierten ihren „Füh-rer“ wie einen Messias. In einer nur mäßigmanipulierten Neuwahl des Reichstagssprachen sich am 29. März 1936 fast 99Prozent der Wähler für die NSDAP aus.Selbst Goebbels war überrascht.

Hitler hatte sich schon immer am Jubelseiner Anhänger berauscht. Nach derRheinlandbesetzung erreichte er den Punkt,an dem „Hybris die Oberhand gewann“(Kershaw). Am 14. März 1936 erklärte derbraune Kanzler vor einer ekstatischen Men-schenmenge in München: „Ich gehe mittraumwandlerischer Sicherheit den Weg,den mich die Vorsehung gehen heißt.“

Seinen Generälen verkündete er baldden „unabänderlichen Entschluss, spätes-tens 1943/45 die deutsche Raumfrage zulösen“. Waren damit die Würfel gefallen?Ließ sich der Krieg jetzt noch aufhalten?

Die Aufrüstung lief längst auf Hochtou-ren. Zwar brachte sie das „Dritte Reich“ anden Rand des Bankrotts, denn die Pan-zer und Bomber waren auf Pump finan-ziert. Doch Hitler, in Wirtschaftsfragen ein Dilettant, ließ sich von ökonomischenSachzwängen nicht beeindrucken. In sei-ner Welt triumphierte der Wille, nicht dasKönnen.

Allerdings beschleunigte die Dynamikder Aufrüstung ihrerseits das Tempo derAggression. Es fehlte nämlich zunehmendan Rohstoffen und Devisen, und damitwuchs die Zahl derjenigen in Berlin, diebegehrliche Blicke auf Österreich und die

Tschechoslowakei warfen, auf deren Gold-und Devisenvorräte, auf die Rohstoffvor-kommen und die tschechoslowakischenRüstungsschmieden.

Bis in die kleine Gruppe um Weizsäckerund Heeres-Generalstabschef Ludwig Beck,die dem Regime zunehmend kritisch ge-genüberstand und von der einige späterzum Widerstand des 20. Juli zählten, reich-te dabei der großdeutsche Konsens, dass eseinen „Fall Tschechei (evtl. auch Öster-reich)“ gebe, den es „zu bereinigen gel-te“, wie es Beck formulierte.

Immerhin konnte Weizsäcker nach 1945für die Gruppe in Anspruch nehmen, siehabe einen Weltkrieg nicht gewollt. Stattauf Panzer und Bomben setzte sie auf di-plomatischen Druck. Weizsäcker verglichdas von ihm gegenüber Prag angestrebteVorgehen mit einem „chemischen Auflö-sungsprozess“.

Wohlgemerkt: Hitler hatte die Unter-werfung der beiden Nachbarn ohnehinvorgesehen, aber erst in den vierziger Jah-ren. Nun ließ er schon vorher die Maskefallen.

Legendär ist die Szene, die sich am 12.Februar 1938 auf Hitlers Berghof im Berch-tesgadener Land zutrug. Der „Führer“ hat-te Kurt von Schuschnigg vorgeladen, denin Wien mit diktatorischer Macht regie-renden christlich-sozialen Kanzler. Dererzkatholische Advokat mit dem Ausse-hen eines Buchhalters sollte endlich öster-reichische Nazis in sein Kabinett aufneh-men.

Zunächst sprachen der braune und der schwarze Kanzler über den herrli-chen Ausblick. Ja, erklärte Hitler träu-merisch, „hier reifen meine Gedanken“.Dann ein brüsker Wechsel: „Aber wir sind

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Deutsches Anti-Versailles-Plakat von 1919: Verhasster Friedensvertrag

AKG

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ja nicht zusammengekommen, um von der schönen Aussicht und vom Wetter zureden.“

Er habe einen „geschichtlichen Auf-trag“; Schuschnigg glaube doch wohl nicht,er könne ihn „auch nur eine halbe Stunde“aufhalten. „Wer weiß“, drohte der BerlinerRegierungschef, „vielleicht bin ich überNacht auf einmal in Wien, wie der Früh-lingssturm! Dann sollen Sie etwas er-leben!“

Wie jede Spielernatur liebte Hitler denBluff. Als Schuschnigg zwischendurch das Gespräch mit Beratern suchte, hörte er,wie der Nazi brüllte – scheinbar außer sichund zum Krieg entschlossen –, WilhelmKeitel solle zu ihm kommen. Sofort eilteder Chef des Oberkommandos der Wehr-macht herbei. Was der „Führer“ dennwünsche? Antwort Hitlers hinter ver-schlossenen Türen: „Gar nichts. Setzen Siesich.“ Die beiden plauder-ten eine Weile, dann durfteKeitel gehen.

Der wartende Schusch-nigg fürchtete unterdessendas Schlimmste – undstimmte den ultimativenForderungen schließlich zu.

Am 11. März hatten dieNazis den Wiener Regie-rungschef endgültig nieder-gerungen; von HermannGöring in diversen Telefo-naten mit immer neuenKriegsdrohungen bombar-diert, trat Schuschnigg amNachmittag zurück. Tagsdarauf rückte die Wehr-

macht in Österreich ein, ohne dass einSchuss fiel.

Ein Gangsterstück. Doch das Volk ap-plaudierte.

Als Hitler am Nachmittag gegen 16 Uhrbei seiner Heimatstadt Braunau die Gren-ze überschritt, blieb die Wagenkolonne inder jubelnden Menschenmenge beinahestecken. Links und rechts der Straße einekaum zu bändigende Masse, die wie imRausch „Heil“ und „Ein Volk, ein Reich,ein Führer“ schrie.

Wenige Tage nach der Rückkehr ausWien verkündete Hitler freudestrahlendGoebbels, als Nächstes komme „dieTschechei dran“. Goebbels notiert in sei-nem Tagebuch: „Der Führer ist wunderbar.Ein wirkliches Genie.“

Die Vorherrschaft in Europa schiengreifbar nahe, so sahen es damals Goeb-bels und sein Chef. 18 Monate hatten sie

noch, bevor sie endgültigden Zweiten Weltkrieg los-traten.

Hitler traf sich nun mitKonrad Henlein, dem Füh-rer der SudetendeutschenPartei. Die alliierten Siegerhatten 1919 das einst zurösterreichisch-ungarischenMonarchie zählende Sude-tenland der Tschechoslo-wakei zugeschlagen, unddie meisten Sudetendeut-schen lehnten ihn ab, denneuen Staat, der sie sei-nerseits diskriminierte. Vonder Weltwirtschaftskrisebesonders gebeutelt, be-

geisterten viele sich zunehmend für denKanzler im deutschen Nachbarland.

Im März 1938 vereinbarte Henlein mitHitler, er werde von der Regierung in Prag„immer so viel fordern, dass wir nicht zu-friedengestellt werden können“.

Hitler freilich wollte mehr als nur dasSudetenland. In einer mit Henleins Hilfeeskalierenden Krise sah er den Anlass zum

Losschlagen, denn es war sein „uner-schütterlicher Wille, die Tschechoslowakeivon der Landkarte auszulöschen“. DieWehrmacht erhielt Order, spätestens abdem 1. Oktober zum Angriff bereit zu sein.Henleins Sudetendeutsche Partei über-nahm es, immer neue Zwischenfälle zuprovozieren; im Grenzgebiet zum Deut-schen Reich lieferten sich seine Anhängerbald schon Feuergefechte mit Regierungs-soldaten.

Längst herrschte Kriegsangst in Europa.Auf dem Londoner Versicherungsmarktkonnten Policen nicht mehr abgeschlossenwerden, die Besitz gegen Kriegsschädenversicherten.

Der britische Premier Neville Chamber-lain notierte: „Jetzt ist es vollkommen of-fenkundig, dass Stärke das einzige Argu-ment ist, das Deutschland versteht.“

Und doch stand am Ende niemand derTschechoslowakei bei, der letzten echtenDemokratie östlich der Elbe. Warum nicht?

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„Jetzt ist es offenkundig, dass

Stärke das einzige Argument

ist, das Deutschland versteht.“

Empfang der Wehrmacht im Rheinland 1936: Großer Triumph statt befürchteten Fehlschlags

Premier Sarraut 1936

Allein gegen Hitler

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Paris und Moskau waren Alliierte Prags.Einen deutschen Einmarsch konnte al-lerdings keine der beiden Großmächte ver-hindern. Zwischen der Tschechoslowakeiund dem Kreml-Imperium lagen Polen undRumänien, die beide einen sowjetischenDurchmarsch ablehnten. Und Frankreich,dem immerhin die Möglichkeit einesAngriffs auf den Westen des „DrittenReichs“ offenstand, machte erneut dieeigene Haltung von der Position Londonsabhängig.

Und so schaute die Weltöffentlichkeitim Sommer 1938 auf PremierministerChamberlain, trotz seiner 69 Jahre einaußenpolitisch unerfahrener Politiker. Mit Vatermörder, Homburg, Uhrkette er-schien er wie ein Relikt des 19. Jahrhun-derts; hinter der altmodischen Erscheinungsteckte allerdings eine ernsthafte Ent-schlossenheit, die ihm von Hitler dieSchmähung einbrachte, er sei ein „ver-rückter alter Scheißkerl“.

Dabei zählte der konservative Sprosseiner Politikerfamilie zur großen Fraktionder sogenannten Appeaser, die Deutsch-land zu beschwichtigen suchten, indem siedessen Wünsche erfüllten – soweit dieselegitim erschienen und nicht mit Gewaltdurchgesetzt wurden.

Appeasement war eine Politik, die sichebenso aus Gefühlen speiste wie aus Kal-kül, jedenfalls bei Chamberlain. Der briti-sche Premier hatte im Ersten Weltkrieg seinen geliebten Cousin verloren. Seitdempredigte er den Grundsatz aller Pazifisten:Ein Krieg kennt nur Verlierer.

Als ehemaliger Schatzkanzler wussteder Brite zugleich um die Überdehnung

des ermatteten Empires, das sich im Mit-telmeer durch Italien, im Fernen Ostendurch Japan und in Kontinentaleuropadurch Deutschland und die stalinistischeSowjetunion herausgefordert sah.

Da lag der Versuch nahe, zumindest das„Dritte Reich“ durch Entgegenkommen ru-higzustellen. Dem braunen Terror warenbis 1938 einige tausend Menschen zum Op-fer gefallen, vor allem Kommunisten undSozialdemokraten, wofür manche im kon-servativen Establishment Londons sogarVerständnis zeigten. In der Sowjetunionhingegen ermordeten Stalins Schergenüber eine Million Menschen. Chamberlainkonnte sich durchaus vorstellen, mit einemgemäßigten Hitler Mitteleuropa gegenkommunistische Einflüsse zu stabilisieren.

Der Premier war daher bereit, beim Sudetenproblem den Deutschen freieHand zu lassen. Die Grenzziehung ent-sprach ja tatsächlich nichtdem vielfach beschwore-nen Selbstbestimmungs-recht der Völker.

Den Appeasern ist spätervorgeworfen worden, ihnensei der moralische Kompassabhandengekommen. Gernverweisen die Kritiker aufdie Servilität britischer Di-plomaten, über die sich Hit-ler insgeheim lustig mach-te, und auf die Verachtung,mit der viele Appeaser überOsteuropa sprachen.

Doch hinter der weichenHaltung gegenüber den Na-zis steckte mehr: Das Gros

der Briten scheute, nicht einmal eine Ge-neration nach dem „Great War“, vor ei-nem erneuten Krieg zurück. Auch die Do-minions wie Südafrika, Australien und Ka-nada wollten ihre Soldaten nicht auf denSchlachtfeldern Europas für das Sudeten-gebiet opfern. Innenpolitisch betrachtet,gab es keine Alternative zu dem KursChamberlains.

Inzwischen haben Historiker ermittelt,dass die militärische Lage für die West-alliierten keineswegs aussichtslos war. Hit-ler hatte für den Aufmarsch gegen dieTschechoslowakei den Westen Deutsch-lands von Truppen entblößt. Hinzu kam,dass die deutschen Benzinreserven gerademal für einen vier Monate dauernden Feld-zug reichten. Bezeichnenderweise fürch-teten die Militärs einen Weltkrieg. Einekleine Gruppe, zu der auch Beck undWeizsäcker zählten, plante sogar einen

Putsch für den Fall einesKriegsausbruchs.

Aber während Hitler die Warnungen seiner Ge-neräle abtat („Ich weiß,dass England neutralbleibt“), spielte das Worst-case-Denken der Expertenauf britischer und franzö-sischer Seite jenen Politi-kern in die Hände, die denKrieg unbedingt vermeidenwollten.

Der Westen rätselte da-mals über Hitlers Persön-lichkeit und Ziele, wie er esheute über die Motive undPläne des iranischen Präsi-

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Propagandachef Goebbels mit Verehrerinnen in Graz 1938: „Der Führer ist wunderbar“

Feldherr Mussolini 1938

Österreich preisgegeben

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denten Mahmud Ahmadinedschad tut. Ret-tete man den Frieden, indem man Hitlerdurch entschlossenes Auftreten abschreck-te? Oder führte westliche Resolutheit nurdazu, dass sich fanatische Anhänger umihn scharten und es ihm erschwerten, Kom-promisse einzugehen?

Als sich Anfang September die Anzei-chen für einen deutschen Angriff mehr-ten, beschloss Chamberlain, persönlich mitHitler zu sprechen, offenbar im Glauben,er (und nur er) könne ein vernünftiges Ver-trauensverhältnis herstellen.

Zweimal kam der Premier mit dem „Füh-rer“ zusammen, zunächst am 15. September1938 auf dem Berghof bei Berchtesgaden,eine Woche später im Hotel Dreesen in BadGodesberg. Vom Gastgeber zeigte er sichnicht sonderlich beeindruckt. Dieser sehe„völlig ununterscheidbar“ aus; in einerMenschenmenge würde man ihn nicht er-kennen, schrieb er seinerSchwester.

Zu Hitlers Verwunde-rung erwies sich der vonihm verachtete Demokratals unnachgiebig. Zwarerklärte sich der Brite be-reit, gemeinsam mit denFranzosen die Tschechenund Slowaken zur Überga-be des Sudetengebiets zudrängen.

Die dann verbleibendeTschechoslowakei hingegenstellte Chamberlain nichtzur Disposition, und imFalle eines Angriffs, daranließ der Premier keinen

Zweifel, würde Großbritannien gemeinsammit Frankreich Prag zur Seite stehen.

Hitler konnte alles haben – nur nichtmit Gewalt. Man ging ohne endgültige Ver-einbarung auseinander.

Spätestens an diesem Punkt hätte Cham-berlain seine Strategie überdenken müssen,denn die Frage drängte sich auf, warum Hit-ler einen militärischen Konflikt riskierte,wenn es ihm nur um das Sudetengebietging, das der Westen bereits zugestandenhatte. Aber der Premier notierte nach demersten Treffen mit Hitler, dass man sich „aufdessen Wort verlassen kann“; die Ziele desReichskanzlers seien „streng begrenzt“.

Wohl selten ist einem Staatsmann eineso schwerwiegende Fehleinschätzung un-terlaufen.

Auch Hitler lag freilich mit seiner Ana-lyse der Lage daneben. Er tobte, drohte,setzte Ultimaten – das übliche Programm.

Noch am Abend des 26.September peitschte er imBerliner Sportpalast seineAnhänger ein, drohte denTschechen mit Krieg. Die20000 brüllten: „Führer be-fiehl, wir folgen!“

Doch erstmals zeigte sichein Gegenüber von solchenAuftritten nicht beein-druckt. Hitlers Ankündi-gung, wenn die Briten ihrePosition behielten, sei manin der folgenden Woche imKrieg, richtete sich nun ge-gen ihn selbst.

* In München 1938.

Von allen Seiten – Beratern, Ministern,Militärs – wurde der Diktator bedrängt,den Sprung ins Dunkle nicht zu wagen.Warum sollte man einen Krieg für etwasführen, das man umsonst haben konnte –diese Logik entschlüsselte sich auchführenden Nazis wie Göring nicht.

Um ausländische Diplomaten zu beein-drucken, ließ Hitler am Nachmittag des 27. September eine Division in Berlin pa-radieren. Der „Führer“ erwartete Begeis-terungsstürme wie 1914; stattdessen mussteer mit ansehen, wie Passanten sich inHauseingänge duckten oder mit eisigemSchweigen auf die Soldaten blickten.

Es sei die „eindrucksvollste Anti-Kriegs-Demonstration“ gewesen, die er je gesehenhabe, notierte US-Journalist Shirer. Hitlerwandte sich mit der Bemerkung ab: „Mitdiesem Volk kann ich noch keinen Kriegführen.“

Als am folgenden Morgen auch der vonChamberlain bedrängte Mussolini für einefriedliche Regelung plädierte, willigte derDiktator ein. „Wir haben keinen Absprungzum Krieg“, notierte enttäuscht Goebbels,einer der wenigen Scharfmacher in derNazi-Führung.

24 Stunden später trafen sich die Alli-ierten mit Hitler und dem sich als eu-ropäischen Friedensvermittler gebendenMussolini in München, um ein Abkommenzu unterzeichnen. Die Tschechoslowakeimusste das Sudetenland ans „Dritte Reich“abtreten. Wenige Tage später fiel die pol-nische Junta „mit dem Hunger einer Hyä-ne“ (Churchill) über das wehrlose Prag herund annektierte ihrerseits ein umstrittenesGebiet.

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Siegesparade deutscher Truppen in Prag 1939: Schönster Tag in Hitlers Leben

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Britenpremier Chamberlain*

Strategisches Desaster

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Titel

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Im Gegenzug für das Sudetenland ver-sicherte der „Führer“, auf jede Gewaltan-wendung zu verzichten.

In London bereiteten die Hauptstädterihrem Regierungschef Ovationen; sie riefen„Good old Neville“ und sangen „For He’sa Jolly Good Fellow“.

München 1938 – das Treffen der Staats-männer schien zur Chiffre für einen

großen Tag in der europäischen Geschich-te zu werden, für Kompromissbereitschaftund Friedenswillen, Vernunft und politi-sche Weitsicht.

Doch militärstrategisch gesehen erwiessich die Appeasement-Politik als Desasterfür den Westen. Ohne die natürliche Bar-riere des Sudetenlands und ohne das dor-tige Festungssystem war die Tschechoslo-wakei nicht zu verteidigen.

Politisch allerdings trug die Kompromiss-bereitschaft Chamberlains am Ende zumNiedergang Nazi-Deutschlands bei. Denndie Zugeständnisse des Premierministersließen niemanden daran zweifeln, dass diedeutsche Seite die alleinige Verantwortungfür jede weitere Eskalation trug.

Noch war Hitler nicht zu weit gegangen,noch hätte alles friedlich enden können.Kein Überfall auf Polen, kein Stalingrad,keine Bombardierung Dresdens.

Aber im Morgengrauen des 15. März1939 rollten deutsche Panzer durch den

spätwinterlichen Schneesturm, der überBöhmen und Mähren hinwegfegte. WeilWiderstand aussichtslos war, hatte die Re-gierung in Prag die eigenen Soldaten auf-gerufen, die Waffen ruhen zu lassen.

„Zerschlagung der Rest-Tschechei“ nann-te Hitler triumphierend den Einmarsch sei-ner Truppen. Der Westen der Republik wur-de als „Protektorat Böhmen und Mähren“dem Reich angegliedert, die Slowakei einSatellitenstaat des deutschen Imperiums.

In geradezu ausgelassener Stimmungrief Hitler seinen Sekretärinnen zu: „Kin-der, nun gebt mir mal da und da jede einenKuss“, und zeigte auf seine Wangen. „Dasist der schönste Tag in meinem Leben!“Für die Briten hingegen war es „the rape ofPrague“. Die Goldene Stadt an der Moldau– geschändet von Landsern.

Aus der euphorischen Begeisterung von Millionen Briten für die Appease-ment-Politik wurde binnenStunden empörtes Entset-zen, und dann, nach undnach, betonharter Wider-stand.

In seiner HeimatstadtBirmingham warnte Cham-berlain in einer großenRede, es gebe „keinen grö-ßeren Irrtum, als anzuneh-men, dass unser Volk, weiles den Krieg für eine sinn-lose und grausame Angele-genheit hält, so viel vonseinem Selbstbewusstseineingebüßt hat, um eine solche Herausforderung zu-rückzuweisen“.

Jetzt führte der Premier die Wehrpflichtein. Jetzt ließ er sich auch auf Verhand-lungen mit der verhassten Sowjetunion ein.Jetzt sprachen Großbritannien und imSchlepptau Frankreich eine Garantie fürHitlers Ex-Juniorpartner Polen aus. Ge-heimdienstler hatten berichtet, die Deut-schen bereiteten einen Angriff auf War-schau vor.

Aber ließ sich Hitler noch abschrecken?April 1939. Seit über sechs Jahren

herrschten die Nazis inzwischen in Deutsch-land, und wäre ihr oberster Parteiführerdamals und nicht erst sechs Jahre spätergestorben, hätten ihn die Deutschen jenerGeneration für einen der Größten ihrer Ge-schichte gehalten. Die sogenannte Schmachvon Versailles war fast vollständig getilgt,das Reich war mächtiger als je zuvor.

Doch Hitler war nicht zufrieden. Eigent-lich wollte er, mit britischer Duldung und

Polen als Gehilfen, gegendie Sowjetunion ziehen, umdort „Lebensraum“ für diearische Rasse zu erobern.

Seit München beschlichihn allerdings zunehmenddas Gefühl, einen Waffen-gang gegen England insKalkül ziehen zu müssen.Und auch die Polen fügtensich nicht den Wünschendes „Führers“.

Dabei hatte er ihnen eine„endgültige Bereinigung“

* Mit Minister Joachim von Ribben-trop (stehend) und Wjatscheslaw Mo-lotow am 23. August 1939 im Kreml.

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Die sogenannte Schmach

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Vormarsch der Wehrmacht bei Krakau 1939: Nie gesehene Eskalation der Gewalt

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der Beziehungen angeboten. Einen Nicht-angriffspakt bis 1959, wenn Warschau mitihm gemeinsame Sache gegen die Sowjetsmachen würde. Zudem wollte er Danzigzurück, das unter Verwaltung des Völker-bunds stand, und eine exterritoriale Straßesowie eine Eisenbahnlinie vom Hauptteildes Reichs nach Ostpreußen, also eine ArtKorridor durch den polnischen Korridor.Gemessen an Hitlers sonstigen Forderun-gen war das geradezu maßvoll.

Zu seiner Verblüffung lehnte die polni-sche Militärjunta mit dem zur Selbst-überschätzung neigenden AußenministerJózef Beck ab. Der aufgewühlten polni-schen Öffentlichkeit war die Vorstellungeigener Grenzrevisionen unerträglich. Undnatürlich fürchteten die Polen, aufge-schreckt durch den Prager Coup, dass sieals Nächstes an die Reihe kämen.

In dieser Situation nahm Beck das über-raschende Angebot der Briten und Fran-zosen für einen Beistandspakt an, „zwi-schen zwei Fingerschnippern gegen seineZigarette“, wie ein britischer Diplomat dieSzene beschrieb.

Hitler tobte, als ihn die Neuigkeit er-reichte. Wutentbrannt trommelte er mitden Fäusten auf die Marmorplatte seinesSchreibtischs in der Reichskanzlei undstieß in einer Weise Verwünschungengegen Großbritannien aus, dass ein Zeuge entgeistert einem Vertrauten be-richtete: „Ich habe gerade einen Verrück-ten gesehen, ich kann’s noch gar nichtfassen.“

Die Suada endete mit der Drohung:„Denen werde ich einen Teufelstrank brau-en.“

Wenige Tage später unterzeichnete erdie Befehle zum „Fall Weiß“, dem Angriffauf Polen. Spätestens ab dem 1. September1939 sollte die Wehrmacht bereit sein zumSturm aufs Nachbarland.

Angesichts der Polenfeindlichkeit in derBevölkerung, aber auch bei Spitzendiplo-maten und -militärs konnte Hitler mit Zu-stimmung rechnen. Viele Deutsche sahenin Polen „ein illegitimes Kind des ver-hassten Versailler Vertrags“, wie der briti-sche Historiker Richard Overy schreibt*.Eduard Wagner, der spätere Generalquar-tiermeister, notierte im Juli 1939: „Mit denPolen hoffen wir, rasch fertig zu werden,und freuen uns offen gestanden darauf.“

Jetzt kam es auf die Westmächte an.Hitler gab sich zuversichtlich. Briten

und Franzosen würden einen Überfall aufPolen letztlich hinnehmen: „Die Männer,die ich in München kennengelernt habe,machen keinen neuen Weltkrieg.“ Nichteinmal Pläne für einen Feldzug gegenFrankreich ließ er ausarbeiten. Dafür man-gelte es an Munition, Panzern, Bombern,Schiffen, ausgebildeten Soldaten. Hitler

* Richard Overy: „Die letzten zehn Tage. Europa am Vor-abend des Zweiten Weltkrieges“. Pantheon Verlag, Mün-chen; 159 Seiten; 12,95 Euro.

wollte zunächst gegen Polen und nur gegenPolen ziehen.

So sah es aus, fünf Monate vor Beginndes Zweiten Weltkriegs. Schwer zu sagen,wie alles weitergegangen wäre, wenn dieVerantwortlichen im Berliner Außenminis-terium in dieser Situation nicht den Ein-druck gewonnen hätten, man könne mög-licherweise mit dem Erzfeind, der Sowjet-union, einen Ausgleich finden.

Eine auf den ersten Blick ungeheuer-liche Idee.

Hatte Hitler nicht die Welt auf den 782Seiten von „Mein Kampf“ unmissver-ständlich wissen lassen, dass die Sowjet-

union das Hauptziel seiner Eroberungswutwar? Die Begeisterung des Diktators hieltsich denn auch in Grenzen, als seine Minis-teriellen mit der Idee kamen.

Aber er ließ sie Verbindungen knüpfenund Stimmung machen. Einem misstraui-schen Moskauer Diplomaten, der seinendeutschen Kollegen auf „Mein Kampf“ansprach, entgegnete dieser: „Ach das, dasist veraltet.“ Die Sowjets sollten es „nichternst nehmen“.

Bis heute ist umstritten, ob zuerst Stalinoder Hitler eine Annäherung suchte.„Wenn es geht, sind wir offensiv, wenn esnicht geht, warten wir ab“ – in großerEindeutigkeit hat Stalins AußenministerWjatscheslaw Molotow später einmal dasprinzipienlose Prinzip der stalinschenAußenpolitik benannt.

Klassenfeinde waren in sowjetischen Au-gen beide, der Westen wie die Nazis. WeilLetztere gefährlicher schienen, hatte Stalinin den dreißiger Jahren mehrfach angebo-ten, sich an einer Eindämmung des „Drit-ten Reichs“ zu beteiligen. Doch die briti-schen Konservativen, damals Vorpostendes Antikommunismus in der westlichenWelt, lehnten stets ab. Erst jetzt, im Aprilund nach dem Prager Coup, kamen im-merhin Sondierungen zwischen Londonund Moskau zustande.

Seit dem 17. April lag ein sowjetischesBündnisangebot auf dem Tisch. Ein klassi-scher Beistandspakt, verbunden mit demVersprechen, allen Staaten an der sowjeti-schen Westgrenze zwischen Eismeer undSchwarzem Meer im Fall deutscher Ag-gression zu Hilfe zu eilen. Also auch denPolen.

Doch Chamberlain vermochte sich vonseinem Misstrauen nicht zu lösen. Russlandwolle nur, „dass andere Leute“ gegen dieDeutschen kämpften, schrieb er seinerSchwester.

Der Premier stand zudem vor einemDilemma. Polen fürchtete zwar dieDeutschen – aber auch die Sowjets. Aufkeinen Fall dürfe die Rote Armee insLand. O-Ton Außenminister Beck: „Wenndie Russen erst einmal bei uns drin sind, werden sie so leicht nicht wiederhinausgehen.“

Die Angst vor den Sowjets bestand zu Recht, wie man heute weiß. Expertenschätzen die Zahl der Menschen, die nachdem Einmarsch der Roten Armee in Ost-polen 1939 dem roten Terror zum Opferfielen, auf mehrere hunderttausend.

Andererseits war Polen ohne sowjeti-sche Hilfe nicht zu verteidigen. Chamber-

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Zerstörtes Warschau vor Beginn der deutschen Siegesparade 1939: Am meisten gelitten

Bis heute ist umstritten, ob

zuerst Stalin oder Hitler

eine Annäherung suchte.

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Polen

Sowjetunion

Jugoslawien

Deutschland

Griechenland

Ungarn

China

Niederlande

Finnland

Frankreich

Rumänien

Japan

Belgien

Philippinen

Großbritannien

Italien

Australien

Bulgarien

Kanada

Norwegen

USA

Tote im Zweiten Weltkrieg in Prozent der jeweiligen Bevölkerung 1939*

*Schätzungen;Ungarn: bezogen

auf Staatsgebietund Bevölkerung

von 1938,Sowjetunion:

inkl. baltischerStaaten

17,2

14,2

11,0

8,8

6,0

4,7

3,5

2,4

2,2

1,9

1,9

1,8

1,1

0,9

0,8

0,7

0,4

0,3

0,3

0,3

0,3

6 Mio.

25 Mio.

7 Mio.

416000

420000

15 Mio.

1,7 Mio.

210000

84000

810000

378000

1,8 Mio.

88000

118000

386000

330000

29000

20000

38000

10000

405000

lains innenpolitischer Gegner David LloydGeorge verlangte daher, London solleWarschau ultimativ klarmachen: „Wenndie Polen nicht bereit sind, die ein-zigen Bedingungen zu akzeptieren, unterdenen wir ihnen erfolgreich helfen kön-nen, dann müssen sie das selbst verant-worten.“

Aber konnte London guten Gewissenseine solche Position einnehmen? Britan-nien hatte sich dem „Dritten Reich“schließlich entgegengestellt, um Polen vorder Willkür des braunen Despoten zuschützen. Wie konnte London da von War-schau verlangen, sich dem grausamen Sta-lin anzuvertrauen?

Chamberlain spielte auf Zeit und hoffte,er könne die Russen hinhalten, „ohne siegegen uns aufzubringen“.

Ganz anders die Deutschen.In Berlin ließen Gesprächspartner der

sowjetischen Botschaftsangehörigen beijeder Gelegenheit die Bemerkung fallen,man sei bereit, auf Moskau zuzugehen,und warte nur auf ein Zeichen.

Hitler lief die Zeit davon. Ab Septembersei Polen „ein großer Sumpf und für ir-gendwelche militärischen Handlungenvöllig ungeeignet“.

Je näher der Angriffstermin rückte, um-so unruhiger wurde er. Das „Gelingen derIsolierung (Polens) ist entscheidend“, hat-te der Weltkriegsveteran betont, der ei-nen erneuten Zweifrontenkrieg vermeidenwollte.

Und wie ließ sich die Neutralität derWestmächte besser garantieren als durcheine vierte Teilung Polens durch Moskauund Berlin? London und Paris würden sichdann gleich zwei Großmächten gegenüber-sehen, der Sowjetunion und dem „DrittenReich“.

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IMEPIX

Titel

griffspakt und das geheime Zusatzpro-tokoll über die „Abgrenzung der bei-derseitigen Interessenssphären in Ost-europa“.

Die Deutschen hatten es so eilig, dassnicht einmal eine Reinschrift gefertigt wur-de. Und wer auch immer die Texte auf die kopflosen Bögen tippte, er beherrschtedie Schreibmaschine nur in Grenzen – derHitler-Stalin-Pakt ist übersät von Tipp-fehlern.

Das Provisorische störte Hitler nicht,denn ihm ging es nicht um eine Freund-schaft auf ewig. Er wollte einen „Pakt mitdem Satan“ (Hitler), der ihm den Weg zumKrieg ebnen sollte. „Nun ist Polen in derLage, in der ich es haben wollte“, jubelteder deutsch-österreichische Diktator. Nunwerde sich England heraushalten.

Doch Adolf Hitler hatte sich verkalku-liert. Und mit ihm viele Deutsche, wie His-toriker Overy schreibt; sie hielten einenAngriff auf Polen „für sinnvoll, um die of-fenen Fragen zu klären“.

Am 3. September 1939 verkündete derbritische Botschafter Henderson, dass Lon-don in den Krieg eintreten werde, sollte dieWehrmacht nicht binnen Stunden den An-griff abbrechen und sich zurückziehen.

Der „Führer“ nahm diese Nachricht wieversteinert entgegen, wie sein Dolmetscherberichtete. Dann wandte er sich „mit ei-nem wütenden Blick in den Augen“ anAußenminister Ribbentrop und fragte:„Was nun?“

Es war die letzte Gelegenheit, den Zwei-ten Weltkrieg zu stoppen. Sie verstrich un-genutzt.

Kurz darauf war der Diktator wiederobenauf und tönte, die Briten seien schonimmer Kriegstreiber gewesen. „Der Führerist sehr zuversichtlich“, notierte Goebbels.

Und so steht am Ende der Befund, dasszwar die Westmächte mit dem Appease-ment gescheitert sind und italienischeFaschisten und die Sowjets sich zu HitlersKomplizen gemacht haben – doch im Sep-tember 1939 hätte nur ein Sturz Hitlers dasInferno verhindern können.

Aber ein Aufstand oder Staatsstreich un-terblieb.

Noch am Abend des 3. September be-stieg der „Führer“ einen Sonderzug, derihn in die Nähe der Front brachte. Er woll-te so dicht dabei sein wie möglich.

Denn dort war jenes Sterben in vollemGange, das in Europa bis zum 8. Mai 1945nicht mehr enden sollte – und das er sichso sehr gewünscht hatte. Klaus Wiegrefe

Am 26. Juli kamen die Deutschen ausder Deckung. Der Russlandexperte undVortragende Legationsrat Karl Schnurrelud in Berlin den sowjetischen Geschäfts-träger Georgij Astachow in das Nobel-restaurant Ewest ein. Mit den Englän-dern gäbe es nur Krieg, lockte der Deut-sche. Und weiter: „Was könnten wir dagegen bieten? Neutralität und, wennMoskau wolle, eine deutsch-russische Ver-ständigung über die beiderseitigen Inter-essen“, und zwar „von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer“. So Schnurres Ver-merk.

Zwei Wochen später vermeldete Asta-chow detaillierter nach Moskau, wie sichdie Deutschen die künftige Ordnung Ost-europas vorstellten: der westliche TeilPolens zum Reich, alles andere bis auf Li-tauen in Stalins Hand.

Gierig schnappte Stalin nach den Land-massen, die ihm Hitler darbot; in keinerWeise versuchte er, die Deutschen vondem Angriff auf Polen abzubringen – dasmachte ihn zum Komplizen. Und indemer den Deutschen umfangreiche Rohstoff-lieferungen zusagte, entwertete er darüberhinaus eine der schärfsten britischen Waf-fen – die Seeblockade.

Jetzt ging es nur noch um Tage.Am Nachmittag des 23. August 1939 lan-

dete Außenminister Joachim von Ribben-trop auf dem Moskauer Flughafen, wo das Hakenkreuzbanner und die Sowjet-flagge mit Hammer und Sichel nebenein-ander im Winde flatterten. Ein gutgelaun-ter Stalin empfing den Gast im Kreml. Der Nazi fühlte sich „wie zwischen altenParteigenossen“.

Am selben Abend unterzeichneten Rib-bentrop und sein sowjetischer Amtskolle-ge Wjatscheslaw Molotow einen Nichtan-

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SPIEGEL: Herr von Weizsäcker, Ende Au-gust 1939 lagen Sie als 19-jähriger Schützeauf dem Truppenübungsplatz Groß Bornin Pommern unweit der polnischen Gren-ze. Welche Erinnerungen haben Sie an denKriegsbeginn?Weizsäcker: Wir wurden wenige Tage zuvornachts aus den Kasernen zur Verladung andie Bahnhöfe geführt. Das ging diszipli-niert und schweigend vor sich, ausdrück-lich ohne winkende Bürger am Straßen-rand. Wir sind dann am 1. September mitder ersten Angriffswelle im sogenanntenpolnischen Korridor eingesetzt worden.Am 2. September ist mein Bruder Heinrichwenige hundert Meter von mir entferntgefallen, und ich habe ihn selber beerdigt.Die Empfindungen, die sich damit ver-knüpfen, brauche ich nicht zu schildern. SPIEGEL: Hat dieser Verlust in Ihrer Familieoder bei Ihnen etwas im Blick auf das Re-gime und seinen Krieg verändert? Weizsäcker: Kein Mensch, der in den Kriegzieht, kann sich vorstellen, was er mit sichbringt. Dass der Krieg auch mein eigenesErlebnisbewusstsein tief verändert hat, bisauf den heutigen Tag, das ist die Wahrheit.SPIEGEL: Wie meinen Sie das?Weizsäcker: Weil der Krieg menschlicheNachbarschaft zerstört. Weil er niemals einMittel der Politik sein darf, weil die Politikder Kultur zu dienen hat. Die Kultur dientdem humanen Zusammenleben, und derKrieg ist das Gegenteil. SPIEGEL: Haben Sie den Angriff auf Polendamals auch schon als Fehler begriffen?Weizsäcker: „Fehler“? Das ist doch gar keinAusdruck. Verzeihen Sie, das ist eine naiveFrage …SPIEGEL: … wir haben den Krieg nicht er-lebt …Weizsäcker: … also ist es nur gut, dass Siefragen. Das ist weit besser, als heute imNachhinein immer schon ganz genau zuwissen, was wir Alten damals alles fürEmpfindungen und Kenntnisse gehabt ha-ben sollen. SPIEGEL: Wir möchten wirklich wissen, wieSie den Kriegsausbruch sahen. Weizsäcker: Meine Mutter hat im ErstenWeltkrieg zwei Brüder verloren, mein Va-ter hat einen Bruder verloren, und das istin Deutschland nicht eine Ausnahme ge-

* Das Gespräch führten die Redakteure Martin Doerryund Klaus Wiegrefe.

wesen, sondern fast die Regel. Und infol-gedessen war man von einer ganz anderenneuen tiefen Sorge geprägt in Bezug aufden Gedanken, es könne zu einem Kriegkommen. Das war doch die Grundstim-mung eines normal empfindenden Men-schen. SPIEGEL: Sie meinen, der Krieg war 1939nicht populär. Weizsäcker: Nein, wahrlich nicht. In derBevölkerung herrschte weithin Verstörungund Angst. Ich erinnere mich, wie meineMutter wenige Tage vor Kriegsbeginn no-tierte, es sei doch erst 20 Jahre her, dass

man Brüder, Väter, Verwandte in einemWeltkrieg verloren habe und dass manschon wieder vor der Tatsache stehen kön-ne, Männer und Kinder im Krieg zu ver-lieren. Das war wirklich in vielen Familiendie vorherrschende, vom Herzen und vomVerstand geprägte Einstellung. SPIEGEL: Was war denn Ihr Verhältnis zuPolen?Weizsäcker: Ich gehörte zu jenen unge-zählten ganz jungen Deutschen meiner Ge-neration, die über die Geschichte und Kul-tur und Lage Polens viel zu wenig wussten.Wir erlebten allerdings einen klaren Un-

Titel

70 d e r s p i e g e l 3 5 / 2 0 0 9

S P I E G E L - G E S P R Ä C H

„Es war grauenhaft“Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker, 89, über seine Zeit als Soldat im

Zweiten Weltkrieg, den Widerstand gegen Adolf Hitler und die Frage, ob sein Vater Ernst als Staatssekretär im Auswärtigen Amt Judendeportationen hätte verhindern können

Richard von Weizsäcker

bekannte sich 1985 in einer berühmten Redezur Schuld der Deutschen am Zweiten Welt-krieg und nannte den Holocaust ein beispiel-loses Verbrechen. Während des Krieges dienteer im Infanterieregiment 9, aus dem zahlrei-che Widerstandskämpfer stammen. Ab 1947

half er bei der Verteidigung seines Vaters Ernst,unter Hitler Staatssekretär im AuswärtigenAmt, den die Amerikaner wegen „Verbrechengegen die Menschlichkeit“ schließlich ver-urteilten. Der ehemalige Bundespräsident(1984 bis 1994) setzt sich besonders für dieVersöhnung mit Polen ein. Jetzt erscheint vonihm „Der Weg zur Einheit“ (Verlag C. H. Beck).

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terschied in den Empfindungen verschie-dener Bevölkerungsteile, wenn man ver-gleicht, wie wir Soldaten empfangen wur-den. Nachdem wir den Danziger Korridordurchquert hatten, trafen wir in Ost-preußen ein, und dort herrschte Erleichte-rung vor, dass es nun mit dem Korridorein Ende haben würde. An der belgisch-luxemburgischen Grenze in der Eifel hin-gegen, wohin wir gleich nach dem Polen-Krieg transportiert wurden, empfing unsdie deutsche Bevölkerung freundlich, ver-

bunden mit der lautstarken Bitte, dass esnur ja nicht auch wieder zu einem Kriegüber die Westgrenze hinweg nach Luxem-burg, Belgien und Frankreich kommensollte. SPIEGEL: Teilten Sie die Ansicht vieler Zeit-genossen, dass Danzig und der polnischeKorridor an Deutschland angegliedertwerden sollten?Weizsäcker: Was hatte ich als ganz jungerMensch für Kenntnisse von Danzig oderOstpreußen? Sicher, meine Schwester leb-te dort verheiratet, und ich habe sie ein-mal besucht. Was ich empfand, waren diepersönlichen Schicksale. Was ich abernicht mitbrachte, waren fundierte histori-sche Kenntnisse und eigene Lebenserfah-rungen. SPIEGEL: Ihr Vater Ernst von Weizsäckerwar 1939 Staatssekretär im AuswärtigenAmt und damit zweiter Mann hinter Hit-lers Außenminister Joachim von Ribben-trop. Wie beurteilen Sie heute seine Rolle?

Weizsäcker: Der ganze Weg meines Vatersund seiner Vertrauten im AuswärtigenDienst zielte darauf, dem durch den Ver-sailler Vertrag verfehlten europäischenFriedenszustand durch Reformen nach-zuarbeiten, wozu zweifellos auch Verän-derungen zugunsten der im Ersten Welt-krieg besiegten Deutschen zählten, abereben unbedingt und ausschließlich auffriedlichem Wege. Deshalb ist mein Va-ter nach 1933 im Auswärtigen Dienst ge-blieben.

SPIEGEL: Wir haben den Eindruck, Ihr Va-ter zählte zu jenen konservativen Beamten,die Hitlers Methoden ablehnten, jedoch ei-nen Wiederaufstieg Deutschlands als Groß-macht in Mitteleuropa begrüßten. Weizsäcker: Woher diese Interpretation?Wieder begrüße ich Ihre Frage. Was solldas heißen: wieder Großmacht? Als Kolo-nialmacht mit Hochseeflotte à la Kaiser Wil-helm? Nein, sondern es ging meinem Vaterum eine gemeinsame europäische Verstän-digung über die Notwendigkeit, einen Frie-denszustand in Europa herzustellen. AlsHitler dann mit der KriegsvorbereitungErnst machte, haben dagegen und vertrau-lich Diplomaten aus Italien, Großbritannienund Deutschland zusammengearbeitet.SPIEGEL: Sie spielen auf das Münchner Ab-kommen von 1938 an. Um den Frieden zuretten, haben die Westmächte der vonHitler geforderten Abtrennung des Sude-tenlandes von der Tschechoslowakei zu-gestimmt.

Weizsäcker: Mein Vater konspirierte mitdem britischen und dem italienischen Bot-schafter. Sie brachten Mussolini dazu, Hit-ler davon zu überzeugen, das Abkommenzu akzeptieren. Heute wird das MünchnerAbkommen als Kapitulation der Demo-kratien vor dem Diktator verurteilt. Da-mals aber wurde es von den Westmächtenals einzig möglicher Weg zum Frieden ver-standen. Sie waren zu einem neuen Kriegnoch nicht gerüstet. Hitler selbst hat biszum Ende seines Lebens seine MünchnerUnterzeichnung als seinen größten außen-politischen Fehler bezeichnet. Unser heu-tiges Urteil ist davon geprägt, dass Mün-chen lediglich den Kriegsausbruch ver-schoben hat.SPIEGEL: Und wie sah Ihr Vater im Rück-blick das Münchner Abkommen? Weizsäcker: Es gibt keinen Zweifel, dass ernach dem Überfall auf Polen 1939 und derständigen Ausweitung des Weltkrieges sei-ne Mission als gescheitert ansah. SPIEGEL: Den größten Teil des Kriegeswaren Sie an der Ostfront. Sie lagen imDezember 1941 wenige Kilometer vorMoskau; später zählte Ihre Einheit zumBelagerungsring um Leningrad. VieleKriegsteilnehmer leiden heute unter trau-matischen Erinnerungen an das Sterbenund Töten. Geht Ihnen das auch so?Weizsäcker: Es war grauenhaft, und sobleibt es. Der Reichspressechef Otto Diet-rich gab im Winter 1941 auf einer von mirselbst im Radio gehörten Erklärung be-kannt, die Kriegslage sei schwierig, „weiluns im Dezember vor Moskau der Winterüberrascht“ habe. Da habe ich zum erstenMal viele Soldaten meines Regiments wü-tend und mit geballten Fäusten gesehen.Wegen dieser „Überraschung“ also warenwir, 40 Kilometer vor Moskau, im tiefstenWinter völlig unzureichend ausgerüstet?Offensichtlich hatten Hitler und seineFührung mit einem Kriegsende im Herbst1941 gerechnet. SPIEGEL: Sie sind in der Sowjetunion nieZeuge von Kriegsverbrechen geworden?Weizsäcker: Nie als eigener Zeuge. SPIEGEL: In den Akten Ihrer Division istEnde Juni 1941 davon die Rede, dass manauf Leichen deutscher Soldaten gestoßensei, die „bestialische Verstümmelungen“aufwiesen. Erinnern Sie sich an den Vorfall? Weizsäcker: Nicht solche Akten habe ichdamals je gesehen, wohl aber verstümmel-te deutsche Soldaten. Die Angst davor, insowjetische Gefangenschaft zu geraten,war riesengroß. SPIEGEL: In den Papieren findet sich auchdie Abendmeldung des Infanterieregi-ments 9 vom 28. Juni mit dem Satz: „Ge-fangene wurden nicht gemacht, da die Sol-daten des Regiments sich, nachdem sie diebestialischen Verstümmelungen an ihrenKameraden gesehen hatten, hierzu nichtin der Lage sahen.“Weizsäcker: Was Sie hier vorbringen, ist sooder so eine Ungeheuerlichkeit. Niemals,

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Kriegsopfer auf der Krim 1942: „Natürlich ist der Krieg grausam geführt worden“

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auch nicht im Entferntesten,habe ich je etwas von einer sol-chen Meldung gehört, ebensowenig, dass innerhalb unseresRegiments je so gehandelt wur-de, wie es hier angedeutet wer-den soll. Ich weise das für un-seren Bereich zurück. SPIEGEL: Sie scheinen verärgertüber diese Frage. Weizsäcker: „Verärgert“? Nein,sondern verstört. Ist das dennwirklich so unverständlich?Natürlich ist der Krieg grau-sam geführt worden, mensch-lich grauenhaft gewesen. DieWehrmacht hat aber millionen-fach Gefangene gemacht, undnatürlich haben die nicht alleGefangenen misshandelt odermassakriert. Unser Infanterie-regiment, darf ich sagen, warein alter Traditionstruppenteil,wo es auch im Krieg um persönliches Ver-halten und Disziplin ging. Selbstverständ-lich nehmen wir Alten Fragen und For-schungen der heute Aktiven ernst. Was siein jahrzehntelanger Arbeit erforscht ha-ben, war uns damals bei weitem nicht allesschon bewusst. Es gilt, der historischen undmoralischen Verständigung der Generatio-nen zu dienen. Dabei darf und muss mansich gegenseitig ein Gefühl für Anstandzutrauen. SPIEGEL: Sie hatten vor 1945 keine Kenntnisvom Holocaust? Weizsäcker: Das Wort und Grauen vomHolocaust habe ich erst nach Kriegsendegehört und zu begreifen versucht. Aberein Freund von mir im Regiment, Axel vondem Bussche, hatte im rückwärtigen Hee-resgebiet beobachtet, wie jüdische undnichtjüdische Bewohner der Gegend einentiefen Graben ausheben, sich hineinlegenmussten und dann erschossen wurden. Erkam gleich zum Regiment zurück, und esist mir unvergesslich, wie er sagte, dasEinzige, was er zu tun versäumt habe, seigewesen, sich dazuzulegen. Axel war einHüne von Mann, hochdekoriert. Er wartief geprägt von diesem Erlebnis, und wennman das von ihm gehört hatte, dann konn-te man sich nur noch, soweit möglich, anWiderstandsplänen beteiligen.SPIEGEL: Bussche konnte unter Kameradenoffen über das Erlebte berichten?Weizsäcker: Es gab einen kleinen, eng ver-trauten Freundeskreis, in dem darüber ge-sprochen wurde – mit der kaum vermeid-baren Ohnmacht, daraus Schlussfolgerun-gen zu ziehen. Was konnten wir denn tun?Wir waren ja weitab von Berlin, irgendwoin der Sowjetunion. SPIEGEL: Was war denn der Tenor IhrerGespräche?Weizsäcker: Das konkrete, immer neu auf-tretende Problem lag darin, dass wirwährend des Russland-Krieges ständig vonoben Befehle bekamen, die wir weiterge-

ben mussten. Da stellte sich dann immervon neuem die Frage: Wer denkt sich dennsolche Befehle aus, ohne beurteilen zukönnen, ob sie überhaupt ausführbar wa-ren? Also weiterzugeben und damit mit-zumachen bei den Befehlen, die man vonhinten bekam, das war im Allgemeinen daserste Thema, wenn wir da zusammen wa-ren und sagten, wie kann man das dennverantworten.SPIEGEL: Ihre Entscheidung für den Wider-stand hatte also mehrere Ursachen. DasErlebnis Ihres Freundes Bussche, dann diemilitärische Lage …Weizsäcker: … diese ganze grauenhafteLage, in die das ganze Land durch dieseFührung gebracht worden war. SPIEGEL: Wie liefen die Verbindungen nachBerlin?

Weizsäcker: Über einen weit-aus älteren nahen Freund,Fritz-Dietlof Graf von derSchulenburg, der war immerhalb in Berlin und halb bei unsim Regiment. Er sammelte ge-radezu planmäßig Gesinnungs-freunde. 1943 sah dann GrafStauffenberg die Gelegenheitzu einem Attentat. Ein Front-offizier sollte neue Unifor-men bei Hitler vorführen, undStauffenberg suchte jemanden,der sich bei dieser Gelegenheitmit Hitler in die Luft sprengenwürde. Schulenburg schlug ihmAxel vor, und der hat sich dazusofort bereit erklärt. SPIEGEL: Was war Ihre Rolle?Weizsäcker: Stauffenberg, denich kannte, hatte ein Fern-schreiben an Division und Re-giment geschickt, der Major

von dem Bussche sei sofort nach Berlinoder Potsdam in Marsch zu setzen. Daswar schwierig, weil die Division keinen ak-tiven Bataillonskommandeur an die Etap-pe nach Berlin abgeben wollte. Ich habedann im Regimentsstab für Axel Papiereund Reise organisiert und dies Stauffen-berg gemeldet. Das Attentat musste aller-dings verschoben werden, weil bei einemalliierten Luftangriff die Uniformen zer-stört wurden. Inzwischen wurde Axel ander Front schwer verwundet.SPIEGEL: Zählen Sie sich zu den Verschwö-rern vom 20. Juli 1944? Weizsäcker: Ich habe mit Schulenburg nochdrei Wochen vor dem Attentat in Potsdamein Gespräch gehabt, in dem er mir sagte,der Anschlag stünde unmittelbar bevorund wir würden dann sofort nach ErfolgAnweisungen zur weiteren Mithilfe be-kommen. SPIEGEL: Was wäre Ihre Aufgabe nach ei-nem geglückten Anschlag gewesen? Weizsäcker: Schulenburg wollte alsbald einpaar Regimentsfreunde und mich nachBerlin holen. Nach dem 20. Juli sind 13ehemalige oder aktive Angehörige desRegiments hingerichtet worden oder ha-ben sich das Leben genommen, um derGestapo zu entgehen. SPIEGEL: Nach dem Krieg haben Sie IhrJurastudium unterbrochen, um bei derVerteidigung Ihres Vaters vor einem ame-rikanischen Kriegsverbrechertribunal inNürnberg zu helfen. Die Amerikaner ha-ben ihn schließlich zu fünf Jahren Gefäng-nis verurteilt. Sie haben dieses Urteil im-mer als ungerecht kritisiert. Weizsäcker: Es war das falsche Gericht, vordem mein Vater stand. Die Arbeit, auf dieer wirklich eine Einwirkung durch sich undseine Freunde hatte, war die Außenpolitik.Was er dort versuchte, wenn auch im Er-

* Mit dänischen Widerstandskämpfern in Kopenhagen1989.

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Meldung von Kriegsverbrechen (Ausriss): „Eine Ungeheuerlichkeit“

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Titel

NS-Gegner Bussche (l.), Weizsäcker (2.v. r.)*

„Was konnten wir denn tun?“

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gebnis völlig erfolglos – Kriegsausbruch,Kriegsausweitung –, veranlasste später dassogenannte Reichssicherheitshauptamt,Anklage gegen meinen Vater vor demVolksgerichtshof wegen Hoch- und Lan-desverrats zu fordern. Auch die Frau desdamaligen Außenministers hat diese For-derung in ihren Erinnerungen ausführlichgeschildert. Als es dazu kommen sollte,war mein Vater aber für deutsche Häschernicht mehr greifbar, denn er war inzwi-schen Botschafter am Vatikan im ameri-kanisch besetzten Rom.SPIEGEL: Vom Vorwurf, „Verbrechen gegenden Frieden“ begangen zu haben, wurdeer ja auch freigesprochen. Das Urteil erging

wegen „Verbrechen gegen die Menschlich-keit“. Adolf Eichmann hatte 1942 vom Aus-wärtigen Amt eine Stellungnahme zur De-portation von französischen Juden nachAuschwitz verlangt, und Ernst von Weiz-säcker hatte geantwortet, das AA erhebe„keinen Einspruch“.Weizsäcker: Für meinen Vater stellte sichdie eine zentrale moralische Frage: Im Amtbleiben oder nicht? Wofür musste unddurfte er jeden Einsatz auf sich nehmen?Worauf gab es eine Perspektive des eige-nen Einflusses, worauf nicht?SPIEGEL: Und Ihre Antwort?Weizsäcker: Im außenpolitischen Bereichwar und blieb er tätig, allem schweren

Scheitern zum Trotz. Den zentralen inner-staatlichen Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit gegenüber war er nach gewissen-hafter Prüfung machtlos. Umso nach-drücklicher griff er helfend in jedem ihmzugänglichen konkreten Fall der Verfol-gung ein. Dafür blieb er im Amt. Hunder-te Aussagen von jüdischen Stimmen, ausden Kirchen, von zu Hause, aus Großbri-tannien und anderen Ländern haben ihmfür seinen vielfach wirksamen Schutz ge-dankt, wie es auch ausdrücklich einer sei-ner Nürnberger Richter tat, im Gegensatzzu dessen beiden Kollegen.SPIEGEL: Ihr Vater wurde also in Nürnbergnicht fair behandelt?Weizsäcker: Der Ankläger hatte vor demProzess bei einem vertraulichen, aber pro-tokollierten Gespräch meinen Vater auf-gefordert, sich einfach nur als Zeuge derAnklage gegen andere zur Verfügung zustellen. Es lohne sich doch, dadurch selbsteiner Anklage zu entgehen, und sei es umden Preis einiger Meineide. Mein Vaterhatte das strikt abgelehnt. Das Urteil warweder historisch noch moralisch mensch-lich gerecht. Der amerikanische HoheKommissar in Deutschland ordnete die als-baldige Haftentlassung meines Vaters an.Der erste deutsche Bundespräsident Theo-dor Heuss und viele andere sprachen fürmeinen Vater. Und Winston Churchillsprach in einer Unterhausdebatte von ei-nem „tödlichen Irrtum“ der amerikani-schen Anklagebehörden in der Sache mei-nes Vaters. SPIEGEL: Haben Sie mit ihm darüber ge-sprochen, was geschehen wäre, wenn ergegenüber Eichmann Bedenken erhobenhätte? Weizsäcker: Natürlich haben wir diese illu-sorische Frage mit ihm erörtert.SPIEGEL: Das ist keine illusorische, sonderneine moralische Frage.Weizsäcker: Die konkrete Auswirkung warillusorisch. Aber glauben Sie mir bitte, dasswir nicht erst jetzt lernen, was eine mora-lische Frage ist. SPIEGEL: Sie meinen, es hätte keinen Unter-schied gemacht, wenn er die Einwilligungverweigert hätte? Weizsäcker: Ich will die Gespräche nichtwiedergeben, aber selbstverständlich hatihn und uns diese Frage zutiefst beschäf-tigt, was denn sonst? SPIEGEL: Wir versuchen zu verstehen, wasdamals geschehen ist. Weizsäcker: Ich habe meinen Vater, so gut es menschenmöglich ist, kennen-gelernt und hier wiederzugeben michbemüht. SPIEGEL: Das beschäftigt Sie bis heute?Weizsäcker: Selbstverständlich. Es gibtkeine historische, keine moralische, keinemenschliche Immunität, im Alter so we-nig wie in der Jugend. Darin stimmen wirgewiss auch hier überein. SPIEGEL: Herr von Weizsäcker, wir dankenIhnen für dieses Gespräch.

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Diplomat Ernst von Weizsäcker (r.) mit Hitler beim Besuch von Prinzregent Paul von Jugoslawien in Berlin 1939

Familie Weizsäcker: „Wir lernen nicht erst jetzt, was eine moralische Frage ist“

Brüder Richard (l.) und Heinrich (2. v. l.) mitGeschwistern und Mutter Marianne 1929

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Hilfsverteidiger Weizsäcker mit Vater Ernst während desUS-Verfahrens 1948 in Nürnberg

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M A N A G E R

MiddelhoffsRealitätsverlust

Thomas Middelhoff, Ex-Vorstandsvor-sitzender des insolventen Arcandor-

Konzerns, litt am Ende seiner Amtszeitallem Anschein nach unter Realitäts-verlust. Am 26. Februar, zwei Tage vor seinem Ausscheiden aus demUnternehmen, schrieb er in einem Briefan ausgewählte Manager des Unterneh-mens: „Rückblickend steht fest, dassdas Ziel, den Konzern zu retten und aufeine tragfähige Basis zu stellen, erreichtwurde. Wir haben dem Konzern durchdie Bildung der Thomas Cook Group,die zu Recht eine Ertragsperle genanntwird, und den Turnaround von Primon-do und Karstadt eine stabile Gewinn-basis verschafft.“ Der vorläufige Insol-venzverwalter des mittlerweile pleite-gegangenen Konzerns, Klaus HubertGörg, hatte in der vorvergangenen Wo-che Middelhoff scharf attackiert – frei-lich ohne ihn direkt beim Namen zunennen. „Wir haben mit der Lupe nach der Substanz in diesem Unter-nehmen gesucht, aber wir haben nichts

Nennenswertes gefunden“, sagte er der „Welt am Sonntag“. Außerdemkritisierte Görg, der „dienstliche Auf-wand“ des Vorstands sei „sehr hoch“gewesen. Middelhoff hatte für Ge-schäftsreisen gern einen eigens gechar-terten Privatjet genutzt, was allein imJahr 2006 über 800000 Euro verschlang.Zudem bezahlte Arcandor ihm eineDienstwohnung in Düsseldorf, die 3500 Euro im Monat kostete (SPIEGEL29/2009).

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Trends

Die Ermittlungen wegen des Ver-dachts auf Kursmanipulation rund

um Volkswagen-Aktien sind umfangrei-cher als bislang bekannt. Neben demHauptsitz von Porsche wurden am Don-nerstag vergangener Woche „auch diePrivaträume des ehemaligen Vorstands-vorsitzenden Wendelin Wiedeking unddes ehemaligen Finanzchefs HolgerHärter durchsucht“, bestätigt eine Spre-cherin der Staatsanwaltschaft Stuttgart.An der Großaktion waren mehrere Dut-zend Beamte beteiligt. Die Schwabenermitteln seit Anfang August aufgrundeiner Anzeige der Bundesanstalt für Fi-nanzdienstleistungsaufsicht. Die Aufse-her waren ursprünglich von der Frank-furter Handelsüberwachungsstelle alar-miert worden. Dabei geht es allerdingsnicht um jenen Zeitraum im Oktober2008, als der VW-Kurs eine Rekordhöhevon über tausend Euro erreichte. Por-sche soll im Frühjahr dieses Jahres mitHilfe der Frankfurter Maple Bank, dieebenfalls durchsucht wurde, den Kursder VW-Aktie auf einem gewissen Ni-veau stabilisiert haben, um weitere ge-fährliche Ausschläge des VW-Kurses zuverhindern. Im Zuge der damals ge-planten Übernahme des Volkswagen-Konzerns hatte der Sportwagenbauerbereits über 50 Prozent der VW-Aktienübernommen und mit Verkaufsoptionenabgesichert. Sowohl bei den Aktien als

auch bei den Optionen wäre es beiunkontrollierten Kursbewegungen derVW-Papiere zu massiven Verlusten fürPorsche gekommen. Die Staatsanwalt-schaft interessiert sich zudem für dieunerlaubte Weitergabe von Insider-Informationen. Demnach soll Porsche-Finanzvorstand Härter im Frühjahr beieinem Treffen mit dem SPD-Fraktions-vorsitzenden im Stuttgarter Landtag,Claus Schmiedel, Interna ausgeplauderthaben. Härter soll dem Politiker erklärthaben, dass Porsche auch im laufen-den Geschäftsjahr einen operativen Ge-winn von 700 bis 800 Millionen Euromachen und im nächsten Jahr wiedermehr als eine Milliarde Euro verdie-nen werde. Schmiedel hatte daraufhin,unter Berufung auf den Porsche-Fi-nanzchef, die Zahlen in einem Gesprächmit den „Stuttgarter Nachrichten“ indie Öffentlichkeit gebracht. Die Nen-nung von Gewinnprognosen ist jedochad-hoc-meldepflichtig, wenn sie Einflussauf den Aktienkurs haben kann. Por-sche erklärt die Vorwürfe gegen dasUnternehmen und seine Manager „entbehrten jeder Grundlage“. AuchSchmiedel hält die Ermittlung gegenPorsche grundsätzlich für abwegig. DieZahlen, die er von Härter genannt be-kommen habe, seien auch nicht ver-traulich gewesen, sondern nur eine„spekulative Prognose“.

Wiedeking, Härter

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Hausdurchsuchung bei Ex-Porsche-Bossen

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V E R K E H R

Bahn und Siemensdrängen auf US-Markt

Siemens und Deutsche Bahn wollengemeinsam in das US-Eisenbahn-

Geschäft einsteigen. Die amerikanischeRegierung plant im Rahmen ihres Kon-junkturprogramms einen milliarden-schweren Ausbau der maroden Bahn-Infrastruktur, der insgesamt elf Projekteumfassen soll. Gebaut werden sollenunter anderem auch Hochge-schwindigkeitstrassen zwischenMetropolen wie Miami und Or-lando sowie San Francisco undLos Angeles. Das sei ein interes-santer Markt, heißt es bei Bahnund Siemens gleichermaßen. In-nerhalb des deutschen Konsor-tiums würde Siemens die Techno-logie, wie Hochgeschwindigkeits-züge vom Typ ICE 3, sowie dienötige Verkehrstechnik liefern.Die Bahn soll dann die Streckebetreiben. Deren konzerneigeneConsulting-Firma DB Internatio-nal beschäftigt sich bereits mit

dem Projekt. Bei der Bahn knüpft mandie US-Zusammenarbeit mit Siemensallerdings an eine Bedingung. BeideUnternehmen streiten nach dem ICE-Achsen-Debakel noch darüber, wer dieKosten für den Austausch der proble-matischen Bauteile übernehmen soll. Indieser Streitfrage hatten sich Bahn-ChefRüdiger Grube und Siemens-Chef PeterLöscher zuletzt allerdings in Vieraugen-gesprächen angenähert. Dennoch heißtes aus der Bahn: „Solange diese Kuhnicht vom Eis ist, wird es keine gemein-samen US-Pläne geben.“

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H A N D E L

Korruptionsaffäre beiBSH weitet sich aus

In der Korruptionsaffäre bei der Boschund Siemens Haushaltsgeräte (BSH)

wollen nun auch Händler mit derStaatsanwaltschaft München kooperie-ren. Den Strafverfolgern liegt das an-

waltliche Schreiben eines großen Elek-trohändlers vor, in dem eine Koopera-tion zugesagt wird. „Ich kann nur je-dem dringend empfehlen, sich mit unsin Verbindung zu setzen“, sagt Ober-staatsanwalt Anton Winkler. Wer früh-zeitig zur Aufklärung beitrage, könnemit Strafmilderung rechnen. Bei derBSH wird die Staatsanwaltschaft einErmittlungsverfahren gegen unbekannteinleiten und dabei prüfen, wer dort

Händler und Verkäuferbestochen hat. DerSPIEGEL hatte das Un-ternehmen vorvergange-ne Woche mit dem Ver-dacht konfrontiert, dassdie BSH jahrelang miteinem ausgefeilten Gut-scheinsystem den Ver-kauf ihrer Waschmaschi-nen oder Geschirrspülergefördert hat. Tags dar-auf hatte sich EuropasMarktführer der so-genannten weißen Warebei der Staatsanwalt-schaft gemeldet. Um eine spektakuläreDurchsuchung zuvermeiden, hat die BSHden Ermittlern freienZugang zu allen Unter-lagen eingeräumt.

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Am 5. August 2004 stirbt in Kiew der Rentner und Ingenieur Anato-lij Kortschak. Um zwei Uhr mor-

gens wird sein Leichnam abgeholt und indas rechtsmedizinische Institut in derukrainischen Hauptstadt gebracht. SeineTochter Lena Krat erhält noch in der Nachteinen Anruf. Sie solle am Morgen umge-hend ins Institut kommen, alles Weiterewerde dort besprochen.

Lena Krat ist zum ersten Mal mit demTod eines nahen Angehörigen konfrontiert.„Ich war in einem Zustand, in dem ichnicht richtig denken konnte“, erinnert siesich. Als sie morgens im Institut eintrifft,erzählt ihr ein Mann etwas von Hauttrans-

plantationen. Er ist Mitarbeiter eines ukrai-nischen Unternehmens, das mit derRechtsmedizin kooperiert. Sie sagt: „Las-sen Sie mich in Ruhe, ich verstehe garnichts. Ich will auch nichts hören.“

Doch der Mitarbeiter lässt nicht lockerund drückt ihr ein Formular in die Hand.Wenn sie einer Hautentnahme zustimme,werde sie kleinen Kindern helfen, die nacheiner Verbrennung eine Transplantationbrauchten. Lena Krat unterschreibt. „Ichwar wie unter Hypnose“, sagt sie.

Was die Mutter von zwei kleinen Töch-tern erst jetzt durch den SPIEGEL erfuhr:Das ukrainische Unternehmen schafft dieLeichenteile außer Landes und schickt sie

nach Deutschland an die Firma TutogenMedical GmbH. Diese wiederum liefert sieoffenbar in großem Umfang an den ameri-kanischen Gewebemarkt.

Den Leichen werden nicht nur Haut-streifen abgeschält, sondern auch Seh-nen, Knochen und Knorpel entnommen.„Das schockiert mich“, sagt Lena Krat.„Wenn ich gewusst hätte, dass so viel her-ausgeschnitten würde, hätte ich nie zuge-stimmt.“

Der Vorfall in der ukrainischen Haupt-stadt gehört zum verschwiegenen Alltageiner kaum bekannten, aber höchst lukra-tiven Branche im Medizingeschäft: DieFirmen fertigen aus Leichen medizinische

Wirtschaft

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Tutogen-Zentrale im oberfränkischen Neunkirchen

PETER ROGGENTHIN

G E S U N D H E I T

42,90 Euro pro ArmDie deutsche Firma Tutogen betreibt ein ebenso verschwiegenes wie lukratives Geschäft

mit Leichenteilen: In der Ukraine lässt sie Verstorbenen Knochen entnehmen, aus denen Produkte für die Medizin hergestellt werden – weltweit ein Milliardenmarkt.

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Ober-schenkel-knochen 42,90 €

Postmortale Preise

Was die Firma Tutogen für Körpergewebe von Toten aus der Ukraine zahlte*

harte Hirnhaut 9,70 €

Schädelknochen 32,20 €

Amboss (Gehör-knöchelchen) 1,50 €

Oberarmknochen42,90 €

Rippenknorpel3,10 €

Beckenkamm12,80 €

Oberschenkel-kopf

32,20 €

unter 40 Stück, je 14,30 €

ab 40 Stück, je 23,00 €

ab 60 Stück, je 26,10 €Hautstück

7 x 18 cm 18,90 €

Muskelhülledes Oberschenkels(Fascia lata) 16,40

bis 18,90 €

Luftröhre

14,30 €

Herzbeutel

13,30 bis 16,40 €

Kniescheibensehne mitKnochenblöcken (BTB)

* im Januar 2002

Ersatzteile. Sie verwerten dabei fastalles, was der menschliche Körperzu bieten hat: Knochen, Knorpel,Sehnen, Muskelhüllen, Haut,Augenhornhäute, Herzbeutel oderHerzklappen – Gewebe nennt manall das im Fachjargon.

Knochen oder Sehnen, für diesich Tutogen vor allem interessiert,werden aufwendig verarbeitet:So entfettet und reinigt das Unter-nehmen entnommene Knochen,schneidet, sägt oder fräst sie zu-recht, sterilisiert, verpackt und ver-kauft sie schließlich in über 40 Län-dern weltweit. Mit einem Rezeptlassen sich die Produkte sogar überInternetapotheken bestellen.

In Deutschland ist der Markt fürGewebeprodukte noch klein. Bei-spielsweise für Knochen: Expertenschätzen, dass bundesweit in Klini-ken lediglich 30000 Transplantatepro Jahr eingesetzt werden, groß-teils zum Knochenaufbau bei Hüft-operationen und in der Wirbelsäu-lenchirurgie.

Ganz anders in den USA: NachAngaben der US-Vereinigung Or-thopädischer Chirurgen werden je-des Jahr mehr als eine MillionKnochenteile verpflanzt. In keinemanderen Land lässt sich mit Lei-chenteilen so viel Geld verdienen.Würde eine Leiche in ihre Einzel-teile zerlegt, verarbeitet und ver-kauft, käme man auf einen Erlösvon bis zu 250000 Dollar. Für eineeinzige Leiche! Insgesamt macht dieUS-Gewebebranche rund eine Mil-liarde Dollar Umsatz pro Jahr, sodie Journalistin Martina Keller, Mit-autorin dieses Artikels*.

Die Frage ist immer: Wie legalwerden die Rohstoffe beschafft?Und sind Knochenprodukte, die ausLeichen hergestellt werden, me-dizinisch überhaupt nötig? NachAngaben von Klaus-Peter Günther,Präsident der Deutschen Gesell-schaft für Orthopädie und Or-thopädische Chirurgie, sind siehäufig „nicht die erste Wahl“ beiOperationen. „Der Goldstandard für unssind immer noch Gewebe, die dem Patien-ten selbst entnommen werden.“

Nur wenn das patienteneigene Materialnicht ausreiche, böten sich Alternativenan: tierische Knochen und künstliche Er-satzteile etwa aus Keramik. Oder ebenmenschliche Spenderknochen.

Dazu werden in vielen Kliniken aberherausoperierte Knochenteile von Patien-ten gesammelt, die ein künstliches Hüftge-lenk bekommen haben. „Deshalb sind wir

* Martina Keller: „Ausgeschlachtet – Die menschlicheLeiche als Rohstoff“. Econ Verlag, Berlin; 256 Seiten; 18,80 Euro.

mit dem Thema Verwertung vonKörpersubstanzen. Sie argumen-tiert, dass der Körper kein Rohstoffsei, den man beliebig verkaufenkönne. Nicht umsonst widerstrebtes vielen Menschen, die Leiche ei-nes Angehörigen für die Verwer-tung freizugeben – selbst wenn dasmedizinischen Zwecken dient.

Und auch wenn es realitätsfernwäre, in der heutigen Medizin jeg-liche Kommerzialisierung des Kör-pers ausschließen zu wollen, sei esdoch wichtig, Grenzen zu ziehen.Ingrid Schneider fordert deshalb,Gewebe sparsam zu verwenden,also nur dann, wenn es medizinischnotwendig und anderen Behand-lungsformen deutlich überlegen sei.

Die Überzeugung, dass der Kör-per weit mehr als eine Sache ist,prägt auch Beschlüsse der Weltge-sundheitsorganisation, des EU-Par-laments und des Europarats. Sie alleverurteilen, dass mit dem menschli-chen Körper Handel getrieben wird,um Gewinne zu machen.

In Deutschland regelt das Trans-plantationsgesetz die Entnahme vonGewebe. Als Spender kommt nur inFrage, wer selbst der Entnahme zu-gestimmt hat. Stellvertretend kön-nen nach dem Tod die nächsten An-gehörigen einwilligen. Ausdrücklichheißt es zudem in Paragraf 17: „Es ist verboten, mit Organen oderGeweben, die einer Heilbehandlungeines anderen zu dienen bestimmtsind, Handel zu treiben.“ Den Me-dizinern, die das Gewebe entneh-men, darf lediglich eine angemes-sene Entschädigung gezahlt werden.Wer gegen das Handelsverbot ver-stößt, wird mit einer Freiheitsstrafevon bis zu fünf Jahren bedroht.

Tutogen vergütete ihren ukraini-schen Partnern jedes Leichenteilmit einem festen Preis. So zahlte dieFirma im Januar 2002 für einenkompletten Oberschenkelknochen42,90 Euro, für einen Oberarmkno-chen ebenfalls 42,90 Euro und füreinen Herzbeutel je nach Größe

von 13,30 bis 16,40 Euro. Sogar Staffel-preise wurden mit den Ukrainern ver-einbart, etwa für die Entnahme vonKniescheibensehnen mit Knochenblöcken(„Bone-Tendon-Bone“, BTB): Wenn dieRechtsmediziner vor Ort weniger als 40dieser BTB lieferten, zahlte Tutogen 14,30Euro für jedes Teil. Ab 40 Stück stieg derPreis auf 23 Euro, ab 60 BTB gab es je-weils 26,10 Euro. Für einen Mitarbeiter derRechtsmedizin, der in der Ukraine rund200 Euro im Monat verdient, dürften sol-che Staffelpreise durchaus einen Anreizdarstellen, möglichst viel zu entnehmen.

Tausende Seiten firmeninterner Proto-kolle, Faxe, Lieferlisten und Dokumente,

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bei Knochen bisher eigentlich nicht auftote Spender angewiesen“, sagt Günther.

In den USA setzen Ärzte Leichenteileviel unbedenklicher ein als ihre deutschenKollegen. Etwa in der Wirbelsäulenchirur-gie, bei Sportverletzungen oder bei Schön-heitsoperationen. So verwenden Ärzte zer-kleinerte Hautpartikel dazu, Lippen auf-zufüllen und Falten zu glätten.

Doch soll man Leichen ausschlachten,um kosmetische Eingriffe zu ermöglichen?Ingrid Schneider lehnt dies entschiedenab. Die Hamburger Politologin war Mit-glied der Enquetekommission „Recht undEthik der modernen Medizin“ des Bun-destags und beschäftigt sich seit 15 Jahren

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die dem SPIEGEL aus den Jahren 2000 bis2004 vorliegen, legen nahe, dass die Firmadie ukrainischen Leichenteile nicht nurselbst verarbeitete, sondern damit den US-Gewebemarkt belieferte.

Einer der Marktführer in den USA istRTI Biologics, ein Unternehmen mit Sitz inFlorida. 2008 erwirtschaftete RTI einenUmsatz von 147 Millionen Dollar. Die Fir-ma ist nach eigenen Angaben „führenderAnbieter steriler biologischer Lösungen fürPatienten in aller Welt“.

Dazu hat RTI im vorigen Jahr die Tuto-gen Medical Inc. gekauft, die amerikani-sche Mutter der deutschen Tutogen Medi-cal GmbH. Für die RTI-Aktionäre war dieÜbernahme eine gute Nachricht, denn, soFirmenchef Brian Hutchison, mit Tutogenhabe man ein großes internationales Spen-dernetz erworben. Im Klartext: eine Fir-

ma, die Mittel und Wege kennt, an mög-lichst viele Leichenteile zu kommen.

Geliefert werden die Teile aus der Ukrai-ne per Luftfracht nach Frankfurt am Mainoder Nürnberg. Vor dort werden sie in dieTutogen-Zentrale nach Neunkirchen amBrand gebracht, einem 8000 Einwohnerzählenden Ort in Oberfranken.

Hier, nur wenige Kilometer nördlich vonNürnberg, verfügt Tutogen über mehrereflache, lagerartige Gebäude und beschäftigtrund 140 Mitarbeiter. Ein unauffälliger Ortfür die regelmäßig einfliegenden Besucheraus der Ukraine und den USA.

Interviewanfragen lehnte Geschäftsfüh-rer Karl Koschatzky ab, einen Fragenkata-log ließ die Firma unbeantwortet.

Die Lieferungen aus der Ukraine orga-nisiert Tutogen über einen Mittelsmann:Dr. Igor Aleschtschenko, von Haus ausRechtsmediziner. Er pflegt vor Ort denKontakt zu den verschiedenen rechts-medizinischen Instituten und arbeitet seit etwa zehn Jahren für Tutogen in derUkraine.

Inzwischen ist er ein wohlhabenderMann geworden. Er lebt abwechselnd in ei-nem Domizil in Kiew und einem in Mos-kau. Tutogen bezeichnete Aleschtschenko2002 als „kostenintensive Person“. Aucher war in Kiew nicht zu sprechen, aufschriftliche Fragen reagierte er nicht.

In der Ukraine ist Aleschtschenko vielmehr als nur der Kontaktmann von Tuto-gen. Er ist Direktor der Firma Bioimplant,die die Gewebeentnahme organisiert undpraktischerweise dem Gesundheitsminis-terium gehört. Eine gute Konstruktion ge-gen allzu intensive staatliche Kontrollen,wenn die Knochenlieferungen über dieGrenze gehen.

Den Ukrainern wird allerdings ein an-derer Unternehmenszweck präsentiert:Auf der Homepage von Bioimplant heißtes: „Haupttätigkeit“ sei die „Herstellung

von Bioimplantaten“, die kranken Lands-leuten zugutekommen. Was aber machtBioimplant wirklich?

Kiew an einem Sommertag des Jahres2009: Wer die Zentrale von Bioimplant be-sichtigen will, muss sich in die Patrice-Lu-mumba-Straße 4/6 begeben, so lautet dieoffizielle Anschrift der Firma. Hier erhebtsich ein Geschäftshaus mit mehreren Dut-zend Mietern. Bioimplant verfügt nichteinmal über ein eigenes Postfach.

Ein Wärter und ein Pförtner lassen dieBesucher passieren und schicken sie in dendritten Stock, dort soll Bioimplant Räumehaben. Ein langer Gang, verschlosseneTüren. Nirgendwo ein Name oder ein Fir-menschild von Bioimplant. In Zimmer 305öffnet ein junger Mann im Nadelstreifen-anzug. Er sagt, dass er noch nicht langefür Bioimplant arbeite, vorwiegend sei ermit Kopieren beschäftigt.

Das Unternehmen belegt in dem Büro-komplex nach seinen Angaben insgesamtdrei Räume. Doktor Aleschtschenko seiheute aber nicht hier. Im Nebenzimmer

sieht man Tutogen-Prospekte, darunterstapeln sich Päckchen mit sterilisierten Lei-chenknochen. Statt der erwarteten Pro-duktionsstätte findet sich vor Ort nur eineVertriebsklitsche.

Tutogen hatte die Geschäftsbeziehun-gen zu Aleschtschenko vor etwa zehn Jah-ren aufgebaut. Im November 2001 kam ermal wieder in die fränkische Provinz undtraf sich mit Karl Koschatzky im „Bayeri-schen Hof“ in Erlangen. Das Protokoll die-ses Gesprächs enthält eine Liste „neuerPathologien“ in den ostukrainischen Städ-ten Dnjepropetrowsk, Poltawa und Schi-tomir, die für Tutogen arbeiten.

Aleschtschenko hatte zu dem Treffen of-fenbar eine Wunschliste mitgebracht, undseine deutschen Geschäftspartner wolltensie erfüllen: „Es wurde seitens TTG (Tuto-gen –Red.) DM 5000,00 für Investitionsko-

sten in Dnjepropetrowsk (Ukraine) zugesi-chert. Dr. Aleschtschenko schickt uns hier-für eine Zahlungsanweisung.“

Manchmal musste auch Unappetitlichesauf den Tisch. „Es wird seitens TTG getes-tet, ob das Epilieren der Leiche vor derHautentnahme eine Verbesserung desHaarproblems bringt (evtl. auch Heiß-wachs bzw. Kaltwachsmethode).“

Eine Liste „zur Zeit liefernder Patholo-gien“ vom November 2001 umfasste be-reits die Kürzel von 15 Einrichtungen inder Ukraine. Allein im Geschäftsjahr2000/01 wurden in der Ukraine 1152 Lei-chen für Tutogen genutzt.

Doch die Firma brauchte mehr: mehrInstitute, mehr Spender, mehr Knochen-teile. Denn der Gewebemarkt boomte.

Laut einer internen Planung vom 17.Juni 2002 (die Datei trägt die Überschrift„Rohgewebebedarf“) brauchte Tutogen fürdas folgende Geschäftsjahr: • 2920 Oberschenkelschäfte,• 3000 Beckenkämme,• 1190 Kniescheibensehnen,

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Tutogen-Chef Koschatzky Rechtsmedizinisches Institut in Kiew Sektionssaal in Dnjepropetrowsk

Die Unternehmen der Gewebebranche verwerten fast alles, was der menschliche Körper zu bieten hat: Knochen, Knorpel, Sehnen, Muskelhüllen,

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• 3750 Kniescheiben,• 10200 Muskelhüllen vom Oberschenkel

(sogenannte Fascia lata),• 50 Schädelknochen,• 70 Achillessehnen.

Aleschtschenko, der das Geld für dieGewebeteile von Tutogen offenbar direkterhielt, soll seinerseits einen Teil davonwieder an die Rechtsmediziner in Dnjepro-petrowsk, Kiew, Charkow und anderenukrainischen Städten weitergeleitet haben.Laut einer firmeninternen Aufstellung über„bezahlte Wareneingänge“ flossen von Ja-nuar bis August 2001 umgerechnet knapp350000 Euro an den ukrainischen Partner.

Die Investition dürfte sich gelohnt ha-ben. So kostet ein Tutoplast SpongiosaBlock (Knochensubstanz) bei Internet-apotheken, je nach Größe, zwischen 367und 854 Euro. Die Ukrainer erhielten für

das ursprüngliche Leichenteil laut der da-maligen Preisliste je nach Größe nur zwi-schen 23 und 26,10 Euro. Selbst wenn Tu-togen heute für das Rohmaterial doppelt soviel ausgeben sollte – es wäre immer nochein Schnäppchen.

Kein Wunder also, dass sich Tutogengegenüber den Partnern in der Ukrainegroßzügig zeigte: Die Firma schickte denfleißigen Rechtsmedizinern Ausrüstungs-material en masse.

Fürs Geschäftsjahr 2000/01 listete dasUnternehmen intern den Versand von 6000Skalpellen auf, dazu 2600 sterile Hand-schuhe, 500 OP-Kittel, 15 Sägeblätter fürdie Autopsie und vieles andere. Macht ins-gesamt rund 40000 Euro „Spenderneben-kosten ohne Gewebe“, wie Tutogen peni-bel notierte. Für die Leichenteile selbsthatte Tutogen in dieser Zeit rund 500000Euro an die ukrainischen Partner gezahlt.

Bei der US-Gesundheitsbehörde, derFood and Drug Administration (FDA), sindheute 20 Entnahmestellen in der Ukraineregistriert. Doch egal welche dieser Ent-

nahmestellen man in der FDA-Datenbankanklickt, bei allen steht als Kontakt die Te-lefonnummer der Tutogen Medical GmbHin Oberfranken.

Auf der Liste findet sich auch das rechts-medizinische Institut in Kriwoi Rog, einerIndustriestadt im Südosten der Ukraine mitknapp 700000 Einwohnern. Laut der FDA-Datendank dürfen in Kriwoi Rog Knochen,Knorpel, Muskelhüllen, Bänder, Herzbeu-tel, Sklera (Lederhaut des Auges), Hautund Sehnen entnommen werden.

Die weißgetünchte Baracke der Rechts-medizin findet sich am äußersten Rand desKlinikgeländes. Milchglasscheiben hintervergitterten Fenstern versperren den Blickins Innere. Bereits an der Eingangstürschlägt den Besuchern ein süßlicher Lei-chengeruch entgegen. Der Leiter des Insti-tuts ist nicht zu sprechen – obwohl sein

Auto auf dem Klinikgelände parkt. Ein Arztin Jeansjacke übernimmt es, jeden abzuwim-meln, der sich nach der Zusammenarbeitmit der deutschen Firma erkundigen will.

Man solle sich an die Staatsanwaltschaftwenden. Ansonsten sehe man doch dieSchilder an der Tür: „Für Unbefugte ver-boten“. Ob auch Tutogen unbefugt sei?„Nein, Tutogen ist hier nicht unbefugt“,sagt der Mann und beendet das Gespräch.

Ein wenig mitteilsamer ist der frühereLeiter der städtischen Rechtsmedizin Wla-dimir Bondarenko. Der Mann ist Früh-rentner und empfängt Besucher im Stra-ßencafé. Vor etwa zehn Jahren hätten dieGewebeentnahmen in seinem Institut an-gefangen, erzählt Bondarenko.

„Es war illegal“, sagt er. „Die Ange-hörigen hätten Bescheid wissen müssen,was mit den Verstorbenen geschieht.“Aber sie hätten nichts geahnt. „Wenn derTote im Sarg liegt, sehen die Angehörigenja nur das Gesicht. Die sehen nicht, ob daKnochen an den Beinen oder Armen ent-nommen wurden.“

Im ukrainischen Transplantationsgesetzfindet sich die Vorschrift, dass die Ange-hörigen in die Gewebespende einwilligenmüssen, wenn dies der Verstorbene nichtschon zu Lebzeiten getan hat. Es gibt aberHinweise, dass dies offenbar häufig nichtgeschehen ist. In mehreren Städten, nichtnur in Kriwoi Rog, ermittelten ukrainischeBehörden wegen des Verdachts illegalerEntnahmen.

Der Fall des in Kiew verstorbenen Va-ters von Lena Krat etwa wurde im Zugeeines Ermittlungsverfahrens mit dem Ak-tenzeichen 50-3793 untersucht, das am 4. Januar 2005 eröffnet wurde. Es ging da-bei um Vorfälle von Mai bis September2004. Im Einzelnen sind in den Akten dieNamen von zehn Verstorbenen aufgeführt.Deren Angehörige gaben zu Protokoll,dass sie „die Zustimmung für die Entnah-

me von anatomischem Material nicht ge-geben haben“.

In dem Beschluss zur Eröffnung des Ver-fahrens steht: „Angehörige wurden betro-gen, indem man ihnen sagte, dass nur einkleiner Teil des Verstorbenen entnommenwird, also ein Knochen- oder Gewebeteil.Tatsächlich wurden aber fast alle Knochenund Gewebe entnommen … Das Materialwird in vollem Umfang nach Deutschlandgebracht.“

Dennoch stellte die Kiewer Staatsan-waltschaft das Verfahren im Juli 2005 ein,„weil kein Straftatbestand vorliegt“. Diebemerkenswerte Begründung in der Akte:Die Bioimplant-Mitarbeiter hätten nicht ge-gen das Transplantationsgesetz verstoßen,weil sie nicht transplantiert, sondern nurMaterial von Toten entnommen hätten, dasdann wiederum zu „Bioimplantaten“ ver-arbeitet wurde. So konnte die Leichenver-wertung weitergehen – bis heute.

Kiew, die Rechtsmedizin in der Orange-riestraße: ein langer Backsteinbau, ausdem gelegentlich Mediziner mit hellgrü-

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Rechtsmediziner Jurtschenko Friedhof beim Rechtsmedizinischen Institut in Kiew

Haut, Augenhornhäute, Herzbeutel oder Herzklappen

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ner Schürze treten, um vor der Tür eine Zi-garette zu rauchen. Neben dem Eingangwarten Angehörige auf die Freigabe ihrertoten Verwandten, auf der anderen Stra-ßenseite hat ein BeerdigungsunternehmenSärge und Blumenschmuck ins Freie ge-stellt.

Wladimir Jurtschenko leitet das Institut.Er zeigt den Raum, in dem die Leichen fürTutogen bearbeitet werden. Er liegt imErdgeschoss und ist versiegelt. Warum?„Weil die US-Gesundheitsbehörde das sovorschreibt“, sagt Jurtschenko.

Der oberste Rechtsmediziner von Kiewerklärt, wie die Arbeit vonstattengeht: Umdie Einverständniserklärung kümmert sichBioimplant direkt, auch zur Entnahmekommen die Mitarbeiter der Firma hierher.Jurtschenkos Leute helfen mit und erhal-ten dafür einen Zusatzverdienst. NachdemKnochen und anderes entnommen wur-den, werden dem Verstorbenen Holzstöckeeingesetzt, damit die Leiche bis zur Beer-digung ihre Form bewahrt.

Gelagert werden die entnommenenKnochen, Sehnen und Knorpel im Keller,gekühlt in verzinkten Metallboxen. „Allepaar Wochen werden die Gewebe hochge-

bracht, dann kommt ein Lkw und fährt sieweg“, sagt Jurtschenko. Auch Karl Ko-schatzky, der schweigsame Tutogen-Chefaus Oberfranken, tauche gelegentlich auf.

Jurtschenko sagt, dass pro Jahr etwa8000 Leichen in der Rechtsmedizin landen,über 5000 davon kämen als Knochenspen-der in Frage, aber nur bei etwa 150 stimm-ten die Angehörigen einer Entnahme zu.Wenn aus den zwei Entnahme-Institutenin der Hauptstadt, wie Jurtschenko sagt,bereits 150 Leichen kommen, in der Ukrai-ne aber 20 Institute registriert sind, mitdenen Tutogen zusammenarbeitet, wird

* Staatsanwalt Josh Hanshaft hält während einer Presse-konferenz am 23. Februar 2006 in New York das Rönt-genbild eines Verstorbenen in die Kameras. Der Chef ei-ner US-Gewebefirma war wegen illegaler Entnahme vonKörperteilen angeklagt worden. Das Verfahren läuft noch.

man davon ausgehen können, dass Tuto-gen eine Menge Leichen in der Ukrai-ne nutzen lässt. „Wir dienen den reichenLändern nur als Rohstoffquelle“, sagtJurtschenko.

Im Mai 2004 schloss Tutogen einen Fünf-jahresvertrag mit Bioimplant, der das Ge-schäft wie folgt beschreibt: Die Ukrainertransferieren entnommenes Gewebe zuTutogen nach Deutschland, um daraus Pro-dukte herstellen zu lassen. Doch diese Ver-arbeitung ist teuer. Und wie soll die ukrai-nische Firma sie bezahlen? Ganz einfach:mit den in Deutschland verarbeiteten Lei-chenknochen. Das ist die Währung, diebeide Seiten akzeptieren.

Was nicht im Vertrag steht: Die Deut-schen waren nicht nur Auftragsproduzent,sondern orderten monatlich Material, dasdie Ukrainer beschaffen sollten.

Zeitweise kamen aus der Ukraine undanderen Ländern sogar weit mehr Lei-chenteile in Neunkirchen an, als Tutogenüberhaupt verarbeiten konnte. Wie großder Umfang war, zeigt der „Bestand Roh-warenlager Lager 1“ vom März 2000. Dem-nach lagerten damals in den Hallen bereits688 Kniescheibensehnen, 1831 Knieschei-

ben, 1848 Wadenbeine, 2114 Muskelhüllen,1196 Fußknochen – insgesamt mehr als20000 Gewebeteile.

Im Juni 2002 hielten die verantwortli-chen Mitarbeiter in einem Besprechungs-protokoll fest: „Lagerprobleme. Nach wievor wird mehr Gewebe geliefert alsbenötigt wird. Hierfür werden Lösungengesucht.“

In den Firmenunterlagen finden sich be-reits Hinweise, welche Lösungen damit ge-meint sein könnten. So heißt es in einemfirmeninternen Protokoll vom April 2002:Frau R. „weist darauf hin, dass es keineLagerkapazität in den Deepfreezern mehrgibt. Es wird forciert versucht, Gewebe indie USA zu liefern“.

Eine Aufstellung aus dem Juni 2002 zeigtden „Rohgewebebedarf für USA-Bedarf“.

Demnach brauchten die US-Partner mo-natlich: • 119 Beckenkämme, • 667 Stück Fascia lata,• 267 Kniescheiben,• 243 Oberschenkelschäfte.

Die Lieferungen in die USA gingen of-fenbar nicht nur an die Mutterfirma Tuto-gen Medical Inc. in Florida, was man nochals innerbetriebliche Verschiebeaktion de-klarieren könnte, sondern auch an den da-maligen US-Konkurrenten RTI.

In einer Tabelle wird eine Warenliefe-rung am 7. Dezember 2001 aus dem ukrai-nischen Lugansk festgehalten. „Betrag:62 000,00 Euro“. Als Empfänger ist abernotiert: „Für: TM/RTI“.

Falls Tutogen Rohgewebe in die USAgeliefert haben sollte, könnte das den Tat-bestand des illegalen Gewebehandels er-füllen, sofern damit Gewinn erzielt wurde.

In einem Protokoll vom 4. April 2002warnt sogar ein Tutogen-Mitarbeiter: „Essollte vermieden werden, dass Rohmate-rial unprozessiert an TMUS (Tutogen USA–Red.) geliefert wird, um nicht den An-schein des Gewebehandels zu erwecken.“

Solche Praktiken lehnt das Deutsche In-stitut für Zell- und Gewebeersatz, einerder anderen großen Knochenproduzenten,entschieden ab. Geschäftsführer Hans-Joachim Mönig beteuert: „Rohgewebe auseinem Land zu holen und an Dritte weiter-zugeben, ist gegen das Gesetz. Nach unse-rer Auffassung erfüllt das den Tatbestanddes Handels.“

Bisher hat die Zusammenarbeit mitAleschtschenko und dem Kiewer Gesund-heitsministerium für Tutogen ganz gutfunktioniert. Alle Ermittlungen gegen dieukrainischen Tutogen-Partner in KriwoiRog, in Kiew und in Dnjepropetrowsk wur-den wieder eingestellt.

Doch jetzt könnte es eng werden. Imvorigen Jahr hat die Staatsanwaltschaft inKriwoi Rog erneut ein Ermittlungsverfah-ren eröffnet.

Auch diesmal geht es darum, dass Mit-arbeiter der Rechtsmedizin „durch Zwangund Betrug von Angehörigen die Zustim-mung zur Entnahme von Gewebe und an-derem anatomischem Material zwecksTransplantation erhalten haben“, wie dieStaatsanwaltschaft auf Anfrage mitteilt. 17Angehörige von Verstorbenen haben alsZeugen ausgesagt.

Am 9. Januar dieses Jahres hat dieStaatsanwaltschaft den Fall an das zustän-dige Bezirksgericht übergeben. Dort läuftdas Gerichtsverfahren derzeit noch.

Lena Krat, die Frau in Kiew, die im Jahr2004 dazu überredet wurde, ihren Vaterfür die Gewebeentnahme freizugeben,würde sich freuen, wenn die Verantwort-lichen endlich zur Rechenschaft gezogenwürden. „Die Leute sind wirklich schul-dig“, sagt sie, „und ich bin empört, dassdiese schlimmen Sachen immer noch lau-fen.“ Markus Grill, Martina Keller

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US-Prozess um Gewebeentnahme*: Eine Million Knochenteile-Verpflanzungen pro Jahr

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Leere VersprechenVon Frick empfohlene Rohstoffaktien 2007, in Euro

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StarGoldMines

StarEnergy

Russoil

Quelle:

Thomson

Financial

Datastream

Ratschläge lässt sich Markus Frickgern teuer bezahlen. Sein Börsen-brief mit Aktientipps kostet knapp

900 Euro pro Jahr, als Hörbuch sind dieLektionen des selbsternannten Börsengu-rus („So finden Sie die Kursraketen“) im-merhin für 49,95 Euro zu haben.

Den vielleicht wertvollsten Tipp gibtFrick aber ganz kostenlos. Ein kleiner Auf-kleber im Portemonnaie schütze vorunnötigen Ausgaben. Die Bastelvorlage fürden Spar-Sticker bietet der Meister zumDownloaden und Ausschneiden an. Titel:„Muss das jetzt wirklich unbedingt sein?“

Das fragen sich längst auch viele jenerAktionäre, die auf Fricks Anlagetipps rein-gefallen sind. In seinem Newsletter beju-belte der einstige Moderator der mittler-weile eingestellten N24-Show „Make Mo-ney“ zwischen 2006 und 2007 die Papierevon drei unbekannten Rohstofffirmen undanimierte fleißig zum Kauf.

Dass die angeblichen Turboaktien StarEnergy, Russoil und StarGold Mines letzt-lich nahezu wertlose US-Börsenhüllen wa-ren, erfuhren Frick-Fans nicht. Die von ihmhochgejazzten Kurse stürzten später bin-nen weniger Tage ab (siehe Grafik). DerSchaden für die gut 20000 Anleger liegtwohl im dreistelligen Millionenbereich.

Seither haben Hunderte Geschädigteversucht, ihr Geld auf dem Rechtswegzurückzubekommen – mit eher mäßigem

Erfolg. Vor allem der Vorwurf, dass Fricknicht einfach nur versehentlich daneben-lag, sondern ein Spiel auf Kosten der Klein-anleger trieb, ließ sich nicht belegen. Nunaber flammt neue Hoffnung auf.

Die Staatsanwaltschaft Berlin hat An-klage gegen Frick erhoben wegen „straf-barer Marktmanipulation“. Sollte sich derVerdacht bestätigen, verdiente Frick – nacheigenem Dafürhalten Deutschlands „Bör-senmotivator Nummer eins“ – an seinemdubiosen Kursmarketing mittelbar kräftigmit, ohne die Anleger zu informieren.

Auf 335 Seiten Anklageschrift haben dieErmittler den Fall seziert. In monatelan-ger Arbeit rekonstruierten Spezialisten desLandeskriminalamts, unterstützt von derFinanzaufsicht BaFin, Interpol und sogardem amerikanischen FBI, ein System, dasbeispielhaft ist für das dubiose Börsenseg-ment des „Open Market“, jener entfessel-ten Freihandelszone, die fast ohne Melde-pflichten und Zulassungsregeln auskommt.

Frick war dabei offenbar nur einer vonvielen Akteuren. In einem abgetrenntenVerfahren ermittelt die Anklagebehörde ge-gen 14 weitere Beschuldigte, darunter einEx-Manager einer Deutsche-Bank-Tochter,mehrere Geschäftsleute aus Deutschlandund der Schweiz sowie die mutmaßlichenKonstrukteure von Fricks Absturzaktien:Myron G., 39, Kanadier mit Wohnsitz imSteuerparadies der Cayman Islands, undIgor L., 36, gebürtiger Ukrainer mit US-Pass.

Beide verstanden sich offenbar virtuosauf die Vermarktung von Aktien wertloserFirmenhüllen, die über Nacht in vermeint-liche Börsengranaten mit verheißungsvol-len Namen verwandelt wurden. So konnteetwa aus der eher profanen Meerestier-Fir-ma Sockeye Seafood Group Inc. binnenkürzester Zeit der glanzvoll klingendeSchürf-Konzern StarGold Mines werden.Obwohl der Briefkasten der Klitsche wohl

zu ihren wertvollsten Besitztümern zählte,blähte die StarGold ihren Aktienbestandauf sagenhafte 81 Millionen Stück auf.Dank Fricks nimmermüder Empfehlungwurde das Papier in Deutschland zum Hit.Von der selbstbefeuerten Kurs-Rallye pro-fitierte laut den Ermittlern auch er.

Zwischen September 2005 und Anfang2006 soll er rund 7,5 Millionen Euro in eindiskretes Unternehmen im tropischen Ur-laubsparadies Mauritius investiert haben,die AIK Credit PLC. Von dort soll eine In-vestition in gleicher Höhe zu einer weite-ren mauritischen Firma gewandert sein,der SI-Finanz International. Die wieder-um verfügte über ein Konto nebst Depotbei der Münchner Privatbank Merck Finck& Co, auf dem alsbald bemerkenswerteTransaktionen getätigt wurden.

Ein Mitarbeiter des Geldhauses gab denFahndern zu Protokoll, Frick habe mehr-fach „Kaufempfehlungen“ für unter-schiedliche Aktien durchtelefoniert, die –nach Rücksprache mit Verantwortlichender SI-Finanz – auch genau so geordertworden seien. In gleicher Weise sei beimVerkauf der Papiere verfahren worden.

Frick habe größten Wert darauf gelegt,nicht selbst irgendwo aufzutauchen, erin-nert sich der Banker. Kein Wunder, dennviele der über Merck Finck gehandeltenPapiere waren laut den Ermittlern Werte,für die Frick öffentlich eifrig trommelte.

Brisant vor allem: Mehrere Aktienpake-te von StarGold und Star Energy fan-den laut Berliner Landeskriminalamt aufwundersame Weise direkt ihren Weg insMünchner Bankdepot. Die Staatsanwalt-schaft vermutet, dass sie von den HerrenMyron G. und Igor L. transferiert wurden.

Offenbar zahlte die SI-Finanz dafürnichts, zumindest kein Geld. Ein Geschenkfür Fricks Dienste? Auf dessen Zuruf je-denfalls, so die Fahnder, wurden die Pa-piere für rund 27 Millionen Euro ver-

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A N L E G E R S C H U T Z

Entfesselte ZoneHinter dem entzauberten

Börsenguru Markus Frick vermutenErmittler ein verzweigtes

Netzwerk, das mit wertlosen AktienMillionengeschäfte machte.

Anlageberater Frick 2006: Von der selbstbefeuerten Kurs-Rallye profitiert?

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SPIEGEL: Herr Joop, der deutsche Mode-konzern Escada ist gerade das jüngste Op-fer der Wirtschaftskrise geworden. Bedau-ern Sie die Pleite?Joop: Sehr. Escada war mal eine der größ-ten Marken der Welt. Jeder kannte sie. DieGründerin Margaretha Ley war eine Pio-nierin. Aber um so eine Marke zu retten,brauchte man einen völlig neuen, provo-kanten Ansatz.SPIEGEL: Wäre die Rettung was für Sie?Joop: Escada wäre sicherlich ein interessan-tes Projekt. Es ist ja schon fast tragikomisch,dass ausgerechnet eine Marke, die alles im-mer so richtig und perfekt machen wollte,am Ende scheiterte. Aber nachdem Pradaund Helmut Lang uns fast zu Tode gelang-weilt haben mit ihrem intellektuellen Mini-malismus, hat man doch auch wieder Lustauf Farben, die achtziger Jahre, Chic. Dasähe ich eine echte Chance für Escada.SPIEGEL: Konkrete Einstiegspläne?Joop: Nein, ich habe ja genug zu tun. Aberreizvoll wäre es wirklich.SPIEGEL: Der Niedergang der Goldknopf-Legende Escada war doch fast exempla-risch: Erst starb die Gründerin, es folgtenJahre des Missmanagements, zuletzt wech-selten die Investoren fast schneller als dieKollektionen.

Joop: Und dieses Muster ist leider in viel zuvielen Häusern zu beobachten. Dutzendevon Modemarken werden von der einenschmutzigen Hand in die andere gescho-ben. Und alle verlieren dabei immer mehrGlaubwürdigkeit.SPIEGEL: Was ist von deutscher Mode nochübrig geblieben?Joop: Technologie. Schneidereien. Logistik.Präzision. Man sollte das nicht unterschät-zen. Andererseits schwamm die Branchebei der Berliner Fashion Week kürzlich imChampagner von einer After-Show-Partyzur nächsten. Das Einzige, was weitgehendfehlte, war – Mode. SPIEGEL: Die Branche leidet weltweit.Christian Lacroix ist schon pleite, Cavalli,Versace, Ferré spüren die Krise. Wie ist es um den Patienten Luxusindustrie gene-rell bestellt?Joop: Sehr schlecht. Er hat in den vergange-nen Jahren über seine Verhältnisse gelebtund betrieb gigantischen Aufwand, angesta-chelt von unendlicher Eitelkeit statt Qua-lität oder gar Können. Trotzdem entstandenimmer mehr Marken, Labels, Modefirmen.Wenn Sex überall ist, gibt es keinen mehr.Wenn Mode überall ist, gibt es keine mehr.Da sind wir heute. Ein guter Auftritt ist wich-tig, ein guter Abgang aber auch.

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äußert. Die Geschäfte auf der Trauminselscheinen ohnehin prima gelaufen zu sein:Als die Staatsanwaltschaft im September2007 bei Merck Finck vorstellig wurde,konnte sie rund 38,6 Millionen Euro der SI-Finanz sicherstellen. Sie fror zudem rund2,3 Millionen Euro ein, die auf einem Pri-vatkonto Fricks lagerten. Insgesamt legtendie Ermittler die Hand auf über 80 Millio-nen Euro diverser Beteiligter.

Die Börsenwächter der BaFin, die schonim August 2007 eine „Manipulationsana-lyse“ für die von Frick beworbenen Roh-stoffaktien verfasst und dem Staatsanwaltübergeben hatten, sahen in den Aktien-Deals Anzeichen für sogenanntes Scalping– das Hochjubeln wertloser Papiere undden lukrativen Verkauf kurz vorm Absturz.

Die Merck Finck VermögensbetreuungsAG, schrieb die BaFin, habe in einer„Geldwäscheverdachtsanzeige“ auf unge-wöhnliche Depotbewegungen der SI-Fi-nanz hingewiesen. Bei einigen der auffäl-ligen Verkäufe vermuteten die Börsen-wächter einen Zusammenhang zu Frick.

Doch trotz der Auffälligkeiten ist damitnicht belegt, dass der Aktienprediger wert-lose Luftpapiere vorsätzlich empfahl undsich bewusst an Machenschaften zu Lastender Anleger beteiligte. „Es hätte für Frickkeinen Sinn gemacht, bewusst wertlose Pa-piere zu empfehlen. Das hätte seinen Rufzerstört“, sagt Fricks Anwalt, Daniel Krau-se. Bisher beteuerte Frick, er habe fest andas Potential der Papiere geglaubt und seivon seinen Partnern aus Übersee getäuschtworden.

Für diese Version spricht die Aussageeines PR-Beraters, der sich an ein laut-starkes Gespräch zwischen dem Börsen-propheten und den Herren G. und L. er-innert. Frick habe ihnen vorgeworfen, ihnmit falschen Informationen beliefert zu ha-ben. Dagegen spricht, dass Frick, der sei-ne Gemeinde stets zu kritischer Sorgfaltmahnte, die Dubiosität der drei Firmenkaum verborgen geblieben sein kann.

Wann er sich für sein Geschäftsgebarenvor Gericht verantworten muss, steht nochnicht fest. Das Landgericht Heidelberg hat-te Frick schon im Februar 2008 verurteilt, ei-nem Anleger knapp 40000 Euro Schadens-ersatz zu zahlen, allerdings in erster Linie,weil der Aktienberater die Seriosität dervon ihm bejubelten Firmen nicht genug ge-prüft habe – die Berufung läuft.

Frick hat seinen Geschäftssitz derweilaus Baden-Württemberg nach Berlin ver-lagert, neue Klagen würden damit nichtmehr am Landgericht in Heidelberg ver-handelt, sondern in der Hauptstadt. Dorthat die Kanzlei BGKS ein gutes Dutzendvon rund hundert vorliegenden Fällen ein-gereicht. Bisher stocken die Verfahren. Mitder Anklage Fricks hofft Anwalt AndreasKöpke nun auf Bewegung und volle Ak-teneinsicht. Sein Ziel: noch an den 80-Mil-lionen-Topf heranzukommen, „leicht wirddas nicht“. Isabell Hülsen, Sven Röbel

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„Es wird verheerend“Wolfgang Joop, 64, über die Escada-Pleite, die Krise der Luxus-industrie und die Zukunft seiner eigenen Marke Wunderkind

Modemacher Joop vor seiner Villa in Potsdam: „Ich rechne noch mit etlichen Pleiten“

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SPIEGEL: Wie schlimm wird es für die Bran-che noch kommen?Joop: Es wird verheerend. Und ich rechnenoch mit etlichen Pleiten in nächster Zeit,auch wenn die Marken ihren Wert oft jaselbst dann nicht verlieren. Manche müs-sen sogar erst einmal richtig tot sein, damitman sie dann neu erfinden kann.SPIEGEL: Wie haben Sie selbst all die Ban-ker, Investoren, Analysten und Fondsma-nager erlebt, die sich der Modeindustriemittlerweile bemächtigt haben?Joop: Diese Leute spuckten immer großeTöne, wollten vorab Geld sehen, betriebenein Namedropping, dass ich mir die Stirnabwischen musste – und dann verschwan-den sie meist schnell, denn plötzlich kam jadie große, alles verschlingende Krise.SPIEGEL: Nachdem Sie selbst Ende derneunziger Jahre Ihre Joop!-Anteile ver-kauft hatten, gründeten Sie die kleine Fir-ma Wunderkind. Deren aktuelle Kollek-tion heißt „Power and Poverty“. Es gehtalso auch um die „Kraft“ der „Armut“.Muss das nicht zynisch wirken auf Leute,die aktuell eher Jobangst umtreibt als die

Frage, wie sie sich Ihre 2000-Euro-Robenleisten sollen?Joop: Die Inspiration eines Kunstwerks, derGedanke dazu ist frei – auch frei von Bud-get-Vorstellungen. Aber dann komme ichmit einem Entwurf aus meinem kleinenDachatelier, und das Geschäft beginnt – mitall seinen Sachzwängen und Nebenkosten.Wahre Kreativität entsteht immer aus demMangel. Das meine ich mit dem Titel. Werglücklich und satt ist, muss das Sofa nichtverlassen. Der Mensch mit dem kleinenGeldbeutel muss dagegen sehr erfinderischsein. So habe ich auch mal gelernt zu arbei-ten und zu leben. Und so muss ich auch jetztsehen, dass Wunderkind schlank überlebt.SPIEGEL: Sie haben doch das millionen-schwere Kunstsammlerehepaar Gisela undHans-Joachim Sander als Teilhaber vonWunderkind.

Joop: Das hat uns sehr geholfen und wirdauch weiter helfen. Gerade in Krisenzeitenmuss man zusammenhalten. Aber auch ichhabe sehr viel investiert und dafür auchetwas geopfert, was mir am Herzen lag.SPIEGEL: Sie verkauften angeblich etlicheOriginale der Malerin Tamara de Lempickaund gehen mit Wunderkind voll ins Risiko.Joop: Ich bin gerade alles in einem: Ge-schäftsführer, Finanzier, Organisator, Krea-tiver. SPIEGEL: Das könnte zur Schizophrenieführen, wenn der Künstler Joop etwas ent-wirft, was der Geschäftsführer Joop wirt-schaftlich für unvernünftig hält.Joop: Genau. Das kenne ich aber von früher,als ich quasi der Staatsfeind Nummer einsim eigenen Unternehmen wurde. Man giltschnell als launisch und bösartig. Aber wersoll es denn richten, wenn nicht ich?SPIEGEL: Die aktuelle Krise empfinden Sieals Chance?Joop: Ja, natürlich.SPIEGEL: Für was?Joop: Für die Hoffnung auf eine gewisseGesundung. Meine Kundinnen sagen, dass

die Wunderkind-Sachen sie einfach glück-lich machen. Wenn man nur sieht, wie sichweltweit das Handtaschengeschäft ent-wickelt hat. Mal wurden die Dinger aufge-blasen wie ein Saumagen, dann wiederhatten sie 45 Metastasen. Und die Frauenmussten aufpassen, dass sie ihre „It-Bags“nur ja nicht fünf Minuten zu lange trugen,weil sie dann plötzlich out waren. Modemuss auch schön sein, dauerhaft, nachhal-tig, praktisch. Sie muss die Menschen ver-ändern in den Stunden, wenn sie die Modetragen. Gute Mode ist auch eine Therapie.SPIEGEL: Warum haben Sie sich das alleseigentlich noch mal aufgehalst mit Wun-derkind?Joop: Weil ich jeden Tag dafür gern auf-stehe. Und 2008 hatten wir immerhin einUmsatzplus von 100 Prozent …SPIEGEL: … auf wie viel Euro?

Joop: Es geht darum, sich zu entwickeln,wirtschaftlich wie auch kreativ. Die Kon-zentration auf das Produktdesign treibtmich an, aber nur der wirtschaftliche Er-folg macht eine Marke auch sexy. Das istkein Prozess von heute auf morgen.SPIEGEL: Wunderkind macht angeblich nursechs Millionen Euro Umsatz. Joop: Derartige Zahlen sagen nichts aus.Wir entwickeln uns prächtig, und das ist,was langfristig wichtig ist, ein starkes Po-tential, auch über die Krise hinaus. In Pa-ris wird mir heute als Couturier die Ehrezuteil, die ich früher nie bekam. Zurzeit ar-beite ich an der nächsten Schau für Parisim Oktober. Die Stadt ist kein Paradies,sondern ein Schlachthaus. Es ist eine un-glaublich harte, aber auch schöne Arbeit …SPIEGEL: … und teuer. Was kostet so eineSchau?Joop: 500 000 Euro sind da schnell weg.Aber man kann auch weniger nach mehraussehen lassen. Ich kann ja durchaus spa-ren. Es geht darum, schlank zu überleben.SPIEGEL: Haben Sie Angst, dass die Kriseauch Wunderkind voll erwischen könnte.Joop: Natürlich. Die Angst vor einer Pleiteschwingt immer mit in Zeiten wie diesen.Wunderkind soll ja nicht meine Kaktus-blüte werden, also der kurze Augenblickzauberhafter Schönheit, der letztlich denStamm zerstört. Insofern muss ich auf-passen, dass ich mich nicht von mei-nem eigenen Experiment wegtragen lasse. Außer meinem kleinen Potsdamer Kos-mos interessiert mich allerdings zurzeitnicht viel.SPIEGEL: Trotzdem haben Sie vor einigenMonaten angekündigt, Sie wollten dieebenfalls insolvente Wäschefirma Schiesserübernehmen.Joop: Das ist anhängig. Schiesser ist sowunderbar deutsch. Ich sehe das fast alspatriotische Pflicht. Sobald mein Name al-lerdings im Frühjahr gefallen war, wolltenplötzlich alle möglichen Leute bei Schies-ser einsteigen. Das macht es nicht leichter.SPIEGEL: Woher nähmen Sie das Geld?Joop: Hier arbeite ich mit finanzstarkenPartnern zusammen.SPIEGEL: Joop als Strohmann?Joop: Niemals! Ich wäre bei Schiesser nichtdas Gesicht, sondern der Kopf. Aber derInsolvenzverwalter hat nun vor allem dasInteresse, möglichst viel Geld zu bekom-men. Aus seiner Sicht verständlich, auchwenn das dazu führen kann, dass beiSchiesser am Ende jemand das Sagen hat,der überhaupt keine Ahnung vom Ge-schäft hat.SPIEGEL: Wie hoch sind Ihre Chancennoch?Joop: Ich warte ab, zumal ich noch viele an-dere Anfragen habe für Projekte. Dauerndlanden bei mir Bittbriefe notleidender Un-ternehmer. Ich sehe mich schon als preußi-sche Jeanne d’Arc enden, mit Rüstung undLanze durch die Ruinen der hiesigen Wirt-schaft reitend. Interview: Thomas Tuma

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Wunderkind-Präsentation: „Es geht darum, schlank zu überleben“

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Wirtschaft

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Panorama

Russlands Nato-Botschafter Dmi-trij Rogosin, 45, über die Jagdnach der „Arctic Sea“ und überihre Fracht

SPIEGEL: Hat die Nato Russlandbei der Suche nach dem Frachter„Arctic Sea“ unterstützt?Rogosin: Ich habe mich am 11. Au-gust mit dem neuen Nato-Gene-ralsekretär Anders Fogh Rasmus-sen getroffen, auf seinen Wunsch, und ihmdabei auch gesagt, Russland sei gerade ineiner schwierigen Situation, wir suchen nacheinem Schiff, ob die Nato helfen könne.SPIEGEL: Was war die Antwort?Rogosin: Rasmussen war nicht im Bilde, ver-sprach aber Hilfe. Am nächsten Tag riefmich der Leiter unserer militärischen Ver-bindungsgruppe bei der Nato, General Wik-tor Sinojew, an: Er habe von den Nato-Kol-legen die Koordinaten eines Schiffs bekom-men, das sie für die „Arctic Sea“ hielten.Ich habe diese Daten sofort an den Gene-ralstabschef und den Flottenchef in Moskauweitergeleitet. Sie passten zu jenen Daten,die unsere eigenen Leute inzwischen ge-sammelt hatten.SPIEGEL: Was passierte danach?

Rogosin: Dann haben wir sie täg-lich mit der Nato präzisiert: dieGeschwindigkeit des Schiffes, sei-nen Kurs. Die „Arctic Sea“ hatteKurs auf Brasilien genommen,drehte aber bei den Kapverdenplötzlich bei und nahm volleFahrt auf die afrikanische Küste.Wir vermuteten, die Piraten woll-ten Senegal, Gambia oder Gui-nea-Bissau ansteuern. Unsere

Aufgabe war es, sie nicht bis zur Küste kom-men zu lassen.SPIEGEL: Ihr Präsident Dmitrij Medwedewbehauptete, die Ostsee sei sicheres Gewäs-ser, es gäbe dort keine Piraten. Tags darauferklärte der Verteidigungsminister, doch, da seien Piraten. Ließ sich der Präsidentdüpieren?Rogosin: Nein, wir hatten zu diesem Zeit-punkt noch keine genauen Informationen.Das Schiff war von einer internationalenEntführergruppe gekapert worden. Sie warunter dem Deckmantel der schwedischenPolizei an Bord gelangt. Einem Matrosengelang es, dies noch per SMS mitzuteilen.Später haben sie vorgetäuscht, sie hättendas Schiff wieder verlassen. Sie zwan-gen den Kapitän, der Reederei mitzuteilen,

alles sei okay, die Piraten seien von Bord.Medwedew wusste es in dem Moment ein-fach nicht besser.SPIEGEL: Warum fuhr die „Arctic Sea“ mitabgeschaltetem Kommunikationssystemweiter?Rogosin: Die Piraten sahen sich lediglich imÄrmelkanal gezwungen, Signal zu geben,weil sie dies für eine heikle Passage hiel-ten. Dann haben sie wieder alles abge-schaltet. In diesem Augenblick begriffenwir: Das ist ein sehr eigenartiger Vorgang,und da griff auch der Präsident ein.SPIEGEL: Russland hat dann eine MengeKriegsschiffe losgeschickt – für einen Frach-ter, der nur Holz geladen hat?Rogosin: In der Tat. Spezialkräfte unsererArmee haben den Frachter nachts geentert

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T O U R I S M U S

Zimmer frei

Enttäuschte Gastronomen, leere Bet-ten: Die Wirtschaftskrise trifft Euro-

pas beliebteste Feriengebiete mit vollerWucht. Schon jetzt fehlen im gesamtenMittelmeerraum zehn Millionen Gästeim Vergleich zum Vorjahr, und dieserRückgang um zehn Prozent könnte so-gar noch schlimmere Ausmaße anneh-men – etwa wenn die Angst vor derSchweinegrippe den Reiseverkehr stär-ker als bisher beeinträchtigen und dieBilanz der Nachsaison zusätzlich verha-geln sollte.Um fast ein Fünftel ging im ersten Halb-jahr die Zahl der Flugreisenden nachLanzarote und Teneriffa zurück. InFrankreich, wo Urlauber 2007 noch 70Milliarden Euro ausgaben, wurde einSechstel Übernachtungen weniger ge-bucht als gewohnt, in Spanien und Ita-lien jeweils rund ein Neuntel. Das hatnicht zuletzt Folgen für das Personal;das römische Gastgewerbe allein rech-

net schon mit dem Verlust von 10000Jobs. Die für Briten und US-Amerika-ner schlechten Wechselkurse verstärkenden ungewohnten Abwärtstrend. Diemeisten Spanien-Besucher kommen tra-ditionell aus Großbritannien, diesesJahr waren es 16 Prozent weniger. Unddass die zahlungskräftigen Amerikanerausbleiben, merken besonders die Lu-xus-Hoteliers in Metropolen wie Paris.Manche Traumziele wirken fast schon

wie ausgestorben, so etwashabe er „in 23 Jahren nochnicht erlebt“, sagt der Kell-ner Salvatore Vitiello in derBar Al Piccolo auf Capri. Jeder dritte Kunde sei indieser Saison weggeblieben.Die Regierungen Spaniens,Italiens und Griechenlandsversuchen bereits, dem dar-benden Touristiksektor mitSteuererleichterungen oderverbilligten Krediten zuhelfen. Doch der Ferien-Blues hatauch seine guten Seiten. Rei-

sende profitieren von Sonderangeboten,Immobilienpreise sinken selbst in be-gehrten südfranzösischen Lagen um biszu 20 Prozent, an Spaniens Küsten so-gar um mehr als ein Drittel. Auch dürfteder Gästemangel mittelfristig den Erho-lungswert der gesamten Region stei-gern: Für das gestresste mediterraneÖkosystem, das unter Wasserver-schwendung und Vermüllung leidet, ister ein Segen.

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„Es ging um Lösegeld“

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Ausland

I R A N

Mussawis grüner Pfad

Oppositionsführer Hossein Mussawi,67, treibt den Aufbau einer Front

aller Regimegegner voran. Dazu habenBerater des bei der Präsidentschafts-wahl am 12. Juni offiziell unterlegenenHerausforderers von Staatschef Mah-mud Ahmadinedschad das Konzepteiner Graswurzelbewegung entwickelt.Vorbilder für Mussawis „Grünen Pfadder Hoffnung“ sind die Kongressparteiin Indien und der ANC in Südafrika,die gegen massive Widerstände zu Re-gierungsparteien aufstiegen. Um nichtmit dem Parteiengesetz in Konflikt zugeraten, wird es vorerst keine formaleMitgliedschaft und kein Programm ge-ben. Gemeinsamer Nenner der neuenOpposition sind nur zwei Forderungen:

die Annulierung der Präsidentschafts-wahl und die Achtung der in der Verfas-sung verankerten Bürgerrechte.Für den Aufbau des Grünen Pfads kön-nen sich Mussawi und sein MitstreiterMahdi Karrubi auf etwa tausendKampagnenbüros aus Wahlkampfzeitenstützen sowie auf Zehntausende Helfer.Diese Aktivisten, so heißt es aus Tehe-ran, sollen nun an Universitäten, in Behörden, Staatsbetrieben und Unter-nehmen weitgehend autonome „GrüneZellen“ bilden. Den Informationsaus-tausch soll ein „Zentralrat“ sichern, inden aus dem ganzen Land 40 Expertenfür Kultur, Wirtschaft und Politik ent-sandt werden. Die politische Führungkönnte ein sechsköpfiges Gremiumübernehmen, dem außer Mussawi undKarrubi auch der frühere Reformpräsi-dent Mohammed Chatami sowie ein ho-her Islamgelehrter aus Ghom und zweiIntellektuelle angehören sollen.

H O N D U R A S

Liberales Mitgefühl

Das Verständnis der deutschen Frei-demokraten für die Putschisten in

Mittelamerika löst erhebliches Befrem-den aus. Während EU, Uno und dieUSA die gewaltsame Absetzung vonPräsident Manuel Zelaya Ende Juni ein-hellig verurteilten, nahm in Deutsch-land die FDP die Umstürz-ler in Schutz. Das rief jetztden honduranischen Bot-schafter in Berlin, RobertoMartínez Castañeda, aufden Plan. In einem Briefan Kanzlerin Angela Mer-kel wirft er den Liberalenvor, die Machthaber „mitdeutschen Steuergeldern“zu unterstützen. Die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung hatteUnterstützer des Regimesnach Berlin eingeladen.Der Naumann-Chef und

ehemalige FDP-Vorsitzende WolfgangGerhardt verteidigt dies mit dem Hin-weis, in Honduras seien nicht einfach„die einen gut und die anderen böse“.Nach Ansicht des FDP-AußenpolitikersWerner Hoyer sei der Umsturz in Hon-duras kein „klassischer Putsch“, son-dern ein „Verfassungskonflikt, mit demalle Beteiligten katastrophal umgegan-gen“ seien. Bundesregierung und EUhätten „massiv versagt, indem sie ein-

seitig zugunsten ZelayasPartei ergriffen“. DerSPD-Abgeordnete NielsAnnen indes wirft denLiberalen „moralische Un-terstützung der Putsch-Re-gierung“ vor. Der GrüneThilo Hoppe, Vorsitzenderdes Entwicklungsausschus-ses, kritisiert, sie würden„einen Putsch bagatellisie-ren und die einheitlicheHaltung der Staaten-gemeinschaft gefährden“.

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und die Piraten überwältigt. Wir habennichts Auffälliges an Bord gefunden. Unddas ist auch die schlechte Neuigkeit: Es gingum Lösegeld. Hier zeigt sich, dass derKampf gegen Piraterie vor der somalischenKüste gescheitert ist. Verschiedene Länderhaben immer wieder Lösegeld gezahlt undso Nachahmer animiert. SPIEGEL: Noch mal: keine Drogen oder Waf-fen? In den USA vermutete man auch nu-kleares Material für eine schmutzige Bom-be an Bord, in Moskau sprach man vonAtomtechnologie für Syrien. Rogosin: Gerät ein Land wie unseres in sol-che Probleme, dann wird schnell der größ-te Unfug angenommen. Was da in die Weltgesetzt wurde, zum Beispiel dass wir aufdem Schiff Raketen oder Marschflugkörper

nach Iran transportieren würden, war ein-fach unverantwortlich.SPIEGEL: Es gab auch das Gerücht, die „Arc-tic Sea“ hätte in Kaliningrad vor der Reiseeine ominöse Fracht zugeladen.Rogosin: Das ist doch nichts weiter als Rus-sophobie. Sollten die Finnen noch Flügel-raketen zu dem Holz dazugeladen haben,dann wäre das ihre Sache. Wenn es ein In-formationsvakuum gibt, wird es natürlichmit wildesten Gerüchten gefüllt.SPIEGEL: Warum durften die Seeleute nachder Befreiung keinen Kontakt zu ihren An-gehörigen aufnehmen?Rogosin: Das ist in so einer Situation normal.Jetzt ist die Stunde der Ermittler: Hatten diePiraten Helfer? Hat sich die gesamte Besat-zung korrekt verhalten? Daher musste sieerst einmal isoliert werden.SPIEGEL: Die angebliche Lösegeldforderungvon 1,5 Millionen Dollar halten alle Fach-leute für unglaubwürdig niedrig.Rogosin: Die Summe war wirklich im Ge-spräch. Wir gingen aber davon aus, dass siesich ändern könnte, deswegen wollten wirdie Piraten nicht bis zur afrikanischen Küstekommen lassen. SPIEGEL: Keine geheime Fracht, kein Schuss-wechsel bei der Befreiung – das verblüfftnach diesem Verwirrspiel.Rogosin: So war es aber. Die Lehre ist: Wirsollten auch den Nato-Russland-Rat künftigdazu nutzen, um uns besser abzustimmenund um gegen internationale Piraterie wir-kungsvoller vorzugehen.

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Im Präsidentschaftswahlkampf hat Su-san Burke den Kandidaten Barack Oba-ma unterstützt. Doch seit der neue

Mann im Amt ist, gehen ihre Meinungenweit auseinander.

Obama will die Exzesse aus der Zeit sei-nes Vorgängers George W. Bush ruhen las-sen. Die Anwältin will sie aufarbeiten. Ervermeidet bisher eine Antwort auf die Fra-ge, ob im Krieg gegen den Terror demo-kratische Grundrechte außer Kraft gesetztwurden. Sie will zur Aufklärung genau die-ser Frage beitragen. Er schaut nach vorn.Sie schaut zurück.

Und was Susan Burke im Rückspiegelsieht, sieht hässlich aus. 17 Tote, darunterFrauen und Kinder, liegen auf dem Nisur-Platz in Bagdad, umgebracht am 16. Sep-tember 2007 von Söldnern der privatenamerikanischen Sicherheitsfirma Black-water. Sie sieht den Blackwater-MitarbeiterAndrew Moonen, der nach einer Weih-nachtsfeier im Jahre 2006 schwerbewaff-net durch Bagdad zieht und grundlos einenMann erschießt. Sie hört den Schuss, abgefeuert aus einem Blackwater-Hub-schrauber, der am 9. September 2007 aufdem Wathba-Platz in Bagdad das Lebeneines Unschuldigen beendet. Vor allemaber sieht sie Erik Prince, den Gründerund Ex-Firmeninhaber von Blackwater.

In ihrer Klageschrift nennt sie ihn „einenKaufmann des Todes“. Eine „Firmenkulturder Gesetzlosigkeit und der Unverant-wortlichkeit“ habe der heute 40-Jährigegeschaffen. In seinem Imperium sei der„exzessive und unnötige Gebrauch von

Schusswaffen“ an der Tagesordnung. Siespricht von „Kriegsverbrechen“. Ein Bun-desgericht in Alexandria, Virginia, mussjetzt darüber entscheiden, ob es diese Zi-vilklage annimmt.

Und auch die Politik wird sich entschei-den müssen. Zunächst einmal geht es umdie Frage, ob die US-Regierung an diesemMontag die bisher umfassendste Unter-suchung zur Behandlung von Qaida-Ge-fangenen veröffentlicht – oder auch nicht.Schon das allein würde in Washingtoneinen politischen Hurrikan auslösen, pro-phezeite Ex-CIA-Chef Porter Goss. Kaumnoch von der Hand zu weisen wäre danndie Forderung, die Regierung müsse end-lich alle Rechtsverstöße im Kampf gegenden Terror untersuchen.

US-Justizminister Eric Holder hatte denbereits 2004 fertiggestellten Report desCIA-Generalinspekteurs erst Ende Juni ge-lesen und sich dazu zwei Tage in sein Büroeingeschlossen. Als er damit fertig war, soller sehr lange am Fenster gestanden undauf die Constitution Avenue gestarrt ha-ben. Entsetzt darüber, was im NamenAmerikas geschah, ließ Holder den Ein-satz eines Sonderstaatsanwalts prüfen. An-geblich, so heißt es in Washington, hat ersich dazu nun durchgerungen. Womit ereher auf der Seite von Anwältin Burkestünde und nicht auf der von Obama.

Die Firma Blackwater nennt Burkes Vor-würfe „infam“, es handele sich um Einzel-fälle. Man beschütze im Regierungsauftragamerikanische Diplomaten – und das mitErfolg, sagen die Blackwater-Anwälte. In

den sechs Jahren seit dem Einmarsch imIrak sei dort kein einziger US-Regierungs-mitarbeiter zu Schaden gekommen.

Den Gerichtsprozess will Prince („In mirschlägt ein Kriegerherz“) auf jeden Fallverhindern. Deswegen hat er ein Anwalts-team der Firma Mayer Brown angeheuert.Die Kanzlei vertritt 89 der von „Fortune“gelisteten 500 umsatzstärksten US-Unter-nehmen.

Peter White, Leiter des Anwaltsteams,will die Richter in dieser Woche überzeu-gen, dass der Fall Blackwater gar kein Fallist. Jede öffentliche Darlegung der Ar-beitsweise von Blackwater gefährde dasPersonal in den Kriegsgebieten, heißt esin seiner schriftlichen Erwiderung. Er plä-diert dafür, die Anklageschrift abzuweisen.

Verantwortlich seien zudem immer nurEinzelne, nie ganze Firmen. White erin-nert an die erfolglosen Klagen gegen US-Konzerne in Folge des Vietnam-Kriegs:Vietnamesen, die gegen den US-Multi DowChemical wegen der Herstellung des Ent-laubungsgiftes Agent Orange klagten,scheiterten. Der Vergleich passt zumindestin einer Hinsicht: So wie damals AgentOrange ist auch Blackwater zum Symboleiner ganzen Ära geworden.

Nach dem Qaida-Angriff auf das WorldTrade Center vom 11. September 2001 setz-ten Bush und sein Vizepräsident Dick Che-ney erstmals in großem Stil private Si-cherheitsdienste ein. Söldner sollten beiPersonalengpässen aushelfen – etwa im Be-reich Personenschutz –, aber auch solcheDrecksarbeit erledigen, an denen sich US-

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U S A

„Kaufmann des Todes“Ein Bundesgericht entscheidet in dieser Woche, ob eines der düstersten Kapitel

der Bush-Ära neu beleuchtet wird: Ehemalige Mitarbeiter der Firma Blackwater wollen über das Schattenreich der privaten Söldnerarmee auspacken.

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Blackwater-Chef Prince 2008, Präsident Obama, Justizminister Holder: Entsetzt darüber, was im Namen Amerikas geschah

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Bedienstete nicht die Finger schmutzig ma-chen wollten, bei Verhören von Gefange-nen beispielsweise. Aus der Firma des ErikPrince wurde nahezu über Nacht ein Im-perium, das vom US-Steuerzahler mehr alseine Milliarde Dollar erhielt. 70 Prozentdieser Aufträge konnte Blackwater ohnereguläre Ausschreibung einholen.

Das wichtigste Personal des Unterneh-mens – die Kämpfer, intern „shooter“ ge-nannt, – wurde weltweit rekrutiert, auchvon den Philippinen und aus Latein-amerika. Ab 2007 nannte sich die Firmavoller Stolz Blackwater Worldwide.

Der Vorteil einer Privatisierung des Krie-ges lag für die Bush-Regierung auf derHand: Blackwater-Krieger sind billiger als reguläre US-Soldaten. Im Todesfall wur-den die Witwen nur mit relativ geringenDollarsummen abgefunden, derweil dasUS-Militär lebenslange Renten zahlt. Und:Blackwater-Mitarbeiter sterben still. Siewaren nie Teil der offiziellen Todesstatistik,was dem Präsidenten gut zupasskam.

Mit dem Abtritt der Regierung Bush gin-gen für Blackwater die Aufträge zurück,der Firmenname verschwand vom Brief-papier. Die Firma nennt sich jetzt Xe Ser-vices. Geblieben ist die entschlossensteGegnerin des Firmenchefs: Susan Burke.

40 Zeugen will sie gegen Prince aufmar-schieren lassen. Aus Bagdad würden, wenndas Gericht die Klage am kommendenFreitag annimmt, Augenzeugen der jewei-ligen Schießereien anreisen. In Amerikahat die Juristin, die sich als Vertreterin derim Gefängnis Abu Ghuraib Gedemütigten

einen Namen machte, mehrere ehemaligeBlackwater-Mitarbeiter zu bieten. Einerdavon gehörte dem Management an.

Zwei eidesstattliche Versicherungen lie-gen dem Richter vor, in denen schwereVorwürfe gegen Firmengründer Prince er-hoben werden. Da die Männer um ihr Le-ben fürchten, tauchen sie in den Schriftsät-zen nur anonym auf. John Doe 1 und JohnDoe 2 nennen sie sich.

John Doe 1 hat im Irak gedient. Als Au-genzeuge sei er mehrfach dabei gewesen,wenn vorsätzlich „unnötige, exzessive undnicht zu rechtfertigende tödliche Gewaltausgeübt wurde“.

Sein Kollege John Doe 2 beschreibt denFirmenchef aus der Nähe. Prince sehe sichselbst „als christlicher Kreuzritter, zustän-dig für die weltweite Eliminierung derMuslime und des islamischen Glaubens“,sagt er. Das Töten von Irakern werde in-nerhalb der Firma als Sport angesehen.

Der Blackwater-Anwalt stellt die Aussa-gekraft dieser Zeugen in Frage. Vieles beru-he auf Hörensagen, behauptet er. Die Ano-nymität der Zeugen gebe der Öffentlichkeitkeinerlei Möglichkeit, ihren Wahrheitsge-halt zu überprüfen. Diese Taktik sei unfair.

Doch die Angst der Kronzeugen vorVergeltung ist groß. Diese Angst hängtauch damit zusammen, dass Prince übermächtige Freunde in der Regierung ver-fügt, vor allem innerhalb der CIA.

Blackwater hat nämlich nicht nur für dieMinisterien der Regierung, sondern auchdirekt für den Geheimdienst gearbeitet.Das bestätigte die neue CIA-Führung erst

kürzlich in vertraulicher Sitzung im Kon-gress. Zwei weitere ehemalige Mitarbeiterbeschreiben in einem Memo, das demSPIEGEL vorliegt, erstmals Details dieserverdeckten Zusammenarbeit.

Die beiden Informanten werden in deminternen Memo als „Quelle A“ und „Quel-le B“ geführt. Nach Aussagen von Quelle Bsoll Blackwater für den US-GeheimdienstTerrorverdächtige aus Guantanamo nachPakistan, Afghanistan und Usbekistan aus-geflogen haben. In den dortigen Geheim-gefängnissen hat dann offenbar eine „Spe-zialbehandlung“ auf die Häftlinge gewartet.

Für diese Flüge habe man auch diePrince-Firmen Presidential Airways undAviation Worldwide Services benutzt, dieseit 2003 eine staatliche Befugnis für der-artige Flüge besessen hätten. Quelle Bnennt auch Kennungen beteiligter Flug-zeuge: N962BW, N964BW und N968BW.

An der Durchführung dieser Flüge seizudem die Firma Satellites Solutions be-teiligt gewesen. Sie gehört zum Prince-Im-perium und betreibt auf den Philippinenein Trainings- und Rekrutierungscamp, dasfür rund tausend Kämpfer ausgelegt ist.

Auch bei einer anderen brisanten Akti-vität der Bush-Jahre hat Blackwater denGeheimdienst unterstützt, sagt Quelle A.In dem Memo heißt es: „Die CIA heuerteBlackwater an, um Attentate auf Ziele inAfghanistan zu verüben.“

Erst im Juni hatte der neue, von Obamaeingesetzte CIA-Chef Leon Panetta auf Ca-pitol Hill in vertraulicher Sitzung von ei-nem „Tötungsprogramm“ berichtet, das

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GERVASIO SANCHEZ / AP

Blackwater-Söldner im Irak 2004: „Firmenkultur der Gesetzlosigkeit“

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Am wichtigsten ist, dass sie Moham-med Nader Ashraf jetzt nicht fin-den. Das wäre gefährlich, denn er

hockt am Rande eines Maisfelds hinter ei-ner Mauer und spricht mit Fremden. Ash-raf lässt Spucke auf seinen rechten Zeige-finger tropfen und scheuert ihn mit einemSteinchen. Der Finger ist noch blau-schwarz von der Tinte aus dem Wahllokal.Die Kennzeichnung soll Mehrfachwahlenverhindern, aber in Ashrafs Heimatdorfbei Khalaj in Helmand ist sie auch einKainsmal. Helmand ist Taliban-Land, nir-gendwo in Afghanistan sind die Aufstän-dischen stärker als hier. Ihnen gilt die Teil-nahme an der Präsidentschaftswahl alsVerrat. Wählen sei unislamisch, haben dieTaliban gesagt und gedroht, jedem, der zurWahl geht, den Finger mit der Stempelfar-be abzuhacken.

Ashraf grinst aus seinem schwarzen, fal-tigen Gesicht unter dem hellen Turban her-vor. Am frühen Wahlmorgen war er trotzsolcher Drohungen vier Stunden lang indie Provinzhauptstadt nach Lashkar Gahgeritten, hatte Schleichwege benutzt, ent-lang an Bewässerungskanälen, und staubi-ge Trampelpfade. Dann hatte der 42-Jähri-ge sein Kreuz neben dem Bild des Präsi-denten Hamid Karzai gemacht, nicht fürdie Demokratie, sondern aus Rache. Im

Frühjahr hatte ein Taliban-Gericht bei ei-nem Streit um Land gegen ihn entschie-den, er verlor zwei Äcker. „Wenn Präsi-dent Karzai bleibt, kommen noch mehramerikanische Soldaten nach Helmand,dann kriege ich mein Eigentum zurück“,sagt Ashraf und lutscht wieder am Finger.

Diese zweite Präsidentenwahl seit derVertreibung der Taliban aus Kabul liefnicht ruhig, aber sie scheiterte auch nicht.17 Millionen Afghanen waren offiziellwahlberechtigt, die meisten Dorfältestenund Clanchefs hatten allerdings vorab be-schlossen, wen ihre Gefolgsleute unter-stützen sollten oder ob sie überhaupt zurWahl gehen.

Es wurden schmutzige Deals verabre-det, Stimmen gekauft und auf Treu undGlauben Wahlzulassungen verteilt. Alleinam vergangenen Donnerstag kam es zu135 Zwischenfällen, verübten die Talibanein gutes Dutzend Anschläge auf Wahl-lokale und eine Polizeistation, etwa 50Menschen starben, die meisten von ihnenAngreifer. Die – unter diesen Umständen– respektable Wahlbeteiligung erklärt sich auch durch die gleichzeitige Wahl der Provinzräte. Für das tägliche Lebender Afghanen sind diese Gremien oftentscheidender als der Regent im fernenKabul.

vor acht Jahren gestartet wurde. DiesesProgramm sollte dazu dienen, Spezial-kommandos zu rekrutieren und auszubil-den, die dann Attentate auf das Führungs-personal von al-Qaida verüben sollten.

Auf Geheiß von Cheney habe die CIAdarauf verzichtet, den Kongress zu infor-mieren. Die CIA besitze im Kampf gegenden Terror die Erlaubnis zu töten, dahermüsse keine parlamentarische Sonderge-nehmigung eingeholt werden, so die da-malige Argumentation. Das Programm seiallerdings aus der Trainingsphase nie sorecht herausgekommen, hieß es in einerSenatsunterrichtung durch die CIA.

Das Memo wird deutlicher. Quelle Anennt fünf Namen, die mit dem Aufbauvon Attentat-Teams befasst gewesen seinsollen, darunter einen Mann, der Black-water Mitte 2005 verließ und zuletzt alsverantwortlicher Manager der Sparte OGAgearbeitet hat. Das Kürzel steht für „OtherGovernment Agencies“, innerhalb dieserAbteilung wurde bei Blackwater auch die CIA betreut. Auf der Liste findet sichferner ein Mitglied des Fallschirmjäger-Teams von Blackwater, ein Angestellterder Blackwater Security Consulting, derlaut Memo als „hitman“, als Auftragskiller,in dem Team eingeplant war. Ranghöchsterunter den Beteiligten soll Alvin BernardKrongard gewesen sein. Er bildete dieTeams, heißt es in dem Papier.

Das Memo lässt allerdings offen, ob Ab-sprachen mit Einzelpersonen oder der Fir-ma selbst getroffen wurden und in welcherFunktion Krongard beteiligt war. Das istnicht leicht auszumachen bei einem Mann,der schon auf beiden Seiten des Schreib-tisches saß. Von März 2001 bis September2004 diente er auch unter dem damaligenCIA-Boss George Tenet als Executive Di-rector des Geheimdienstes. Danach wech-selte er in den Beraterkreis, das AdvisoryBoard von Blackwater.

Die Firma und Krongard wurden amMittwoch vergangener Woche vom SPIE-GEL mit dem Inhalt des Memos konfron-tiert. Bis Freitag lehnten sie es ab, sichdazu zu äußern. Ein Sprecher der CIAwollte eine Kooperation mit Blackwater inBezug auf das Tötungsprogramm und diegeheimen Gefängnistransporte weder be-stätigen noch dementieren. „Wir kom-mentieren unsere Vertragsbeziehungennicht“, sagte er. In Details enthielt dasMemo allerdings „Fehler“. Kenntlich ma-chen wollte er die nicht.

Nun rumort es auf Capitol Hill. Die Se-natoren wollen mehr über das geheime Tö-tungsprogramm wissen. Am vergangenenFreitag wurde noch dazu bekannt, dassBlackwater auch bei den Drohnenangrif-fen in Pakistan und Afghanistan eingesetztwurde. Die demokratische AbgeordneteJan Schakowsky forderte ParteifreundinHillary Clinton in einem Schreiben auf, dieZusammenarbeit ihres Ministeriums mitBlackwater zu beenden. Gabor Steingart

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Gekommen, um zu bleibenDie Amerikaner streben am Hindukusch einen radikalen Kurswech-

sel an – mit den ungewöhnlichen Ideen eines US-Generals, derSaddam Hussein fing. Testfall ist die Taliban-Hochburg Helmand.

Amtsinhaber Karzai nach der Stimmabgabe zur Präsidentenwahl: Respektable Beteiligung

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HELMAND

Kabul

Delaram

Lashkar Gah

200 km

Khalaj

geerbt, doch inzwischenverbindet er den Ausgangdes Konflikts mit seinem ei-genen politischen Schick-sal. Afghanistan, sagt er, seiein „Krieg der Notwendig-keit“, kein „Krieg derWahl“ wie im Irak, gewähltaus den falschen Gründen.

Vor Kriegsveteranen imUS-Bundesstaat Arizonaerklärte der US-Präsidentvergangene Woche: „Wennwir nichts gegen die Tali-ban unternehmen, werdensie noch größere Rückzugs-räume für al-Qaida bereit-stellen, und die Terroristenwerden versuchen, nochviel mehr Amerikaner zutöten.“ Schwierige Zeitenstünden seinen Landsleu-ten bevor: „Es wird nichtschnell gehen, es wird nichteinfach.“

Obama will den Kriegum jeden Preis gewinnen

und ist bereit, noch mehr in das schwieri-ge Land zu investieren, trotz des giganti-schen Haushaltsdefizits und Gesundheits-reform. 794 US-Soldaten starben bis zumWochenende in Afghanistan, jeden Monatkostet der Einsatz der Truppen vier Mil-liarden Dollar.

„Es wird ein paar Jahre dauern, bis wirdie Taliban und al-Qaida besiegt haben,und es ist noch völlig unklar, wann wir unsvon dort wieder zurückziehen können“,gibt sich Verteidigungsminister RobertGates wenig optimistisch. Länger als dieMilitäroperation werde überdies der wirt-schaftliche und staatliche Aufbau des Lan-des brauchen, Gates rechnet mit einemMinimum von „zehn Jahren“.

Um das Ziel zu befördern, feuerte derVerteidigungsminister im Mai DavidMcKiernan, den Chef der US-Soldaten inAfghanistan, der auch Kommandeur derinternationalen Truppen war. Er zeigte da-mit, wie ernst es Washington mit dem ra-dikalen Kurswechsel ist. Zuletzt hat Präsi-dent Harry Truman im Jahr 1951 einenkommandierenden Vier-Sterne-Generalabgelöst, als sich dieser seinen Plänen imKorea-Krieg widersetzte.

Der neue Mann in Kabul ist ein schlak-siger Asket, 55 Jahre alt, der sich rühmt,täglich nur eine Mahlzeit zu sich zu neh-men, um jede Trägheit zu vermeiden undnachts mit ein paar Stunden Schlaf auszu-kommen. Bis dahin arbeitete General Stan-ley McChrystal eher auf der dunklenSeiten des Militärgeschäfts, dort, wo dieÖffentlichkeit nicht hinsehen soll. Er kom-mandierte fünf Jahre lang geheim operie-rende US-Spezialkräfte in Irak und Afgha-nistan, seine Männer jagten den irakischenPräsidenten Saddam Hussein, bis sie ihn ineinem Erdloch verhafteten, er gab den Be-

Der neue Präsident wird dennoch allerVoraussicht nach der alte sein, und dieRechnung des Bauern Ashraf in Helmand,der sein Ackerland zurückhaben will,könnte tatsächlich aufgehen.

Die amerikanischen Soldaten, auf die erbaut, sind schon da. 4000 Mann landetenvorigen Monat in Helmand, um hier die Ta-liban zu verjagen, die heute stärker sind alsje zuvor seit dem Einmarsch der Amerika-ner vor acht Jahren. Operation „Khanjar“,zu Deutsch Dolch, ist der Testfall für US-Präsident Barack Obamas neue Strategie, inAfghanistan die Wende zu erzwingen.

Die Marines, das sind Männer wie Cap-tain Robert Tart. Der drahtige New Yorkerist 33 Jahre alt, doch mit seinem scharfgeschnittenen Gesicht unter dem sand-farbenen Helm wirkt er gut zehn Jahre äl-ter. Ausgerüstet mit Splitterschutzweste,Sturmgewehr, Nachtsichtbrille und Funk-gerät, steht er in einer sogenannten Vor-geschobenen Operationsbasis, einem US-Camp mit Schutzmauern, an der Grenzezu Helmand.

Die Wüste hier ist endlos, gelber Sandfegt durch die Luft, ein paar schroffe Ber-

ge stehen am Horizont, die Lufttemperaturbeträgt 45 Grad Celsius.

Tart will los, seine Kompanie wartetschon, 24 Mann stehen vor ihren Hum-vees. Sie haben den Hinweis bekommen,in einem entlegenen Gehöft südlich vonDelaram seien Drogen versteckt.

Von dem Moment an, in dem Tart dasCamp verlässt, beobachtet ihn der Feind,Tart weiß es, er spürt es. Die Taliban le-gen Straßenbomben und schießen mitPanzerabwehrgranaten aus den Gehöf-ten. Jeder hier könnte ein Attentäter sein: der Ziegenhirte auf der Anhöhe, der Motorradfahrer, der am Straßenrand steht.

Bevor er hierher nach Afghani-stan kam, hatte Tart drei Einsätze

im Irak hinter sich gebracht, in der ProvinzAnbar, als die Lage dort aussichtslos er-schien. Seine Einheit hatte die Terrorhoch-burg Falludscha belagert. Irgendwann wur-de dann ein früherer General von DiktatorSaddam Hussein als Bevollmächtigter ein-gesetzt, und die Lage stabilisierte sichtatsächlich. „Wir sind die Schock-Truppen,wir sind die am meisten gefürchtete Mi-litäreinheit der Welt“, sagt Tart und hältdas offenbar auch in Helmand für eine guteEmpfehlung.

Helmand ist das Anbar Afghanistans.Hier ist das Herz des Aufstands. 42 Prozentder Weltproduktion von Opium kommenvon hier, nirgendwo wird mehr produziert.Helmand ist die größte afghanische Pro-vinz, fast eineinhalb mal so groß wie dieSchweiz. Sie ist die Geldmaschine der Ta-liban, bis zu 300 Millionen Dollar fließenden Extremisten jährlich aus dem Drogen-handel zu.

Präsident Obama im fernen Washingtonhat diesen Krieg mit den Taliban zwar nur

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US-Captain Tart (r.) in Delaram: „Die am meisten gefürchtete Militäreinheit der Welt“

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fehl, den irakischen Qaida-Chef Abu Mus-sab al-Sarkawi zu töten.

Ein Jahr habe der General Zeit, um inAfghanistan erste Erfolge vorzuweisen,zwei Jahre, um die Wende zu schaffen,heißt es im Isaf-Hauptquartier in Kabul.Länger lasse sich die politische Unterstüt-zung nicht aufrechterhalten. Deshalb willMcChrystal jetzt die Logik des Kriegs-handwerks umkehren: Nicht der Feind istdas eigentliche Ziel, sondern die Sicher-heit der Afghanen.

„Warum ist das passiert?“, fragt der Ge-neral täglich in der Morgenlage in Kabul,wenn es in der Nacht verletzte oder getö-tete Zivilisten gab. Seine Soldaten sind an-gewiesen, sich eher zurückzuziehen, alsbei einem Feuergefecht den Tod Unschul-diger zu riskieren, McChrystal will, dasssie umdenken, neu denken.

Das ist schwierig, denn die Taliban „sindauf dem Vormarsch“, gibt McChrystal zu.Sein Lieblingsbegriff in diesen Tagen ist„deep partnering“ – tiefgreifende Partner-schaft. Seine Soldaten sollen sich nichtmehr nur hinter Stacheldraht und Mauernisolieren, und auch die internationalenTruppen sollen aus den Städten heraus undin die Dörfer gehen, seine GIs sollen mitafghanischen Sicherheitskräften trainieren,kämpfen, essen, leben, vom General hin-unter bis zum Gefreiten: „Und dort, wowir hingehen, bleiben wir.“

So ungefähr steht es auch im neuen US-Manual „Tactics in Counterinsurgency“,dem Handbuch zur Aufstandsbekämpfung,geschrieben für Kompanie-, Bataillons-und Brigadekommandeure. Die bitterenLehren aus dem Irak-Krieg sind dort zu-sammengefasst.

Seit McChrystal übernommen hat, wirddie Zahl der im Gefecht getöteten Feindenicht mehr veröffentlicht. „Wir werdennicht siegen, weil wir eine bestimmte An-zahl von Taliban umgebracht haben, son-

dern nur, wenn es uns gelingt, sie von un-serem eigentlichen Ziel, den schutzbe-dürftigen Zivilisten, abzusondern“, schriebMcChrystal in einem seiner ersten Befeh-le. Die Top-Führer der Taliban lässt derGeneral natürlich weiterhin von Spezial-kommandos jagen und töten.

Nach einer Fahrt von zwölf Kilometernhat Hauptmann Tart mit seiner Einheit dasLehmgehöft in der Wüste erreicht. Es hatmehrere Seitengebäude, die sandbraunenDächer sind wie Kuppeln geformt, im Gar-ten blühen rote Stockrosen. Zwei Männersitzen vor dem Haus, alles wirkt friedlich.

Der Informant, ein Paschtune mit hage-rem Gesicht und dünnem Bart, hat Tarthierhergeführt, er ist schnell verschwun-den. Hier soll das Opium lagern. Die Ma-

rines finden die Drogenpakete in Keller-löchern und zwischen doppelten Wänden.Die zwei Männer vor dem Haus, ein jungerund ein älterer, behaupten, nur zufällighier zu sein, zur Gartenarbeit.

Es ist schon dunkel, und noch immerzeigt das Thermometer 30 Grad. Haupt-mann Tart hat inzwischen 600 KilogrammRauschgift eingesammelt, das in Afghani-stan einen Marktwert von mehr als 100000Dollar repräsentiert. Es bleibt unklar, werder eigentliche Besitzer ist.

Tart lässt den älteren der beiden Männerfesseln und nimmt ihn mit zur Wache nachDelaram. Der Captain ist mit seinem Erfolgzufrieden: „Die Drogen bringen schmutzi-ges Geld, das dazu genutzt wird, unsereLeute umzubringen. Wir haben es von derStraße geholt.“

Die Polizeistation von Delaram liegtzwischen Basar und Friedhof, Fahnen we-

hen über den Gräbern, grün und weiß.Die Marines haben sich in einer alten Rui-ne eingerichtet, rechts, im Nachbarhaus,wohnen die Polizisten. Hier proben sieMcChrystals neue Strategie des Zusam-menlebens.

Die amerikanischen Soldaten sehen einbisschen wie wilde Piraten aus, mit Stirn-tüchern und Tattoos, mit Kautabak zwi-schen den Zähnen. Das Essen sei bei denAfghanen besser, sagen sie. Den Tipp mitdem Opium haben sie nur erhalten, weilsie hier Quartier aufgeschlagen haben, weilsie nicht mehr abgezogen sind, seit vielenWochen nicht, auch nicht, als die Polizei-station gleich mehrmals von Selbstmord-attentätern angegriffen wurde.

Hinter der Ruine hat die afghanischePolizei ein Besucherhäuschen gebaut. Ir-gendwann kam der Erste aus dem Dorf.Und redete. Dann kamen andere, das Um-denken hat sich wohl bezahlt gemacht.

Corporal Jacey Marks sieht allerdingsaus wie einer, dem das Umdenken schwer-fallen dürfte. Rote Stoppelhaare, hoheWangenknochen, Tattoo, riesige Muskel-pakete auf den Schultern. Marks hat Ha-ditha hinter sich, die umkämpfte Stadt imIrak, die traurige Berühmtheit erlangte, als2005 einige GIs 24 Zivilisten niedermet-zelten. In Haditha hat Marks Kampferfah-rung gesammelt, und Kampf ist das, wasder 24-Jährige bisher gelernt hat. „Das ist,was du suchst“, sagt er, schließlich gehörter zu den Marines.

Jetzt fährt Marks Patrouillen im Grenz-gebiet an der Westflanke von Helmand. Errumpelt mit seinem Humvee über Äcker,er will die allgegenwärtigen Sprengfallenumgehen, jeden Moment erwartet MarksBeschuss, einen Hinterhalt, doch nichtsgeschieht, seit Wochen schon nicht. DerFeind beobachtet ihn nur, von weitem, unddie ganze Energie, die der Corporal aufden Feind richtet, läuft ins Leere.

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„Die Drogen bringen schmutziges

Geld, das dazu genutzt

wird, unsere Leute umzubringen.“

Drogenrazzia von US-Marines bei Delaram, US-Befehlshaber McChrystal in der Provinz Kandahar: 300 Millionen Dollar Umsatz mit Opium

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Afghanistan ist eben nicht Haditha. DieTaliban wissen, dass sie im Feuerkampf mitden Marines nur verlieren können. Sie wei-chen aus. „Die Taliban fordern nicht uns,die Soldaten, heraus, sondern die ameri-kanische Öffentlichkeit, die hier irgend-wann keinen Erfolg und keinen Sinn mehrerkennen wird“, sagt ein Hauptfeldwebelim Marines-Camp von Delaram, er sitztunterm Tarnzelt und fächelt sich mit einemPappteller Luft zu.

Nur 4,5 Prozent der afghanischen Be-völkerung leben in Helmand, aber vieleAfghanen würden viel verlieren, wenn dortplötzlich der Frieden ausbräche: Das Opi-um und der Krieg sind für Afghanistanwirtschaftlich bedeutsam, die Droge nährtden Kampf, der Kampf beschützt die Dro-ge. Und die Profiteure wünschen sich, dassdas noch eine Weile so weitergeht.

General McChrystals Ziel muss es jetztsein, den Aufständischen den Boden zuentziehen, die Unterstützung möglichstvieler Clans und Stämme zu erlangen, da-mit am Ende auch die Taliban verhandeln,zu den Bedingungen des Westens. Aberlässt sich das noch erreichen?

Es wird jetzt viel von Versöhnung ge-sprochen in Kabul. Der Uno-Sonderbot-schafter Kai Eide denkt laut darüber nach,ob Gespräche mit den Gegnern auf Di-striktebene organisiert werden sollten oder auf Provinzebene oder ob man, wieer glaubt, „größer ansetzen muss“.

Thomas Ruttig von der unabhängigenBeratergruppe Afghanistan Analysts Net-work empfiehlt einen intensiven Ge-sprächsprozess zwischen der Regierungund all jenen Gruppen, die sich von ihrentfremdet haben. Er setzt auf landes-weite Anhörungen, um die Wunden aus30 Jahren Krieg zu lindern.

Alles sei noch möglich in Afghanistan,schreibt auch Anthony Cordesman vomWashingtoner Center for Strategic Studiesin seiner Studie „Können wir gewinnen?“.Einen Monat lang hat der ehemalige Ge-neral im Team von McChrystal mitgear-beitet, hat sich angesehen, wie viel zusätz-liche Stärke ein forcierter Aufbau derafghanischen Sicherheitskräfte bringenkönnte. Er hat die Zusammenarbeit derinternationalen Gemeinschaft analysiertund über die Chancen spekuliert, die eineneue afghanische Regierung hätte, um ei-nen Friedensprozess in Gang zu setzen.Sein Fazit: Über Sieg oder Misserfolg seilängst noch nicht entschieden.

Der Bauer Mohammed Nader Ashrafaus Helmand wartet an diesem Wahltagnoch, bis es vollständig dunkel gewordenist, dann macht er sich auf den Weg zurückin sein Dorf bei Khalaj. Den Ausgang sei-nes Wahlabenteuers will er nicht daranmessen, ob die Demokratie nun ein Stückvollkommener ist, und nicht einmal daran,ob Afghanistan endlich zur Ruhe kommt.Für ihn zählt nur eins: Erhält er endlichsein Land zurück? Susanne Koelbl

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Die radikalislamische Hamas, die imGaza-Streifen herrscht, macht gar keinHehl daraus, dass sie die Fatah als Gegnerund Israel als Todfeind sieht. Sie ist in die-sen Tagen allerdings vollauf damit befasst,auf ihrem Gebiet konkurrierende, demTerrornetzwerk al-Qaida nahe Extremistenblutig niederzuschlagen.

Vielen Israelis kommt es so vor, als näh-me sich der Nahost-Konflikt eine Auszeit,als könnten sie sich einigermaßen bequemeinrichten im Status quo – und sie rechnendas der Hardliner-Regierung unter Benja-min Netanjahu, 59, als Verdienst an. Seitknapp fünf Monaten ist der Umstrittenean der Macht, zum zweiten Mal Minister-präsident, seine Amtszeit von 1996 bis 1999gilt als wenig glanzvoll. Aber derzeit ist„Bibi“ populär, Kompromisslosigkeit hatSaison. Und so reist er mit viel Rücken-deckung zu Gesprächen mit den Verbün-deten. Am Montag trifft er in LondonGeorge Mitchell, den Nahost-Beauftragtender US-Regierung, am Mittwoch wird er inBerlin erwartet.

Mitglieder seines 30 Minister starkenKabinetts und eine erzkonservative Pressehämmern in diesen Tagen eine verführeri-sche Botschaft: warum schmerzliche Kom-promisse mit den Palästinensern eingehen,warum überhaupt in Friedensverhandlun-

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Gott kennt keine KompromisseKaum jemals hatten es die Israelis so gut – sagen die einen. Kaum jemals waren die Chancen auf Frieden

so schlecht – sagen die anderen. Premier Benjamin Netanjahu, diese Woche zum Antrittsbesuch in Berlin, hat den Judenstaat gespalten und legt sich offen mit dem Westen an. Von Erich Follath

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Zur Abwechslung einmal etwas Über-raschendes: gute Nachrichten ausdem Heiligen Land. Aber Vorsicht,

was derzeit so positiv erscheint, könnte zunoch schlimmeren Katastrophen führen –dies ist schließlich der Nahe Osten.

Die Strände von Tel Aviv sind vollerTouristen, die Hotels in Jerusalem ausge-bucht, in den ersten beiden Augustwochenverzeichnet Israel Besucherrekorde. Einerobuste Wirtschaft ist in diesem Quartalwieder ins Plus geschwenkt. Noch ent-scheidender aber: Es herrscht Ruhe an fastallen Fronten. Kaum noch Raketenangrif-fe aus dem Gaza-Streifen, so gut wie keinepalästinensischen Terrorüberfälle aus demWestjordanland, auch an der Libanon-Grenze schweigen die Waffen.

Die Palästinenser sind mit sich selbst be-schäftigt – und mit der Vertiefung ihrer ei-genen politischen Spaltung. Gerade ist inBetlehem der Kongress der gemäßigten Fa-tah zu Ende gegangen, die im Westjordan-land regiert. Die Fatah konnte nicht überihren Schatten springen und Israel unmiss-verständlich anerkennen. Stattdessen vorallem rückwärtsgewandte Politik bei jün-gerem Personal; die fast ein halbes Jahr-zehnt zurückliegende „Ermordung“ JassirArafats durch die Israelis soll abermals un-tersucht werden.

gen eintreten, wenn es auch so Ruhe gibt?Warum die illegalen Siedlungen aufgebenoder auch nur den Ausbau stoppen, wie esPräsident Barack Obama fordert, wenndoch keine Sanktionen drohen und manfür alle Fälle ein zusätzliches Faustpfandhat? Warum nicht die schweren Men-schenrechtsverletzungen durch die israeli-sche Armee beim Gaza-Krieg zum Jahres-wechsel, verurteilt durch die Uno, einfachignorieren?

Noch ist eine Mehrheit der Israelis füreinen Ausgleich mit den Arabern zu ge-winnen, für eine von der internationalenGemeinschaft geforderte Zwei-Staaten-Lö-sung. Aber der Palästinenserstaat an derSeite Israels soll so aussehen, wie ihn Ne-tanjahu im Juni skizziert hat, als er dasKonzept erstmals öffentlich akzeptierte:ohne eigene Armee, ohne Kontrolle überseinen Luftraum, ohne Rückkehrrecht füralle Palästinenser, ohne Jerusalem, das„die ungeteilte Hauptstadt Israels“ bleibenmüsse. Man brauche diese „Konzessionen“nicht zu fürchten, erläuterte Vater BenzionNetanjahu, 99, ein Ultra der ersten Stundeund immer noch einer der engsten Beraterdes Premiers, jetzt mit entwaffnender Of-fenheit: Die Bedingungen seien so gefasst,dass die Palästinenser gar nicht einschlagenkönnten.

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Premier Netanjahu, Präsident Peres, Leibwächter in Jerusalem, Palästinenser am Checkpoint Kalkilja im Westjordanland: „Selbstmörderische

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Wenn Netanjahu diese Woche ins Kanz-leramt kommt, muss er nicht mit peinli-chen Überraschungen wie neulich in Parisrechnen, als der französische Präsident allediplomatischen Gepflogenheiten beiseiteließ und vor Zeugen Klartext redete: Ne-tanjahu solle seinen für rassistische Sprü-che berüchtigten Außenminister AvigdorLieberman entlassen. „Es gibt kaum einenführenden Politiker, der nicht sagt: Was istdas denn für eine hirnrissige Ernennung?“Als Israels Premier sich die Einmischungverbat und davon sprach, Lieberman seinicht nur ein „wichtiges Mitglied einer ge-wählten Regierung“, sondern auch ein„sehr netter Mensch“, legte FrankreichsPräsident nach. Nicolas Sarkozy verglichIsraels Außenminister mit dem Rechts-außen seiner Heimat: „In privaten Ge-sprächen kann auch Jean-Marie Le Pen einrichtig netter Typ sein.“

Die Bundeskanzlerin hält wegen derdeutschen Geschichte jede harte Kritik anIsrael für unangemessen; in ihrer Knesset-Ansprache 2008 mochte sie die illegaleSiedlungspolitik nicht einmal mahnend er-wähnen – zur Verärgerung der israelischenLinken und auch der EU, deren gemeinsa-me Linie sie verließ. Deutschland gilt inJerusalem als treuester Verbündeter. DieUSA, die Israel mit Milliarden subventio-nieren, als derzeit unbequemster: Obamapocht auf substantielle israelische Konzes-sionen, um sich in der islamischen Welt alsehrlicher Vermittler zu profilieren.

Wo aber verlaufen die Bruchlinien in-nerhalb der israelischen Gesellschaft?

Dan Meridor, 62, und Tom Segev, 64,gehören beide zur israelischen Elite. Siesind beide Patrioten und haben, wie schonihre Väter, an herausragender Position fürihr Land gekämpft. Sie leben und arbeitenbeide in Jerusalem und respektieren ein-

ander. Und doch kommen Geheimdienst-minister Meridor, in den Augen vieler Is-raelis Netanjahus bester Mann, und Schrift-steller Segev, in den Augen vieler Israelisihr bester Historiker, zu völlig unter-schiedlichen Schlussfolgerungen – was Pre-mier Netanjahu und seine Absichten an-betrifft, was die derzeitige Lage und dieZukunft des Landes angeht.

Meridor empfängt in seinem Arbeitszim-mer im Regierungssitz, an der Wand einLandschaftsfoto im milden Licht des Son-nenuntergangs. Nichts Militärisches, nichtsFörmliches: Der Politiker, der an Schwe-dens unglücklichen Premier Olof Palme er-innert, gibt sich hemdsärmlig. Sanft ist auchseine Stimme, kaum zu glauben, dass dieserMeridor, studierter Jurist und Feingeist, imSechstagekrieg Panzerkommandant war.„Prinz der Prinzen“ nannte Israels Presseihn. Als ihn Netanjahu in seinem ersten Ka-binett 1996 zum Finanzminister machte,schien für Meridor auch der Sprung nachganz oben möglich. Die Ernüchterung kamnach einem Jahr: Er überwarf sich mit demPremier, der ihm hinter den Kulissen übelmitgespielt hatte, und trat zurück.

Heute unterstehen Meridor sämtlicheGeheimdienste Israels. Er ist Vizepremierund gehört zum „Küchenkabinett“ Netan-jahus, das jede wesentliche politische Ent-scheidung im Land absegnet. Warum die-ser zweite Versuch, hat sich der Premiergewandelt? Womit muss die Welt ange-sichts der kriegsdrohenden Netanjahu-Äußerung rechnen, der einzige Unter-schied zwischen Adolf Hitlers und Mah-mud Ahmadinedschads Regime bestehedarin, „dass Nazi-Deutschland erst einenWeltkrieg begonnen und dann Atomwaffenentwickelt hat, während Teheran erstAtomwaffen entwickelt und dann einenglobalen Konflikt beginnt“?

Minister Meridor sieht die nukleare Be-drohung als das alles überlagernde Pro-blem der israelischen Regierung. Er glaubtaber nicht, dass Netanjahu die Entschei-dung zu einem Militärschlag gegen IransNuklearanlagen schon getroffen hat, wie esdie Tageszeitung „Haaretz“ erfahren ha-ben will. „Zunächst setzen wir auf die Ver-schärfung der Sanktionen gegen Teheranund rechnen damit, dass die wichtigen eu-ropäischen Wirtschaftspartner Irans, allenvoran Deutschland, dabei konsequent mit-machen.“ Niemals aber dürfe Iran zurAtommacht werden – sonst sei die Macht-balance im Nahen Osten dramatisch ver-ändert, der Atomwaffensperrvertrag amEnde, Israels Existenz gefährdet.

Die Gefahrenlage im Nahen Osten siehtMeridor durch ein relativ neues Phäno-men zugespitzt: die „Einführung der Reli-gion in den Konflikt“. Arabische Führerhätten Israel gehasst und bekämpft, aberniemals im Namen Allahs; erst durch dieiranische Führung und deren Unterstüt-zung für die Hisbollah und die Hamas seifatalerweise der Allmächtige ins Spiel ge-kommen. „Menschen können Kompro-misse schließen, Götter nie.“

Aber verlangt Obama nicht zu Rechtauch ein Zeichen der Kompromissbereit-schaft von Israel – und sieht sich mit stän-dig neuen Provokationen konfrontiert?Etwa mit der Bemerkung des Wissen-schaftsministers Daniel Herschkowitz,einige Handlungen des US-Präsidenten„grenzten an Antisemitismus“, und wenndie Siedlungen Washington so störten, müs-se man sie eben heimlich vorantreiben?

„Es ist eine große Regierung mit unter-schiedlichen Meinungen“, sagt Meridor.Entscheidend aber sei Netanjahu, den erals gereift und auch zu schmerzlichenSchritten bereit sieht. Er selbst sei früher

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Besatzungspolitik“ Minister Meridor, Historiker Segev in Jerusalem: Angst vor einem zweiten Holocaust

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skeptisch gegenüber einer Zwei-Staaten-Regelung gewesen, plädiere aber seit über15 Jahren für das Konzept.

Über genaue Grenzziehungen könneman reden, aber wenn den Palästinenserndas territoriale Angebot nicht reiche, Pechgehabt. „Menschen wollen die Realitätennicht erkennen. Sie hassen die Wirklich-keit, wenn sie ihren Erwartungen nicht ent-spricht.“ Das Problem mit der Fatah sei,dass sie „nicht liefern“ könne, ob ausSchwäche oder ob sie nicht wolle, spielefür Israel letztlich keine Rolle. „Uns fehltder Friedenspartner.“

Dass Meridors politische Karriere an derSeite Netanjahus – und in dessen Schatten– endet, erscheint wahrscheinlich. Gernerzählt er im Freundeskreis die Geschich-te von Adlai Stevenson, dem als Prä-sidentschaftskandidat gescheiterten US-

Politiker. „Er erhielt bei einer Rede einmalbesonders viel Beifall, jemand aus dem Pu-blikum rief: Machen Sie sich keine Ge-danken, jeder anständige Amerikaner wirdSie wählen – worauf er entgegnete: Wenndas so ist, bin ich wirklich besorgt, ichbrauche eine Mehrheit.“ Parallelen zumheutigen Israel nimmt er lächelnd in Kauf.

Minuten nach dem Ende des Interviewsmeldet sich der Minister noch einmal beimSPIEGEL. Er will klarstellen, dass er denStatus quo nicht für ideal halte. Man müs-se ihn „überwinden, aber dabei die Lek-tionen der Geschichte berücksichtigen“.Zwei Stunden hat Meridor so geklungenwie ein Hardliner, nun möchte der als„gemäßigt“ Geltende offensichtlich keinallzu radikales Bild hinterlassen – ein Zer-rissener zwischen eigenen Ansprüchen undNetanjahus harter Politik. Und damit einwenig auch ein Spiegelbild der Zerrissen-heit des gesamten Landes.

Autor Segev („1967“) arbeitet keine dreiKilometer Luftlinie von Meridor. Aus sei-

ner Wohnung im sechsten Stock lassen sichdie Wahrzeichen von Jerusalem betrachten– die historische Mauer, welche die Alt-stadt seit Jahrhunderten umschließt, dieneue Mauer, die Israel als Sicherheitsmaß-nahme gebaut hat und immer noch weiterbaut. Wie eine giftige graue Viper schlän-gelt sie sich über die Hügel. Was gegenTerroristen hilft, ist auch ein schlichterLandraub: Israel hat für den Bau derSperranlagen über 12 000 Hektar Äckerkonfisziert, 83000 Olivenbäume gefällt, 36Siedlungen zerschnitten.

Segevs Eltern sind aus Nazi-Deutschlandgeflohen, sein Vater starb im Krieg 1948.Der Historiker gilt als Linksliberaler, ersteht der Friedensbewegung nahe, von derkaum noch etwas zu hören ist. „PeaceNow“ wurde von Strategieminister Mo-sche Jaalon gerade als „Virus“ diffamiert.

Segev zuckt mit den Schultern. „Netan-jahus Regierung hat Israel eingeschläfert,hat der Nation die Illusion vermittelt, es seischon alles so in Ordnung, wie es derzeitist“, sagt er. „Die meisten Israelis glaubennicht mehr an einen Friedensprozess. Siehaben sich arrangiert. Sie denken, wennsich etwas ändert, wird es schlimmer.“Auch er selbst habe sich gewandelt, könnedie resignative Haltung nachvollziehen.

„Noch mehr macht mir zu schaffen, dassin Israel Intoleranz und Rassismus gesell-schaftsfähig geworden sind“, sagt der Hu-manist und lauscht dabei melancholischseinen Sätzen nach. Außenminister Lie-bermans Partei schüre den Fremdenhass,gegenüber den Arabern insgesamt, aberbesonders auch gegenüber den palästinen-sischen Staatsbürgern Israels.

Aber da gäbe es noch andere, etwaEhud Barak. Früher hat er sich mit der Le-benssituation der Araber beschäftigt undeinmal formuliert: „Hätte ich in einempalästinensischen Flüchtlingslager auf-

wachsen müssen, wäre ich wohl Terroristgeworden.“ Jetzt, als Verteidigungsministerim Kabinett Netanjahu, hat er gerade immuslimischen Viertel der Altstadt provo-zierend eine neue Synagoge eingeweiht –und arabische Proteste weggewischt wielästige Fliegen. Symbolisiert der Chef derArbeitspartei den Niedergang, den Zynis-mus der einstigen Linken?

Segev glaubt, dass die meisten Israelisdie Führer aller Parteien für korrupt hal-ten. „Zur Friedensskepsis kommt Politik-verachtung“, sagt er. Besonders bedrücktihn „die Gleichgültigkeit der Israelis ge-genüber den Palästinensern“, die Unfähig-keit, sich in deren Situation hineinzu-versetzen. „Es interessiert niemandenmehr, was in den besetzten Gebieten pas-siert. Wir verdrängen es. Und das, obwohleigentlich alle wissen, dass die fortdau-ernde Besatzung am Ende eine selbst-mörderische, zukunftszerstörende Poli-tik ist.“

Der Historiker hat Netanjahu über dieJahre genau verfolgt. Er glaubt, dass derPremier in der Siedlungsfrage den Ameri-kanern kleinere Konzessionen machenkönnte. Aber grundsätzlich werde sich anNetanjahus Politik nichts ändern. „Er leb-te lange in den USA. Er hat ein genauesGespür dafür, dass Obamas Druck auf Is-rael nachzulassen beginnt, dass der neueUS-Präsident womöglich nicht in einer sostarken Position ist.“

In einem Punkt werde der israelischePremier auf jeden Fall hart bleiben: beider Beendigung des vermuteten iranischenAtomwaffenprogramms. Dabei wisse erfast alle Israelis hinter sich. „Natürlich istdie Furcht vor einem neuen Holocaust in-strumentalisiert worden – aber die Ver-nichtungsängste sind echt. Wer das nichtversteht, der versteht Israel nicht.“

Segev klingt skeptisch, fast resigniert.Gar kein Hoffnungsschimmer am Hori-zont? Doch, sagt er: Marwan Barghuti.Wegen dreifachen Mordes zu einer le-benslangen Haftstrafe verurteilt, sitzt derPalästinenserführer seit 2002 in einem is-raelischen Gefängnis. Er soll sich dort aberimmer mehr gemäßigt und zum Friedens-apostel entwickelt haben. Barghuti, 50,wurde beim Fatah-Kongress Anfang Au-gust mit den drittmeisten Stimmen allerKandidaten ins Zentralkomitee gewählt.

Hat Segev wegen der terroristischenVorgeschichte keine Bedenken? „Ach was,auch Menachem Begin und Jizchak Scha-mir waren früher Terroristen und wurdenMinisterpräsidenten“, sagt er. „Barghutihat vielleicht das Zeug zu einem palästi-nensischen Nelson Mandela. Wir solltenuns trauen, ihn freizulassen.“

In der Jerusalemer Altstadt werden schonheldenverehrende T-Shirts mit BarghutisKonterfei verkauft. Gedruckt hat das Hemdeine Firma aus dem israelischen PetachTikwa. „In diesen Techniken ist der Feindeinfach besser“, sagt ein Händler.

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Aufständische Islamisten in Gaza am 14. August: „Sie hassen die Wirklichkeit“

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Es war ein drückend heißer Sommer-tag, als der Arzt Alan Adyrchajeweinen Brief von seiner elfjährigen

Tochter Emilija erhielt. Was schon alleindeswegen ungewöhnlich war, weil Vaterund Tochter zusammen im selben Haus inBeslan leben, einer staubigen Kleinstadtam Fuß des Kaukasus. Emilijas Anliegenwar wichtig genug für einen Brief.

„Gewidmet unserer Mama Ira“, standda in krakeliger Kinderschrift. „Die Jahresind vergangen, doch dein Lachen, deineAugen und deine Zärtlichkeit werden wirnie vergessen.“ Die Liebeserklärung anihre tote Mutter endete allerdings miteinem Schrei nach Rache. „Die Russen sol-len die Inguschen töten, so wie sie unserBeslan getötet haben.“

Es waren Terroristen aus dem Volk derInguschen, dazu einige Tschetschenen, dieam 1. September 2004 die Schule Nr. 1 vonBeslan in ihre Gewalt gebracht und 1127Schüler, Lehrer und Eltern als Geiseln ge-nommen hatten. Die russischen Behörden,auf eine solche Tat nicht vorbereitet, hat-ten nicht lange verhandelt, sondern kalt-schnäuzig eine Befreiungsaktion begon-nen, die in einem blutigen Chaos endete.

Nie kamen mehr Kinder bei einem Ter-roranschlag ums Leben. 186 von insgesamt334 Toten waren Schüler oder Geschwistervon Schülern. 17 Kinder verloren beide El-tern, 72 müssen bis heute mit schwerenBehinderungen leben. Auch AdyrchajewsFrau, ebenfalls eine Ärztin, starb. Beslanwar Russlands 11. September.

„Ich will nicht, dass meine Tochter mitdiesem Hass durchs Leben geht“, sagt derArzt. „Aber ich fühle mich hilflos.“ Er sitztin seinem Arbeitszimmer im zweiten Stockder städtischen Klinik, ein Mann mitkurzen schwarzen Haaren und traurigenAugen. Adyrchajew kennt die Spätfolgender Tragödie besser als jeder andere der36000 Bürger von Beslan. Noch am Mor-gen hatte er die zwölfjährige Kristina miteinem Blutdruck von 160 behandelt, dannWladimir, ebenfalls zwölf, der sich miteinem Messer die Hand zerschnitten hatte.„Kein Selbstmordversuch“, erklärt derArzt. „Aber ein Akt der Verzweiflung.Wahrscheinlich quält ihn unbewusst dasGefühl, das Leben nicht verdient zu ha-ben, wo doch so viele seiner Klassen-kameraden starben.“

Adyrchajew erzählt von Karina Kusso-wa, einer hübschen 13-Jährigen, deren lin-

kes Bein vom Fuß bis zur Hüfte durch Ver-brennungen entstellt ist. Ihre Eltern, derVater Bauarbeiter, die Mutter Kranführe-rin, mit einem gemeinsamen Einkommenvon umgerechnet 250 Euro im Monat, kön-nen die 540 Rubel, 12 Euro, in der Wochefür eine Heilsalbe nicht aufbringen, ge-schweige denn die 5000 Euro für eineHauttransplantation in Moskau und dieEntfernung von vier Granatsplittern.

Nötiger noch braucht das Mädchen mitden langen braunen Haaren psychologi-sche Hilfe. Nachts sieht sie, wie sich ihreKuscheltiere in Terroristen mit schwarzenMasken verwandeln. Einmal wachte Ka-rina schreiend auf, weil sie träumte, dassihr verletztes Bein abgetrennt von ihrem

schmalen Körper leblos neben ihr im Bett liegt.

Nach der brutalen, 52 Stunden wäh-renden Geiselnahme war zunächst eineWelle der Hilfsbereitschaft über Beslanhereingebrochen. Aus aller Welt trafenPakete und Hilfslieferungen ein, vonAustralien bis Jordanien, darunter 46 Fern-seher, 19 Mikrowellenherde, 196 Telefone,35 Videogeräte und „so viele Kuscheltiere,dass wir damit die Zimmer von allenKindern der Provinz hätten vollstopfenkönnen“, wie eine überlebende Lehrerinberichtet.

Der Oberbürgermeister von Moskau ließzwei moderne Schulen bauen, russischeShowstars gaben Benefizkonzerte, Bankenbauten Spielplätze, die Regierung und pri-vate Spender zahlten umgerechnet gut30 000 Euro für jeden Toten und 20 000Euro für Schwerverletzte; im armen Kau-kasus sind das keine kleinen Summen.

Fünf Jahre später aber fühlen sich vieleder Überlebenden und Hinterbliebenenalleingelassen. Als ein Erbe des Gesund-heitssystems der Sowjetunion hat kaumein Einwohner von Beslan eine Kranken-versicherung. „Der Staat tut nichts“, klagtAdyrchajew. „Es gibt keine regelmäßigen

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R U S S L A N D

Beslans doppelte Schande Fünf Jahre nach dem Geiseldrama hat der Staat Überlebende und

Hinterbliebene alleingelassen. Weder die Behörden noch der Kreml wollen an das Versagen der Sicherheitskräfte erinnern.

Schwestern Adyrchajew in der Schule Nr. 1: „Die Russen sollen die Inguschen töten“

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Untersuchungen und keine zentrale staat-liche Anlaufstelle für Hilfesuchende.“

Am Stadtrand von Beslan steht seit zweiJahren das neue Klinikum, schneeweiß,mit glänzend blauem Dach, so schön undfremd, als wäre es direkt aus dem Himmelüber dem Kaukasus gefallen. Es ist das teu-erste Krankenhaus der Region. Nur zweiProbleme gibt es: Weil Geld und Lizenzenfehlen, hat das schmucke Hospital seinenBetrieb immer noch nicht aufgenommen,und eine psychologische Abteilung fürKinder ist einstweilen nicht vorgesehen.„Sollen meine kleinen Patienten also war-ten, bis sie erwachsen werden?“, schimpftder Arzt.

Im städtischen Krankenhaus muss jedeszweite von 60 Betten leer bleiben, weilkein Geld zur Sanierung des baufälligenGebäudes da ist. Anfang des Monats kürz-te die Stadtverwaltung die Gehälter derÄrzte und Krankenschwestern um 20 Pro-zent. Zuvor hatte Adyrchajew maximal9000 Rubel verdient, rund 200 Euro, abernur, wenn er dafür viele Nachtwachenschob.

Es scheint, als wolle Russland, das Landmit den dritthöchsten Währungsreservender Welt, das Blutbad von Beslan einfachverdrängen – so wie jenes im Oktober 2002,als beim Sturm eines von Tschetschenenbesetzten Moskauer Musicaltheaters über170 Menschen ums Leben kamen. Beslansei ein Synonym für die Vernichtung vonKindern als „Machtdemonstration, die kei-ne Gewissensbisse kennt“, sagt der Schrift-steller Wiktor Jerofejew. Es stehe auchdafür, dass der Russe jede Gewaltanwen-dung inzwischen „als Phänomen metaphy-sischer Ordnung erlebt“.

Nur ein einziges Mal, unmittelbar nachder Tat, hatte sich Wladimir Putin, damalsnoch Präsident, am Ort des Verbrechensblicken lassen. Noch immer sind die Ver-antwortlichen für den dilettantischenSturm der Sicherheitskräfte auf das Schul-gebäude nicht belangt worden, einige wur-

den gar befördert. Noch immer herrschenZweifel, ob es tatsächlich nur 32 Geisel-nehmer gab oder ob einige Terroristenentkommen konnten, wie die Mehrheit derBewohner von Beslan glaubt.

Im staatlich gelenkten Fernsehen ist dasThema weitgehend tabu. Die „Mütter vonBeslan“ klagen darüber, dass sie seit Jahrenvergebens versuchen, in einer reichweiten-starken Talkshow ihr Anliegen vortragenzu können. Die Leiterin der Bürgerrechts-organisation, Susanna Dudijewa, sprichtdeshalb von einer „doppelten Schande“.Obwohl in den Tagen vor der Geiselnahmeeine Terrorwarnung vorgelegen hatte, habeder Staat seine Kinder nicht schützen kön-nen. Und nun vergesse er sie.

In einer Ecke ihres kleinen Büros un-weit der zerstörten Schule liegt ein Album.Ein Foto darin zeigt den verbrannten Tor-so ihres Sohnes Saur. Er saß direkt untereiner der Sprengladungen, welche die Gei-selnehmer am Basketballkorb in der Schul-sporthalle angebracht hatten. Die Geiselnkauerten dort zusammengepfercht, beibrütender Hitze und ohne Wasser. Vor al-ler Augen erschossen die Terroristen denSportlehrer Iwan Kanidi.

„Wer das gesehen hat, ist sein Lebenlang traumatisiert“, sagt der Arzt Adyrcha-jew. Er berichtet von ständigen Kopf-schmerzen seiner Patienten, für die er kei-ne Erklärung findet. Seine eigenen TöchterEmilija und Milana können nur bei Lichtschlafen. Auf seinem Schreibtisch liegt eineListe mit den Namen von acht Kindern,die am dringendsten Operationen benöti-gen, für die aber kein Geld da ist; weitoben auf der Liste steht der Name von Fa-tima Dsgojewa.

Fatima ist 15, aber ihre Verwandten freu-en sich schon, wenn sie die Zahlen 20 und20 richtig addieren kann. Als russischeEliteeinheiten die Schule stürmten, drangihr ein Granatsplitter durch die Stirn undtrat am Hinterkopf wieder aus. Wie durchein Wunder überlebte sie, lag 19 Tage im

Koma, drei Jahre mit Windeln im Bett,ohne ein Wort sagen zu können. Nach fünfOperationen, zwei davon in der BerlinerCharité, kann sie nun laufen und einigeWorte sprechen.

Draußen vor dem roten Backsteinhausspielt Fatimas Bruder Georgij im Sand, erwurde nach der Geiselnahme geboren.Ihre Tante Lana, die ihren Job als Kinder-gärtnerin aufgegeben hat, um sich derschwerbehinderten Nichte anzunehmen,telefoniert verzweifelt mit den Provinz-ärzten, weil das Medikament, das FatimasHirndruck senken soll, nirgendwo in derRegion aufzutreiben ist. Sie hat es ausDeutschland mitgebracht, jetzt reichen dieVorräte nur noch ein paar Tage.

Um das Geld für Operation und Reha-bilitation in Berlin aufzutreiben, hatte dieFrau an den Gouverneur in der 21 Kilo-meter von Beslan entfernten Provinz-hauptstadt Wladikawkas geschrieben. „Ichbin so dankbar, dass die Regierung ge-holfen hat“, sagt sie. Doch anschließendherrschte schnell wieder Gleichgültigkeit.Für die Spätfolgen wollte niemand auf-kommen, die Notleidenden wurden zuBittstellern degradiert.

Hilfe haben nicht nur die Kinder nötig,sondern auch die traumatisierten Erwach-senen. In Sichtweite des neuen, noch im-mer nutzlosen Krankenhauses liegt die„Stadt der Engel“, der schönste und ge-pflegteste Friedhof Russlands mit den 268Gräbern der Toten.

Friedhofsdirektor Kaspolat Ramonowhat schon früh am Morgen rote Rosen andas Grab seiner Tochter gebracht. Sie warin der zehnten Klasse, als sie starb. Heutewäre sie 20 geworden. „Mariana war meinEin und Alles“, sagt er.

Er spricht mit leiser Stimme, nur bei derFrage, wie lange er schon auf diesemFriedhof arbeite, wird er lauter, legt sichEmpörung in seine Stimme. Er sagt: „Icharbeite hier nicht, ich lebe hier.“

Matthias Schepp

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Verwundete Kussowa, Friedhof „Stadt der Engel“: Nachts verwandeln sich die Kuscheltiere in Terroristen mit Masken

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Ausland

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Mitten in einer dieser afrikanischenNächte geht das Licht aus, und füreinen Moment scheint es, als müss-

ten die Deutschen aufgeben. Sie habenRegengüsse überstanden wie am JüngstenTag, Reifenpannen, einen Autounfall. Jetztist der Strom ausgefallen, Generatoren gibtes nicht. Vögel schreien aus dem Urwald,schwere Monsunwolken schieben sich vorden Mond, und auf dem Marktplatz habensich die Bewohner des Dorfes Guanguinéversammelt, 2000 Menschen sitzen da undwarten, aber es ist finster.

Die Deutschen sind im Verzug, vor zweiStunden hätte ihre Show beginnen sollen.Die Dorfältesten sind ein-genickt auf billigen Plastik-stühlen, Kinder dösen, inbunte Tücher gewickelt, aufdem Rücken der Frauen. DieDeutschen brauchen Licht,sonst war es das hier. Sie fah-ren einen Mercedes-Bus vomGoethe-Institut in die Mittedes Platzes und richten dieScheinwerfer auf die War-tenden. So könnte es gehen,die Show beginnt.

Sie nennt sich „faiseurs depaix“, Friedensmacher, es isteine Art Dorftheater mitmobiler Radioshow.

Ein Geschichtenerzählertritt auf, es ist Fortuné, 48,bekannter Schauspieler ausder Hauptstadt Abidjan. Ererzählt von einem Anwalt,der Unschuldige aus Gefäng-nissen holt, einer Frau, die 52 Kriegswaisenaufzieht, einem Projekt, das ehemalige Re-bellen entwaffnet und ihnen Arbeit be-sorgt, einem Lehrer, der Konflikte schlich-tet zwischen Nomaden und Bauern.

Und weil es keinen Strom gibt und auchkeine Großbildleinwand, läuft TilmanWörtz, 36, Reporter aus Schwaben, mit sei-nem Laptop herum und zeigt Fotos zu denGeschichten. Ivorische Fotografen habensie gemacht, ivorische Journalisten habenReportagen dazu geschrieben, geschultwurden sie von Wörtz und seinen Kollegender Agentur Zeitenspiegel. Es geht um Ent-wicklungshilfe mit der Macht der traditio-nellen Erzählung. Um die Kraft der Wortein konfliktreichen Zeiten; ein Projekt alsParabel über das, was Journalismus bewir-ken kann.

Zwei Wochen sind zehn Ivorer und vierDeutsche von „Peace Counts“, einem

Netzwerk aus Journalisten, Fotografen undFriedensforschern, unterwegs. 2800 Kilo-meter weit, kreuz und quer durch die El-fenbeinküste, tragen sie Geschichten zuden Menschen in Dörfern ohne Strom undFernsehgeräte, wo kaum jemand lesen undschreiben kann. Geschichten von einfa-chen Menschen sollen erzählt werden, diesich einsetzen im zerrütteten Land, die Lö-sungen suchen für Armut, Kriegsfolgen,Stammeskonflikte und korrupte Politik.

Die Elfenbeinküste gilt heute als einesder instabilsten Länder der Welt, elendarm wegen schwankender Kakao- und Kaf-feepreise. Zerrüttet seit dem Bürgerkrieg,

der 2002 ausbrach und immer noch weiter-schwelt. Geteilt in feindliche Lager; regie-rungstreue Soldaten im Süden und Rebel-len im Norden. Kontrolliert von Blauhelm-Soldaten und der französischen Armee.

Im Herbst sollen hier Wahlen stattfin-den, seit Jahren werden sie verschoben.Wird sich die Lage verschlimmern, wird esAusschreitungen geben wie in Kenia oderSüdafrika?

Wie man Kriege macht, wissen die Men-schen von Guanguiné. Hier hat der Bür-gerkrieg besonders brutal gewütet, Frauenwurden vergewaltigt, Männer gefoltert undihre Leichen in den Fluss geworfen, so er-zählen es die Dorfältesten. Dann kam dieArmee in die Dörfer, versprach Fortschritt,dann kamen Rebellen, versprachen Zu-kunft, hielten keine ihrer Versprechungen,plünderten. Und jetzt sollen sie ausgerech-net diesen Schauspielern und Fremden

glauben, die wieder schöne Worte machenund nicht mal für Strom sorgen können?

Ein Wagnis, aber es funktioniert. Mitweiten Gesten steht Fortuné auf demMarktplatz, gibt den Wanderprediger undden Clown. Gibt den Menschen aus denReportagen eine Stimme, reißt die Augenauf, macht Witze. „Nehmt euch ein Vor-bild an diesen Ivorern“, ruft er. „Friedenist machbar, tut etwas, schlaft nicht ein!“Die Menschen hängen an seinen Lippen,lachen, staunen, diskutieren sogar. DenDeutschen ist Fortunés Art der Erzählungzu befehlend, zu moralisch. Das müsse hier so sein, sagt Fortuné, das werde so er-

wartet. „Seht doch“, sagt er,„jetzt wollen sie wissen, wieman Frieden macht.“

Dann tritt Madame Soroauf, 38, eine dralle Ivorerinmit roter Perücke, eine derAktivisten aus den Reporta-gen. Sie erklärt, warum jederim Dorf wählen gehen mussund wie man sich in dieWählerlisten eintragen lässt,und sie fragt, wie sie hier denKrieg erlebt haben, Wort-Therapie nennt sie das.

Normalerweise schlichtetsie Konflikte in den soge-nannten Parlements vonAbidjan, jenen Propaganda-versammlungen der politi-schen Lager. Parlements sindeine Art ivorische Hitlerju-gend, junge Männer lassensich einlullen von Hassparo-

len, wettern gegen Einwanderer aus Bur-kina Faso und Ghana und gegen Weiße,ehemalige französische Kolonialherren, diebis heute Bodenschätze raubten und eineWiedervereinigung verhinderten. Sorolehrt die Jugend, mit Argumenten zu strei-ten, nicht mit Fäusten. Ihr Vorbild ist dieWahrheitskommission in Südafrika.

Wenn die Deutschen wieder abgereistsind und wenn sie Sponsoren findet, willSoro mit der Show weiterziehen, durch wei-tere Dörfer, für die Zukunft ihres Landes.

Plötzlich fegt kühler Wind über denDorfplatz, und Monsunregen platzt ausden Wolken. Jemand bringt Schirme, dieDeutschen machen weiter. Die Ivorer blei-ben sitzen im Regen, hören still zu. Es wirddarauf ankommen, ob sie aufstehen wer-den und für Frieden kämpfen, für Fort-schritt und freie Wahlen, ob Worte zu Ta-ten werden. Fiona Ehlers

Die Macht der WorteGlobal Village: Wie Deutsche und Afrikaner in der Elfenbeinküste mit Reportagen vom Frieden erzählen

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Erzähler Fortuné: Mit Argumenten streiten, nicht mit Fäusten

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T A B A K

Keine Sicherheit fürKaltraucher

Auch das Schnupfen oder Kauen vonTabak birgt Krebsgefahr. Neben

den bereits bekannten Nitrosaminen,die zu bösartigen Erkrankungen vonMund und Bauchspeicheldrüse führenkönnen, wiesen US-Chemiker aus Min-neapolis jetzt im Schnupf- und Kau-tabak auch beunruhigend hohe Mengenvon krebserregenden polyzyklischenaromatischen Kohlenwasserstoffen(PAK) nach. Demnach enthält einePrise Schnupftabak oder eine PortionKautabak so viel PAK wie der Rauchvon fünf konventionellen Zigaretten.„Die Ergebnisse zeigen, dass rauch-freier Tabakgenuss riskant ist. Das Ge-fühl der Sicherheit, in dem sich mancheKaltraucher wiegen, ist trügerisch“, er-klärt Teamleiterin Irina Stepanov. Dieschädlichen Kohlenwasserstoffverbin-dungen entstehen normalerweise, wennHolz, Kohle oder andere organische

Materialien unvollständig verbrennen.In manche feuchten Schnupftabaksor-ten etwa dürften sie nach Ansicht derWissenschaftler bei der Herstellunggelangen: wenn die Tabakblätter demRauch von glimmendem Hartholzausgesetzt werden.

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Prisma

T I E R E

Orang-Utans werden heimatlosNoch leben etwa 50000 Orang-Utans

und tausend Elefanten auf der Tro-peninsel Borneo. Doch bis 2020 könntensie verschwunden sein. Denn bis dahinwird ihr Lebensraum, der Tieflandre-genwald, nach Berechnungen der Na-turschutzorganisation WWF vollständigvernichtet sein. Indonesien, Malaysiaund das Sultanat Brunei hätten auf derInsel zwischen 2003 und 2008 jährlicheine Fläche abgeholzt, die halb so großist wie Mecklenburg-Vorpommern.Größte Bedrohung für die Wälder istihre Umwandlung in Plantagen für Öl-palmen und schnellwachsende Baum-arten. In der Mitte des 19. Jahrhunderts

war Borneo zu 95 Prozent mit Wald be-deckt, inzwischen sind es nur noch rund50 Prozent. „Dabei ist der Tieflandre-genwald für die Artenvielfalt auf Bor-neo wichtig“, sagt ein WWF-Sprecher.„Nur hier finden zum Beispiel dieOrang-Utans ausreichend Früchte alsNahrung.“ Sollte der Regenwald bis2020 abgeholzt werden, sieht der WWFviele Tiere als extrem gefährdet. Auchneue Konflikte zwischen Menschen undTieren sagt er voraus. Auf der indone-sischen Nachbarinsel Sumatra häufensich bereits die Angriffe von Tigern, de-ren Lebensraum seit Jahren systema-tisch abgeholzt wird.

Orang-Utan-Mutter mit Jungem auf Borneo

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A N T H R O P O L O G I E

Chaos bei der Fleischverteilung

Weit früher als bisher gedacht gingen die Steinzeitmen-schen im östlichen Mittelmeerraum auf Großwildjagd.

Schon vor 250000 bis 400000 Jahren erlegten sie Damhirsche,Auerochsen und Pferde – und dies offenbar ebenso erfolgreichwie ihre Nachfahren in den späteren Phasen des Paläolithi-kums. Zu diesem Ergebnis kommt die US-Anthropologin MaryStiner von der University of Arizona, die Knochenreste in ei-ner nahe Tel Aviv entdeckten Höhle untersucht hat. „Schon

diese frühen Jäger standen an der Spitze der Nahrungsketteund ernährten sich keineswegs nur von Aas“, so die Forsche-rin. Die Anthropologin konnte nicht nur nachweisen, dass sichder Speiseplan im Lauf der Jahrtausende kaum veränderte.Sie stieß zugleich auch auf einen deutlichen Wandel der Tisch-sitten: Die Ritzspuren auf den Knochen sprechen dafür, dassdie Beute bei den späteren Bewohnern der Levante von Spe-zialisten zerlegt und dann vermutlich an die Gruppenmitglie-der verteilt wurde. Bei den frühen Urjägern dagegen verliefdie Fleischverteilung chaotisch – den Ritzspuren zufolge stürz-ten sich die Hungrigen massenhaft und ohne viel Federlesensauf das Wildbret.

Arbeiter bei der Tabakernte

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Wissenschaft · Technik

L U F T F A H R T

Rettung durch Sinkflug

Der Flugzeughersteller Airbus tüftelt an einem neuen Sicherheitssystem für dengeplanten Langstreckenflieger A350. Nach Informationen des Fachblatts „Flight

International“ könnte die Maschine mit einer Technik ausgestattet werden, die dasFlugzeug automatisch sinken lässt, wenn der Kabinendruck gefährlich abfällt und diePiloten bewusstlos werden. Der Sinkflug hält dann so lange an, bis die Luft an Bordwieder genügend Sauerstoff enthält. Hintergrund der Entwicklung: Beim Absturzeiner Boeing 737 der damaligen Airline Helios waren im Jahr 2005 nahe Athen 121 Menschen gestorben. Nachdem der Druck in der Kabine abgefallen war, wurdenPiloten und Passagiere durch den Sauerstoffmangel ohnmächtig, nach einem übereinstündigen Geisterflug zerschellte die Maschine an einem Berg. Ob die neue Tech-nik jedoch tatsächlich im A350 eingebaut wird, ist noch nicht entschieden. Zwar hat Airbus das Notfallsystem bereits dem internationalen Pilotenverband Ifalpa inGrundzügen vorgestellt. „Aber wir überlegen noch“, heißt es aus dem Konzern.

Geplanter Langstreckenjet Airbus A350 (Computergrafik)

DPA

K U N S T G E S C H I C H T E

Farbenpracht desAltertums

Wie eine ägyptische Statue oder einegriechische Vase ursprünglich be-

malt war, lässt sich jetzt besser denn jebestimmen. Mit Hilfe einer von Exper-ten des New Yorker Metropolitan Mu-seum of Art entwickelten Methode kön-nen organische Farbpigmente selbst ingeringsten Mengen aufgespürt werden.Es reichen dazu schon Proben von nur25 Mikrometer Durchmesser. Dass dieTechnik funktioniert, haben die Forscherum Marco Leona bereits an mehrerenBeispielen demonstriert: Auf einem 4000Jahre alten Lederköcher aus Ägyptenetwa entdeckten sie Krapplack – einenroten Farbstoff, von dem die Forscherbisher angenommen hatten, er sei erst700 Jahre später verwendet worden. Undauf einer französischen Marienstatue ausdem 12. Jahrhundert, der sogenanntenMorgan-Madonna, finden sich Spuren ei-nes Karminrots aus südasiatischen Schild-läusen, dessen Verbreitung in Europabisher auf das 15. Jahrhundert datiertwar – offenbar hatten Händler die Pig-mente schon bis zu drei Jahrhundertefrüher aus Indien nach Südeuropa trans-portiert. Das Potential der Technik istdamit nach Ansicht der Wissenschaftlernoch nicht ausgeschöpft: „Wenn man derSpur der organischen Farbstoffe folgt,kann man Handelsverbindungen rekon-struieren, Kunstfälschungen entlarvenund Kunstwerke zuordnen“, erklärt Mu-seumsexperte Leona.

S C H W E I N E G R I P P E

„Eine beharrlicheLegende“

Der Epidemiologe undMedizinhistoriker DavidMorens, 61, von den US-National Institutes ofHealth über Lehren ausfrüheren Grippe-Pandemien

SPIEGEL: Seuchenschützern gilt die Spa-nische Grippe von 1918/19 mit ihren 50Millionen Toten als mögliches Szenariodafür, wie die Schweinegrippe-Pande-mie in diesem Winter verlaufen könnte.Ist diese Analogie gerechtfertigt?Morens: Sicher nicht. Die SpanischeGrippe ist einzigartig in der Influenza-Geschichte der letzten 500 Jahre undeignet sich deshalb gar nicht gut fürAnalogien zur heutigen Situation.SPIEGEL: Die deutsche Bundesregierunghat gerade eine große Impfaktion fürden Herbst beschlossen. Begründetwird diese teure Aktion mit einer mög-lichen zweiten, heftigeren Welle derSeuche in den Herbst- und Wintermo-naten wie angeblich bei der SpanischenGrippe.Morens: Die derzeitige Schweinegrippeverläuft im Vergleich zu vielen anderen

Influenza-Pandemien bislang eher mild.Das muss nicht so bleiben, und fürImpfschutz zu sorgen ist bei einer sounberechenbaren Seuche wie der Grip-pe sicher nicht verkehrt. Die These vonder zweiten Welle ist aber fragwürdig.Jedenfalls haben wir bislang keine Be-weise dafür gefunden, dass der Erregerder Spanischen Grippe im Frühjahr inmilder Form aufgetreten wäre. Es siehteher danach aus, dass er im Sommerund Herbst 1918 ohne Vorwarnung mitvoller Wucht zugeschlagen hat.SPIEGEL: Ein Forscherteam Ihrer Organi-sation hat das damalige Virus in einerGewebeprobe des US-Militärs aufge-spürt – mit welchen Erkenntnissen?Morens: Das Virus selbst führte offen-sichtlich nicht zu den vielen Toten. Deneigentlichen Schaden richteten vielmehrBakterien an, die das vom Virus ge-schwächte Immunsystem überrannt ha-ben und von den Atemwegen in dieLunge wanderten. Dort zerstörten siemassiv das Lungengewebe.SPIEGEL: Lag das daran, dass die Ab-wehrkräfte nach den Strapazen desErsten Weltkriegs geschwächt waren?Morens: Auch das ist so eine Legende,die sich beharrlich hält. Der Krieg spieltindes nur eine Nebenrolle. Nehmen Siedie US-Soldaten: Die Grippe-Sterblich-keit in den Kasernen daheim wargrößer als die an der Front in Europa.

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Französische Morgan-Madonna

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Wäre es nicht großartig, man könn-te in einer Art Ersatzteillager desLebens stöbern wie im Ikea-Ka-

talog? Hier ein paar Gramm Gewebe fürdie kränkelnde Leber; dort eine Groß-packung insulinproduzierende Inselzellen;und, derzeit besonders günstig: Zellen, umdas gebrochene Rückgrat zu richten?

„Eine Injektion reicht – das ist die Machtdieser Therapie“, sagt Thomas Okarma,Chef der US-Biotech-Firma Geron. DasUnternehmen aus dem kalifornischenMenlo Park ist der Vision vom Großmarktfür Zellen so nah wie kein anderes. Meh-reren Querschnittgelähmten wollen Okar-ma und seine Kollegen bald eine Zellsud-Spritze aus dem Labor setzen, und zwarjust an jener Stelle, an der das Rücken-mark der Patienten zerbarst. Dann sollwieder zusammenwachsen, was einst ver-bunden war (siehe Grafik).

* Aufnahme eines Fluoreszenzmikroskops; die grünenZellen sind noch nicht vollständig ausgereift, die rotenbereits ausdifferenziert.

Der spektakuläre Geron-Versuch ist dieerste klinische Studie weltweit, bei der Pa-tienten mit Zellen behandelt werden sol-len, die aus menschlichen embryonalenStammzellen gezüchtet wurden. Die Auf-lagen für das Experiment sind beträcht-lich: 21000 Seiten umfasste der Antrag, denGeron im vergangenen Jahr bei der US-amerikanischen Food and Drug Admini-stration (FDA) einreichte. Und selbst dasreichte der Behörde noch nicht: Erst ver-gangene Woche wurde bekannt, dass dieFirma weitere Unterlagen an die Behördegeschickt hat, um letzte Fragen zur Dosie-rung der Zellen zu klären.

Prompt knickte der Aktienkurs von Ge-ron ein – ein Beleg für die Nervosität, mitder die Welt die heikle Zulassungsprozedurverfolgt. „Diese Studie weist den Weg fürden ganzen Forschungszweig“, sagt HansKeirstead von der University of Californiain Irvine. Der Kanadier hat die Grund-

lagen für die innovative Therapie gelegt.Und er weiß: Das Geron-Experiment istdie Nagelprobe für die ganze Zunft. Schei-tern die kalifornischen Labortüftler – etwawenn einer der Patienten durch die The-rapie erkrankt oder gar stirbt –, stürzendie Hoffnungen von Zigtausenden in sichzusammen. Ist der Ansatz hingegen er-folgreich, bricht ein neues Kapitel der Me-dizin an.

Seit Jahren schon kündigen die Forscheran, Krankheiten wie Alzheimer, Parkinsonoder Diabetes heilen zu wollen. Ist jetzt

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Embryonale Stammzellen bei der

Verwandlung in Neuronen*

UNIVERSITY OF CALIFORNIA, L.A.

M E D I Z I N

Großmarkt der ZellenAn Querschnittgelähmten sollen in den USA demnächst die ersten Versuche mit embryonalen

Stammzellen beginnen. Schon konkurrieren US-Biotech-Start-ups um die besten Verfahren zur Herstellung spezialisierter Zelllinien. Kann die Technik die hochgesteckten Erwartungen erfüllen?

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Zellbiologe Keirstead

Nagelprobe für eine ganze Zunft

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Wissenschaft

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Ersatz aus der Zellfabrik Prinzip der geplanten Stammzelltherapie bei Querschnittlähmung

Einem menschlichen Embryo werden Stammzellen entnommen.

Die Stammzellen werden im Labor stark vermehrt. Mit geeigneten Wachstums-faktoren und Hormonen entwickeln sich daraus in wenigen Wochen die Vorläuferzellen bestimmter Zellen des Zentralnervensystems.

Millionen dieser Vorläuferzellen sollen einem querschnittgelähmten Patienten direkt an der verletzten Stelle einmalig ins Rückenmark gespritzt werden. Als geeignet gelten Kandidaten, deren Unfall maximal zwei Wochen zurückliegt. Das Rückenmark darf nicht voll-ständig durchtrennt sein, kann aber seine Funktion komplett eingebüßt haben.

Die Forscher hoffen, dass sich die Zellen ins Rücken-mark des Patienten ein-fügen. Sie würden dann die überlebenden Nervenstränge schützen und zugleich Substan-zen ausschütten, die eine Hei-lung befördern. Ob sich die Lähmung auf diese Weiseganz beheben lässt, bleibtaber ungewiss.Vorläuferzellen bilden ein Gerüst zwischen den durchtrennten Enden.

REGENERATION DER NERVENBAHNEN

TEILWEISE DURCHTRENNTES RÜCKENMARK

der Zeitpunkt gekommen, an dem sie dieProphezeiungen endlich einlösen können?„Die Forschung hat einen kritischen Punkterreicht“, sagt Alan Trounson vom Cali-fornia Institute for Regenerative Medici-ne, dem größten Geldgeber für Stamm-zellstudien weltweit.

Der Optimismus der Wissenschaftlerspeist sich aus den fast magisch anmuten-den Eigenschaften der embryonalenStammzellen. Wie die Zauberwichtel ei-ner neuen Medizin können sie sich einer-seits schier unendlich vermehren. Ande-rerseits sind sie in der Lage, sich in alleTypen menschlicher Körperzellen zu ver-wandeln. Stammzellen sind der Ursprungder Blutzellen, die durch die Aorta pulsen,der Muskelzellen des Bizeps und der Ner-venzellen, die im Gehirn die Erinnerung anden ersten Kuss speichern.

Diese Wandlungsfähigkeit der zellulärenAlleskönner macht sie zum idealen Roh-stoff für ein umfassendes Ersatzteillagerdes Körpers. Fast überall im Organismus,so die Hoffnung, könnten sie zerstörtesGewebe reparieren.

„Die Forschung an Stammzellen könnteüber die nächsten 20 Jahre eine 500-Milli-arden-Dollar-Industrie hervorbringen“,prophezeit Bernard Siegel, Chef des Ge-netics Policy Institute in Florida. Schon ar-beitet der Pharmariese Pfizer mit dem bri-tischen Zellbiologen Pete Coffey daran,Blinden ihr Augenlicht wiederzugeben.Der Forscher vom University College Lon-don hat aus embryonalen StammzellenNetzhautzellen gezüchtet. Eine erste klini-sche Studie soll 2011 starten.

Deutsche Forscher blicken neidisch überden Atlantik, wo sich ein Stammzell-Start-up nach dem anderen gründet. Im Märzerst liberalisierte US-Präsident Barack

Obama den von seinem Amtsvorgängerstark eingeschränkten Forschungszweig.

Mehr Zellmaterial als je zuvor könnenUS-amerikanischen Forscher nun bald imLabor auf Heilung programmieren. Zugriffauf etwa 800 Stammzelllinien haben dieUS-Experten schon heute. Rund eine hal-be Million Embryonen liegen zwischen Bo-ston und San Diego auf Eis für die For-schung bereit.

La Jolla, Kalifornien: In den Laborräu-men des Burnham Institute for MedicalResearch träufelt ein knallgelber Roboterimmer neue Chemikalien in winzige Re-aktionsgefäße mit Stammzellsuppe. Gutgerührt werden die Mixturen dann vollau-tomatisch mikroskopiert, um die Zellent-wicklung zu überwachen.

Mehr als 200000 Moleküle täglich kannder Roboter durchtesten. Das Ziel des Mas-senscreening: Die Maschine soll jene Sub-stanzen identifizieren, die embryonaleStammzellen in hochspezialisierte Herz-muskelzellen verwandeln. Wer die Ge-heimnisse dieser Metamorphose ent-schlüsselt, kann Ersatzzellen für jedeskranke Herz herstellen.

Der Biologe Mark Mercola, Herr überdie famose Maschine, ist diesem Ziel be-reits recht nahe. Er will künftig Infarktpa-tienten heilen, indem er ihnen aus Stamm-zellen herangereifte Herzmuskelzellen di-rekt ins Herz spritzt. Bei Mäusen hat derTrick schon funktioniert. „Nun geht es dar-um, genug Zellen für eine klinische Studiezu produzieren“, sagt Mercola.

Denn Millionen hochspezialisierter Zel-len sind nötig, um zerstörtes Gewebe imKörper zu ersetzen. Rezepturen für dieMassenproduktion spezifisch zugeschnit-tene Zellen, von den Forschern Vorläufer-zellen genannt, sind daher Gold wert.

Geron etwa hat neben den speziellenZellen für die Behandlung Querschnitt-gelähmter, Kürzel GRNOPC1, auch jung-fräuliche Leberzellen, Knorpelzellen zurArthrose-Behandlung und Knochenzellengegen Osteoporose entwickelt.

Oder das Biotech-Start-up CaliforniaStem Cell (CSC): Bislang teilen sich nurzwölf Angestellte das kaum 200 Quadrat-meter große Büro der Firma in Irvine. Die Hälfte des Raums nimmt ein proviso-risch wirkendes Labor ein. Doch der Ein-druck täuscht: CSC wird vermutlich daszweite Unternehmen weltweit sein, des-sen Zellprodukte im Krankenhaus benutztwerden.

„Wir stellen bis zu zehn Milliarden mo-torische Nervenzellen pro Woche her“,schwärmt Chris Airriess von CSC. Die Zel-len steuern normalerweise die Muskulaturdes Körpers. Bei degenerativen Krankhei-ten des Nervensystems wie Kinderlähmungoder der tödlichen amyotrophischen Late-ralsklerose (ALS) versagen sie den Dienst.Einen Milliarden-Markt verspricht sichAirriess, sollten die Ersatzzellen aus demLabor tatsächlich Heilung bringen.

Anfang 2010 könnte die Genehmigungfür erste klinische Versuche erteilt werden.Zunächst will die Firma ihre Zell-ersatztherapie an Babys mit einer tödli-chen Form der sogenannten Spinalen Mus-kelatrophie testen. Bei dem Leiden dege-neriert das Rückenmark schon im Säug-lingsalter. Weil irgendwann die Atemmus-kulatur versagt, erlebt kaum ein erkrank-tes Kind den zweiten Geburtstag.

„First-in-man“ nennen die Firmen der-lei Versuche. Mit ihnen ist noch kein Geldzu verdienen; dafür ist die Zahl der Kran-ken viel zu gering. Andererseits jedoch istdas Risiko für die Unternehmen nicht sehr

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hoch, weil den Patienten bislang ohnehinnicht geholfen werden kann.

Denn dass bei den ersten Menschen-versuchen mit Präparaten aus embryona-len Stammzellen etwas schiefgehen kann,bestreiten selbst die Befürworter der Tech-nik nicht. Um jeden Preis will die Brancheeinen Fall wie jenen des 18-jährigen Ame-rikaners Jesse Gelsinger vermeiden. Derstarb 1999 bei dem Versuch, sein Leber-leiden mittels Gentherapie zu heilen. DerTodesfall diskreditierte den ganzen For-schungszweig.

Gentherapie funktioniert völlig andersals Stammzelltherapie. Und doch sehenmanche Forscher Parallelen. „Viele der so-zialen und ökonomischen Kräfte, die da-mals die Gentherapie in die Klinikenbrachten, existieren heute wieder“, sagtJames Wilson von der University of Penn-sylvania. „Ich bin besorgt, dass die Erwar-tungen an die embryonalen Stammzellenhöher sind, als es der Entwicklungsstanddes Forschungsfelds rechtfertigt.“

Vor allem in der Öffentlichkeit entsteheschnell ein falsches Bild, sagt Wilson. Sohatte beispielsweise die US-Frühstücks-show „Good Morning America“ seine Be-richterstattung über den Geron-Coup mitmanipulierten Bildern des paralysiertenSuperman-Mimen Christopher Reeve un-terlegt. Am Ende des Berichts stand der2004 gestorbene Reeve, zeit seines Lebensprominenter Lobbyist der Stammzellthe-rapie, aus dem Rollstuhl auf.

Wilsons Wort hat Gewicht. Denn er wares, der vor fast zehn Jahren die Gelsinger-Studie leitete. Und tatsächlich sind sichdie Forscher weitgehend einig, dassStammzellen ein Krebsrisiko bergen. Man-che Tumorzellen seien embryonalenStammzellen sogar verblüffend ähnlich,berichtet Catriona Jamieson von der Uni-versity of California in San Diego: „Sienutzen eine vergleichbare molekulare Ma-schinerie.“

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Wissenschaft

„Es gibt Risiken, die herkömmliche Me-dikamente nicht haben“, bestätigt auchIrvine-Forscher Keirstead. EmbryonaleStammzellen seien lebendes Material. Ein-mal im Körper, ließen sie sich nicht mehrentfernen. „Und ihre Vermehrungsfähig-keit ist phänomenal; es lassen sich leichtKubikmeter davon herstellen!“

Doch bei den nun geplanten Therapiengehe es gar nicht um die Verwendung derundifferenzierten Zellen, versichert Keir-stead. „Niemand, der noch alle fünf Sinnebeisammen hat, transplantiert einfach em-bryonale Stammzellen.“ Vielmehr sei dasZiel, möglichst weit ausdifferenzierte Zel-len in hoher Reinheit für die Patienten be-reitzustellen.

Zu über 99 Prozent bestehen beispiels-weise die Zellkulturen von California StemCell aus Motorneuronen. Die Experten vonGeron erreichen ähnlich gute Werte. „Wirhaben Nährlösungen mit fast genau jenenHormonen und Wachstumsfaktoren ent-wickelt, die auch in der Natur diesen Zell-typ hervorbringen“, sagt Keirstead. Derartgereifte Zellen hätten ihre Teilungsfähigkeitfast vollständig eingebüßt und könnten da-her keine Geschwulst mehr bilden. DieReinheit sorge zudem dafür, dass „mög-lichst wenig Ausreißer transplantiert wer-den, die später Probleme machen könnten“.

Tierversuche geben dem Forscher recht:An fast 2000 Ratten und Mäusen erprobtendie Geron-Experten die Therapie. Tumo-ren bildeten sich in keinem Fall. Selbst diebei Medizinern gefürchtete Abwehrreak-tion des Immunsystems blieb weitgehendaus, vermutlich eine Folge der jungfräuli-chen Eigenschaften der Stammzellen.

Stattdessen konnten einige Nager nachder Therapie tatsächlich wieder ihre zu-vor fast vollständig gelähmten Hinterbeinebewegen. Keirstead: „Die Reparatur wardauerhaft.“

Diesen Erfolg will Geron-Chef Okarmanun beim Menschen wiederholen. Könnendie Zellbiologen des Unternehmens dieletzten Bedenken der FDA ausräumen,wollen sie sich nach geeigneten Patientenumschauen: Die Verletzung des Rücken-marks muss in Brusthöhe liegen und frischsein, damit das Nervengewebe noch nichtvernarbt ist. Mit einer Spezialvorrichtungsollen die Zellen den Patienten direkt insRückenmark injiziert werden. Dann heißtes abwarten.

„Ich erwarte nicht, dass die Leute ausihrem Rollstuhl aufstehen“, sagt der Ka-nadier Keirstead. Zunächst sei ohnehin nureine Sicherheitsstudie mit einer geringenZahl injizierter Zellen geplant.

„Jede noch so kleine Verbesserung wäreein Triumph für die Patienten und auch fürdie Forschung“, so Keirstead. Bekommt dieStudie endgültig grünes Licht von der FDA,dann ist zumindest eines schon gewiss: Sel-ten wurde ein medizinisches Experimentmit mehr Hoffnung und Bangen von derWelt verfolgt. Philip Bethge

Arjen Hoekstra, 42, fällt nicht weiterauf in der Masse der 2400 Forscher,Aktivisten, Industrievertreter und

Politiker, die sich in den Stockholmer Mes-sehallen versammelt haben. Es schlendernhier, auf der Weltwasserwoche, weitausschillerndere Figuren umher als der hage-re Niederländer mit der Drahtgestellbrille:die asiatischen Delegierten in ihren leuch-tenden Saris etwa oder der indische Un-ternehmer Bindeshwar Pathak, der stetsvon Kameras und Mikrofonen verfolgtwird, weil er ein Klo für Slumbewohnererfunden und dafür den „Stockholm WaterPrize“ gewonnen hat.

Hoekstra hält sich dezent im Hinter-grund. Er muss nichts beweisen; über sei-ne Erfindung reden und streiten sie hierohnehin alle. Der Wasserbauingenieur vonder Universität Twente hat eine Formelerdacht, den „Water Footprint“. Eigentlichsind es nur ein paar Zahlen: Der „Wasser-

Gelähmter Schauspieler Reeve 1996

Superman im Rollstuhl

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Strom in diefalsche RichtungAustralischer Wein, Orangen aus

Israel: Die Supermärkte sind voller Produkte aus Regionen mit

Wassernot – ein Unsinn, den Umweltforscher beenden wollen.

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Wassers, das weltweit verbraucht wird,versickert in der Landwirtschaft.

So trägt die Europäische Union etwa 20Prozent zum Austrocknen des Aralseesbei, indem sie Baumwolle aus jener Re-gion importiert. Und wenn die DeutschenSchinken aus Spanien oder Orangen ausIsrael kaufen, verschlimmern sie die dorti-ge Wasserknappheit. Überhaupt gehörtDeutschland, ein Land mit reichlichenWasserressourcen, zu den großen Impor-teuren virtuellen Wassers auf der Welt.

Schon heute leben 1,4 Milliarden Men-schen in Gebieten mit Wassermangel.Klimawandel, das Bevölkerungswachstumund der virtuelle Wasserstrom verschärfendieses Problem noch: „Wir stehen vor derparadoxen Situation, dass wir bis 2050 mitdeutlich weniger Wasser zusätzliche 2,5Milliarden Menschen ernähren müssen“,sagt Colin Chartres, Generaldirektor desInternational Water Management Institute.

Angesichts dieser Not debattieren dieDelegierten in Stockholm, wie realistischHoekstras radikale Vorschläge sind: „Introckenen Regionen“, so fordert der Nie-derländer, „sollte es keine Landwirtschaftmehr geben.“ Die Menschen müssten denvirtuellen Wasserhandel dazu nutzen, den

103

Computer

Verbraucht, verdunstet,

verschmutztBenötigtes Wasser bei der Gewinnung oder Herstellung von Lebensmitteln und Konsumgütern

1 TasseKaffee

140 l

184 l

1000 l

2400 l

5000 l

20000 l

1 kg

Tomaten

1 Liter

Milch

1 Ham-

burger

1 kg

Käse

Computer

OK

APIA

Weizenfelder in Saudi-Arabien

Törichter Umgang mit kostbaren Ressourcengestörten Wasserhaushalt der Erde auszu-gleichen. Ägypten etwa solle statt Wasserfür seine Wüstenfelder lieber gleich Boh-nen oder Hirse aus Äthiopien importieren.Und Australien, dessen Inland zu dentrockensten Zonen der Welt gehört, müs-se am besten ganz aufhören, virtuellesWasser in Form von Fleisch, Obst undWein zu exportieren.

Ähnliches gelte für den gesamten Na-hen Osten, den Norden Chinas, den Nord-westen Indiens, den Süden Kaliforniensund all die anderen Trockengebiete derErde, sagt Hoekstra – sie alle könnten ihreWassernot lindern, indem sie ihre Felderverdörren lassen und stattdessen mehr vir-tuelles Wasser importieren. „Wie die Öl-staaten, denen das Öl ausgeht, müssenauch die wasserarmen Regionen eine neueZukunftsvision entwickeln.“

Doch was könnte Staaten bewegen,ganz oder teilweise auf Landwirtschaft zuverzichten? Der britische UmweltforscherTony Allan, 72, der in den neunziger Jah-ren den Begriff „virtuelles Wasser“ präg-te, teilt Hoekstras Ansicht: „Singapur zumBeispiel ist ein interessantes Modell“, sagter. „Die haben weder Wasserquellen nochLandwirtschaft im Land. 90 Prozent ihresWasserbedarfs decken sie über den Im-port von virtuellem Wasser. Der Restkommt aus Entsalzungs- und Recycling-anlagen.“

Zwar weiß auch Allan, dass Singapurnicht als Modell für die Welt taugt. KeinLand der Welt, so räumt er ein, werdewohl in absehbarer Zeit freiwillig seineLandwirtschaft abschaffen. „Aber immer-hin ist es heute kein Tabu mehr, darüber zudiskutieren.“

Bei den Workshops in Stockholm sindsich die Experten schnell einig darüber,dass angemessene Preise für Wasser denHandel in die richtige Richtung steuernwürden. Doch die werden verfälscht, weilviele Regierungen das Wasser für ihre Bau-ern subventionieren; täten sie das nicht,würden sich Ackerbau und Viehzucht invielen Trockenregionen nicht mehr lohnen.

Staaten wie China und Saudi-Arabienkaufen unterdessen statt Nahrungsmittelnlieber gleich große fruchtbare Flächen inAfrika, Asien und Lateinamerika – und si-chern sich so den Zugriff auf die Wasser-vorkommen. Dabei konkurrieren sie mitLebensmittelgiganten wie Nestlé undCoca-Cola, die seit Jahren ebenfalls Nut-zungsrechte für Wasserreservoirs auf derganzen Welt erwerben.

Die Debatte um den Wasser-Fußabdruckist diesen Konzernen durchaus willkom-men. Denn sie bietet ihnen Gelegenheit,etwas fürs Image zu tun. Einige Unter-nehmen haben ganze Delegationen nachStockholm entsandt, die auf verschiede-nen Workshops stets dasselbe beteuern:dass ihr Arbeitgeber sehr darum bemühtsei, kleinere Wasser-Fußstapfen zu hinter-lassen. Samiha Shafy

Fußabdruck“ eines beliebigen Produktsentspricht der Menge an Wasser, die ver-braucht oder verschmutzt wird, um es her-zustellen.

Der Wasser-Fußabdruck eines Men-schen errechnet sich aus seinem direktenWasserverbrauch und dem „virtuellenWasser“, das für sämtliche Güter aufge-wendet wurde, die er konsumiert. Im glo-balen Durchschnitt verbraucht ein Menschdemnach 1243 Kubikmeter Wasser proJahr, in den USA 2483, in Deutschland1545, in China 702.

Hoekstras Wasser-Fußabdrücke habenweltweit für Schlagzeilen gesorgt – 140 Li-ter Wasser für eine Tasse Kaffee! 2400 Li-ter für einen Hamburger! 10000 Liter füreine Jeans! –, und nun, in den Paneldis-kussionen und Workshops, geht es darum,was aus seinen Zahlen folgt. Zuerst er-kannte der WWF das Konzept an; dannfolgten weitere Umweltschutzverbände, In-stitute, die Uno und die Weltbank – undschließlich auch Großkonzerne wie Nestlé,Unilever, Coca-Cola und Pepsi.

Sie alle scheinen einig, dass HoekstrasZahlen Zündstoff bergen; denn diese of-fenbaren, wie töricht vielerorts mit derkostbarsten aller Ressourcen umgegangenwird. „Durch den globalen Handel mitwasserintensiven Produkten fließen ge-waltige Ströme virtuellen Wassers um dieWelt“, sagt Hoekstra, „und ein großer Teilströmt in die falsche Richtung, aus wasser-armen Regionen in wasserreiche.“ Vor al-lem geht es um Lebensmittel, Biosprit undBaumwolle; denn 70 bis 80 Prozent des

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Digitale DealsAnteil des algorithmischenHandels an der FrankfurterBörse, in Prozent

15

0

20

25

34

3943

46

2002 2009

bisEndeJuli

200820072006200520042003

Quelle: Deutsche Börse

Normalerweise jagt er Quarks undQuanten. Michael Feindt ist alsPhysiker an der Universität Karls-

ruhe unter anderem mit Berechnungen fürden neuen Teilchenbeschleuniger am Cernbefasst. Doch derzeit erkundet er ein an-deres Geheimnis. Dessen Name: Alpha.

So nennen Börsianer den Profit, den siemit dem geschickten Kauf und Verkauf vonAktien machen. „Mir ist es gleich, ob ichMärkte oder Atomkerne berechne“, sagtFeindt. „Beides sind dynamische Systeme,die ich statistisch unter die Lupe nehme.“

Seine Software wird von Fondsmana-gern ebenso genutzt wie vom VersandhausOtto, das wissen will, wie viele Stiefel vor-aussichtlich im Herbst gekauft werden.2002 hat Feindt gemeinsam mit ehemaligenStudenten die Firma Physics InformationTechnologies ausgegründet.

Feindt ist nicht allein. Ein Heer von Phy-sikern und Mathematikern erobert derzeitdie Börsen. Sie berechnen, was die Fi-nanzwelt im Innersten zusammenhält. Undkrempeln sie dabei um.

Rund die Hälfte des Börsenhandels wirdin vielen Ländern bereits vollautomatischvon Computern abgewickelt, Tendenzstark steigend (siehe Infografik).

Früher gestikulierten Trader auf demParkett, um ihre Orders zu platzieren. Heu-te drängen sich Serverfarmen im unmittel-baren Umkreis der Börsen – je näher siesind, desto geringer die Zeitverzögerung.

„Algotrading“ wird das im Jargon genannt,weil Algorithmen die Arbeit erledigen.Wenn Banken wie Goldman Sachs trotzKrise Milliardengewinne verbuchen, ver-danken sie das oft auch Computern.

„Die Händler an den Weltfinanzplätzenliefern sich ein Wettrüsten“, heißt es in ei-ner Broschüre des ComputerherstellersIBM, der die Kontrahenten beliefert: „Beieinem Schusswechsel reicht es nicht aus,gut zu zielen“, so IBM, man müsse auchschnell ziehen können: „Der einsameSchütze auf dem Parkett“ werde ersetzt„durch Roboter mit Maschinengewehren“.

Doch was, wenn ein „Algo“ wegen einesProgrammierfehlers Amok läuft? Um der-lei Fragen wird derzeit heftig gestritten.

„Selbst wenn man fehlerhafte Ordersentdecken sollte, könnten innerhalb derzwei Minuten, die man für die Korrekturbraucht, schon 120000 Aufträge ausgeführtsein“, warnt die Beratungsfirma LimeBrokerage in einem Brief an die US-Aufsichtsbehörde SEC. Der ungebremsteHochgeschwindigkeitshandel könne zu„Domino-Bankrotten“ und „katastropha-lem wirtschaftlichem Schaden“ führen.Auch der Nobelpreisträger Paul Krugmanklagt, das High Frequency Trading mani-puliere die Preise. Es wirke „wie eine Ab-gabe nur für diejenigen Investoren, die kei-nen Zugang zu Superrechnern haben“.

Andere hingegen hoffen gerade auf Al-gos – sie böten Schutz vor den Gefahren

des allzu Menschlichen am Markt. Wennzum Beispiel ein Händler 100000 Aktienauf einen Schlag verkauft, könnte dies Pa-nikverkäufe auslösen. Computersystemedagegen stückeln das Angebot in winzigeTranchen als sogenannten Eisberg-Auftrag:Die wahre Größe des Angebots bleibtunsichtbar, der Preis hoffentlich stabil. Al-gos können so menschliche Passionendämpfen.

Die Stärke der Maschinen liegt geradein dem, was sie nicht bieten: Gier, Angstund dumme Patzer, die sogenannten FatFinger Errors, die durch Vertippen passie-ren: 2004 orderte ein amerikanischerHändler Aktien für elf Milliarden statt elfMillionen Dollar; und 2005 verkaufte einjapanischer Händler 610000 Aktien für ei-nen Yen statt andersherum. Der Schadenbelief sich auf über 200 Millionen Euro.Der Chef der Tokioter Börse musstezurücktreten.

Der Siegeszug der Rechner wird beglei-tet von einem Kampf der Kulturen: Wirt-schaftswissenschaftler gegen Informatikerund Physiker. Die einen versuchen Vor-hersagen aufgrund ökonomischer Theo-rien, die anderen aufgrund abstrakter Zah-lenklauberei.

„Wir bevorzugen Mitarbeiter, die keinevorgefassten Meinungen haben, wie Märk-te funktionieren“, sagt Tim Wong, For-schungschef bei der britischen ManGroup, mit über 40 Milliarden Dollar Ka-pital der größte börsennotierte Hedge-fonds-Betreiber der Welt. „Gerade Leute,die einen Uni-Abschluss in Finanzwesenhaben, müssen oft erst einmal wieder eineMenge verlernen.“ Wong selbst ist Inge-nieur.

Das Tempo wächst, immer schnellerwerden die Börsenregeln justiert. In denUSA etwa sorgten neuartige „Flash-Or-ders“ für Unmut, in deren Folge blitzarti-ge Lockaufträge abgeschickt werden, diedie Zahlungsbereitschaft der Kunden aus-spionieren. Nach erbitterten Debattenschafft die Nasdaq-Börse die Blitzaufträgezum 1. September wieder ab. Die Regulie-rer müssen immer schneller handeln inZeiten der Millisekunden-Deals.

„Nach meinen Analysenträgt das Algotrading eher dazubei, die Börsen effizienter zumachen“, sagt BörsenphysikerFeindt. „Allerdings wird es da-durch auch schwieriger, Geld zuverdienen.“ Ihn selbst jedochkümmert das nicht weiter.

Er wartet sehnsüchtig darauf,dass der defekte Teilchenbe-schleuniger in Genf repariertist. Dann jagt er statt des Al-pha wieder verstärkt seine al-ten Bekannten: Elementarteil-chen. Hilmar Schmundt

104 d e r s p i e g e l 3 5 / 2 0 0 9

PETER

FO

LEY /

DPA

C O M P U T E R

Alpha-Physikeran der Börse

Rechner übernehmen die Arbeitder Aktienhändler. Im Milli-

sekundentakt feuern sie Kauf-aufträge an die Börsen. Kann das

die Märkte destabilisieren?

Aktienhändler an der New Yorker Börse

Angst vor „Domino-Bankrotten“

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SPIEGEL: Frau Radebold, wann hatten Sieerstmals das Gefühl, Ihr Mann werde alt?Hildegard Radebold: Das habe ich noch garnicht. Doch! Einmal fiel er hier in unseremHaus in Schweden von der Leiter, da warer 67. Er war bewusstlos und lag dann mitstarken Schmerzen im Bett. Da kam dieserBlitzgedanke, aber er verschwand gleichwieder. Weil mein Mann noch so vollerIdeen ist. Ich sehe in ihm immer noch denjungen Hartmut Radebold. Hartmut Radebold: Ja. Ich hatte die Dach-rinne gereinigt und offenbar einen Schwä-cheanfall bekommen …Hildegard Radebold: … und ich konnte dieLeiter nicht halten. Da habe ich mich ge-

Das Gespräch führten die Redakteurinnen Beate Lakottaund Katja Thimm.

fragt, wie lange wir das wohl noch ge-nießen können, hier in dieser Abgeschie-denheit.SPIEGEL: Nun zu Ihnen, Herr Radebold:Wann hatten Sie zum ersten Mal das Ge-fühl, Ihre Frau werde alt?Hartmut Radebold: Hmm…Hildegard Radebold: Schön, dass du so lan-ge nachdenkst.Hartmut Radebold: Du hast sehr früh weißeHaare bekommen … Hildegard Radebold: … ja, mit 40 schon …Hartmut Radebold: … deswegen war daskein Alterssymptom. Und außerdem kriegtdeine Haut keine Falten. Also eigentlichkann ich diese Frage nicht beantworten. SPIEGEL: Vielleicht ist es einfacher, Sie spre-chen über sich: Wann hatten Sie selbst dasGefühl, alt zu werden?

Hartmut Radebold: Älter! Ich werde ja nichtalt. Ich werde älter. SPIEGEL: Worin liegt der Unterschied?Hartmut Radebold: Älter werden ist ein Pro-zess, alt sein ein Endzustand. Der einzigeMoment, in dem ich mich wirklich alt fühl-te, war die Beerdigung meiner Schwieger-mutter. Als ich hinter ihrer Urne herging,dachte ich: Jetzt sind wir die Nächsten.SPIEGEL: Und in welchen Momenten fühlenSie sich älter?Hartmut Radebold: Wenn ich müde bin. Ichbrauche für vieles länger. Ich laufe etwasgebückter. Manchmal habe ich Herzbe-schwerden beim Treppensteigen. Und ichbrauche jetzt eine Mütze gegen Sonnen-brand. Ach ja, und meine Hörgeräte! Diewaren mir erst sehr unangenehm. Aber diemeisten Leute sehen sie gar nicht.

Wissenschaft

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S P I E G E L - G E S P R Ä C H

„Alt sind nur die anderen“Der Alternsforscher Hartmut Radebold und seine Frau Hildegard über das Älterwerden

als Lernprozess, das Leben mit der Angst vor dem Verfall und Sex mit siebzig

Ehepaar Radebold: „Älter werden ist ein Prozess, alt sein ein Endzustand“

ILJA

HEN

DEL

Hartmut Radebold, 74, istArzt für Nervenheilkunde undPsychoanalytiker in Kassel. Er giltals Nestor der PsychotherapieÄlterer in Deutschland. Lange Zeitbeschäftigte sich der emeritierteProfessor für Klinische Psychologiemit den Traumata ehemaligerKriegskinder.

Hildegard Radebold, 67, leite-te nach Studium und längerer Kin-derpause eine Stadtbibliothek. Diebeiden sind seit 1964 verheiratetund haben zwei Kinder. „Älterwer-den will gelernt sein“ ist ihr erstesgemeinsames Buch.

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SPIEGEL: Warum sollte sie niemand sehen? Hartmut Radebold: Sie passten nicht zu mei-nem Selbstbild. Für mich gehören sie zumBild vom älterwerdenden Mann. SPIEGEL: Sie werden demnächst 75.Hartmut Radebold: Ich beuge mich ja auchder Vernunft. Hildegard Radebold: Und trotzdem hörst dudie hohen Frequenzen nicht, die Schwal-ben, die Mauersegler. Und ich höre die tie-fen nicht. Neulich sagte er: „Das Radiobrummt.“ Und ich: „Nein, dieKaffeemaschine.“ Wir habengestritten, bis ich akzeptierenmusste, dass er vielleicht rechthat. Er muss ja auch akzep-tieren, wenn ich sage: „Dazwitschert eine Blaumeise.“SPIEGEL: Der Fairness halberauch an Sie, Frau Radebold,die Frage: Ab wann dachtenSie, Sie würden alt?Hildegard Radebold: Beson-ders seit diesem Frühjahr. Ichspiele gern Querflöte. Nunhabe ich Probleme mit demAtmen und mit den Fingern:Asthma und Arthrose. ZumGlück kann ich mich bewe-gen, ohne dass es so auffällt. SPIEGEL: Wäre das schlimm?Hildegard Radebold: Wahr-scheinlich würde ich michdann noch älter fühlen. Frau-en wird ihr Alter ja schon abdem Klimakterium vor Au-gen geführt. Da werden wirzum Neutrum für die Män-ner. Keiner pfeift mehr hintereinem her. Das hat mich lan-ge beschäftigt, bis ich einesTages dachte: Och, eigentlichist das auch ganz schön. SPIEGEL: Ihr Buch heißt: „Äl-terwerden will gelernt sein“*.Geht das nicht von selbst?Hartmut Radebold: Doch, abernicht immer auf befriedigen-de Weise. Älter werden be-deutet, nach Kompromissenzu suchen – ein mühseliger Lernprozess.Aber wir müssen ihn vollziehen, wenn wirbrauchbar über unsere verbleibende Zeitkommen wollen: Ein 60-Jähriger hat heu-te noch ein Drittel seines Erwachsenen-lebens vor sich, und diese Spanne wird im-mer größer. Ich habe als Wissenschaftlerüber das Altern geforscht, seit ich 30 bin.Nun frage ich mich angesichts meines ei-genen Alters: Stimmen meine Theorien? Hildegard Radebold: Da bin ich gespannt!Hartmut Radebold: Was ich nicht genügendgewürdigt habe, ist wohl die Bedeutungdes Körpers …Hildegard Radebold: …das kriegt er von mirimmer aufs Butterbrot! Weißt du noch, als

* Hartmut, Hildegard Radebold: „Älterwerden will gelerntsein“. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart; 288 Seiten; 19,90 Euro.

du Mitte vierzig warst und wir von einemBesuch meiner Eltern nach Hause fuhren?Damals hast du gesagt: Die müssten dochmehr Sport treiben und sich um ihren Kör-per kümmern. Heute sagst du selbst: „Ichmache so viel Gartenarbeit, das reicht.“Hartmut Radebold: Das reicht natürlich nicht.Ein Kollege von mir bezeichnet den Körperals einen der Organisatoren der Entwick-lung: Der erste sind die Triebe, der zweitedie Beziehungen außerhalb der Kindheits-

familie, der dritte ist der Körper. Aber dassich auf meinen Körper Rücksicht nehmenmuss, habe ich erst allmählich gelernt – ob-wohl ich genau das in den Berliner Senio-renbriefen schon vor über 30 Jahren be-schrieben habe. Diese Mitteilungen wurdendrei Jahre lang jeden Monat vom Senat analle 60- bis 70-jährigen Berliner verschickt. SPIEGEL: Was stand da drin?Hartmut Radebold: Wie sie sich ernäh-ren sollten, dass sie Sport treiben sollten,aber auch Tipps zu Ermäßigungen in derU-Bahn. Der einzige Brief, den der Senatnicht verschickte, war der über Sexualität. SPIEGEL: War der so brisant?Hartmut Radebold: Der war ganz harmlos.Aber ich selbst bin ja noch mit dem Bie-nenbuch aufgeklärt worden und durch dierussischen Vergewaltigungen. Entschuldi-

gen Sie, aber das ist die Realität. Alles, wasich geschrieben hatte, war, dass Ältere Se-xualität haben, dass Frauen weiterhin or-gasmusfähig sind und dass es bei MännernPotenzstörungen gibt. Heute ist das alles injeder Stadtbücherei nachzulesen.Hildegard Radebold: Dazu fällt mir eine Le-serin aus meiner Bücherei ein. Sie war weitüber siebzig und lieh sich außer Liebesro-manen auch handfeste Sachen aus. EinesMittags, als keiner in der Nähe war, kam sie

zu mir an die Information:„Sagen Sie, Frau Radebold,finden Sie es sehr absonder-lich, dass ich solche Bücherlese?“ Ich antwortete: „Wiesosollten Sie denn andere Ge-fühle haben als eine 20-Jähri-ge?“ Da hat sie mich umarmt.Hartmut Radebold: Unter Psy-choanalytikern war 1970 nochFreuds These verbreitet, dassmit dem Klimakterium die Li-bido der Frau nachlässt. Dasheißt: Eine 70-jährige Fraumit sexuellen Bedürfnissengalt als hochgradig gestört.Bei meinen Patientinnen zwi-schen 60 und 80 war das im-mer wieder eine zentrale Fra-ge: Darf man solche Bedürf-nisse haben? Seit kurzemwidmet sich Pro familia derSexualberatung Älterer. ImAltenheim ist es ein Rie-senthema, wer mit wem wasmacht und hat.Hildegard Radebold: Und wie!Eifersuchtsdramen sind das. Hartmut Radebold: In Wahr-heit ist die Aversion der Jün-geren gegen dieses Thema oftdas größte Problem. Einemverwitweten Vater gestehtman vielleicht noch zu, dasser wieder eine Frau sucht,auch für seine sexuellen Be-dürfnisse. Aber wenn eineMutter als Witwe eine neueBeziehung eingeht, wird der

Psychiater geholt, ob sie dement ist. Undder Pfarrer, der ihr zureden soll. Insbeson-dere die Söhne gehen auf die Barrikaden. Hildegard Radebold: Als Jugendliche habeich meinen Bruder gefragt: „Glaubst du,dass bei unseren Eltern noch was läuft?“SPIEGEL: Was würden denn Ihre Kinderheute von Ihnen denken?Hartmut Radebold: Och, die denken, dassihre Eltern eine befriedigende sexuelle Be-ziehung haben. Hildegard Radebold: Unsere Tochter hat dassogar ausgesprochen. Hartmut Radebold: Hat sie das gesagt?Hildegard Radebold: Ja, als sie sich mit ei-nem Freund über uns unterhalten hat.Hartmut Radebold: Ach!Hildegard Radebold: Manchmal denke ich,wir sind ein aussterbendes Modell. Wir

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Demenzpatientinnen: „In der Altersmedizin sind wir Schwellenland“

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Seniorenruderer: „Der Körper ist ein Organisator der Entwicklung“

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sind fast 50 Jahre zusammen, das gibt esdoch kaum noch. Hartmut Radebold: Viele Männer meinerGeneration haben kein Modell für einePartnerschaft gelernt. Wie ich sind sie nachdem Krieg unter lauter Frauen groß ge-worden. Meine Frau und ich haben ja auchimmer das Gefühl: Wir probieren. Und ge-rade beim Thema Sexualität ist es wichtig,sich auseinanderzusetzen. Sonst ergeht eseinem wie dem alten Paar im Loriot-Film„Pappa ante Portas“, wo auf einem Festder Bürgermeister zu der Frau sagt: „Dubist das Schärfste, was mir jemals zwischenHeringsdorf und Borkum begegnet ist.“Der Ehemann reagiert empört: „Sie habenda etwas Unflätiges gesagt.“ Aber sie: „Erwollte mir eine Freude machen.“ Das istdas Ende dieser Ehe. Hildegard Radebold: Eine Beziehung ist vielArbeit, lebenslang. Früher hatte ich Angstvor Konflikten. Aber mit 45, 50 merkte ich:Wenn ich das jetzt schweigend hinnehme,geht es nicht auf Dauer. Ich musste meinLeben neu sortieren. Meine Analytikerinfragte immer: „Was möchten Sie dennselbst, Frau Radebold?“ Und ich dachte:Was ist das denn für eine Frage? Das istdoch Egoismus! So wurde ich erzogen. Hartmut Radebold: Das ist typisch für Frau-en dieser Generation. Wenn meine Patien-tinnen depressiv dasaßen, waren sie ohneInhalt. Ihre Aufgaben waren getan: Kindergroßgezogen, Mann zu Ende gepflegt. Undwenn ich sie fragte, was sie denn wolltenfür ihre weiteren Lebensjahre, dann schau-ten die mich fassungslos an. SPIEGEL: Kam in der Analyse Ihre Vorstel-lung vom Altern vor, Frau Radebold?Hildegard Radebold: Nein. Da war ich ja erstAnfang 50. Nun werde ich bald 70. Daskann ich mir noch gar nicht vorstellen. SPIEGEL: Obwohl sich Ihr Mann seit Jahr-zehnten mit dem Thema beschäftigt?Hildegard Radebold: Aber das habe ich nieauf uns übertragen. Alt sind ja immer nurdie anderen. Hartmut Radebold: Schaut man die geballteLadung aller Statistiken an, dann ist Al-

tern sehr wohl ein Prozess, der Angst her-vorruft und Verzweiflung. Ich verstehe in-zwischen all die Leute, die das weit weg-schieben und nicht wahrnehmen wollen. SPIEGEL: Viele sehen das Leben als einenBogen vom Kind zum Greisenalter, mitdem Höhepunkt in der Lebensmitte.Hartmut Radebold: Ein gefährliches Modell!Es bedeutet, dass man die letzten 40 Le-bensjahre mit der Vorstellung leben muss,es gehe nur noch bergab. Katastrophal. SPIEGEL: Der Hirnforscher Gerhard Rotherklärt das Ich zur Einbahnstraße. Akade-misches Wissen könne man lebenslang er-weitern, aber Verhaltensmuster und Emo-

tionen seien ab 65 eigentlich gar nichtmehr zu verändern. Er begründet das mitder biologischen Entwicklung des Gehirns. Hartmut Radebold: Ich bin als Analytikeranderer Meinung. Ich hatte mehrere äl-tere Patienten, die nach einer Therapie ihr Leben veränderten. Einmal kam eine80-Jährige wegen Panikzuständen, eineBilderbuch-Oma mit Löckchen und großerHandtasche. Sie war ein Kriegskind ausdem Ersten Weltkrieg. Und nun überrolltesie etwas Uraltes, das 76 Jahre lang ge-schlafen hatte: die Angst vor erneuter Ab-hängigkeit. Denn ihr Sohn hatte sie in einAltenheim gesteckt. Nach einem halbenJahr Therapie zog sie dort aus, bestimmtedie Regeln für den Umgang mit ihremSohn selbst und organisierte sich Hilfe.SPIEGEL: Hilft Altersweisheit, die Demüti-gungen des Alters hinzunehmen?Hartmut Radebold: Der Entwicklungspsy-chologe Paul Baltes fand in seinen be-kannten Untersuchungen nur bei 3 von 100über 60-Jährigen Eigenschaften, die manals weise bezeichnen könnte. SPIEGEL: Woher kommt dann dieses ver-klärte Altersbild?Hildegard Radebold: Das Erfahrungswissenwar früher wichtiger, egal ob in Handwerk,

Medizin oder Wissenschaft. Außerdem gabes wenige Ältere, pro Dorf vielleicht zwei.Damit hatten sie einen Einzelstellungssta-tus. Und die Deutungsmacht.Hartmut Radebold: Dagegen werden Ältereheute als Problemfälle dargestellt. Dochich denke, dass die Gesellschaft den Älte-ren etwas schuldet: Wir brauchen mehrForschung und Ausbildung zu Altersthe-men. Da ist Deutschland ein Schwellen-land. Wir brauchen Ärzte, die etwas vonAlterskrankheiten verstehen und die wis-sen, wie sich die Funktionen von Körperund Geist aufrechterhalten und trainierenlassen. Aber es gibt hier nicht einmal eineFacharztausbildung zum Geriater. Medi-zinstudenten hören nur eine Querschnitts-vorlesung über das Alter, das war’s. In derSchweiz gibt es über 80 spezialisierte Al-terspsychiater. Wir müssten entsprechend800 haben. Es gibt aber keinen einzigen.SPIEGEL: Warum brauchen alte Menschenandere Psychiater als junge?Hartmut Radebold: Weil sie andere Proble-me haben. Ein Psychiater für Ältere mussviel über Demenzprozesse wissen undüber die große Gruppe der Altersdepres-sion. Wir schätzen, dass in Deutschland 20Prozent der über 60-Jährigen daran leiden. SPIEGEL: Warum werden so viele alte Men-schen depressiv?Hartmut Radebold: Die identitätsstiftende Be-rufstätigkeit bricht weg. Gerade die Männerverspüren oft eine Leere, und dann beschäf-tigen sie sich mit ihrer Herkunftsfamilie, mit

ihrer Vergangenheit:Unter den über 60-Jäh-rigen leiden 7,5 Prozentunter einer Posttrau-matischen Belastungs-

störung aus dem Krieg. Sie werden durchständig wiederkehrende innere Bilder ge-quält. Sie leiden an Schlafstörungen, sie fin-den, es misslinge ihnen alles. SPIEGEL: Wie erklären Sie sich die Interes-selosigkeit gegenüber diesen Problemen?Was Sie beschreiben, klingt nach Alters-diskriminierung in der Medizin.Hartmut Radebold: Man muss sich die zeit-geschichtlichen Bezüge ansehen: In denletzten zwei Jahrzehnten trafen die 68erdie Entscheidungen. Diese Täterkinder ha-ben ihre Väter und Großeltern, die aktivam „Dritten Reich“ beteiligt waren, poli-tisch zur Verantwortung gezogen …SPIEGEL: … und sie bestraft, indem sie sieim Alter abschoben?Hartmut Radebold: Unbewusst ja. Sie habensich für die Älteren nicht mehr interessiert,zumal die durch die adenauerschen Ren-tenanpassungen finanziell gut versorgt wa-ren. Die Jüngeren waren dankbar für dieAltenheime am Rand der Städte. So warendie Alten aus dem Blickfeld. SPIEGEL: Heute sind viele Entscheidungs-träger aus der 68er-Generation selbstRentner. Wird es nun besser?Hartmut Radebold: Ich bezweifle es. WirDeutsche sind an ein sehr hohes Töchter-

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Kinder im zerstörten Köln 1946: „Damals haben wir uns die Trauer nicht zugestanden“

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„In keiner Zeit sind Menschen individuell so

verschieden wie nach dem 60. Geburtstag.“

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pflegepotential gewöhnt, ein schrecklichesWort. In anderen Ländern existiert dieseskonservative Weltbild so nicht. Doch im-mer mehr Paare haben nur eines oder garkein Kind und die Frauen zum Glück an-dere Lebensentwürfe. Und wie, zum Bei-spiel, sollte unsere Tochter uns pflegen, wosie sich doch um ihre eigene Altersversor-gung kümmern muss?SPIEGEL: Zurzeit wird die Rente mit 69 dis-kutiert. Was halten Sie davon?Hartmut Radebold: Eine der zentralen Aus-sagen der Gerontologie ist: In keiner Zeitsind die Menschen individuell so unter-schiedlich wie nach dem 60. Geburtstag.Ich denke, jeder sollte selbst entscheidenkönnen, wann er aufhört. Aber 62, spätes-tens 65, ist dafür ein gutes Alter. Dannkann man in den letzten 10, 15 Jahren sei-nes aktiven Lebens noch etwas Neues ma-chen, das einen befriedigt. So verhindernwir Immobilität und Demenz.SPIEGEL: Sie selbst haben Ihr Institut abererst im letzten Jahr übergeben. Warum? Hartmut Radebold: Als Wissenschaftler habeich erst spät die Kriegskinderthematik ent-deckt. Ich bin dann viel gereist, zu Vorträ-gen und Kongressen. Im vergangenen Jahrwar ich noch 90 Tage unterwegs. In diesemsind es 56, für das nächste habe ich nur 6Tage geplant.SPIEGEL: Eine Vernunftentscheidung?Hartmut Radebold: Ja. Auch, um einer nar-zisstischen Kränkung zu entgehen. Vieleältere Wissenschaftler tragen auf Kongres-sen noch vor, wenn sie schon vergesslichwerden. Ich habe das bei großen Köpfenerlebt. Schrecklich. Die Schüler sitzen imAuditorium, keiner traut sich zu unterbre-chen. Damit mir das nicht geschieht, höreich jetzt auf ... SPIEGEL: … und beginnen etwas Neues?Hartmut Radebold: Ja. Ich habe zum Bei-spiel immer darunter gelitten, nicht mu-sizieren zu können. Ich kann keine Notenlesen, ich singe falsch. Aber vor zweiJahren habe ich mir einen Trommelleh-rer gesucht. Der hat uns beiden jetzt ein

* „Wolke 9“, Deutschland, 2008.

Stück geschrieben für Querflöte und Trom-mel. Hildegard Radebold: … und so erlebe ichmeinen Mann, der so wissend ist, in einerSituation, in der ich viel mehr weiß.Hartmut Radebold: Trommeln liegt mir.Hildegard Radebold: Und es ist ja auch nichtso schlimm, wenn du aus einer halbenNote eine ganze machst. Hartmut Radebold: Als Nächstes wollen wirdie Meditation erlernen. Mich interessiertdieser andere Weg in meine innere Welt.Außerdem sollen sich ja dadurch neue Ver-schaltungen im Gehirn ergeben. SPIEGEL: Das klingt, als erhofften Sie sichvon der Meditation geistige Wachheit.

Hartmut Radebold: Ja. Vielleicht kann manso dem Abbau vorbeugen. Hildegard Radebold: Davor fürchte ich micham meisten. Was passiert mit unserer Part-nerschaft, wenn einer von uns eine Demenzoder Parkinson bekommt. Das Kapitel ha-ben wir in unserem Buch ausgespart. Aberdas wurde mir erst hinterher bewusst.SPIEGEL: Ist das Verdrängung?Hartmut Radebold: Das vielleicht nicht, aberwohl doch Verleugnung einer wichtigenFragestellung. Selbstverständlich gibt esauch bei mir die Angst, als intellektuellerMensch eine Demenz zu kriegen. Wennich wüsste, dass die Diagnose sicher ist,und ich selbst noch entscheidungsfähig bin,würde ich sagen: Es gibt keine Pflicht zumLeben. Ich würde überlegen, ob ich gehe. Hildegard Radebold: Auch ich würde zu-mindest nicht unnötig lange am Leben ge-halten werden wollen. Aber wenn meinMann gehen wollte? Ich weiß nicht, ob ichdas ertragen könnte. SPIEGEL: Was empfinden Sie beim Gedan-ken an den Tod? Ist es nicht die größtenarzisstische Kränkung zu wissen, dassman bald aufhören wird zu existieren?Hildegard Radebold: Dass man nicht mehrda ist, ja.

Hartmut Radebold: Vor dem Tod habe ichkeine Angst. Das nicht. Sondern, dass ichverfalle und dass ich es mitbekomme. SPIEGEL: Frau Radebold, wovor fürchtenSie sich am meisten?Hildegard Radebold: Das Alleinsein ist mei-ne zentrale Angst. Der Austausch mit mei-nem Mann ist mir so wichtig und vertraut.SPIEGEL: Der französische Philosoph An-dré Glück und seine Frau haben entschie-den, sich gemeinsam das Leben zu neh-men, als sie eine schwere Diagnose erhal-ten hatte … Hildegard Radebold: Ich finde, die dürfendas, wenn sie es wollen. Hartmut Radebold: Wir müssen uns dieserFrage stellen dürfen, ohne dass man gleichverdammt wird. Ich habe mit unseremSohn, der auch Arzt ist, besprochen, waswir am Lebensende nicht wollen. Und dasser mich gehen lassen soll. Man darf vonAngehörigen erwarten, dass sie nicht da-gegen reden, wenn einer gehen will.SPIEGEL: Gibt es ein Lebensalter, das Siegern noch einmal hätten?Hildegard Radebold: So schwer es war, alsich um die vierzig war mit der Pflege derEltern und dem neuen Job in der Stadt-bücherei – es war großartig. Da war nochnichts von Krankheit und Bedrohung. Unddu warst Anfang fünfzig. Ich habe ein Fotovon dir, hinreißend sahst du aus! Hartmut Radebold: Ich wünsche mir keinLebensalter zurück, weil ich viele Phasenbefriedigt durchlebt habe. Gleichzeitig wa-

ren viele traurig. Mei-ne Kindheit nach 1944war schrecklich. Dagab es nichts mehr,kein Spielzeug, nichts,

nur Hunger und Kälte. Meine Mutter undich sind nach Hause gekommen, in die zer-störte Berliner Wohnung, und hatten nur,was wir auf dem Körper trugen. Ich hatteeinen kleinen Rucksack, da war eine Koch-platte drin. Mein Bruder war vermisst, undder Vater war tot. Hildegard Radebold: Dieser Kummer beimeinem Mann über die lang zurückliegen-de Zeit, das nimmt zu. SPIEGEL: Warum wird man immer dünn-häutiger im Alter?Hartmut Radebold: Ich glaube, wir gehenweniger streng mit uns selbst um. Ich seheja bei meinen Vorträgen die vielen weiß-haarigen Männer und Frauen, die weinen.Damals, als Kinder, haben wir uns dieTrauer nicht zugestanden, und bis vor we-nigen Jahren war es tabu, darüber zu spre-chen. Heute schäme ich mich nicht mehrzu weinen.Hildegard Radebold: Mir wird in den letztenJahren eher bewusst, dass unsere Zeit sobegrenzt ist. Ich genieße es, hier zu sitzen,dass dieser Blumenstrauß so schön ist unddie Kraniche fliegen. Es sind innere Ab-schiede, die ich nehme. SPIEGEL: Frau Radebold, Herr Radebold,wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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Alterssexualität im Film*: „Darf man solche Bedürfnisse haben?“

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„Wenn mein Mann gehen wollte? Ich weiß

nicht, ob ich das ertragen könnte.“

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Szene Sport

F U S S B A L L

Eintracht-PräsidentFischer vor Gericht

Der Präsident des BundesligistenEintracht Frankfurt, Peter Fischer,

gerät bei seinem Club in Bedrängnis. ImJahr 2001 hatte das Unternehmen In-Motion AG, in dessen Aufsichtsrat Fi-scher bis 2000 und von 2004 an wiedertätig war, mit der Eintracht einen Spon-sorvertrag über zwei Jahre abgeschlos-sen. Gezahlt hat der Werbepartner nurfür eine Saison, auf 183800 Euro für diezweite Spielzeit wartet der Club nochheute. Mittlerweile belaufen sich dieForderungen der Eintracht auf 270000Euro. Fischer soll den Deal vermittelthaben, was er bestreitet. Zudem musssich Fischer als früherer Aufsichtsrats-chef der In-Motion AG, die im Fonds-Geschäft aktiv war, vom 2. September

an in einem Zivilprozess vor dem Land-gericht Frankfurt verantworten. DemGeschäftsmann wird vorgeworfen, alseiner der Initiatoren des MedienfondsDritte World Media Anleger mittels„arglistiger Täuschung zum Beitritt“ bewegt und Mängel des Anlagemodells„arglistig verschwiegen“ zu haben.

Fischer war auch Geschäftsführer derFirma World Media Productions Ver-waltungs GmbH, die das operative Ge-schäft des Fonds betrieb. In einem Pro-spekt warb der Fonds mit der Beteili-gung an TV-Serien in den USA und mitambitionierten Filmprojekten, etwa desHollywood-Regisseurs Mel Gibson, undgarantierte dem „privaten und gewerb-lichen Anleger“ bis 2006 „eine Mindest-rendite von 220 Prozent vor Steuern“.Die hochtrabenden Pläne scheiterten.Statt der erhofften 80 bis 150 MillionenMark sammelte der Fonds nur 43 Mil-lionen ein, avisierte Investments in derFilm- und Fernsehbranche platzten, dieRenditeziele erwiesen sich als illuso-risch. Fischer hält die Schadensersatz-klage eines Investors, der von dem An-legeranwalt Tilp in Kirchentellinsfurtvertreten wird, für unbegründet: „Eswird unredlich versucht, mich auf einepopulistische Weise für eigene wirt-schaftliche Zwecke zu missbrauchen.“Fischer

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David Howman, 60, Ge-neraldirektor der Wada,der Welt-Anti-Doping-Agentur, über den ja-maikanischen Wunder-läufer Usain Bolt undden Fall Pechstein

SPIEGEL: Haben Sie das 100-Meter-Finaleder Männer in Berlin verfolgt?Howman: Natürlich. Als ich Usain Boltrennen sah, dachte ich, wow, dieser Jun-ge ist ein Phänomen. SPIEGEL: IOC-Präsident Jacques Roggesagt, er sei überzeugt, dass Bolt den Siegsamt Weltrekord sauber erkämpft habe.Howman: Überzeugt bin ich nie. Aber ichschaffe es zumindest, für einen Momentmeine Skepsis zu vergessen.SPIEGEL: Ende 2009 führt die Wada denbiologischen Athletenpass ein. Was ver-sprechen Sie sich davon?Howman: Der biologische Pass bildet inZukunft die Rechtsgrundlage für die Ver-bände, einen Sportler zu sperren, auchwenn es keinen positiven Dopingtest gibt.Er verpflichtet jeden Athleten, Blutwerteüber das ganze Jahr kontrollieren zu las-sen. Es werden Tageszeit und Ort derKontrolle und des Labors notiert. So wol-len wir nachweisen, dass der Sportler ge-dopt hat, ohne beweisen zu müssen, mitwelchem Mittel.

SPIEGEL: Die Eisschnellläuferin ClaudiaPechstein wurde vom internationalen Ver-band wegen auffälliger Retikulozyten-Werte gesperrt. Sie bestreitet, gedopt zu haben, und hat vor dem Internatio-nalen Sportgerichtshof Berufung einge-legt. Würde ein Freispruch bereits dasEnde der indirekten Beweisführung be-deuten?Howman: Nein. Für mich ist der Fall Pech-stein kein Präzedenzfall. Es wurde nochnicht das ganze Spektrum der indirektenBeweisführung angewandt. Ein Sportlerkann nicht nur wegen unregelmäßigerWerte, sondern auch aufgrund von Zeu-genaussagen überführt werden. Deshalbist die Zusammenarbeit der Anti-Do-ping-Agenturen mit der Polizei wichtig.SPIEGEL: Pechstein will nun auch mit ei-ner Langzeitstudie, die mit Unterstüt-zung der Nationalen Anti-Doping-Agen-tur (Nada) durchgeführt werden soll, ihreUnschuld beweisen.Howman: Ich bin der Meinung, der Fallsollte nicht vor Publikum, sondern vorGericht behandelt werden.SPIEGEL: In Deutschland wehren sichführende Funktionäre nach wie vor ge-gen ein Anti-Doping-Gesetz. Ist es ander Zeit umzudenken?Howman: Unbedingt. Wir brauchen dieHilfe des Staates im Kampf gegen Do-ping in allen Ländern. Ich habe mich

deshalb mit der Spitze der Nada getrof-fen. Die Deutschen sollten nicht so lan-ge mit der Einführung warten, bis eseventuell zu einem Doping-GAU kommt.

Bolt in Berlin

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„Nicht bis zum GAU warten“

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L E I C H T A T H L E T I K

The German MädelIm New Yorker Stadtteil Queens lebt die 95-jährige Margaret Bergmann, die 1936 erste Anwärterin auf

olympisches Hochsprung-Gold war. Weil die USA mit Boykott drohten, ließen die Nazis die Jüdinlange im Kader – doch kurz vor der Eröffnungsfeier kam ein eisiger Brief. Von Klaus Brinkbäumer

Hochspringerin Bergmann 1937: Ob Hitler sich um die Siegerehrung gedrückt hätte, wenn es so weit gekommen wäre, Gold für die Jüdin?

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Berlin 36 ist 73 Jahre her, jene Spiele,die Margaret Bergmann-Lamberts Lebenbestimmen bis heute. Die Hitler-Spiele, dieJesse-Owens-Spiele. Die Bergmann-Spielehätten es sein können: Ihre 1,60 Meter wa-ren deutscher Rekord, 1,60 Meter bedeu-teten in Berlin eine Medaille, die ausge-sperrte Gretel Bergmann sah nicht zu.

„Gold, nichts anderes wäre es gewesen“,sagt sie, „ich wollte den Deutschen undder Welt beweisen, dass Juden nicht dieseschrecklichen Menschen waren, nicht sofett, hässlich, widerlich, wie sie uns dar-stellten. Ich wollte zeigen, dass ein jüdi-sches Mädchen die Deutschen besiegenkann, vor 100000 Menschen.“

Sie durfte nicht. Gretel Bergmann, 1936vermutlich die beste Hochspringerin derWelt, war Mitglied der deutschen Kern-mannschaft, weil die Amerikaner den Boy-kott angedroht hatten für den Fall, dasskeine Juden im deutschen Team auftau-

chen würden. Als dann die Amerikaner,die mehrere Juden in der Mannschaft hat-ten, auf dem Weg nach Berlin waren, ihr Schiff unterwegs auf dem Atlantik undeine Kehrtwende unwahrscheinlich, schlos-sen die Nazis die Bergmann aus. Sie no-minierten einen Mann für den Frauen-hochsprung, der Mann rasierte sich dieBeine, trug lange Haare und fiel nicht wei-ter auf.

„Berlin ’36“ ist ein Spielfilm geworden.Kaspar Heidelbach hat liebevoll Regie ge-führt, Karoline Herfurth spielt Gretel Berg-mann listig und launisch, eine schlagferti-ge Frau, sommersprossig, aufregend*.

Aber Berlin 36 ist mehr als ein Film, esist ein Schicksal, lebensprägend für die Fa-milie Bergmann und kein Einzelfall, lei-der, denn es war Weltpolitik.

* Kinostart am 10. September.

Natürlich bestimmten jüdische Athletenden deutschen Sport mit, vor 1936. Da warLilli Henoch, 1899 in Königsberg geboren,1942 deportiert und bei Riga ermordet. Lil-li Henoch war zehnmal deutsche Meisterin,im Kugelstoßen, mit der Sprintstaffel, imWeitsprung und mit dem Diskus, mit demsie zwei Weltrekorde schaffte, 24,90 Meterim Herbst 1922 und 26,62 Meter ein Jahrspäter. Sie lief Weltrekord mit der 4x100-Meter-Staffel des Berliner SC, als sie nochlaufen durfte; als ihr Verein sie ausschloss,trat sie dem Jüdischen Turn- und Sportclubvon 1905 bei und gründete die Abteilungfür Damenhandball.

Da waren Rudi Ball und Helene Mayer,im Nazi-Deutsch „Halbjuden“, die 1936starten durften; die Fechterin Helene May-er, Weltmeisterin und 1928 olympischeGold-Gewinnern, holte 1936 Silber für dasDeutsche Reich. Und da war Gretel Berg-mann, Unternehmertochter, dunkle Lo-cken, lange Beine, große Füße („Ameri-can size 11“, sagt sie, also europäische 43),eine Athletin, die schon mit ihrem Bruderauf Stelzen um die Wette gelaufen war.

Sport, sagt sie, war anders als heute.„Kein Vergleich. Wir waren Freundinnen,die an jedem Samstag in eine andere Stadtzu den Sportfesten fuhren. Wir hatten diebeste Zeit unseres Lebens und hielten nachden Jungs Ausschau. Heute? Geld, Geld,Geld. Masseure und Psychologen.“ UndDoping. „Jawohl, und Doping.“

Ihr Vater fuhr sie, förderte sie. Ihr Vatersei sehr vornehm gewesen, sagt sie, stetsmit Schlips, und mildtätig auch, „wenn erGeld hatte, schenkte er es weg, und wenner keins hatte, schenkte er es auch weg“,das sagt Margaret Bergmann-Lambert, sielegt den rechten Zeigefinger auf die Nase,wenn sie an damals denkt. Ihr Vater wur-de nur 66, er saß auf der Couch und fielum; es war ein Herzinfarkt, er hatte ge-raucht, aber Margaret Bergmann-Lambertsagt, es sei eher die Kälte der sechs Wo-chen in Dachau gewesen. Ihre Familie kamheraus aus Deutschland, die ihres Mannesnicht: Brunos Eltern und 30 Verwandtestarben im Holocaust, auch die Achtjähri-gen. „Wir wissen nicht, wann und wo, wirwollen es nicht wissen, mein Mann hatheute noch Alpträume“, sagt sie.

Margaret Bergmann-Lambert sitzt zwi-schen Plüschäffchen, sie sammelt Plüsch-äffchen. Der Ventilator dreht sich, ein paarZeitungsartikel, gelblich und bleich, kle-ben an den weißen Wänden, die Urkundenund die Medaillen hängen vorne im Trep-penhaus, nur die eine nicht – ob Hitler sichum die Siegerehrung wohl gedrückt hätte,wenn es so weit gekommen wäre, Gold fürdie Jüdin?

Sie zeigt ein Foto, in Laupheim gibt esein Gretel-Bergmann-Stadion. Mrs. Berg-mann trägt Turnschuhe und Ringel-söckchen, eine helle Baumwollhose undeine weiß-grüne Blümchenbluse, ein Hör-gerät, sie hat lächelnde, braune Augen,

Sport

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Sport

Nazi-Opfer Bergmann

„Ich bin ja hier, das zählt doch wohl“

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Das Schlimmste, sagt sie, sei die Sip-penhaft, das Klischee, der Hass. Siemeint nicht den Hass der anderen,

den Hass der Nazis, sie meint ihren eige-nen, den Hass auf Deutschland, die Deut-schen und Deutsch, die Sprache.

Schon während der Flucht nahm sie sichvor, nie mehr Deutsch zu sprechen, niewieder wollte sie mit Deutschen redenoder ein deutsches Wort sagen, und 70 Jah-re später sagt sie, heute könne sie es nichtmehr, ihr Deutsch wäre infantil, „ich wür-de mich idiotisch fühlen“.

Man kann auch auf Englisch hervorra-gend hassen.

Einmal schrieb ihre Freundin Maja nachNew York. In Laupheim im DeutschenReich waren sie wie Schwestern gewesen,obwohl Maja der NSDAP schon 1929 bei-getreten war; dann war die Zeit gekom-men, als sie sich nicht mehr treffen konn-ten, und nun schrieb Maja, wie schwer dieNachkriegsjahre gewesen waren. So kaltim zerbombten Haus, und alle so hungrig.

„Ich schrieb zurück, dass meine Schwie-germutter und mein Schwiegervater im KZvermutlich auch ein bisschen gefroren ha-ben“, sagt Margaret Bergmann-Lambert.

Dann kichert sie. Sie sagt: „Ich bin sicher, die Maja lebt

auch nicht mehr. Das war also das Endedieser Geschichte.“ Sie blättert durch alteZeitungstexte, durch Schwarzweißfotos,auf dem Schoß hält sie die rote Kladde,die ihr Vater angelegt hat nach den erstenSiegen; „ich war ein Naturtalent“, sagt sie.

In Laupheim fing sie an, als sie zehn Jah-re alt war. Sie lief, sprang, warf, wurde ausdem Ulmer Fußballverein ausgeschlossen,ging nach England und wurde britischeHochsprung-Meisterin, kehrte heim, um1936 in Berlin Olympiasiegerin zu werden,durfte nicht starten, sie floh in die USA, wosie zweimal pro Woche trainierte, denn eindrittes Mal konnte sie sich nicht leisten, weildie U-Bahn-Fahrt durch New York fünfCent kostete. Trotzdem wurde sie dreimalamerikanische Meisterin, 1937 in Hoch-sprung und Kugelstoßen, 1938 im Hoch-sprung, genannt „The German Mädel“.

Es war eine weite Reise von Laupheim,Germany, bis nach New York City, in diesesbunte Häuschen, das ein wenig windschiefdasteht, die Geschichte reicht vom Laup-heim der Vorkriegszeit über Berlin 36 bis zudiesem Sommertag 2009 in einem Winter-garten in Queens, 8450 Avon Street. Marga-ret Bergmann-Lambert ist still, eine Minutelang, blickt hinaus in den Garten, nun sagtsie: „Ich hätte so glücklich sein können in allden Jahren, wenn ich nicht so gehasst hätte.“

Aber wäre ein anderes Leben möglichgewesen, ein tolerantes, ohne alle Deut-schen für Mörder zu halten? Heute, sagtsie, gehe das, sei es das einzig möglicheLeben, doch Zeit musste vergehen; heuteist sie 95 Jahre alt, und ihr Ehemann Bru-no schläft oben, es geht ihm nicht so gut,Bruno ist 99 Jahre alt.

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weißes Haar. Damals, erzählt sie, habe siesich jeden Tag gefragt: „Wie werden siemich stoppen? Werden sie mir ein Beinbrechen? Mich ermorden? Dann verstandich, was sie vorhatten, und als ich wusste,worum es ging, wusste ich, dass ich keineChance hatte und mir andererseits keineSorgen um mein Leben machen musste.“

Am 15. Juli 1936 bestiegen die Ameri-kaner das Schiff in New York, am 16. Juliverließ der Brief an „Frl. Gretel Berg-mann“ den Deutschen Reichsbund für Lei-besübungen: „Sie werden auf Grund der in letzter Zeit gezeigten Leistungen wohlselbst nicht mit einer Aufstellung gerechnethaben.“ Beim letzten Wettkampf war sie20 Zentimeter höher als die Zweitplatzier-te gesprungen. „Heil Hitler!“,so endet der Brief.

Sie reiste nach Amerika, so schnell sie konnte; zehnMark, vier Dollar, durfte siemitnehmen. Der Bruder warschon dort, wartete, er fuhrsie am Riverside Park inManhattan entlang, wo Bäu-me standen. „Ich konntenicht glauben, dass ich hier le-ben sollte“, sagt sie, „da wa-ren nur Häuser, Autos, Lärmund Dreck.“ Aber es gab vie-le Flüchtlinge, und sie hieltenzusammen, kochten fürein-ander, und wenn einer eineStradivari aus Deutschlandherausbekommen hatte undverkaufen konnte, ging es füreine Weile allen besser.

Gretel putzte und bügelte.Dann lernte sie sich selbst alsKrankengymnastin an, sie ar-beitete für Ärzte. „Jede Men-ge dicke Frauen“, sagt sie,„die einzige, die abnahm, warich.“ Sie trainierte dort, woheute das neue Yankee Sta-dium steht, in der Bronx. Bru-no kam nach, ihr Verlobter,bald ihr Ehemann, es war1938. Bruno machte sein Ex-amen in Amerika, Medizin, er durfteStaatsbürger werden, meldete sich sofortzum Einsatz im Krieg gegen die Deutschen.

In New York lebten sie zunächst für vierDollar Miete pro Woche in einer Kammer,und wenn sie die Schlafcouch ausziehenwollten, mussten sie die Stühle auf denTisch stellen. „Wir liebten uns, es war gut“,sagt Margaret Bergmann-Lambert. Es hielt70 Jahre, hält immer noch, auch die beidenSöhne sind ja längst um die 60.

Es gebe zwei Geheimnisse einer langenEhe, sagt sie nun. „Akzeptieren undlächeln“, das sei das eine, und das andereseien zwei Fernseher, einer unten und ei-ner oben: „Bruno ist Fan der New YorkMets, ich liebe die Yankees, und weil bei-de Teams täglich spielen, sind es eigentlichja nur 35 Jahre Ehe. Eine Fernbeziehung.“

Der Spielfilm, „Berlin ’36“, ist fein er-zählt, manchmal verklärend und hin undwieder lustig und immer spannend, undKaroline Herfurth, Sebastian Urzendow-sky (als Marie Ketteler, die in Wahrheit einJunge ist) und ein guter Deutscher, derTrainer Hans Waldmann (gespielt von AxelPrahl), tragen ihn. Margaret Bergmann-Lambert sah ihn in einem Kino in NewYork, aufgeführt nur für sie und 70 „Freun-de und Feinde“, wie sie sagt, und sie magbeide Happy Endings, „das des Spielfilmsund das meines Lebens“.

Das ihres Lebens? „Nun, ich bin ja hier,immer noch, das zählt doch wohl.“

Eine wie Margaret Bergmann-Lambertwürde so etwas nicht sagen, weil sie loyal

ist und bescheiden und sowieso gerührtwegen des späten Ruhms, aber es gibt imFilm eine problematische Stelle: die letztenMinuten. Denn da tritt die echte MargaretBergmann-Lambert auf, und dieses Inter-view gibt allem, was vorausging, den An-strich einer Dokumentation.

Das war es nicht, ganz und gar wahrmuss und kann ein Spielfilm nicht sein.

Im Film reist der Vater nach England,sieht seine Tochter siegen und feiern undsagt, sie möge heimkehren nach Deutsch-land. „Es ist auch dein Vaterland“, sprichtder Vater im Nebel der englischen Nacht,„nicht mehr“, antwortet die Tochter. DasLeben war nicht ganz so melodramatisch.

Im Film intrigiert die ganze Mannschaftgegen Gretel Bergmann; die echte Marga-ret Bergmann-Lambert erzählt: „Wir ha-

ben uns gut verstanden. Wir haben uns so-gar Tipps gegeben, wie man besser sprin-gen kann.“ Im Film schließen die anderenMädchen Gretel in der Dusche ein, dortduscht auch Marie Ketteler, dieses seltsameMädchen vom Bauernhof, und Gretelsieht, dass Marie ein junger Mann ist, undes entspinnt sich eine Romanze, ganz zart,zwischen dem Jungen und der Jüdin, dieihm den Scherensprung beibringt.

Die Wirklichkeit war langweiliger unddoch bizarr genug.

Margaret Bergmann-Lambert sagt: „Ichhabe mit ihr oder mit ihm, wie soll ich sa-gen?, jedenfalls mit Dora Ratjen, wie sieoder er, also Marie Ketteler, in Wirklichkeithieß, das Zimmer geteilt. Ich habe nie ei-

nen Verdacht gehabt. In der Du-sche haben wir uns alle gewun-dert, dass sie sich nie nackt zeig-te, mit 17 so schüchtern, es wargrotesk. Wir dachten nur: Die istseltsam, die ist schräg. Es gab eineTür zu einem privaten Badezim-mer, wir durften nicht hindurch-gehen, nur Dora durfte. Aber ge-ahnt habe ich jahrelang nichts.“

Im Film reist Gretel nach Ber-lin, wo ein amerikanischer Jour-nalist die Wahrheit enthüllen willund bei einem inszenierten Ver-kehrsunfall stirbt; sie geht ins Sta-dion und sieht Marie, Freundinund Freund, anlaufen zum letz-ten Versuch; im Leben warf Gre-tel Teller gegen die Wand, als derBrief kam, der sie ausschloss, undsie weinte und beschloss, dass sierausmusste aus Deutschland; dieSpiele lagen schon vor der Eröff-nung hinter ihr. Berlin betrat sienie wieder, niemand berichteteüber den Fall, das InternationaleOlympische Komitee sah schondamals lieber weit weg.

Dora Ratjen, 1938 Europameis-terin und kurz darauf als Mannenttarnt, lebte zurückgezogen,starb 2008, und Margaret Berg-mann-Lambert sagt, dass sie bis

1966 nichts gewusst habe. Da saß sie beimZahnarzt und las in „Time“ die Geschich-te vom Hochsprung-Betrug von 36 und„musste kreischen, und alle hielten michfür irre“. Sie schrieb einen Brief an dieeinstige Kameradin, eine Antwort kam nie.

Damals, 1936, verlor der Mann im Da-mentrikot die Nerven, wurde Vierter, Goldholte die Ungarin Ibolya Csák. „Eine Jü-din“, sagt Margaret Bergmann und kichert,dann deckt sie den Tisch: Gurken, Grau-brot, Leberwurst.

Sie hat kein deutsches Wort gesagt in allden Stunden, aber sie spricht noch heuteetwas anders als andere Amerikaner. DieWortwahl ist deutsch, der Satzbau auch.„Now it’s good“, sagt Margaret Bergmann-Lambert, 95, nun ist es gut, und versöhn-lich wäre es, wenn es stimmte. ™

Sport

114 d e r s p i e g e l 3 5 / 2 0 0 9

BPK

Sportler bei den Spielen 1936 in Berlin: Es war Weltpolitik

Page 95: 2009_35 Krieg Der Deutschen 1939

d e r s p i e g e l 3 5 / 2 0 0 9116

Szene

S P O N S O R I N G

Der Pasta-Pakt

Die wirtschaftliche Situation der Mu-sikzeitschrift „Spex“ mag ange-

spannt sein, für die Ernährung der Mit-arbeiter ist gesorgt – und zwargleich auf Jahre hinaus. Eine TonneNudeln lieferte der italienische Pas-ta-Hersteller De Cecco vergangeneWoche in die „Spex“-Redaktionnach Berlin-Kreuzberg – „ausge-rechnet am heißesten Tag des Jah-res“, stöhnte „Spex“-Chef MaxDax, der die Zehn-Kilo-Kartons mitseinen Redakteuren zwei Stockwer-ke hochwuchten musste. Die bizarreCare-Pakete-Aktion ist Teil einerAbmachung zwischen „Spex“ undder in den Abruzzen ansässigen Fir-ma. Ein Jahr lang wird De Cecco imImpressum der Zeitschrift erwähnt.

Der Pasta-Pakt soll, so Dax, „mit Witzund Charme“ auf die akute Notlage vie-ler Printmedien aufmerksam machen,die unter massivem Anzeigenschwundleiden und von ihren Werbepartnernabhängig zu werden drohen. „Es ist er-schreckend, wenn etwa ein Telekommu-

L I T E R A T U R

Unterwegs

Ein origineller Einfall ist die Reise alsSinnbild des Lebens gewiss nicht.

Was aber der 1929 in Zürich geboreneSchriftsteller Hugo Loetscher aus die-sem Motiv gemacht hat, ist erstaunlich.In seiner jetzt erschienenen Autobio-grafie wird der Grenzübertritt zum Leit-faden eines teils chronologisch, teils essayhaft angelegten mitreißendenRückblicks. „War meine Zeit meineZeit“ heißt das letzte Buch, das er zuLebzeiten fertigstellen konnte – eineFrage, doch ohne Fragezeichen. Loet-scher hatte gerade sein Abitur bestan-den, als das Reisen im Nachkriegseuropawieder möglich wurde. Venedig war das erste Ziel: Der Binnenländer wollteendlich das Meer sehen. Als Studenten-vertreter kam er Anfang der fünfzigerJahre mit dem Flugzeug nach Berlin.Die Sowjets hatten zuvor im Luftraumüber der DDR mit Jagdflugzeugen für Aufregung gesorgt, was der jungeSchweizer nicht wissen konnte. Mit Ju-bel wurde die erste Maschine nach demZwischenfall in Berlin begrüßt: „Mir

wurde bewusst, wie wich-tig es fürs Heldentum ist,nicht vollständig infor-miert zu sein.“ Mutig undselbstbewusst sprichtLoetscher über seine Ho-mosexualität. In einemKurzessay von souve-räner Kraft geht er hierüber eigene Erlebnissehinaus und lässt die Schi-kanen und Torturen Re-

vue passieren, denen Schwule ausge-setzt waren (und vielerorts noch sind):die Reise zu einem Ufer, „das jenseitsder gängigen Moralität liegt“. Erstaun-lich und wunderbar dagegen für ihn dasheutige Europa ohne Grenzen. Neugie-rig entdeckt er die Möglichkeiten des Internets. Nun stehe auf seinem Arbeits-tisch ein Bildschirm, „der sich an keineGrenzen hält“: Auch „fremdes Un-glück“ komme ins Haus. Jener Philo-soph, der einst befand, das Unglück desMenschen beginne damit, dass er seinZimmer verlasse, habe in „noch nichtvernetzter Zeit“ gelebt. Hugo Loetscherstarb am vergangenen Dienstag, 79 Jah-re alt, nach einer Herzoperation. Aufder Intensivstation des Zürcher Kran-kenhauses konnte er zuvor noch das erste Exemplar dieses beeindruckendenSchlusssteins seines Lebenswerks inHänden halten.

Hugo Loetscher: „War meine Zeit meine Zeit“. Diogenes Verlag, Zürich; 416 Seiten; 21,90 Euro.

A R C H I T E K T U R

In der Wüste grün bauen

LAVA

Auch am Golf werden aufgrund derWirtschaftskrise viele Bauprojekte ab-

gesagt. Aufgegeben haben die Scheichsihren enormen städtebaulichen Ehrgeizaber nicht. In der Nähe von Abu Dhabizum Beispiel soll eine 50000-Einwohner-Stadt entstehen – und zwar als weitgehendCO2-neutrale Öko-Oase, in der nicht dasÖl, sondern die Photovoltaik die Haupt-rolle spielt. An dem Experiment ist auch

ein deutsches Architektenteam beteiligt:Das Büro Lava aus Stuttgart darf den zen-tralen, mit verstellbaren Riesenschirmenverschatteten Platz und um ihn herum eineReihe von Bauten verwirklichen, darunterein umweltschonendes Fünfsternehotel.Auf Luxus will hier schließlich niemandverzichten, auch nicht auf Erlebnis-Ästhe-tik: Die Fassaden und Oberflächen der Ge-bäude sollen an die Schluchten des Grand

„Spex“-Chef Dax mit Nudelpaketen

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Page 96: 2009_35 Krieg Der Deutschen 1939

Kultur

M U S I K E R

„Ein goldenes Zeitalter“Der irische Gitarrist David Evansalias The Edge, 48, Mitglied der BandU2, über seinen Auftritt im neuen Dokumentarfilm „It Might Get Loud“(Regie: Davis Guggenheim), der dieelektrische Gitarre feiert

SPIEGEL: In „It Might GetLoud“ treffen Sie Ihre Kolle-gen Jimmy Page von LedZeppelin und Jack Whitevon den White Stripes undsprechen mit ihnen über dieelektrische Gitarre. Wasmacht dieses Instrument sobesonders? Warum steht sieam Anfang der Rockmusik? The Edge: Ein Klavier klingtimmer nach einem Klavier.Die Gitarre hat sich in etwasNeues verwandelt, als sie elektrifiziertwurde – das untersuchen wir immernoch. Wobei nur die Gitarre dafür nichtgereicht hätte. Die Elektrifizierung er-möglichte, dass man all die Effektgeräteanschließen konnte, die den Klang ver-ändert haben. Das Wah-Wah-Pedal ent-stand, die Fuzzbox. Strom hat sich inSound verwandelt. Das war es. EinSaxofon ist ein Saxofon. Aber eine elek-trische Gitarre schließt man an, und auf einmal hat man unendliche Mög-lichkeiten.

SPIEGEL: Ihr Roadie sagt im Film, Ihr Effektboard sei Ihr Gehirn. Warumsteuern Sie es mit der Gitarre?The Edge: Sie ist sehr instinktiv be-nutzbar. Deswegen eignet sie sich sowunderbar als Medium, um Gefühleund Ideen auszudrücken. Ich habe mit Keyboards herumgespielt, aber ich glaube, dass die Gitarre am effek-tivsten ist.

SPIEGEL: Steht die Gitarreheute noch im Fokus derPopmusik?The Edge: Mich interessiert,wo etwas Neues entsteht.Das war in den vergangenenJahren im HipHop und imR&B der Fall. In der elek-tronischen Musik. Rock warzuletzt ein Ghetto, ein Gen-re ohne Ideen, die in dieWelt hinausgewirkt hätten.Dementsprechend unwichtigwar die Gitarre. Das ändert

sich gerade wieder. Es sind ein paar neueBands aufgetaucht, die tolle Sachen ma-chen. Das Handwerk beeindruckt michnicht sehr. Man muss etwas zu sagen ha-ben. Was mich interessiert, ist der emo-tionale Ausdruck. Ich glaube, dass der E-Gitarre ein goldenes Zeitalter bevorsteht.SPIEGEL: Haben Sie schon einmal eineGitarre kaputtgehauen? The Edge: Nein. Was für ein schreck-liches Klischee. Immer wieder machenes Leute. Aber das kann man heutewirklich nicht mehr bringen. Niemand.

nikationsunternehmen mehrere redak-tionell anmutende Seiten einer briti-schen Musikzeitschrift mit seinem Logobestückt“, meint Dax. „Wir wollen einBewusstsein dafür schaffen, wie gefähr-lich diese Entwicklung ist.“ Gezielthabe er deshalb nach einem Partner ge-sucht, dessen Produkte „möglichst weitvon unserem Heftinhalt entfernt sind“.Nudel-Rezensionen werde es in „Spex“nicht geben, versichert Dax, der für sei-ne Redakteure oft kocht. Zwar hat sichdie verkaufte Auflage der zweimonat-lich erscheinenden Zeitschrift auf 20 000 Exemplare erhöht, doch die kri-selnde Musikbranche schaltet nur spär-lich Anzeigen. Nun also Nudeln alsWaffe in der Not – die „Bombardoni“etwa sind bis März 2012 haltbar. Zwei-einhalb Jahre lang nur Pasta essen? „Naja“, sagt Martin Hossbach, bei „Spex“Chef vom Dienst. „Vielleicht sollten wirein paar Pakete verschenken.“

„Chéri“ ist ein junger, schöner Mann(Rupert Friend), mit dem eine Kurtisa-ne (Michelle Pfeiffer) im Paris der BelleEpoque eine Affäre beginnt. 20 Jahrenachdem Pfeiffer in Stephen Frears’Film „Gefährliche Liebschaften“ dasOpfer erotischer Ränke darstellte, lässtderselbe Regisseur sie nun die souverä-ne Regentin männlicher Leidenschaf-ten spielen. Nach dem Roman der 1954verstorbenen französischen Schriftstel-lerin Colette inszeniert Frears einegeistreiche, kurzweilige Salonkomödie.Jeder Dialogsatz ist so geschliffen, alsdiene er nur dem Zweck, das Gegen-über zu sezieren. „Chéri“ ist ein Degen-film ohne Degen, aber voller eleganterWortgefechte. Da bieten die Kostüme,in denen die Menschen ihr Inneres zu verbergen versuchen, oft keinenSchutz mehr, da liegen Gefühle undseelische Verletzungen plötzlich bloß.Doch wie ein guter Degenfilm trifft„Chéri“ zwar mitten ins Herz, verliertaber nie seine Leichtfüßigkeit. Pfeiffer

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Canyon erinnern. Lava-Mitgründer Alex-ander Rieck und seine Kollegen dürfen al-lein für die bestellten Gebäude 200 Millio-nen Euro ausgeben. Bis 2012 soll alles fertigsein. Bis dahin müsse noch so manche tech-nische Finesse erfunden werden, die not-wendig sei, um den Energieverbrauch zudrosseln, sagt Rieck: „Das ist wie beim ers-ten Flug zum Mond. Man kennt das Ziel,aber nicht alle Herausforderungen der Rei-se.“ Ansonsten wirbt er – ganz im Sinneseiner Bauherren – für die weltweite Vor-bildfunktion der neuen Energiesparer-Stadt. „So etwas Zukunftsweisendes gibtes in Deutschland gar nicht.“

Entwurf für Öko-Oase bei Abu Dhabi

Kino in Kürze

The Edge

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Page 97: 2009_35 Krieg Der Deutschen 1939

Er sieht älter aus als auf dem Foto.Die Rastalocken sind schütterer ge-worden, die Stirn wirkt höher, seine

Augen blicken müde im Neonlicht der Be-suchszelle. Todeskandidat AM 8335 klopftzur Begrüßung mit der Faust gegen dieScheibe aus Panzerglas. Sein Anwalt aufder anderen Seite klopft zurück. „MadameMitterrand bittet mich, dir ganz herzlicheGrüße auszurichten“, sagt der Anwalt, „siewar gerade auf einer Veranstaltung für dichin Berlin.“ Er drückt den Brief der Gattindes verstorbenen französischen Präsiden-

ten gegen das Glas. „Wir starten eine neueweltweite Kampagne“, sagt er, „eine Peti-tion an Obama, unterschrieben auch vonNobelpreisträgern.“

Mumia Abu-Jamal heißt der Häftling aufder anderen Seite der Scheibe, nach demBesuch legt ihm ein Wärter Handschellenan und bringt ihn zurück in Zelle 9, Trakt G.Die State Correctional Institution Greene inWaynesburg im Bundesstaat Pennsylvaniaist ein Hochsicherheitsgefängnis. MumiaAbu-Jamal verbringt 22 Stunden des Tagesallein in einer zwei mal drei Meter großen

Zelle, seit 28 Jahren ist er in Haft. ZweiStunden am Tag darf er nach draußen, in ei-nen Käfig, der aussieht wie ein großer Hun-dezwinger, dreimal 15 Minuten in der Wo-che telefonieren, dreimal duschen. Abend-essen gibt es manchmal schon um halb vier.

Durch einen Fensterschlitz kann er ausder Zelle den Käfig sehen und manchmalnachts den Mond. Meistens aber sieht erfern. „Nachrichten“, sagt er. Am 6. Aprilsah er CNN. Eine Eilmeldung lief über denBildschirm: Der Oberste Gerichtshof hatteseinen Antrag auf einen neuen Prozess ab-

Kultur

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Intellektuellen-Ikone Abu-Jamal: Seine Geschichte funktioniert, weil sie hässliche Wahrheiten über die USA bündelt

M Y T H E N

Die Feuer der HölleDer als Polizistenmörder verurteilte schwarze Autor Mumia Abu-Jamal ist der berühmteste

Todeskandidat der Welt. Linke verehren ihn, die Witwe Maureen Faulkner aber kämpft für ihre Wahrheit. Nun sieht es so aus, als würde sie gewinnen. Von Cordula Meyer

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gelehnt. Was das bedeutet, erklärt sein An-walt Robert Bryan erst, als er an diesemTag das Gefängnis verlässt: „Mumia könn-te in einem Jahr tot sein.“

Die juristische Lage ist kompliziert, dieVerteidiger wollen eine Berufung, zweiEntscheidungen von Gerichten stehennoch aus, sie können aber bald kommen.

Mumia Abu-Jamal ist der berühmtesteTodeskandidat der Welt. Friedensnobel-preisträger Desmond Tutu besuchte ihn imGefängnis, der Schriftsteller Salman Rush-die setzt sich für ihn ein, auch Oscar-Gewinnerin Susan Sarandon. In Paris ist er Ehrenbürger.

Im Gefängnis hat er Bücher ge-schrieben, das sechste ist gerade er-schienen. Die Kolumnen über denAlltag in der Todeszelle waren amerfolgreichsten. Abu-Jamal hat aberauch über die Geschichte der BlackPanthers geschrieben und über To-deskandidaten, die sich in Rechts-fragen nur von anderen Gefange-nen helfen lassen können. Der in-ternationale SchriftstellerverbandPEN hat ihn aufgenommen, in deut-schen Städten wird für ihn demon-striert. Der Schauspieler Rolf Be-cker verteidigt ihn, Günter Wallraffsowieso. Abu-Jamal schreibt Ko-lumnen für die „Junge Welt“ inBerlin, oder er spricht Radiokom-mentare: „Live aus der Todeszelle,dies ist Mumia Abu-Jamal.“

Mumia ist eine globale Marke. Esgibt sogar Teddybären mit seinemKonterfei. Er gilt für die globaleLinke als Symbol, sein Foto mitdem strahlenden Lachen ist eineIkone wie das Bild von Che Gue-vara, millionenfach gedruckt auf T-Shirts und Protestplakaten.

Er eignet sich als Galionsfigur fürProtestbewegungen gegen die To-desstrafe, gegen Rassismus, gegenUnrecht im US-Justizsystem, gegenGlobalisierung, gegen alles, was Lin-ke weltweit an Amerika hassen. Einpolitischer Gefangener, ein schwar-zer Aktivist, der Amerikas Rassis-mus anprangerte und dem die Polizeideswegen einen Mord an einem Poli-zisten anhängte – diese Geschichteglauben viele. Die Wahrheit aberverschwindet hinter der Legende.

Vielleicht hat es sein ehemaliger Vertei-diger Daniel Williams am besten aus-gedrückt: Die Überzeugung von MumiasUnschuld sei für viele Menschen „eineGlaubensfrage“. Die Geschichte funktio-niert deshalb so gut, weil sie so viele häss-liche Wahrheiten über die USA bündelt.

Es gibt eine andere Geschichte, und sie klingt anders als die, die Nobelpreis-träger, Literaten und Musiker kennen. Diese Geschichte erzählt Maureen Faulk-ner, die Witwe des erschossenen Polizis-ten. 28 Jahre ist es her, dass ihr Mann

Danny auf einem Bürgersteig in Philadel-phia starb.

Mumia Abu-Jamal und Maureen Faulk-ner haben nie miteinander gesprochen.Aber seit dem Tag, an dem Danny Faulk-ner starb, sind ihre Leben aneinander-gekettet. Mumia Abu-Jamal kämpft für sei-ne Freiheit, Maureen Faulkner für seinenTod. Sie fühlt sich oft hilflos gegen all diegutmeinenden Menschen dieser Welt. Abernun sieht es so aus, als könne sie gewinnen.

In ihrem Haus in Südkalifornien, wo siejetzt wohnt, erzählt Maureen Faulkner von

dem Tag, der ihr Leben für immer ver-änderte.

Am 9. Dezember 1981 waren Maureenund Danny Faulkner gerade 13 Monateverheiratet. Sie waren beide 25. Auf denHochzeitsfotos schauen zwei junge Men-schen in die Kamera, ein bisschen bieder.Faulkner hatte die Schule abgebrochen. In-zwischen war er schon fünf Jahre bei derPolizei, die Akademie hatte er als Zweit-bester seines Jahrgangs abgeschlossen. Ander Volkshochschule nahm er Kurse inStrafrecht. Sieben Belobigungen gab es in

seiner Personalakte. Manchmal sprachensie darüber, wie ihre Kinder mal heißensollten. „Danny hatte alles, für das es sichzu leben lohnt“, sagt Maureen.

Er kochte an jenem Abend, um acht Uhrging er ins Bett. „Er hat gesagt: Leg dich ne-ben mich. Du weißt doch, dass ich mit dirviel besser schlafen kann.“ Zwei Stundenspäter klingelte der Wecker. Danny zog sei-ne Uniform an. „Das war’s.“

Maureen stellt die Kaffeetasse weg. „Das war das letzte Aufwiedersehen.“ Ihre Stimme versagt. „Ich war so jung.“

Wenn man Mumia Abu-Jamalnach dem 9. Dezember fragt, wirder einsilbig. „Es ist ein Tag wie jeder andere.“ Er erzählt lieber, wieer mit 14 bei einer Demonstrationvon weißen Polizisten verprügeltwurde und dann den Schwar-zen Panthern beitrat. Die Schuleschmiss er, oder er flog, das istnicht ganz klar: „Die Revolutionsollte morgen anfangen, wiesomusste man da zur Schule gehen?“Er nannte sich nicht mehr WesleyCook, sondern Mumia Cook. Mu-mia heißt auf Swahili „Prinz“. Alsspäter sein erster Sohn geborenwurde, änderte er auch den Nach-namen: Abu-Jamal, arabisch fürVater des Jamal.

Als „Informationsminister“ derBlack Panthers in Philadelphiaschrieb Mumia Abu-Jamal Flug-blätter. Danach wurde er Journalist,arbeitete für Radiosender, schließ-lich beim angesehenen öffentlichenRundfunk von Philadelphia. Abu-Jamals Bariton war perfekt fürs Radio: „Er konnte Wunder mit demMikrofon vollbringen“, sagt seinehemaliger Chef.

Er hat ihn trotzdem gefeuert,„wegen mangelnder Objektivität“.Mumia war eher Aktivist als Jour-nalist, er gehörte zum Umfeld derKultbewegung Move. Die Mitglie-der dieser Schwarzenkommunepropagierten die Revolution unddas unbedingte Lebensrecht vonKakerlaken. Zum Schluss trugen die Sektierer dann Waffen. „Bru-der Mu“, wie sie ihn nannten, fandkeinen neuen Radio-Job, er fuhrnun Taxi.

Am 9. Dezember 1981 aß Mumia Abu-Jamal mit einem früheren Kollegen undeinem Landespolitiker zu Abend. Um einUhr nachts begann seine Taxischicht. UmViertel vor vier hatte er einen Fahrgast ansZiel gebracht, nahe der 13. Straße und Lo-cust Street, in einem noch sehr belebtenRotlichtbezirk Philadelphias.

Und dann? Mumia Abu-Jamal schließtdie Augen, schüttelt den Kopf und sagt:„Und dann brach die Hölle los.“

Wer Mumia Abu-Jamal im Todestraktbefragen möchte, muss vorher verspre-

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Witwe Faulkner: Gekettet an einen Häftling

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chen, nicht nach dem Mord zu fragen. DerGefangene will über Politik und Ame-rika reden, auf keinen Fall über diese Mi-nuten.

Er hat auch den Richtern nie erzählt,was in dieser Nacht geschah. Er sagt grund-sätzlich nur, er sei „unschuldig“.

Daniel Faulkner, Dienstmarke 4699, war mit seinem Streifenwagen 612 im Rot-lichtbezirk unterwegs. Er schaltete dasBlaulicht ein und stoppte einen blauen VWKäfer. An dem baumelte statt der Stoß-stange hinten ein Holzbalken.

Faulkner griff um 3.51 Uhr zum Funk-gerät: „612. Ich habe ein Auto angehalten.12., 13. Straße und Locust.“

Die Zentrale antwortete: „Auto zur Ver-stärkung für 612, 13. und Locust.“

„Wenn ich es mir recht überlege, schicktmir lieber einen Transporter“, meldeteFaulkner.

Die Kollegen waren 88 Sekunden späterzur Stelle – zu spät. Auf dem Bürgersteigneben dem VW lag Faulkner in einer Blut-lache, mit einem Loch zwischen den Au-gen, den Dienstrevolver, eine 38er Smith &Wesson, neben sich. Ein paar Meter ent-fernt saß Mumia Abu-Jamal auf dem Bür-gersteig, blutend und nach vorn gekrümmt,mit einer Kugel aus Faulkners Waffe in derBrust. Er trug ein leeres Pistolenholster.Sein Revolver lag neben ihm. Mumias jün-gerer Bruder Billy stand wie steifgefrorenan der Hauswand direkt daneben. DenPolizisten sagte Billy den einzigen Satz,den er in all den Jahren zu der Tat sagenwird: „Ich habe damit nichts zu tun.“

Ein halbes Jahr später begann in Phila-delphia der Prozess. Mumia Abu-Jamal hatkein Geld für einen Anwalt, er bekommteinen Pflichtverteidiger: Anthony Jackson,kein Staranwalt, aber tüchtig. Er ist schwarzund hatte schon 20 Mordfälle verhandelt,nur sechs seiner Mandanten wurden ver-urteilt. Mumias Familie und seine Freundewollten Jackson unbedingt.

Doch die Beziehung zwischen Anwaltund Mandant erkaltet schnell. Mumia woll-te sich lieber selbst verteidigen.

Die Staatsanwaltschaft präsentierte vierAugenzeugen. Sie beschrieben den Tatab-lauf: Daniel Faulkner habe Mumias BruderBilly Cook gestoppt. Der sei ausgestiegenund habe mit Faulkner gestritten. Nach ei-nem Fausthieb soll Faulkner dann Billy mit

seiner Taschenlampe geschlagen haben. Indiesem Moment sei Mumia über den Park-platz gerannt, in der Hand einen Gegenstand.

Ein Schuss sei gefallen, Faulkner habesich umgedreht, noch seine Waffe gezogenund ebenfalls geschossen. Dann sei er zu-sammengebrochen. Mumia habe sich überden Polizisten gestellt und aus nächsterNähe auf ihn gefeuert. „Sein ganzer Kör-per zuckte, als er getroffen wurde“, so einZeuge. Dann sei Mumia zum Bürgersteiggewankt und habe sich hingesetzt.

Einer dieser Zeugen war damals RobertChobert, ebenfalls ein Taxifahrer. Im Pro-zess befragte ihn der Angeklagte selbst:

Abu-Jamal: Sie haben den Mann gese-hen, der den Polizisten erschossen hat?

Chobert: Ja, das habe ich doch gesagt,oder?

Abu-Jamal: Und Sie haben mich hintenim Polizeiwagen gesehen?

Chobert: Ja, genau. Abu-Jamal: Warum waren Sie sicher,

dass es derselbe Mann war?Chobert: Weil ich dich gesehen habe,

Kumpel. Ich habe gesehen, wie du ihn erschossen hast.

In der Hauptverhandlung bekräftigteChobert: „Ich weiß, wer den Cop erschos-sen hat, und ich werde es nicht vergessen.“

Viele Indizien passen zu der Version:Ein Ballistikexperte sagte aus, dass aus derDienstwaffe Faulkners ein Schuss abge-geben wurde. Die Kugel, die aus MumiaAbu-Jamals Rücken operiert wurde,stammte aus Faulkners Waffe. Ein Waffen-händler sagte aus, dass Abu-Jamal seinenRevolver der Marke Charter Arms Under-cover bei ihm gekauft habe, dazu Muni-tion mit hoher Durchschlagskraft. Alle fünfPatronen in der Trommel von Abu-JamalsRevolver waren abgefeuert worden. DieKugel, die der Gerichtsmediziner aus Da-niel Faulkners Gehirn holte, war zu defor-miert, um sie einer Waffe zuzuordnen.Aber sie hatte dasselbe Kaliber wie Abu-Jamals Waffe.

Die Stimmung im Gerichtssaal war auf-geladen. Es ging um Mord, aber es gingauch um Schwarz gegen Weiß. Auf der ei-nen Seite des Raums saß Maureen Faulk-ner mit ihren Eltern und Dannys Familie.Auf der anderen Seite die Move-Leute mitihren Rastalocken. Die Kollegen Faulknersnahmen ihre Waffen mit in den Gerichts-saal. Maureen sagt, einer von MumiasSympathisanten habe sie im Gang ange-spuckt: „Dein Mann ist in seinem Grab,wo er hingehört.“

Er habe „kein Problem damit, dass siefür ihre Seite kämpft“, sagt Mumia Abu-Ja-mal heute über die Witwe. Aber MaureenFaulkner und er, das sei „eine falscheDichotomie“. Er massiert seinen Bart, dieStimme klingt scharf.

Am 2. Juli 1982 sprach die Jury aus zehnWeißen und zwei Schwarzen Mumia Abu-Jamal schuldig. Maureen Faulkner weinte,Mumia Abu-Jamal brüllte: „Dieses Systemist am Ende.“

Ende der siebziger Jahre war Philadel-phia eine Stadt, in der offener Rassismusherrschte. Der ehemalige Polizeichef undBürgermeister galt als harter Hund. 1979verklagte das US-Justizministerium die Polizei von Philadelphia wegen Korruptionund Brutalität. Jahre später bekannten sichsechs Polizisten schuldig, in ihrem Bezirksystematisch vor allem Schwarzen falscheBeweise untergeschoben zu haben.

Amnesty International schreibt, „die in-ternationalen Minimalstandards eines fai-ren Prozesses“ seien im Fall Mumia Abu-Jamal verletzt worden.

Tatsächlich gab es eine ganze Menge andem Prozess 1982, was zweifelhaft erscheint:Abu-Jamal wollte sich selbst verteidigen,aber der Richter entzog ihm das Recht, bei

Kultur

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Demonstration von Abu-Jamal-Unterstützern in Paris 2000: Todeskandidat als globale Marke

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Page 100: 2009_35 Krieg Der Deutschen 1939

der Auswahl der Geschworenen die Kandi-daten zu befragen. Der Staatsanwalt lehnteviele schwarze Juroren ohne Angabe vonGründen ab. Verteidiger Jackson versäum-te es, auf Ungereimtheiten bei den Schüssenhinzuweisen. Außerdem hatten zwei derZeugen Vorstrafen. Abu-Jamals Unterstüt-zer glauben, dass sie für ihre Aussagen Vor-teile bei der Polizei erhielten.

Der schwarze Kolumnist Chuck Stone,Kommentator der „Philadelphia DailyNews“, schrieb nach dem Urteil, Abu-Jamal habe gegen drei Dinge ankämpfenmüssen: „1. er ist schwarz, 2. die Justiz istvoreingenommen, 3. er hat keinen Mil-lionär als Vater.“ Aber nicht deswegen seier schuldig gesprochen worden, so Stone.„Was den talentierten ehemaligen Journa-listen überführte, war eine Fülle un-widerlegbarer Fakten.“

Abu-Jamals Unterstützer glaubendas nicht. Sie wollen einen neuenProzess. Mittlerweile füllen die Pro-tokolle mindestens 15 Aktenordner,es gibt viele widersprüchliche De-tails. Zwei Polizisten sagten im Pro-zess aus, Mumia Abu-Jamal habeim Krankenhaus geschrien: „Ichhabe auf die Drecksau geschossen.“Aber in einem ursprünglichen Be-richt heißt es: „Der schwarze Mannhat sich nicht geäußert.“

Die Verteidiger versuchten späterden Beweis zu führen, ein andererMann, ebenfalls schwarz und mitRastalocken, habe geschossen. 1995präsentierte die Verteidigung einenMann namens William Singletary.Der schwarze Tankstellenbesitzerwollte einen Mann gesehen haben,der weggelaufen sei. Er sagte aberauch, Faulkner habe nach dem Kopf-schuss noch gerufen: „Hol Maureen,hol die Kinder.“ Doch Danny Faulk-ner war sofort tot, und er hatte auchkeine Kinder. Abu-Jamal habe au-ßerdem arabische Kleidung getra-gen, was nicht stimmt, außerdem seiein Polizeihubschrauber mit Schein-werfern über dem Tatort gekreist.Die Polizei von Philadelphia besaß damalskeinen Hubschrauber.

Bezirksstaatsanwalt Hugh Burns ausPhiladelphia kennt diese Geschichten. Seit23 Jahren beschäftigt er sich mit dem Fall,er hat ein Eckbüro, die Möbel sind abge-stoßen, mittendrin thronen 21 gewaltigeweiße und braune Pappkartons. Mitschwarzem Filzstift hat er auf jeden „Ja-mal“ geschrieben. Er versteht nicht, dassausgerechnet dieser Mordfall kein Endefindet: „Ich kann mir keinen eindeutigerenFall vorstellen.“ Die letzte Entscheidungdes Supreme Court war ein Sieg für Burns,denn er glaubt, es war „Abu-Jamals letzterealistische Chance, einen neuen Prozesszu bekommen“.

Ist Mumia Abu-Jamal ein politischer Ge-fangener? „Niemand hat ihn je wegen sei-

ner Meinung verhaftet, doch dann hat erjemanden ermordet“, sagt Burns.

Burns’ Gegenspieler Robert Bryan istein Star-Anwalt, ein Spezialist für Fälle, indenen die Todesstrafe droht. Er kommt ausSan Francisco, sein Büro liegt im alternati-ven Stadtteil Pacific Heights, vom Fensteraus sieht er die Golden Gate Bridge.

Bryan sagt, er habe noch keinen Fall ver-loren. Er ist seit 2003 der Hauptanwalt für dasinzwischen fünfte Verteidigungsteam, dassich um Abu-Jamal kümmert. Spenden-komitees in aller Welt besorgen das Geld, in der „taz“ etwa wird annonciert, rund eineMillion Dollar sind gesammelt worden. Bryantelefoniert wöchentlich mit Abu-Jamal, erfliegt oft von der Westküste an die Ostküste,um mit ihm zu sprechen. Bryans Frau Nicole

ist Französin, sie organisiert die Kontakte inEuropa. In den vergangenen Monaten warder Anwalt zweimal in Berlin, aber auch inParis, Amsterdam und Den Haag. „Ich ver-bringe unendlich viel Zeit mit dem Fall.“

Er glaubt, dass „frühere Anwälte Fehlergemacht haben, die Mumia umbringenkönnen“. 700 000 Dollar Spendengelderhätten ehemalige Verteidiger bekommen,aber nicht genug Geld in die Untersuchungeiniger wichtiger Fakten gesteckt. Unddann sagt er, dass Danny Faulkner „sei-nen eigenen Tod verursacht hat, er war einTyrann, ein Rassist“. Es gibt keinen Belegdafür. Aber Billy Cook, Mumias Bruder,habe ihm kürzlich anvertraut, dass Faulk-ner ihn „Nigger“ genannt habe.

Doch was geschah wirklich in jenerNacht zum 9. Dezember 1981?

„Mumia ist unschuldig. Was wäre, wenn er in Notwehr geschossen hat?“ Ge-naueres, Details, will auch Bryan nicht schildern.

Nach dem Ende des ersten Prozesses inPhiladelphia zog Maureen Faulkner nachKalifornien, weit weg von allem, was anden Mord und an ihren toten Mann erin-nert. Sie versuchte, zur Ruhe zu kommen.Sie hat Jahre später einen neuen Lebens-partner gefunden.

Aber Mumia Abu-Jamal verschwandnicht aus ihrem Leben. Da war der Col-lege-Student mit dem „Free Mumia“-T-Shirt, den sie an einer Tankstelle sah,oder der Artikel, den Abu-Jamal in der„Yale Law Review“ veröffentlichte. Überallbegegnet er ihr: Mumia, das Opfer.

Maureen fing an, sich zu wehren.Sie schrieb Briefe, sie organisierteeinen Marsch von Polizisten zumRegierungssitz von Pennsylvania.Dort trafen sich Maureens Freundeund die Mumia-Unterstützer: „LasstMumia frei“, riefen die einen, „tö-tet ihn jetzt“, die anderen.

Im Frühjahr 1995 veröffentlichteMumia Abu-Jamal sein erstes Buch:„… aus der Todeszelle: Live fromDeath Row“. Maureen mietete einFlugzeug mit einem Banner, dasüber dem Gebäude von MumiasVerlag kreiste. „Addison-Wesley un-terstützt Polizistenmörder“ standauf dem Banner.

Das Buch wurde ein Bestseller.Abu-Jamal verdiente viel Geld da-mit. Mumia habe ein Recht auf freieRede, argumentieren seine Unter-stützer. „Mein Mann ist im Grab.Er kann nicht frei reden“, sagt Mau-reen. Sie lässt nicht nach.

Viele Jahre ging das so, einesMorgens habe sie, erzählt MaureenFaulkner, zufällig den Song „Won-derful World“ gehört, sie habe ge-weint. „Ist es wirklich eine wunder-bare Welt? Das habe ich mich ge-fragt. Oder eine, in der ich allein dieFeuer der Hölle austreten muss?“

Maureen Faulkner und ihr neuer MannPaul Palkovic sitzen an ihrem Küchentisch.Er verkauft Versicherungen an große Fir-men, sie haben zwei Hunde, von denenüberall Fotos hängen. Von ihrem erschos-senen Ehemann gibt es keine Fotos, daswäre unfair gegenüber Paul, sagt sie. DerTote ist trotzdem immer präsent.

Im Gespräch ergänzt Paul die Sätze Mau-reens, er kennt die Akten, er kennt die De-tails. „Ich liebe Maureen, und ich weiß, dasssie das auch tun würde, wenn ich derjenigeim Grab wäre.“ Er will, dass Mumia stirbt.„Rache ist ein Teil von Gerechtigkeit.“

Maureen Faulkner sagt, sie würde nichtfeiern, wenn Abu-Jamal jetzt hingerichtetwürde. „Ich bin keine rachsüchtige Per-son. Ich würde beten. Es wäre ein Ende.“Will sie, dass er stirbt? „Sonst würde ich

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Polizist Faulkner (r.) um 1978: Rache ist ein Teil Gerechtigkeit

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immer denken, dass er doch noch frei-kommt“, antwortet sie. Darum geht es ihr.Dass Hinrichtungen inhuman sind, dasskein demokratischer Staat die Todesstrafevollstrecken sollte, diese Argumente kenntsie, aber für sie klingt das sehr fremd, eineeuropäische Einstellung eben.

„Es kann sein, dass der Kampf immerweitergeht. Bis sie stirbt. Oder er“, sagtPaul.

„Du versuchst, nicht ans Sterben zudenken“, sagt Mumia Abu-Jamal. Er hateinen Klapptisch in seiner Zelle, dochmeistens sitzt er auf der Pritsche, mit derSchreibmaschine auf dem Schoß. Mumiahat noch nie einen Computer bedient, sei-ne Informationen stammen aus Artikeln,die ihm Unterstützer per Post schicken.

In seinem neuen Buch „Jailhouse Law-yers“ schreibt er über den Todestrakt, weiles „ein Ort ist, von dem Amerika seltenhört“, sagt er, „ein grausamer Ort“. Er er-zählt von Gefangenen mit Wahnvorstel-lungen, vom Gestank, wenn als Strafe dasWasser abgestellt wird, von einem Häft-ling, der seine Pritsche als Trommel be-nutzte und dazu sang, 15 Stunden am Tag.

Mumia Abu-Jamal will eigentlich nichtüber seinen Fall reden und tut es danndoch, ein bisschen. Er erwähnt, dass er ungefähr im Mai 1981 mit dem Taxifahrenangefangen habe. Den Revolver kaufte erangeblich, weil er überfallen worden war.

„Und wann haben Sie die Waffe ge-kauft?“ Diese Frage beantwortet er nicht.

In den Akten steht die Aussage des Waf-fenhändlers Joseph Kohn. Danach hat Mu-mia Abu-Jamal die Waffe schon 1979 beiihm gekauft, lange bevor er mit dem Taxi-fahren anfing.

Bernd Häusler ist Menschenrechtsbe-auftragter der Rechtsanwaltskammer Ber-lin. Er trägt ein doppelreihiges Jackett mitGoldknöpfen und einen Pferdeschwanz.Er hat Robert Bryan in Berlin kennenge-lernt und nutzt nun eine USA-Reise, umden Häftling zu besuchen.

„Wir können eine Erklärung abgeben“,sagt der Berliner Jurist zum amerikani-schen Todeskandidaten. „Warum solltenicht die Rechtsanwaltskammer Berlin dieRechtsanwaltskammer Pennsylvanias an-schreiben?“, fragt er und strahlt. „Dannbrechen wir jemanden aus dieser Frontheraus. Nicht?“

Ende März ehrte die Berliner Akade-mie der Künste den Todeskandidaten miteiner großen Solidaritätsveranstaltung. Aufdem Podium saßen Robert Bryan, der ehe-malige FDP-Innenminister Gerhart Baumund Günter Wallraff. Bryan sprach überRassismus. Baum sagte, die Menschen-würde werde mit Füßen getreten. Wallraffsagte, dass es auch um Abu-Jamals Bot-schaft gehe, die eines „Humanisten“ und„Pazifisten“.

Mumia ist der Held. Und Danny Faulk-ner war nur ein weißer Polizist im rassisti-schen Amerika.

Belletristik

Bestseller

Sachbücher

Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom

Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl-

kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller

1 (1) Eckart von Hirschhausen

Glück kommt selten allein …Rowohlt; 18,90 Euro

2 (2) Richard David Precht

Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Goldmann; 14,95 Euro

3 (9) Michael Jürgs Seichtgebiete – Warum wir hemmungslos verblöden C. Bertelsmann; 14,95 Euro

4 (3) Inge Jens UnvollständigeErinnerungen Rowohlt; 19,90 Euro

5 (–) Volker Zastrow

Die Vier – Eine Intrige Rowohlt Berlin; 19,90 Euro

6 (7) Eduard Augustin/Philipp von

Keisenberg/Christian Zaschke

Ein Mann – Ein BuchSüddeutsche Zeitung; 19,90 Euro

7 (10) Helmut Schmidt/Giovanni

di Lorenzo Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt Kiepenheuer & Witsch; 16,95 Euro

8 (11) Michael Winterhoff

Warum unsere Kinder Tyrannen werden Gütersloher Verlagshaus; 17,95 Euro

9 (4) Richard David Precht

Liebe – Ein unordentliches GefühlGoldmann; 19,95 Euro

10 (8) Rhonda Byrne

The Secret – Das Geheimnis Goldmann; 16,95 Euro

11 (5) Wilhelm Schlötterer

Macht und Missbrauch Fackelträger; 22,95 Euro

12 (6) Hanspeter Künzler

Michael Jackson – Black or WhiteHannibal; 14,95 Euro

13 (15) Michael Winterhoff

Tyrannen müssen nicht sein Gütersloher Verlagshaus; 17,95 Euro

14 (12) Helmut Schmidt Außer DienstSiedler; 22,95 Euro

15 (13) Margaret Heckel So regiert die Kanzlerin Piper; 14,95 Euro

16 (14) Jan Fleischhauer Unter Linken – Von einem, der aus Versehen konservativ wurde Rowohlt; 16,90 Euro

17 (16) Stephan Kulle 40 Tage im Kloster des Dalai Lama Scherz; 19,95 Euro

18 (–) Ilija Trojanow/Juli Zeh

Angriff auf die Freiheit Hanser; 14,90 Euro

19 (–) Heiner Geißler Ou Topos – Suche nach dem Ort, den es geben müßte Kiepenheuer & Witsch; 18,95 Euro

20 (18) Christoph Schlingensief So schönwie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Kiepenheuer & Witsch; 18,95 Euro

1 (1) Stephenie Meyer

Bis(s) zum Abendrot Carlsen; 22,90 Euro

2 (2) Stephenie Meyer

Bis(s) zum Ende der Nacht Carlsen; 24,90 Euro

3 (3) Dora Heldt

Tante Inge haut abdtv; 12,90 Euro

4 (4) Sarah Kuttner

MängelexemplarS. Fischer; 14,95 Euro

5 (5) William Paul Young

Die HütteAllegria; 16,90 Euro

6 (6) Moritz Netenjakob

Macho ManKiepenheuer & Witsch; 13,95 Euro

7 (7) Cassandra Clare

City of Glass – Die Chroniken der Unterwelt 3Arena; 19,95 Euro

8 (8) Simon Beckett

LeichenblässeWunderlich; 19,90 Euro

9 (10) Henning Mankell

Daisy SistersZsolnay; 24,90 Euro

10 (15) Anonymus

Das Buch ohne NamenLübbe; 16,95 Euro

11 (–) John Grisham

Der AnwaltHeyne; 21,95 Euro

12 (9) Donna Leon

Das Mädchen seiner Träume Diogenes; 21,90 Euro

13 (12) Joanne K. Rowling

Harry Potter und die Heiligtümer des Todes Carlsen; 24,90 Euro

14 (14) Stephenie Meyer

SeelenCarlsen; 24,90 Euro

15 (17) Karin Slaughter

ZerstörtBlanvalet; 19,95 Euro

16 (11) Sebastian Fitzek

SplitterDroemer; 16,95 Euro

17 (13) Daniel Glattauer

Alle sieben Wellen Deuticke; 17,90 Euro

18 (16) Jay Asher

Tote Mädchen lügen nicht cbt; 14,95 Euro

19 (–) Hans Rath

Man tut, was man kannWunderlich; 14,90 Euro

20 (20) Ken Follett

Die Tore der WeltLübbe; 24,95 Euro

Die Firma zum Zweiten:

Justizthriller und

Plädoyer gegen die

unmoralische Welt

der riesigen Kanzleien

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Hessische Schlangen-

grube: Wie Andrea

Ypsilanti an eigener

Machtgier und

Fallenstellern in der

SPD scheiterte

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Pop hat eine offene Grenze zur Reli-gion. Nirgends wird das so klar wiein der Abbey Road in London. Vor

der Tür der berühmten Studios: die Pilger.Junge Italiener ritzen ihren Namen in denZaun, vier Japaner stellen das berühmteCover nach, das auf der Straße fotogra-fiert worden ist. In diesem unauffälligenweißen Gebäude haben die Beatles denGroßteil ihrer Songs eingespielt, sich vorihren Fans versteckt und die Möglichkeitendes Klangexperiments entdeckt.

Drinnen geht es zu wie in einem Kloster.Sieben Toningenieure haben in den ver-gangenen rund vier Jahren das Gesamt-werk der Beatles hier digital überarbeitet.Ein Mammutprojekt, das vielleicht nur mitder Arbeit jener Mönche zu vergleichenist, die im Mittelalter in der Einsamkeit ihrer Zelle die Evangelien abschrieben.Wort für Wort, Seite für Seite.

Der Beatles-Katalog ist die Bibel desPop. Für das Projekt seiner vollständigenWiederveröffentlichung, in zwei Boxen mit13 beziehungsweise 16 CDs, wurde er vomanalogen ins digitale Zeitalter übertragen.Song für Song, Platte für Platte. AnfangSeptember werden sie erscheinen.

Allan Rouse, ein Mann Mitte fünfzig,graue Haare, freundliches Lächeln, hat dasProjekt geleitet. Er empfängt in StudioThree, auch hier haben die Beatles aufge-nommen. Seit 1971 arbeitet Rouse in denAbbey Road Studios, da hatte sich dieBand gerade aufgelöst. Ein Leben für dieBeatles. Er war viele Jahre der Assistentvon George Martin, dem ehemaligen Pro-duzenten der Fab Four. Dieser beauftragteihn 1991, eine Sicherheitskopie der Beatles-Masterbänder anzufertigen. Seitdem ar-beitet Rouse das Werk der Beatles auf.

Da gab es einiges zu tun: „Live at theBBC“; das Rückblicks-Großprojekt „An-thology“, das Mitte der Neunziger auf ins-gesamt sechs CDs Raritäten versammelte,der dazugehörige Fernsehfilm kam späterals DVD-Box heraus; die Neuedition von„Yellow Submarine“ im 5.1-Surround-Sound; „Let It Be … Naked“, das umstrit-tene Experiment, das letzte Beatles-Albumnoch einmal herauszubringen – als reineRockplatte ohne die Orchesterarrangements.Auch an „Love“, der großen Collage zahl-reicher Beatles-Songs, war Rouse beteiligt.

Die vergangenen zehn Jahre habe er nur Beatles gemacht, sagt er. Das ist etwa solange, wie die Beatles zusammen waren.Das neue Projekt ist jetzt sein Meisterwerk.

Nun muss jede analoge Aufnahme, dieneu auf CD erscheinen soll, digital bear-beitet werden. Das heißt zunächst einmalnichts weiter, als dass von dem alten Ori-ginalband eine digitale Kopie angefertigtwird, um eine Vorlage zum Herstellen derCDs zu haben. Man kann sich nur mehroder weniger Mühe dabei geben. Im Fallder Beatles wurde Ende der Achtzigernicht besonders viel Mühe aufgebracht, alsdie Platten zum ersten Mal digitalisiertwurden. Das ist nun anders.

Schon der Umstand, dass es zwei Bo-xen sind, zeigt an, mit welcher Besessen-heit hier gearbeitet wurde: Die Zeit derBeatles fiel zusammen mit dem Übergangvon der Mono- zur Stereoplatte. Bis aufdie letzten zwei Alben sind alle Beatles-Platten mono und stereo auf den Marktgekommen. Also muss es jetzt auch zweiBoxen geben: „The Beatles Mono Box“und „The Beatles Stereo Box“. Die Beatles, erzählt Rouse, brauchten damalsmanchmal nur eine halbe Stunde, um einen Song zu mixen. Er und sein Teambrauchten für das sogenannte Remasternjedes Mal mehrere Tage.

Remastern ist eine Kunst, die mit derRestauration von Gemälden vergleichbarist. Dort wird in einem aufwendigen Pro-zess versucht, die Farben wieder so leuch-ten zu lassen wie an dem Tag, an dem derKünstler das Bild fertigstellte. Im Grundeeine unmögliche Aufgabe, denn auf derSuche nach dem Original arbeitet man esum. Ganz ähnlich das Remastern: Mit derneuesten Technologie wird all der Dreck

entfernt, der sich rund um die Aufnahmeangelagert hat, die kleinen Klicks und Hol-perer, die Aufnahmefehler und Tonband-geräusche. Das Ziel ist paradox: Es soll soklingen wie damals, nur besser.

Hört man es wirklich? Rouse legt „HereComes the Sun“ in den CD-Player. Erst inder alten Version, dann in der neuen. Undtatsächlich: Der Song klingt klarer, als hät-te man den Staub abgewischt. Das Gleichebei „Strawberry Fields Forever“. Bei „ADay in the Life“ hört man klar und deut-lich im Abspann, wie ein Stuhl quietscht –damals im Studio muss sich jemand unbe-dacht gedreht haben.

Ist er selbst zufrieden mit dem Ergebnisseiner Arbeit? Rouse zuckt mit den Schul-tern und lächelt. „Paul McCartney mag es.Ringo Starr mag es. Yoko Ono und OliviaHarrison mögen es. Das reicht mir.“

Die Plattenfirma EMI verspricht sich je-denfalls einiges von den zwei Beatles-Bo-xen. Die Band soll noch einmal für einenwarmen Geldregen sorgen. Parallel wirddie Beatles-Version von „Rock Band“ er-scheinen, ein Videospiel, bei dem man dieBeatles-Songs vor dem Bildschirm nach-spielen kann; für jeden getroffenen Tongibt es Punkte. Auch erscheint es nicht un-wahrscheinlich, dass der Beatles-Katalogdiesen Herbst zum ersten Mal als digitalerDownload in den iTunes Music Store ge-stellt wird. Als eine der letzten großenBands weigern sich die Beatles bislang, ihreMusik im Netz zugänglich zu machen. Werihre Songs auf dem iPod hören wollte,musste sie von CD überspielen.

Nicht die Sorge von Allan Rouse. Auchnach all der Zeit mit den Beatles höre erihre Songs noch gern, sagt er. Auf seinemiPod aber laufe was anderes. Tobias Rapp

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Phänomen The Beatles in der Abbey Road 1969: Nur Mönchen vergleichbar

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Vom Staubbefreit

In zwei monumentalen CD-Boxenerscheint das Gesamtwerk

der wichtigsten Band der Pop-Geschichte noch einmal –

die Beatles digital remastered.

Kultur

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Die Weltgeschichte hätte einen besseren Verlauf genom-men, wenn Adolf Hitler über seine Dienstwagenaffäregestolpert wäre. Im Februar 1925 war ihm ein Mercedes

Kompressor im Wert von 26000 Reichsmark angeliefert worden.Das Finanzamt München III, bei dem er als Steuerschumm-ler verdächtig war, forderte ihn auf, „bald gefälligst mitzutei-len, woher die Mittel zum Ankauf des Personenwagens stam-men …“. Hitler behauptete, ein Darlehen aufgenommen zuhaben. Die Zuwendungen reicher Gönner verschwieg er. Diewussten, dass Hitler ein Auto brauchte, um seine desolateNSDAP wieder aufzubauen.

Man kann politische Geschichte auch als Geschichte von Dienst-wagen erzählen, vor allem in Deutschland. Seitdem es Autos gibt,sind sie für Politiker Orte der Machtausübung, des Todes, derLiebe, der Entspannung und der Verzweiflung. Dienstwagen sindeminent politische Orte, und immer wieder sind sie Anlass für Af-fären. Rita Süssmuth hatte eine, Monika Griefahn oder Sigmar Ga-briel. Schon im Umfeld von Konrad Adenauer wurde gemauschelt.Sein Referent hatte ihn davon abgehalten, auf einen Dienstwagenvon BMW umzusteigen. Dafür bekam der Referent Leihwagenvon Mercedes. Nun ist es Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, dieihren Dienstwagen in den Urlaub nach Spanien hat nachkommenlassen. Das kam heraus, als der Mercedes geklaut wurde.

Meist sind die Anlässe gering. Es geht eher um Ungeschick-lichkeit als um wirkliche Vergehen. Umso verwunderlicher ist dieöffentliche Debatte, die Empörung auf beiden Seiten. Vor allemdie Boulevardmedien sehen in der Dienstwagenaffäre eine Chan-ce, Bürger zornig zu machen, und wer zürnt, der liest oder schautfern. Bei Ulla Schmidt fällt auf, wie patzig sie sich verteidigt undwie erbittert sie an ihrem Anspruch auf einen Dienstwagen im Ur-laub festhält. Offenkundig geht es um sehr viel. Worum geht esalso wirklich bei einer Dienstwagenaffäre?

Wer verstehen will, was einem Politiker sein Auto bedeutet,sollte in diesen Tagen eine Wahlkampfveranstaltung besuchen.Am Ende, wenn alles gesagt ist, kommt der Ansturm. Das Volk

will Nähe. Jetzt ist die Gelegenheit, eine Fernsehgestalt zu be-fragen, zu berühren, zu beschimpfen, jetzt geht der Wähler aufTuchfühlung für ein Handy-Foto, jetzt ist er für den Politikereine Mischung aus Kaffeeatem, Körperwärme und Handschweiß.Politiker suchen diese Begegnungen, um Volksnähe zu zeigen,aber sie leiden auch daran. Irgendwann gibt es nur noch ein Ziel:den Dienstwagen, schnell hinein, die Tür macht gefällig plopp,und – ah – Stille. Panzerglas sorgt für Distanz, der Motor schnurrtgemütlich, und weg hier.

Solange der Dienstwagen rollt, kann sich der Politiker, meistein gehetzter Mensch, entspannen, ein Nickerchen halten, für

eine kleine Weile regiert der Turbolader mit säuselnder Kompe-tenz. Fotografen und Kameramänner sind weit weg, die totaleSelbstkontrolle kann gelockert werden, der Politiker ist jetztMensch, nicht Figur. Er ist in Sicherheit.

Für Angela Merkel ist der Dienstwagen zudem der Ort, andem sie Nachrichten verdauen muss. Steigt sie aus dem Flugzeugoder dem Hubschrauber, schaltet sie in ihrem Audi sofort dasHandy ein und wird mit Meldungen überschüttet. Auf dem Rück-sitz erlebt sie von Freude bis zu Verzweiflung jede Gefühlslage.Da hat die noble Sachlichkeit, die sie im Audi umgibt, eine beru-higende Wirkung. Solange sie hier sitzt, ist sie noch Kanzlerin.

Eines der größten Dramen der deutschen Politik spielte sichauch in einem Dienstwagen ab. Als Oskar Lafontaine 1999 ur-plötzlich als Finanzminister und SPD-Chef zurückgetreten war,ließ er sich sofort von Bonn nach Hause ins Saarland fahren.Bundeskanzler Gerhard Schröder versuchte, ihn telefonisch zu er-reichen, aber Lafontaine meldete sich nicht. Die Landschaft linksund rechts der Autobahn flog vorbei, das Handy bimmelte, undLafontaine war von inneren Tumulten durchtobt. Als er seinenDienstwagen nach Bonn zurückschickte, war allen klar, dass er esernst meinte mit dem Rücktritt.

Im schlimmsten Fall ist der Dienstwagen ein Ort des Todes.Daran erinnerten vergangene Woche in Zeitungen Fotos von demMercedes, in dem 1977 ein Kommando der RAF Generalbundes-

Kultur

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Rollende Heimat W a r u m D i e n s t w a g e n a f f ä r e n d i e D e u t s c h e n s o e m p ö r e n

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anwalt Siegfried Buback erschossen hatte. Es gab neue Hinweiseauf die Täter.

Vor allem als Dienstwagen noch Cabriolets waren, wurdenPolitiker häufig in ihrem Auto erschossen. Den österreichi-schen Thronfolger Franz Ferdinand traf dieses Schicksal, ebensoden deutschen Außenminister Walther Rathenau sowie John F. Kennedy. Heute sind eher Bomben eine Bedrohung. UllaSchmidt fühlte sich zeitweilig von wahnsinnigen Gegnern derGesundheitsreformen verfolgt, und ein Privatauto ist nicht sosicher wie ein gepanzerter Dienstwagen. Schmidt verteidigt nicht bloß ihr Recht auf ein Auto, sondern auf eine beweg-liche Burg, die vor Terror und vor Zudringlichkeit schützt. My caris my castle.

Das Volk ist drinnen ja trotzdem vertreten, auf angenehmeWeise. Vorn sitzt der Chauffeur, üblicherweise ein Mensch, derseine Arbeit in stiller Dienstlichkeit verrichtet. Auf Anfrage kanner dem Politiker vom Leben der kleinen Leute berichten undwird dies schonend tun, denn er ist als treue Seele dem Wohlbe-finden seines Fahrgastes verpflichtet. Mit der Zeit wird man zumPaar, so wie Helmut Kohl und sein Fahrer Eckhard Seeber, der 46Jahre lang Kohls Autos gesteuert hat. Von Seeber wird berichtet,dass er auf Nachtflügen ins Ausland alle zwei Stunden aufge-standen ist, um Kohl die weggewühlte Decke wieder über denKörper zu ziehen. Am Zielort wartete schon ein Dienstwagen, und

da saßen sie dann wieder zusammen wie im gemeinsamen Wohn-zimmer. Auch Ulla Schmidt pflegt eine enge Beziehung zu ihremChauffeur.

Ein Dienstwagen kann natürlich auch ein Ort der Liebe sein.Sogar Hitler war für die Erotik der Rückbank empfänglich.Seine Geliebte Maria Reiter, genannt Mizzi, hat berichtet,

dass er sie bei einer Landpartie mit einem Mercedes-Cabrioletzum ersten Mal geküsst habe. Es ist nicht bekannt, ob Hitler die-sen Ausflug wahrheitsgemäß als Privatfahrt deklariert und abge-rechnet hat.

Als Winston Churchill nach dem Ende seiner politischen Karrieregefragt wurde, was er am meisten vermisse, soll er gesagt haben:„Transportation.“ Der ehemalige Außenminister Gerhard Schröder(CDU) rief seinem Nachfolger Willy Brandt melancholisch hinter-her: „Da fährt er nun mit meinem schönen Auto.“ Von seinemNamensvetter aus der SPD, dem „Autokanzler“ Gerhard Schröder,wird gesagt, er habe beim Anblick von Angela Merkel im Kanzler-dienstwagen einen ähnlichen Schmerz empfunden. Vielleicht wares noch schlimmer, weil nun eine Frau auf seinem Platz saß.

Abgewählte Politiker geben mehr her als bloß ein Auto. Sie ver-lieren mit ihm das Symbol ihrer Bedeutung, und sie verlieren einStück Heimat. Nichts weniger ist ein Dienstwagen im rastlosenLeben der Spitzenpolitiker.

Die wissen zudem, dass das Leben nach dem Dienstwagenschwierig wird, denn die Zeit des Gefahrenwerdens ist auch eineZeit behaglichen Kompetenzverlustes. Als Christina Weiss, dieehemalige Staatsministerin für Kultur, ihr Amt verlor und wiedermit einem Privatwagen unterwegs sein musste, rätselte sie beimersten Stopp an einer Zapfsäule: „Wo ist der Tankdeckel? Wie gehtdas Ding überhaupt auf?“ Einmal ist sie hinten rechts eingestiegen,und dann wunderte sie sich, dass ihr Auto nicht losfuhr. Sie hattesich sehr an die Annehmlichkeiten eines Chauffeurs gewöhnt.

Aus all diesen Gründen zeigen sich Politiker bei einerDienstwagenaffäre besonders empfindlich. Sie haben dasGefühl, dass an ihrem Recht auf Heimat gekratzt wird. Das

musste auch Franz Josef Strauß feststellen, als er 1967, damalsBundesfinanzminister, versucht hat, Dienstwagen auf einen Hub-raum von zwei Litern zu begrenzen. Es gelang ihm nicht. UllaSchmidts Mercedes hat vier Liter Hubraum.

Das weckt im Bürger nicht die besten Gefühle. Der Deutsche,Bürger einer Auto-Nation, hat eine geschulte Empfindlichkeit fürStatusfragen, die sich an den Wagen knüpfen. Spätestens mitdem ersten Auto-Quartett üben Kinder eine komparative Haltungzum Kraftfahrzeug ein. Hubraum? PS? Zylinderzahl?

Das setzt sich in allen Lebensaltern fort, und wenn sich danndie Gardinen zur Seite schieben, weil der Nachbar mit einem

neuen Auto vorgefahren ist, hierarchisiert sich die Gesellschaft,nach Hubraum, nach PS, nach Zylinderzahl. Wenn es einen deut-schen Moment gibt, dann muss es dieser sein. Ist das neue Gefährtgar ein Dienstwagen, eskaliert die Argusäugigkeit.

Einen liebevollen Blick konnten die Deutschen bislang nur aufMichael Schumachers ruhmreichen Ferrari richten, der zärtlich„Schumis roter Dienstwagen“ genannt wurde. Ansonsten geltenbei diesem Thema Neid und Missgunst. Im Betrieb fächert sich die Hierarchie sogar anhand von Ausstattungsdetails auf. Wersehen muss, dass der Kollege auf Ledersitzen fährt, währendeinem selbst nur Textilbezüge bewilligt wurden, weiß, was eineDemütigung ist.

Fast zwei Drittel aller Neuzulassungen sind inzwischen Dienst-wagen, meist Volkswagen vom Typ Passat. Aber Ulla Schmidtfährt Mercedes S-Klasse. Das ist für das Volk allenfalls zu ertra-gen, wenn sie dies in strengster Pflichterfüllung tut.

So prallen in der Dienstwagenaffäre zwei Haltungen aufeinan-der, das Heimatgefühl der Politiker und die Empfindlichkeit derBürger. Verständigung ist in dieser Frage nur möglich, wenn bei-de Seiten Nachsicht zeigen. Die Patzigkeit der Ulla Schmidt istalso verheerend. Demut wäre das richtige Signal. Aber solange der Dienstwagennutzer nicht Gesetze verletzt hat, sollte für dieBürger eine Haltung gelten, die aus Schmidts rheinischer Heimatstammt: gönnen können. ™

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Die Allergrößten sindsie nicht mehr, hierauf dem Vorplatz vor

dem Deutschen National-theater in Weimar. Das be-triebige Kaufhaus nebenanmit der modernen Glas-schürze überragt sie maß-los. Doch wer vor den bei-den stehenbleibt und zuihnen aufschaut, hat Zeit,viel Zeit.

Sie wirken wie Verschwö-rer, Schulter an Schulter zwi-schen all den krempelschlep-penden Menschen. Der eine,Goethe, hält den Dichter-Lor-beer, der andere, Schiller, derin diesem Jahr seinen 250.Geburtstag feiert, schwenkteine Schriftrolle, die die Er-klärung der Menschenrechteenthalten könnte.

Gemeinsam wirken sie wieeine Beschwörung, die tief indie Vergangenheit reicht undweit hinaus in die Zukunft.Sie hatten ein antikes Men-schenideal im Sinn, und siehaben früh formuliert, wasauf dem Weg in die Moderneverlorengehen wird.

Beide sind sie Schwellen-figuren. Schiller erahnte inseinen Briefen „Über dieästhetische Erziehung“ dieZerrissenheit des Menschenin der neuen Zeit, in der jeder nur nochder Abdruck seiner Tätigkeit sei, währendGoethe mit seinem „Faust“ den rastlosen,von Erlebnishunger und Sensationen vor-wärtsgepeitschten Menschen beschwor.Das Kaufhaus mit seinem Ameisengewim-mel gibt beiden recht.

Beide sind auf ihre Art missverstandenworden von den Deutschen, zum Teil gro-tesk. Schiller als Dichter des bieder Bür-gerlichen oder Dämonischen, Goethe alsRepräsentant des deutschen Reichs. Nunist die Zeit reif für eine Neubetrachtung.

Goethe und Schiller auf ihrem Podest,gleich groß, gleich klein. Das hat seinenGrund. Sie waren von dem Gefühl ihrerFreundschaft so sehr beseelt, dass keiner,wie Goethe später schrieb, „ohne den An-dern leben konnte“.

Andere National-Literaturen haben ihregroßen Einzelnen, die Engländer ihrenShakespeare, die Franzosen ihren Voltaire,die Russen Puschkin. Hier sind es zwei,die sich zu einem enormen Projekt zu-sammengeschlossen hatten: zur ästheti-schen Erziehung der Nation, des großenLümmels. Es gibt diese beiden, und sonstlange nichts.

Wie sie sich umkreisen und voreinan-der fliehen, sich beschimpfen und schließ-lich zusammenfinden, das ist nun zum ersten Mal für ein breites Publikum vonRüdiger Safranski umfassend beschriebenworden*.

* Rüdiger Safranski: „Goethe und Schiller. Geschichte einer Freundschaft“. Hanser Verlag, München; 344 Seiten;21,50 Euro.

Goethe als Genie der In-tuition, Schiller als das derReflexion, gemeinsam ange-treten, um ein Ideal zu be-schreiben, das leuchtet bisheute: die Versöhnung vonVernunft und Natur, vonPflicht und Neigung, von Stilund Persönlichkeit.

Es ist kein Erziehungsrat-geber, kein Lebenshilfebuchfür den Stapel neben der Ladenkasse, aber durchauseines darüber, was wir mitunserer Freiheit anfangen.Sind wir nur verblödete He-donismus-Maschinen, oderwollen wir mehr von uns?

Dass sie sich überhaupt zu-sammenfanden und wie siees taten, ist eines der großenRätsel, denn sie hätten nichtunterschiedlicher sein kön-nen: der ewig kränkelndeSchiller und die robuste Na-tur Goethe, der eine vonSeelenfeuern und Tabak undvom Geruch fauler Äpfelvorwärtsgetrieben, der ande-re in sich ruhend, GeheimerRat und Naturforscher undDichter aus Neigung. Dereine kämpft, der andere wirdgehätschelt.

Als Friedrich Schiller Goe-the zum ersten Mal sieht, knieter vor ihm. Kein guter Auftakt

für einen neidfreien Umgang in der Zukunft.Es ist der 14. Dezember 1779, der württem-bergische Herzog Karl Eugen führt dieSchüler der Karlsschule dem WeimarerHerzog Carl August vor, Johann WolfgangGoethe steht an dessen Seite, würdevoll steif.

Die Schüler knien, um Karl EugensMantel zu küssen, und Schiller versuchteinen verstohlenen Blick auf das Genieüber ihm. Goethe ist ein berühmter Autor,Schiller ein Pennäler, der vom Ruhm vor-erst nur träumen kann. Goethe hat bereitsdas Ritterschauspiel „Götz von Berlichin-gen“ veröffentlicht und den empfindsamen„Werther“, einen europäischen Bestseller.Und Schiller – nichts.

Schiller kniet, er lugt nach schräg oben.August Wilhelm Iffland erinnerte sich:„Goethe hat einen Adlerblick, der nicht

Kultur

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D I C H T E R

Die Verschwörer von WeimarIn seinem neuen Buch „Goethe und Schiller“ beschreibt Rüdiger Safranski die einzigartige Freundschaft dieser ungleichen Männer – und ihr großes, gemeinsames Projekt, das immer

noch auf seine Vollendung wartet: die ästhetische Erziehung des Menschen. Von Matthias Matussek

Friedrich von Schiller, Gemälde von Gerhard von Kügelgen, um 1809

„Alles, was Geschmack

haben will, muss uns lesen und kaufen.“

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zu ertragen ist.“ Wie kann man mit so einem ins Gespräch kommen?

Rüdiger Safranski, 64, ist eine singuläreErscheinung im deutschen Buchmarkt. Ererzählt Geistesgeschichte und macht siebestsellerfähig. Seine deutschsprachige Gesamtauflage liegt mittlerweile bei knapp einer Million. Er hat über E. T. A. Hoff-mann geschrieben, über Schopenhauer,über Nietzsche und hat das Kunststück fer-tiggebracht, Heideggers Denken aus seinen Dunkelheiten zu heben.

Oft scheint Safranski inseinen Büchern einen hinter-gründigen Kommentar zumZeitgeist zu liefern, etwawenn er zum 68er-Revivalüber die Romantiker schreibtund die Kultur der Erregungin Deutschland. Bisweilenaber scheint der Zeitgeistsich Safranskis Stoffe zuwählen, um sich darin zuspiegeln – die Beschäftigungmit der deutschen Klassikfällt in eine Phase, in der diegroßen politischen Projektezu Ende gedacht und ausge-tauscht sind gegen anthropo-logische Meditationen überdas, was wir können und waswir von der Kunst erwartendürfen: Selbsterziehung.

Sicher ist ein Teil des vor-liegenden Materials von ihmbereits zuvor ausgeleuchtetworden, besonders in seinerSchiller-Biografie. Doch nichtin diesen Perspektivwech-seln, in dieser polaren Span-nung. Wir sehen Goethe mitden Augen Schillers undSchiller mit den Augen Goe-thes. Und wir sehen erstaun-lich viel Angst, Unbehagen,Widerwillen, dann erst Re-spekt und schließlich Liebe.

Goethe gehört zum Zeit-punkt seines Auftritts in derKarlsschule längst zum Esta-blishment, die Kindereien des Sturm undDrang liegen hinter ihm, all diese Aus-schweifungen in Begleitung des jungenHerzogs und im Gefolge der jungen Genieswie Lenz und Klinger, mit Gelagen, aufdenen man Wein aus Graburnen becherte,rohes Pferdefleisch verspeiste, verrücktspielte, halbnackt an der herzoglichen Ta-fel erschien. Doch für die Nachrückendenwar Goethe noch immer mit Skandal undAufsässigkeit gegen die höfische Etiketteverknüpft, ganz besonders für Schiller, derseinen eigenen Paukenschlag gegen dieherrschenden Verhältnisse vorbereitete.

Schiller schickt seine wüsten „Räuber“auf die Bühne, die ihn von einem Tag auf den anderen berühmt machen, einIdeendrama über zwei Extremisten derFreiheit, Karl und Franz Moor, zwei Out-

laws, der eine ins Gute und der andere ins Böse.

Goethe widmet sich zu jener Zeit vor allem der Naturforschung – nicht der Ex-zess interessiert ihn, sondern das orga-nische Wachsen.

Für ihn ist die Menschheitsgeschichteverwandt mit der der Pflanzen und derTierwelt, er sammelt und sortiert. Als ermit dem Zwischenkieferknochen beimmenschlichen Embryo das Bindeglied zwi-schen Affe und Mensch nachweist, jubelt er.

Goethe ist ganz auf Erdung aus, aufKühlung der Temperamente, währendSchiller in seinen Höhenflügen rote Wan-gen bekommt. Safranskis Verknappung derbeiden Ansätze: „Der eine entdeckt denZwischenkieferknochen, der andere dieFreiheit.“

Eine grundlegende Frage: Woher kommtder Mensch, und was macht ihn aus?Goethe, der Naturforscher, feiert seineKnochenentdeckung, während Schiller, derSeelenschwärmer, den idealistischen Ab-sprung sucht. Im Grunde haben die beidendamit den Frontverlauf vorweggenommen,der bis heute die Debatte belebt.

Ist der Mensch nur ein biologisches Pro-gramm oder eine autonome Setzung? Ist erfrei oder ferngelenkt? Welche Rolle spieltdie Kunst? Man würde Goethe heute eher

ins Lager der Evolutionsbiologen rechnen,wenn sie nicht so vulgär wären, und Schil-ler ein bisschen näher an die, die an einengöttlichen Funken glauben, sei es die Be-gabung zur Liebe oder die zur Kunst.

Wenn Goethe seine „Iphigenie“ dich-tet, ist da nichts als hoher Kunstton und Menschenfreundlichkeit. Wie andersSchiller. Er richtet sich von vornherein an das Publikum, will es mitreißen, sei-ne Seele aufwühlen. Das Publikum sollhöchster Richter sein.

Für Goethe und Schillerkommt es nun zu Auf- undAusbrüchen. Schiller fliehtaus dem Machtbereich seinesHerzogs, der seinen Wir-kungskreis behindern will;Goethe gerät in eine Schaf-fenskrise und sucht buch-stäblich das Weite: Italien.Alles dort ist Sinnenfest.Goethe zeichnet, stürzt sichin Amouren, schreibt eroti-sche Elegien.

Schiller muss kämpfen.Am Mannheimer Theaterlässt er sich für drei Stückeverpflichten. Sein „Fiesco“fällt durch, „Kabale und Lie-be“, wiewohl erfolgreich, er-lebt in Mannheim nur zweiAufführungen, der Intendantlässt ihn fallen. Ein ersterschwerer Malaria-Anfall hat-te ihn zuvor schon aufs Lagergeworfen.

Er hungert sich durch, ver-schuldet sich, wendet sich anFreunde und trifft schließlichanlässlich einer Lesung ausdem „Don Carlos“ auf Her-zog Carl August, der ihn aufseine Bitte hin zum Weimari-schen Rat ernennt.

Als er endlich in Weimareintrifft, ist Goethe noch inItalien. Alle warten auf ihn,auch Schiller. Man feiertGoethes Geburtstag in seiner

Abwesenheit, eine „Sekte“ hat sich da ver-sammelt, wie Schiller sarkastisch notiert,durchaus zerstritten, aber alles kreist umden Geheimrat.

Nach seiner Rückkehr schließlich lerntGoethe die hübsche junge BürgerlicheChristiane Vulpius kennen und lieben.Schiller seinerseits heiratet 1790 die Adli-ge Charlotte von Lengefeld. Safranski:„Goethe bindet sich nach unten, Schillernach oben.“

Die Annäherung zwischen Schiller undGoethe verläuft langsam und komplex, wie unterschiedlich ihre Lebensstile undTemperamente sind. Unmöglich, dass sichdie beiden Diven je annehmen werden.

Während Goethe vom Herzog üp-pig ausgestattet wird, erhält Schiller fürseine Professur in Jena kein festes Ge-

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Johann Wolfgang von Goethe, Gemälde von Heinrich Kolbe, 1822

„Schillers Anziehungskraft war

groß, er hielt alle fest, die sich ihm näherten.“

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halt, selbst den Magistertitel soll er sich kaufen.

Ende der achtziger Jahre wohnt Schillerin Weimar, in diesem kleinen Städtchenmit gerade mal 6500 Einwohnern undhöchstens ein paar Dutzend, die den Tonangeben, doch Goethe hält Distanz. Sie leben in der Nachbarschaft, aber sie lebennebeneinander her. Keine Besuche, keineeinzige Einladung an Schiller.

Der nennt Goethe in seinen Briefen anKörner einen Egoisten. „Ich betrachte ihnwie eine stolze Prüde, derman ein Kind machen muß,um sie vor der Welt zudemütigen.“

Es wird noch dauern, bisdie beiden sich nahekom-men. Und in den Jahren, indenen sie sich weiterhin ausdem Weg gehen, reift inSchiller ein für ihn typischerEntschluss: Er wird Goethelieben, als Verstandesakt.

Zunächst also kommt dieEntscheidung des Kopfes, das Gefühl wird sich spätereinstellen. Er habe erfahren,schreibt er seinem Freundspäter, dass es „dem Vortreff-lichen gegenüber keine Frei-heit gibt als die Liebe“.

Es ist ein Sprung überTrennendes hinweg. ZurFranzösischen Revolutionnehmen sie unterschiedlichPosition. Schiller erkennt inihr den geschichtlichen Mo-ment. „Ein edles Verlangenmuss in uns entglühen.“Schiller ist pathetisch.

Goethe ist misstrauischer,und der Terrorverlauf derRevolution gibt ihm recht.Doch noch aus einem ande-ren Grunde lehnt Goethe dasEpochenereignis ab: Es be-gründet einen Mentalitäts-wandel, den Beginn einerdauerhaften Öffentlichkeit.Nun findet jeder Anlass zum Mitmachenund Mitmeinen, Nahes und Fernes ver-schwimmen, keiner ist er selbst und jederwie der andere.

Ein professioneller Anlass bringt die bei-den schließlich zusammen, ein Zeitschrif-tenprojekt. Das Zeitalter des Massenmarktsund der Rotationen kündigt sich an.

Der Verleger Cotta war an Schiller her-angetreten mit der Idee zu einer Zeitung.Doch Schiller will es elitär. Von einer ta-gesaktuellen Zeitung will er nichts wissen,aber für ein Luxusjournal ist er zu haben.Die Humboldts sind eingeladen, Fichte,Herder, Kant, das Beste, was das Volk derDichter und Denker aufbieten kann, unddas ist damals einzigartig in der Welt.

„Unser Journal soll ein Epoche ma-chendes Werk sein“, schreibt Schiller, „und

alles, was Geschmack haben will, muß unskaufen und lesen.“ Jede Menge Tamtamalso, vorzügliche Ausstattung, prächtigesPapier, „Vanity Fair“ in Weimar, die Edel-federn der Nation, und natürlich darf einernicht fehlen: der Geheimrat.

Schiller schmeichelt Goethe. Ohne„Hochwohlgeboren“ sei das ganze Unter-nehmen nichts. Goethe antwortet in dreiStufen: Er ist für das Vertrauen dankbar, ernimmt mit Dank an, und schließlich: „Ichwerde mit Freuden und von ganzem Her-

ze von der Gesellschaft sein.“ Ein langerAnlauf für diese Freundschaft, ein nochschwierigerer Anstieg. Doch schließlich istdas Plateau erreicht.

Goethe spürt: Da draußen hat sich wasgeändert. Sein Torquato Tasso hatte nochfür den Ruhm und die Nachwelt geschrie-ben, jetzt gilt der Verkaufserfolg.

Zur Gründungsversammlung der „Ho-ren“ – so soll die Zeitschrift heißen – tref-fen sich die beiden mit Fichte und Wilhelmvon Humboldt in Jena. Hier nun kommt eszu dem entscheidenden ersten Gespräch,zum ersten großen Funkenflug.

Nach einem gemeinsam besuchten Vor-trag in der Naturforschenden Gesellschafttreten Goethe und Schiller auf den Vor-platz hinaus. Schiller kritisiert den Vortra-genden, weil er die Natur seziert und zer-

stückelt habe. Goethe stimmt ihm zu. Alldiese Ausführungen müssten doch in An-schauung und Erfahrung wurzeln.

Es gehe auch anders, sagt Goethe, undwährend sie Schillers Haus erreichen, skiz-ziert Goethe mit einigen Strichen die Me-tamorphose der Pflanzen. Als er geendethat, schüttelt Schiller den Kopf: Das sei kei-ne Erfahrung, sagt er, sondern eine Idee.

Goethe ist überrumpelt. Und läuft über.„Ich stutzte, verdrießlich einigermaßen:denn der Punkt der uns trennte, war da-

durch aufs strengste bezeich-net … der alte Groll wolltesich regen, ich nahm michaber zusammen und versetz-te: das kann mir sehr liebsein daß ich Ideen habe ohnees zu wissen, und sie sogarmit Augen sehe ...“

Und dann zieht der Älteredas Fazit: „Der erste Schrittwar jedoch getan, SchillersAnziehungskraft war groß, erhielt alle fest, die sich ihmnäherten.“

Jetzt erkennen beide, wiesehr sie sich ergänzen. Schil-ler schreibt Goethe am 23.August 1794 einen ausführ-lichen Geburtstagsbrief, derzum Gründungsdokumentder Weimarer Klassik wird.Darin formuliert er die ge-meinsamen ästhetischen Prin-zipien. Goethe bedankt sichbewegt für das Schreiben, „inwelchem Sie, mit freund-schaftlicher Hand, die Sum-me meiner Existenz ziehen“.

Schließlich lädt GoetheSchiller in sein Haus amFrauenplan ein. Schiller warntihn. Es geht ihm gesundheit-lich nicht gut, und er weiß,wie sehr Goethe zu Krank-heit und Schwäche auf Ab-stand geht.

Doch Schiller wird mitAufmerksamkeit umsorgt. Er

erhält drei Frontzimmer, die nichtehelichverbundene Christiane Vulpius wird ausSchicklichkeitsgründen in hintere Quartie-re verbannt – den ganzen Aufenthalt überwird Schiller sie kein einziges Mal zu Ge-sicht bekommen.

Goethe liest Schiller aus den noch un-veröffentlichten „Römischen Elegien“ vorund verspricht sie für die „Horen“. Schil-lers Sittlichkeit ist kompromissfähig, wennes um große Kunst geht. Er findet die Ver-se „schlüpfrig und nicht sehr dezent“,meint aber, dass sie „zu den besten Sa-chen gehören, die er gemacht hat“.

Schiller wiederum will die Briefe „Überdie ästhetische Erziehung“ beisteuern. Zusich selbst gelangen soll der Mensch mitden Mitteln der Kunst: „Er ist nur da ganzMensch, wo er spielt.“

Kultur

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„Es gibt dem Vortrefflichen

gegenüber keine Freiheit als die Liebe.“

Goethe und Schiller, Denkmal vor dem Nationaltheater Weimar

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Ab und zu schauen die Herders vorbei,auch Wieland, aber ansonsten genügensich die beiden. Sie diskutieren ganzeNächte hindurch. Sie machen Spazier-gänge und besprechen gemeinsame Pro-jekte, Schiller steckt in seinem „Wallen-stein“, Goethe bittet ihn um Hilfe bei seinem „Wilhelm Meister“. Sie sind aus-gesprochen unpolitisch in diesen Jahren.Die Weimarer Klassik ist eine ästheti-sche Koalition gegen den revolutionärenZeitgeist.

Die beiden haben sichendlich getroffen, sie arbei-ten wie im Rausch, sie tau-schen sich aus. Die „Horen“werden zwar nach drei Jah-ren eingestellt, aber sang-und klanglos will sich Schil-ler nicht verabschieden. Fürdie letzte Ausgabe bittet er Goethe um einen Text, der einen Skandal auslösenkönnte. Am besten wäre eineKonfiszierung der Zeitschrift.So nah sind sie sich mittler-weile, dass sie sich als Kom-plizen verstehen.

In der Skizze „Über epi-sche und dramatische Dich-tung“ spiegelt sich ihre Be-schäftigung mit der Bühnen-kunst. Das Theater soll einbesonderer Ort sein, eineGegenwelt bilden. Es soll ausuns bessere Menschen ma-chen, durch mitfühlende An-teilnahme. Was für ein maß-loses Programm, wie vielmaßloser als das, was heuti-ge Theatermacher anbieten.

Im „Musen-Almanach fürdas Jahr 1797“ veröffentlichensie gemeinsame „Xenien“, indenen sie den Literaturbe-trieb verspotten. Goethe undSchiller sind Zielscheibe derKritik geworden, nun schleu-dern sie ihre Blitze zurück.Sie müssen eine Menge Spaßbeim Verfassen der Verse gehabt haben,die wechselseitig auf Zuruf entstehen, manhört sie bis auf die Straße lachen.

Selten hat es eine Zusammenarbeit vonDichtern gegeben, die so weit ging. Sie bil-deten eine Festung in diesen Jahren, im-mun gegen äußere Einflüsterungen –mochten die Hunde bellen, die Karawanezog weiter.

Schiller spürt, dass ihm nicht mehr vielZeit bleibt. Immer wieder spuckt er Blut.Fast fieberhaft stößt er nun Werk um Werkhervor, die „Wallenstein“-Trilogie, die„Maria Stuart“, „Die Jungfrau von Or-leans“, „Die Braut von Messina“. Als letz-tes dramatisches Werk vollendet er den„Wilhelm Tell“, einen Stoff, den Goetheeinst für sich entdeckt hatte. Ein letztesFreiheitsdrama.

Goethe freut sich über die Ehrungen für Schiller, die sich nun häufen. Er tut alles für ihn, und manchmal zu viel: Alsder Puppenspieler Falk im Weimarer Rat-haus eine Parodie auf Schillers Reiter-lied aus „Wallensteins Lager“ gedichtethatte, wird er auf Goethes Drängen aus-gewiesen. Sein Freund darf nicht verspot-tet werden.

Im Februar 1805 erkrankt Goetheschwer. Als Schiller davon hört, weint er.Kurz darauf wird er selbst von einem

schweren Fieberanfall ins Bett geworfen.Als er sich wieder erholt hat, kauft er sichein Pferd. Goethe hatte ihm geschrieben:„Übrigens geht es mir gut, solange ich täg-lich reite.“

Am 1. Mai treffen sich beide, kränkelnd,auf dem Weg ins Theater ein letztes Mal.Sie wechseln ein paar Worte. Am Abenddes 9. Mai 1805 stirbt Schiller. Die Todes-nachricht wird zum Frauenplan gebracht,doch keiner hat den Mut, sie Goethe zuhinterbringen. Er spürt die Unruhe. Chris-tiane stellt sich schlafend.

Am Morgen fragt Goethe sie: „Nichtwahr, Schiller war gestern Abend sehrkrank.“ Die Betonung liegt auf „sehr“.Christiane beginnt zu schluchzen. „Er isttot?“ Als Christiane nickt, wiederholt er:„Er ist tot“ und bedeckt seine Augen.

Der Beerdigung bleibt Goethe fern. Erkann den Tod nicht ertragen. Drei Wochenspäter schreibt er an Zelter: „Ich dachtemich selbst zu verlieren, und verliere nuneinen Freund und in demselben die Hälftemeines Daseins.“

Das Goethe-Haus am Frauenplan über-rascht in seiner Schlichtheit noch jedenBesucher. Antike Büsten, Gemälde, kleineGemächer in Gelb und Grün und Blau,bescheidene Möbelstücke, Proportionenauf Menschenmaß, ein angenehmes Mu-

seum ist daraus geworden.Noch bescheidener die Räu-me in Schillers Haus.

Die Weimarer Klassik, siefand im Kopf statt. Und sieblieb von langem Zauber.Viele pilgerten hierher, vielewohnten hier wie Franz Lisztoder Friedrich Nietzsche. ImFebruar 1919 beschwor Fried-rich Ebert hier die „Wand-lung vom Imperialismus zumIdealismus, von der Welt-macht zur geistigen Größe“.Der „Geist von Weimar“, soder Wunsch, sollte die Par-teien einen.

Eine vergebliche Hoff-nung, wie wir wissen. DerWeimarer Geist wurde de-mentiert im nahen Konzen-trationslager Buchenwald.Spricht das gegen Schillers„Ode an die Freude“, gegenGoethes „Iphigenie“?

Es lässt sich doch wohl im Gegenteil der Schluss ziehen, wie notwendig diebeiden sind für die Deut-schen und wie arm unsere Literatur wäre ohne sie, an-gefangen vom Weltmärchen„Faust“ bis hin zum todesna-hen „Über allen Gipfeln / IstRuh …“, so dicht und schönwie ein Haiku.

Wie dürftig unsere Büh-nengeschichte ohne den ver-

hängnisvoll verstrickten Wallenstein oderdie Liebenden Ferdinand und Luise, diein den Tod gehen, weil sie an den Verhält-nissen zerbrechen.

„Sie mögen mich nicht!“, sagte Goetheeinmal über die Deutschen und setzte hin-zu: „Ich mag sie auch nicht!“

Schiller wiederum hielt Krieg für „das einzige Verhältnis gegen das Pu-blikum, das einen nicht reuen kann“. Was würde er heute sagen, wenn er sähe, wie der Krieg sich gegen seine Stücke richtet?

Nun stehen die beiden dort im Gegen-wartslärm auf dem Weimarer Theaterplatzwie ein großer Vorwurf, der von denenverstanden wird, die stehenbleiben undsich Zeit nehmen und sich erinnern, dassda was war. ™

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„Der eine entdeckt den Zwischenkieferknochen,

der andere die Freiheit.“

Autor Safranski in seiner Münchner Wohnung

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Kultur

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Er will alles richtig machen, er will einguter Mensch sein, ein fürsorglicherSohn. Er will da sein, wenn sie Angst

hat. Er will ihr zuhören, er will ihr das Lebenschön machen, den Rest ihres Lebens. Erwill sie sterben lassen, wie sie es möchte.

Als sie stirbt, ist er nicht da. Er sitzt in einem Taxi, zu weit von ihr weg, um seinVersprechen einzulösen.

„Der Tod meiner Mutter“ hat GeorgDiez sein Buch genannt, es erzählt die Ge-schichte eines zwölfjährigen Ringens zwi-schen Sohn und Mutter um das mensch-liche Ende eines gemeinsa-men Lebens.

Es könnte eine Erzählungsein, perfide auf Pointe ge-baut, ein werdender Vaterwird hin und her getriebenzwischen schwangerer Frauund krebskranker Mutter.Diez erzählt in einer Spra-che, die schwebt – und dieätzt, wenn es sein muss. Es war eine eigentümlicheStille zwischen uns, die ausWorten bestand, die wiraustauschten, ohne sie ge-nau anzusehen.Sie fühlte sich vom Lebengedemütigt.Manchmal habe ich michdafür geschämt, dass ichdie Trauer genossen habe.

Es könnte eine Doku-mentation sein, die Enthül-lungsgeschichte über denTod, darüber, wie er sich insLeben schleicht, den Menschen umkreist,ihn mal verängstigt, mal in Sicherheitwiegt; ihn bald wütend macht, dann ver-rückt und schließlich abhängig.

Diez beschreibt den Siegeszug des Todesnicht, er seziert ihn, er röntgt ihn. Er spürt,wie der nahe Tod zwei Wahrheiten schafft,die der Kranken und die der Gesunden.Wie der Tod die Gesunden zu Geiselnmacht, die immer da sein müssen und dieleiden, wenn sie wegwollen; die dem Tod näher kommen, als ihnen lieb ist; die zweifeln, ob die Kranke noch die ist, die sie als Gesunde war; die gezwungensind, unmenschliche Entscheidungen zutreffen.Ein Teil von mir wusste, was da passier-te, ein anderer Teil wollte es nicht wissen.

Georg Diez: „Der Tod meiner Mutter“. Kiepenheuer &Witsch, Köln; 204 Seiten; 16,95 Euro.

Ich brauchte Beweise, dass sie noch dawar. Ihr Mund war ein wenig geöffnet, wie zueinem leisen Schrei, sie wirkte über-rascht, nicht friedlich.

Es könnte ein Generationenbuch sein,der Beginn einer Unterhaltung zwischenden Kindern der 68er und ihren Eltern dar-über, warum sie als Väter und Mütter – oft– so nichtssagend waren und im Alter soungreifbar sind wie deren Eltern.

Als Diez sechs war, trennten sich die El-tern; als er heiratet, haben sich Mutter und

Vater seit 30 Jahren nicht gesehen. Die Mut-ter ist Therapeutin, Familien sind für sie einNest, in dem die Lügen wachsen. Ihr Nazi-Vater prügelte besonders gern die Töchter,im Keller mussten sie sich nackt ausziehen.Familie war etwas, das sie mit Misstrauenbetrachtete. Sie sehnte sich nach der heilenFamilie, sie heiratet einen Pfarrer, der imKirchenchor singt, den sie leitet.Wie sich eben aus Täuschungen ein Lebenformt.

Sie arbeitet in Schwabing als Leiterindes Familien-Notrufs, in ihrem Arbeits-zimmer dürfen Eheleute mit Schaumstoff-keulen aufeinander einschlagen. Mit 7 sitztGeorg in der ersten (und einzigen) Thera-piesitzung seines Lebens, mit 14 sind dieMänner, die sie kennt, für ihn die „Schlaf-fis aus der Psycho-Szene“.

Zum 70. Geburtstag schenkt Georg sei-ner Mutter einen Brief, den ihr der Schau-

spieler Matthias Bundschuh vorliest, in einem Münchner Lokal.Ich würde gern mehr über dich erfah-ren. Ich würde gern wissen, was du dirwünschst, was dir fehlt, wie du durchsLeben gehst, was du siehst, wenn du einen Baum anschaust oder einen Mannoder im Spiegel dein eigenes Bild. Ich würde gern wissen, ob du es liebermagst, wenn es regnet oder wenn dieSonne scheint, ob du dir gern teure Klei-der kaufst, ob du oft an deine Kindheit

denkst, ob du wirklich poli-tisch bist, was auch immerdas ist.

Am Sterbetag kommt derSohn zu spät, er ist allein mitder Leiche in der Wohnung,setzt sich auf den Boden,steht auf, spielt den Song,der im CD-Player liegt,„Home“ von Benjamin Bio-lay und Chiara Mastroianni,setzt sich wieder auf den Bo-den neben ihr Bett.Ich legte die Hand wie-der auf ihre Wange und ließ sie dort liegen, ichnahm sie langsam weg und spürte, wie die Hautetwas an meiner hängenblieb, als wolle sie mitkom-men, als wolle sie nichtweggehen.

Er lässt eine Totenmaskeanfertigen, vom Masken-bildner der Münchner Kam-

merspiele; er will nicht, dass sein Vater einen letzten Blick auf sie wirft; er sieht zu, wie die Verwandten aus der Wohnungnehmen, was ihnen gefällt. Als ihre Urneversenkt wird, möchte er ihr keine Erdehinterherwerfen.Die Frage blieb, wer ich sein würde, wennsie ganz fort war.

„Der Tod meiner Mutter“, was ist das?Es ist, ganz einfach, ein gutes Buch. Was istein gutes Buch? Eines, das der Leser neuschreibt, während er es liest; ein Buch, dasden Leser zwingt, seine eigene Geschichteerzählend zu denken, während er die Geschichte des anderen liest.

Ich kann mich an kein Buch erinnern,das mich so leiden ließ, so aufregte, so aufsog, so anfüllte. Als ich fertig war mitdiesem Buch, hatte ich die Geschichte meines Lebens neu geschrieben. Sie istfürchterlich. Cordt Schnibben

Ein Leben in RöntgenprosaLiteraturkritik: Georg Diez erzählt verstörend nah vom Ende seiner Mutter.

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Autor Diez: „Wie sich aus Täuschungen ein Leben formt“

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Trends Medien

P R E S S E R E C H T

Mosley gegen „taz“

Max Mosley, Präsident des Formal-1-Weltverbands Fia, kämpft weiter

gegen die deutsche Presse. Zwar hat er sichjüngst mit dem Axel-Springer-Verlag geeinigt. Nun aber liegt er noch mit derHamburger Wochenzeitung „Zeit“ und derBerliner „tageszeitung“ im juristischenClinch, wobei Letztere nicht klein beige-ben will. Vor dem Hamburger Landgerichtverklagte Mosleys Anwältin Tanja Iriondas Blatt auf Unterlassung, weil in einemText in der Zeitung sowie in drei Blog-Bei-trägen auf taz.de eine Sadomaso-Party des Funktionärs fälschlicherweise als Nazi-Rollenspiel beschrieben wurde. Bei der „taz“ will man nicht nachgeben, zumal dieKlage sich auch auf „eindeutige Meinungsäußerungen“ beziehe, wie etwa den Satz„Nazis und Autos, das passte doch schon immer zusammen“, so „taz“-Justitiar PeterScheibe. Mosley-Anwältin Irion glaubt, dass man sich noch verständigen werde: „Nach-dem wir uns mit Springer geeinigt haben, dürfte das eigentlich kein Problem sein.“

T V - S H O W S

„Ohne Fernsehen hat’sja nicht geklappt“

Schauspielerin Désirée Nick, 52, überdie Sat.1-Show „Traumfrau suchtMann“ (vom 24. August an montagsum 20.15 Uhr)

SPIEGEL: Sie suchen per TV einen Mann.Nicht Ihr Ernst, oder?Nick: Moment mal, wenn Millionen imInternet ihr Glück finden, wo man demPartner weder in die Augen schauen,geschweige denn ihn riechen kann,dann ist doch TV, wo ich Aura und Che-mie der Bewerber spüre, ein vergleichs-weise konservatives Medium! Jedenfallsist es ernsthafter, als im Büro mit einemverheirateten Kollegen was anzufangen,bei dem die Ehe gerade mal in derSackgasse ist. Im Übrigen: Ohne Fern-sehen hat’s ja auch nicht geklappt.SPIEGEL: Eine ähnliche Show mit GiuliaSiegel floppte gerade auf ProSieben.

Nick: Das war jaauch von A bisZ eine absurdeund abnormeShow, die mitDoku überhauptnichts zu tun hat-te. Denn wannlebt man schonals Frau mit elfMännern untereinem Dach undselektiert dieBewerber wie ineinem Harem? SPIEGEL: BeiIhnen in der

Sendung geht es hingegen streng doku-mentarisch zu?Nick: So ist es. Ich habe mich auchallein mit den Bewerbern getroffen. DieKamera kam nur in Abständen dazu.Sie schlüpft in die Rolle der Busen-freundin, der man Einblick gewährt inHerzensangelegenheiten.SPIEGEL: Sie waren auch schon im RTL-Dschungelcamp. Machen Sie alles?Nick: Wenn Sie wüssten, was ich schonalles ausgeschlagen habe! Ich liebeFernsehen, wie ich Theater liebe. Dagibt es Gutes und Schlechtes. DamitFernsehen besser wird, mache ich bei so was mit und zeige erstmals meineromantische Seite. Ich reiße mich nichtdarum, unter freiem Himmel Insektenzu essen. Aber Mann-Frau-Beziehungen– dazu habe ich schon drei Bücher ge-schrieben. Das Format ist wie für michgemacht und hat ein Happy End: Ichhabe tatsächlich jemanden gefunden.

Die geplante Neuauflage eines Sprin-ger-Tribunals, 41 Jahre nach 1968,

droht an der Verweigerung prominenterAlt-68er zu scheitern. Die Leitfigurender Studentenproteste sollten ur-sprünglich im Oktober in der BerlinerAxel-Springer-Verlagszentrale zusam-menkommen. Nach den Stasi-Enthül-lungen über den Polizisten Karl-HeinzKurras, der am 2. Juni 1967 den Stu-denten Benno Ohnesorg erschossen hat-te, war geplant, über eine Neubewer-tung der damaligen Anti-Springer-Proteste zu diskutieren. Inzwischen, soheißt es, soll der geplante Veranstal-tungstermin auf Ende November ver-

schoben werden. Doch größere Schwie-rigkeiten bereitet es Thomas Schmid,63, dem Chefredakteur der „Welt“-Gruppe, Initiator des Springer-Tribunals2009 und einst selbst Anti-Springer-Demonstrant, seine alten Weggefährtenzur Teilnahme zu bewegen. Aus derersten Garde der Studentenbewegunghagelt es bereits Absagen: von Rudi-Dutschke-Freund Christian Semler überDaniel Cohn-Bendit bis zum Schrift-steller Peter Schneider. Damit droht derNeuauflage des Springer-Tribunals dasgleiche Schicksal wie dem im Februar1968 geplanten Original – das vorzeitigeAus.

Z E I T G E S C H I C H T E

Springer-Tribunal vor dem Aus?

Tribunal an der TU Berlin 1968

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Deng Senshan war ein guter Junge,nur spielte er gern am Computer.Deshalb schickten ihn seine Eltern

in ein Entzugslager, und 14 Stunden späterwar er tot. Die Menschen, die ihm helfensollten, hatten ihn zu Tode geprügelt. Erwurde 15 Jahre alt.

Deng, sagt sein Onkel, schwänzte niedie Schule, er befolgte alle Regeln. Schüch-tern war er, zu schüchtern, um mit Mäd-chen zu sprechen, und außerdem ein wenigübergewichtig. Draußen joggen wollte ernicht, aus Scham, deshalb stellte ihm seinVater einen Hometrainer neben das Bett.Nur im Wasser fühlte Deng sich wohl, erwar ein guter Schwimmer. Noch am Tagbevor er ins Camp ging, badete er mit sei-ner Familie im Meer.

Am 1. August nahm er zusammen mitseinen Eltern den Zug. Fast 500 Kilometerfuhren sie, um Deng in das Qihang Salva-

tion Training Camp in Nanning zu brin-gen. Das Fernsehen hatte über das Campberichtet, es hörte sich gut an, fandenDengs Eltern. Sie wollten ja nur seinBestes. Im September sollte er auf dieOberschule wechseln, deswegen wolltensie jetzt den Entzug. Dabei, sagt der Onkel,spielte Deng doch nur anderthalb bis zweiStunden am Tag.

Ob ihr Sohn auch nicht geschlagen wer-de, wollte die Mutter wissen, bevor sieDeng im Camp zurückließ. Aber nein, hießes, wir erziehen nur mit Psychologie. Dochals die Eltern gegangen waren, zwangendie Trainer Deng zu laufen, Kilometer umKilometer. Er fiel hin, sie schlugen ihn,zertrümmerten einen Schemel auf ihm,schleppten ihn ins Wachzimmer und schlu-gen ihn wieder. Gegen drei Uhr nachtswurde Deng ins Krankenhaus gebracht,um 3.40 Uhr starb er. Sein Gesicht war

blutüberströmt. Der Leiter des Camps sag-te später, der Junge sei rebellisch gewesen.

338 Millionen Chinesen nutzen das In-ternet, 10 Millionen Teenager gelten als abhängig. Zu diesem Schluss jedenfallskommt eine Studie der China-Jugend-In-ternet-Vereinigung.

Vor allem Online-Spiele fesseln die Ju-gend an die Bildschirme, aber die Chinesenchatten auch gern. Schon vergleichen Ex-perten die Macht des Computers mit derdes Opiums, das einst das Land lähmte.Andere bangen um die Sprachfähigkeit derKinder. Es kursieren Zahlen, wonach dreiViertel aller Jugendstraftäter internet-abhängig sind. Der Nationale Volkskon-gress sorgt sich um Chinas Jugend, vor al-lem aber sorgen sich die Eltern.

Im ganzen Land haben deshalb privateEntzugszentren aufgemacht, über 400 ins-gesamt, kaum eines ist offiziell registriert.

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I N T E R N E T

Dauerlauf gegen die SuchtZehn Millionen Teenager in China gelten als internetabhängig. Partei und Eltern sorgen sich um

die Jugend des Landes. Wer zu lange vor dem Bildschirm hockt, dem wird die Sucht in Entzugslagern ausgetrieben – oft mit Drill und Schlägen. Ein Junge wurde zu Tode geprügelt.

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Chinesische Jugendliche im Internetcafé: Flucht vor den Monitor

Medien

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China onlineInternetnutzer

in Millionen

Alters-

struktur

Anteile in Prozent*

unter 10 Jahren

0,4

10- bis 19-Jährige

35,2

20- bis 29-Jährige

31,5

30- bis39-Jährige

17,640- bis49-Jährige

9,6

50- bis59-Jährige

4,2

60 Jahre und älter

1,5

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210

298

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Quelle: CNNIC

* 2008

** 30. Juni

Sie nennen sich „Trainingscamp“ oder„Sommercamp“, arbeiten oft mit Schulenzusammen. Manche stellen einfach einpaar Sportlehrer ein, Vorschriften zur Qua-lifikation des Personals gibt es nicht, vielenBetreibern geht es nur um Gehorsam –und um Profit. Zwischen 5000 und 29000Yuan (gut 500 bis 3000 Euro) zahlen die El-tern, um ihre Kinder für ein, zwei oderdrei Monate einzuweisen zur Entwöhnung.Doch langsam bekommen Chinas ElternAngst, nicht vor dem Netz, sondern vorden Erziehern.

In der Provinz Shandong malträtiertenÄrzte mehr als 3000 Patienten mit Elek-troschocks, erst vor einigen Wochen un-tersagte die Regierung deshalb die Be-handlung junger Computersüchtiger mitElektroschocktherapie. In Hebei schickteein Camp 135 Internetabhängige auf einenlangen Marsch: 28 Tage und 850 Kilometerdurch die Prärie in der Inneren Mongolei.In Guangdong hielten Jugendliche Zettelmit der Aufschrift „SOS“ und „Wir werdengeschlagen“ durchs vergitterte Fenster ih-res Entzugszentrums.

Gerade erst hatte der Tod von DengSenshan das Land aufgeschreckt, da gab esschon den nächsten Fall, dieses Mal in Si-chuan: Pu Liang, 14 Jahre alt, liegt mitschweren Nierenschäden im Krankenhaus.Auch ihm wollten sie die Freude am Com-puterspiel aus dem Leib prügeln.

„Kinder zu lieben ist das Wichtigste imLeben eines Lehrers“, das ist einer der

Sinnsprüche, die im Addiction MedicineCenter des Pekinger Armeekrankenhau-ses hängen. Chinas größte und älteste Ent-zugsklinik für Internetabhängige liegt amStadtrand von Peking auf Kasernengelän-de. Hier kommt nur herein, wen die be-waffneten Wachen durchwinken.

Der Weg zur Klinik führt vorbei an ei-nem riesigen Aufmarschplatz und dem

137

Schlafraum im Pekinger Addiction Medicine Center: „Denk über deine eigenen Fehler nach“

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Plakat „Loyalität für die Partei“. Schnur-gerade Wege, Rosen in Reih und Glied,überall die gleichen roten Klinkerbauten,in den einen wohnen die Soldaten, in ei-nem Haus die Kinder. 67 Patienten habensie in der Klinik zurzeit, die meisten sindzwischen 13 und 18 Jahre alt.

„Denk über deine eigenen Fehler nach,statt über die Schwächen der anderen zureden“ steht auf dem Plakat über derSpüle im Speisesaal. „Die Erfolgreichenfinden eine Lösung, die Verlierer suchen eine Entschuldigung“ heißt es im Kon-ferenzraum. Und auch die Eltern wer-den ermahnt, zum Beispiel: „Kinder, diemit Feindseligkeit aufwachsen, werdenaggressiv.“

Die Eltern spielten die wichtigste Rollebei der Entwicklung von Computersucht,erklärt Tao Ran, 48, Direktor der Klinik,ein Mann mit teigigem Gesicht und kor-rektem Seitenscheitel. Gerade in Chinawürden die meisten Eltern ihr Kind zu sehrgängeln; alles wollten sie kontrollieren: wasdas Kind isst, was es anzieht, was es stu-diert. So verlören die Jugendlichen jede

Kreativität und Eigeninitiative undauch die Fähigkeit, sich selbständig

anzupassen an ihre Umgebung. Dazu kommt, dass nur ein guter

Schüler den guten Ruf der Familie ga-rantiert. Wenn das Kind versagt, verlie-

ren auch die Eltern das Gesicht. Schnell,sagt Tao, sei der Vorwurf da: Wer schlechtin der Schule ist, ist überhaupt ein schlech-

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ter Mensch. Manche Jugendliche haltendiesen Druck, das ewige Streben nach Per-fektion, die ständigen Zurechtweisungennicht mehr aus. Und dann fliehen sie vorden Bildschirm.

Dabei sind es meist die Eltern selbst, dieihre Kinder angefixt haben. Schon im Kin-dergartenalter rüsten manche ihre Söhneund Töchter mit einem Computer aus. Das,hoffen sie, werde ihnen bei der Ausbildungnützen. Als dann überall Internetcafés ausdem Boden schossen, wo die Datenüber-tragung schneller ist als zu Hause, wo esSnacks gibt statt keifender Eltern und jedeMenge Gleichgesinnte, wurden diese Treffszum Rückzugsort für Chinas Teenager.

Tao, selbst im Rang eines Obersts,gehört zur Expertengruppe, die im vorigenJahr erstmals einen Leitfaden zur Diagno-se von Internetsucht veröffentlicht hat. Zuden Symptomen zählen demnach: mehrals sechs Stunden täglich im Netz; Desin-teresse an anderer Freizeitbeschäftigung;

Unfähigkeit, die Dauer im Web zu be-grenzen.

Dennoch gibt es bisher keine verbind-liche Definition des vermeintlichen Krank-heitsbildes. Zong Chuansan, Direktor vonChinas Vereinigung für psychische Ge-sundheit, warnt, dass es bisher meist vommoralischen Urteil der Eltern abhänge, obsie ihr Kind als suchtkrank betrachtetenoder nicht. Zudem würden viele Menschennicht zugeben, wie lange sie online sind,wenn Internetabhängigkeit als „geistigeStörung“ angesehen werde, so wie es Taotut. Schließlich würden in China Geistes-kranke immer noch diskriminiert. Das ei-gentliche Problem, sagt Zong, sei die Ein-stellung der Menschen: „Sie machen dasInternet zum Monster.“

Das sieht Tao Ran anders. Der Schaden,den die Jugend weltweit durch Internet-sucht nehme, sagt er, sei größer als der,den die Schweinegrippe anrichte. Seine

Klinik ist seine Mission. Auf der Broschü-re steht: „Wenn die Jugend stark ist, istauch das Land stark.“

Li Ming**, Anfang zwanzig, studiert eigentlich Flugzeugbau, jetzt sitzt er aufseinem Doppelstockbett in Tarnfleck-Uni-form, nur am Wochenende darf er seineeigene Kleidung tragen. Zwei Monate undelf Tage schon lebt er hier in dem kleinenRaum mit dem vergitterten Fenster. Er hatGlück, heute stehen nur sechs Zahnputz-becher in gerader Linie auf dem Fenster-brett, hängen nur sechs Plastikschüsselnmit sechs Waschlappen übereinander aufdem Holzständer, normalerweise sind siezu acht im Zimmer. Die Jungs waschen ihreKleidung selbst, sie machen ihr Bett, sieräumen auf. Das kennen die meisten nicht,sie sind aufgewachsen als Einzelkinder.

Sechs Uhr aufstehen, halb acht Früh-stück, halb zwölf Mittagessen, halb zehnschlafen gehen, dazwischen Psychothera-pie oder marschieren. So vergehen Lis

Tage, streng nach Stundenplan. An derUniversität hing er bis spät nachts vor demComputer, schaffte es am nächsten Tag erstmittags aus dem Bett. Dabei hätte er schonum acht Uhr in der Vorlesung sein müssen.

Warum er so gern spiele? Li Ming beißtsich auf die Lippe, knetet seine Hände.„Da kann ich meine Sorgen vergessen“,sagt er mit leiser, hoher Stimme. Frühersei er glücklich gewesen, auf dem Basket-ballplatz mit Freunden. Als Student aberkam er mit der Freiheit nicht zurecht. Kei-ne Kontrolle wie zu Hause, ein Studien-fach, das er nicht mochte, an einer Uni-versität, die seine Eltern für ihn ausge-sucht hatten. Sein Onkel hatte gesagt, mitso einem Abschluss bekomme er spätereinen guten Job.

* Am 31. Juli, dem Vortag seiner Einlieferung in dasEntzugscamp.** Name von der Redaktion geändert.

Sieben Stunden täglich verbrachte er imNetz, er vermasselte das Examen. „Duruinierst unsere Familie!“, schimpften dieEltern. Li Ming aber spielte weiter, es waralles viel leichter im virtuellen Leben. Undwenn er im Computerspiel tötete, sagt er,konnte er endlich den ganzen Stress raus-lassen. „Das kann man ja sonst nicht.“

Auch Li Mings Mutter wohnt jetzt in derKlinik, denn Direktor Tao setzt nicht nurauf Medikamente für die Depressiven undHyperaktiven. Er will auch die Eltern schu-len. „Respektiert eure Kinder“, sagt er ih-nen. „Gebt euren Kindern Raum!“

Viel Raum aber haben die auch in derKlinik nicht. Der Schlaftrakt ist abgesperrtdurch ein hohes Gitter und ein schweresVorhängeschloss. Um das Gitter haben siekünstliche Blumenranken drapiert, damites hübscher aussieht. Das Arztzimmer liegtauf demselben Gang wie die Zimmer derTeenager. Dort sitzen sie in ihren weißenKitteln und wachen und bewachen, 24Stunden am Tag.

Er habe viel gelernt hier, sagt Li Ming,doch am Anfang wollte er einfach nur raus.„Ich habe mich gefühlt wie ein Vogel imKäfig.“ Jetzt aber muss er los, hinaus inden Hof, mit den anderen antreten im Kar-ree. Ein paar Meter Dauerlauf, dann wie-der strammstehen. Manche hängen mehr,als dass sie stehen, einer gähnt. Es geheum die Körperhaltung, erklärt eine Schwes-ter, die meisten hätten einfach keine Span-nung mehr nach dem vielen Sitzen.

Oberst Tao sieht es so: 90 Prozent seinerPatienten sind Jungs, und den meisten fehltes an Zuwendung vom Vater. Der ist oft zubeschäftigt damit, Geld zu verdienen, alsdass er seinem Sohn als Vorbild dienenkönnte. Heraus kommen weiche Jungs, de-nen es an Männlichkeit mangelt, die kei-nen Schmerz aushalten und keine Frustra-tion. „Die Kaserne schafft eine Männer-welt“, sagt Tao, das findet er gut. Bei ihmin der Klinik gibt es drinnen Palmen-Foto-tapete und draußen Soldatengebrüll.

Ab und zu dürfen seine Patienten sogarselbst zur Waffe greifen, dann spielen sieim Gelände ein Computerspiel nach, involler Montur, mit Helm, Schutzweste undspeziellem Gewehr, nur ohne Munition.

Sie sollen, sagt Tao, die körperliche An-strengung spüren, nicht nur den Klick aufdie Maustaste. Teamarbeit, Konzentration,all das soll die Kinder zurückholen in dieRealität. „Es fühlt sich toll an, das Gewehrzu halten“, sagt Li Ming. Sie können sogarvorher festlegen, wer wie viele Leben hat.

Die Eltern von Deng Senshan aber war-ten noch immer darauf, dass sie ihr totesKind zu sich holen können. Sie haben jetzteine Entschädigung bekommen, über eineMillion Yuan (etwa 100000 Euro).

Wenn die Polizei ihnen Bescheid gibt,werden sie noch einmal nach Nanning fah-ren, in die fremde Stadt, zur Einäscherungihres Sohnes. Seine Urne aber wollen siemitnehmen nach Hause. Sandra Schulz

Medien

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Therapieopfer Deng (r.) am Strand mit Vater und Schwester*: Sie wollten ja nur sein Bestes

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DOKUMENTAT ION Dr. Hauke Janssen, Axel Pult (stellv.), Peter Wahle(stellv.); Jörg-Hinrich Ahrens, Dr. Anja Bednarz, Ulrich Booms, Dr. Helmut Bott, Viola Broecker, Dr. Heiko Buschke, Heinz Egleder,Johannes Eltzschig, Johannes Erasmus, Klaus Falkenberg, CordeliaFreiwald, Anne-Sophie Fröhlich, Dr. André Geicke, Silke Geister, Catrin Hammy, Thorsten Hapke, Susanne Heitker, Carsten Hellberg,Stephanie Hoffmann, Bertolt Hunger, Joachim Immisch, Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Jürgens, Renate Kemper-Gussek, Jessica Kensicki, Jan Kerbusk, Ulrich Klötzer, Anna Kovac, SonnyKrauspe, Peter Kühn, Peter Lakemeier, Dr. Walter Lehmann, MichaelLindner, Dr. Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Nadine Markwaldt, Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard Minich, Cornelia Moormann, TobiasMulot, Bernd Musa, Nicola Naber, Werner Nielsen, Margret Nitsche,Sandra Öfner, Thorsten Oltmer, Andreas M. Peets, Thomas Riedel,Andrea Sauerbier, Maximilian Schäfer, Marko Scharlow, Rolf G. Schier-horn, Mirjam Schlossarek, Dr. Regina Schlüter-Ahrens, Mario Schmidt,Andrea Schumann-Eckert, Ulla Siegenthaler, Rainer Staudhammer,Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Eckart Teichert,Nina Ulrich, Hans-Jürgen Vogt, Ursula Wamser, Peter Wetter, KirstenWiedner, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt,Anika Zeller

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Hitlers Blitzkrieg 1940

Zum ersten Mal widmet sich eineabendfüllende Dokumentation HitlersWestfeldzug. Dieses wichtige Kapiteldes Zweiten Weltkriegs ist, überschat-tet von den späteren Katastrophen,aus dem Blickfeld geraten, obwohl es

entscheidend war für die Fortsetzungder deutschen Expansionspläne. Fran-zösische und deutsche Zeitzeugen erinnern sich an jene dramatischen

Wochen im Mai und Juni vor fast 70 Jahren – als die Tragödie Frank-reichs ihren Lauf nahm und mit einemTriumph Adolf Hitlers endete.

SONNTAG, 30. 8., 22.35 – 23.20 UHR | RTL

SPIEGEL TV MAGAZIN

Von Polizeikugeln durchsiebt – der Toddes Tennessee E.; Keine Macht für nie-

mand – Wahlkampf im Miniaturwun-derland; Ich sehe was, was du nicht

siehst – die Tricks der Mentalisten.

Deutsche Soldaten 1940 in Frankreich

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Französische Soldaten 1940

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g e s t o r b e n

Kim Dae Jung, 83. Der Sohn eines Klein-bauern, geboren auf der Insel Ha Enidoam Südzipfel der koreanischen Halbinsel,begann während derjapanischen Kolonial-herrschaft ein Ökono-miestudium und arbei-tete für eine Reederei.Nach der Unabhängig-keit 1945 ging er in die Politik; 1961 wur-de Kim Abgeordne-ter für die Demokrati-sche Partei. Ein Mili-tärputsch beförderte ihn im selben Jahrvorübergehend ins Gefängnis, doch schon1963 zog er wieder ins Parlament ein. AchtJahre später kandidierte er für den Postendes Ministerpräsidenten, floh aber bald vordem vom Sieger Park Chung Hee ver-hängten Kriegsrecht in die USA. Nach sei-ner Rückkehr musste er fünf Jahre Haftabsitzen. In den achtziger Jahren galt Kimals Staatsfeind und Umstürzler, er entgingnur knapp der Hinrichtung und wurde un-ter Hausarrest gestellt. Doch allmählichfasste die Demokratie in Südkorea Fuß –nach einer Phase innenpolitischer Wirrenund neuer Parteigründungen wurde Kim1998 Staatspräsident. Seine Ära verknüpf-te sich mit dem Begriff der „Sonnenschein-Politik“, der versöhnlichen Haltung zumkommunistischen Nordkorea. Höhepunktwar das historische Treffen mit seinem Wi-derpart Kim Jong Il im Juni 2000, wofürder Südkoreaner im selben Jahr den Frie-densnobelpreis erhielt. Doch Korruptions-fälle, auch in seiner Familie, sowie Verstim-mungen im Verhältnis zur SchutzmachtUSA schadeten Kim nachhaltig; Ende 2002verlor er sein Amt. Kim Dae Jung starb am18. August in Seoul.

Robert Novak, 78. Sie nannten ihn den„Prinzen der Finsternis“, weil er so düsterin die Kameras der TV-Sender schaute.Dort trat der konservative Journalist re-gelmäßig auf und freu-te sich darüber, wennseine Provokationenzündeten. Zu seinenbesten Zeiten druckten300 US-Zeitungen sei-ne Kolumnen. NovaksSternstunde war 1978ein Interview mit DengXiaoping, das als Zei-chen der Entspannunggedeutet wurde; wenig später nahmen Chi-na und die USA diplomatische Beziehun-gen auf. Weniger rühmlich war NovaksRolle in der Affäre um Valerie Plame, eineCIA-Agentin, deren Namen er im Juli 2003enttarnte. Eigentlich ging es gar nicht umsie, sondern um ihren Mann, den Diplo-

maten Joseph Wilson, der dem WeißenHaus vorwarf, die Beweise für Iraks Mas-senvernichtungswaffen fingiert zu haben.Da hatte sich der „Prinz der Finsternis“als Handlanger der Regierung hergege-ben. Robert Novak starb am 18. August in Washington.

Hildegard Behrens, 72. Im Gerichtssaal ist die Sopranistin trotz abgeschlossenenJurastudiums nie aufgetreten – dafür wech-selte sie zu rasch auf die Opernbühne. Nurzwei Jahre nach ihrem Debüt am Frei-burger Theater gelang ihr 1973 der Durch-bruch als Agathe in Webers „Freischütz“.Schon bald darauf wurde sie in New Yorkund London gefeiert; 1977 holte Herbertvon Karajan sie als Salome nach Salzburg.

Fast alle großen So-pranpartien, von Mo-zart-Opern bis zur Marie in Alban Bergs„Wozzeck“, verkörper-te die virtuose Psycho-login; Glanzrollen wa-ren die Elektra vonRichard Strauss undWagners Brünnhilde.Auch wenn Gesangs-

experten ihre Kunst nicht für epochalhalten: Als hinreißende Anwältin ihrerBühnengestalten war sie ein Ereignis. Hil-degard Behrens starb auf einer Festival-reise am 18. August in Tokio.

Tullio Kezich, 80. Er beschrieb und erleb-te die großen Jahre des italienischen Kinos,und das Kino machte auch ihn groß. Der

„siebten Kunst“ wid-mete der in Triest ge-borene Autor und Film-kritiker seine ganzeLeidenschaft. Als Kri-tiker war Kezich seitden vierziger Jahrenzunächst fürs Radio,später für namhafteitalienische Zeitungenund Magazine wie „La

Repubblica“ und „Panorama“ tätig; seineKommentare waren fester Bestandteil derFilmfestspiele von Venedig. Ende der Sech-ziger zog er nach Rom, mittlerweile auchals Produzent und Drehbuchautor tätig.Seine jahrzehntelange Zusammenarbeitmit dem befreundeten Regisseur ErmannoOlmi fruchtete in so erfolgreichen Pro-duktionen wie dem 1988 mit dem Golde-nen Löwen geehrten Werk „Die Legendevom heiligen Trinker“. Auch das Theaterverdankt ihm einiges, etwa Bühnenadap-tionen für Texte von Gustave Flaubert undItalo Svevo. Über Federico Fellini, seinenWeggefährten der Dolce-Vita-Jahre, legteer 2002 eine hochgelobte Werkbiografievor. Tullio Kezich starb am 17. August in Rom.

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Personalien

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LeRoy Carhart, 67, US-Chirurg, ist einerder wenigen amerikanischen Abtreibungs-ärzte, die noch Abbrüche bei fortgeschrit-tener Schwangerschaft vornehmen, wenneine medizinische Indikation vorliegt. Seit-dem Arztkollege George Tiller im Mai indessen lutherischer Kirche in Wichita(Kansas) erschossen wurde, fürchten Me-diziner, die diesen Eingriff vornehmen, umihr Leben. Auch Carhart hält sich für ein„Ziel“ von Abtreibungsgegnern: Nach Til-lers Ermordung erhielt seine Tochter einenanonymen Anruf, dass auch ihre Eltern ge-tötet worden seien, und in Carharts „Abor-tion & Contraception Clinic of Nebraska“bei Omaha trafen verdächtige Briefe ein,einer mit weißem Puder gefüllt. 1991,während hitziger öffentlicher Debatte umein Abtreibungsgesetz, brannte CarhartsFarm nieder – samt 17 Pferden, Hund undKatze. Die Brandursache blieb ungeklärt.Carhart, der 21 Jahre lang Chirurg bei derAir Force war, bevor er sich 1985 niederließ,sagt, die Abtreibungsgegner „haben unsden Krieg erklärt“. Aufzugeben kommt fürihn aber nicht in Frage. Er fühle sich seinenPatientinnen verpflichtet, wie zum Beispieleiner Vergewaltigten. Jedes Mal, wenn dieFrau Bewegungen des Fötus spürte, hattesie das an ihr Martyrium erinnert; dreimalhatte sie versucht, sich das Leben zu neh-men. Er sei stolz auf den Job, den er in sie-ben US-Bundesstaaten praktizieren darf,so der dauererschöpfte Doktor. Sein Mot-to sei: „Wenn nicht du, wer dann? Wennnicht jetzt, wann dann?“

Michael Fischer, 40, als Leipziger Malerunter dem Namen Fischer-Art internatio-nal bekannt, erntet nicht nur Wohlwollenfür sein vergangenen Mittwoch in Anwe-senheit von sächsischen Landespolitikernenthülltes Wandgemälde zur DeutschenEinheit in der Leipziger City. Das privat fi-nanzierte Triptychon, 100 Meter breit und30 Meter hoch, zeigt eingangs DDR-De-monstranten aus der Zeit vor dem Mauer-fall. Im zweiten 1000-Quadratmeter-Bildschießen Grenzsoldaten von Wachtürmen

aus auf Flüchtende – darunter Familienmit Kindern. Jetzt, so Fischer, erhalte erAnrufe von empörten Bürgern, die ihnbelehrten: „So war es nicht.“ „So war esdoch“, beharrt der Künstler, der damalsselbst bei Mahnwachen vor der Nicolaikir-che von der DDR-Polizei abgeführt wurde,„die Grenzer hatten scharfe Waffen, siehaben sie eingesetzt, und das war hier.“Für sein Gemälde, das der Künstler als Ein-heitsdenkmal versteht, brauchte er keinebehördliche Genehmigung, obwohl es je-

der Passant sehen kann, der vom Haupt-bahnhof kommend in die Innenstadt geht.„Laut Leipziger Stadtverordnung ist Kunstfrei“, frohlockt Fischer, „da kann die Lin-ke unter ihrem Chef Volker Külow, einemehemaligen Stasi-Zuträger, toben, wie siewill.“ Mitte September will der rührige Er-innerer ein selbstgezeichnetes Schulbuchherausbringen über die friedliche Revolu-tion im Oktober 1989. „Ich weiß von mei-nen eigenen Kindern, dass dieses Kapitel inder Schule viel zu wenig behandelt wird.“

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Anne Heche, 40, amerikanische Filmschauspielerin, hat auch im wirklichen Leben einiges gemeinmit der Rolle, die sie in ihrem neuen Film „Toy Boy“ spielt. In diesem Herbst ist sie darin als erfolg-reiche Anwältin zu sehen, die ihren Mann (Ashton Kutcher) aushält – der sie dennoch verlässt. Auchdie echte Heche hält einen Mann aus: ihren Ex, den Kameramann Coleman Laffoon. Im März urteiltedas Gericht von Los Angeles, wie das „New York Times Magazine“ berichtete, dass Heche ihrem ge-schiedenen Mann nun, nach jahrelangem Hickhack, einmalig 515 000 Dollar sowie monatlich 3700Dollar als Unterhalt für den gemeinsamen Sohn Homer, 7, der bei beiden Eltern lebt, zu zahlen habe.„Das ist insofern ungut, weil ich glaube, dass ihn das davon abhält, sich einen Job zu suchen“, so derStar. Heche ist wieder gefragt: 1997 bekam ihre Leinwandbiografie eine Delle durch ihr Coming-out.Über drei Jahre bildeten sie und Ellen DeGeneres das lesbische Glamourpaar der Nation. Jetzt ist Hechewieder brav hetero; im März bekamen sie und Kollege James Tupper ein Kind. „James und mein SohnHomer haben mich gefragt, ob ich uns alle nicht zu einer Familie verheiraten könnte“, erzählt dieunterhaltsgebeutelte Heche. „Wir haben uns dann entschlossen, für immer verlobt zu bleiben.“

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William Golding, 1993 verstorbener Lite-ratur-Nobelpreisträger, hielt sich zeitlebensfür ein „Monster“. Die angeborene Grau-samkeit der Menschen, die er in seinemWeltbestseller „Herr der Fliegen“ be-schrieb, spürte er so stark in sich selbst,dass es ihn vor sich grauste. Das berichtetsein Biograf John Carey aus Oxford, derGoldings Nachlass lesen durfte, darunterunveröffentlichte Memoiren des Schrift-stellers. Mit 18 Jahren, so schrieb Golding,hatte er versucht, eine 15-Jährige namensDora zum Sex zu zwingen. Der junge Mannhielt sie für „von Natur aus verdorben“.„Ich war sicher, dass sie heftigen Sex woll-te, das las ich von ihrem kecken, reifen undbegehrenswerten Mund.“ Wenig später„kämpften wir wie Feinde“, während „ichauf ungeschickte Weise versuchte, sie zuvergewaltigen“. Dora gelang es, sich zu be-freien, und sie rannte davon. Diese und an-dere Geschichten befeuerten einen Selbst-hass, den Golding im Alkohol ertränkte.Laut Carey hielt sich der Schriftsteller fürso böse, dass er von sich selbst sagte: Wäreich in Deutschland geboren worden, wäreich Nazi geworden.

Tuila’epa Sailele Malielegaoi, 64, Pre-mierminister von Samoa, will sein Volkzwingen, vom 7. September an auf der lin-ken Straßenseite zu fahren – statt wie bis-her rechts. Dem Südsee-Eiland droht einVerkehrschaos; Sachverständige sagen Toteund Verletzte voraus. Mehr als 20000 Sa-moaner – über zehn Prozent der Bevöl-kerung – protestierten im Frühjahr in dergrößten Demonstration in der Geschichtedes Landes gegen Tuila’epas Plan. Dochden Regierungschef ficht das nicht an. Erwill wie in Neuseeland und AustralienLinksverkehr, weil die dort arbeitendenSamoaner dann gebrauchte Rechtslenker-Autos in ihre Heimat schicken könnten.Bisher kauft das arme Land wie seineNachbarinseln Amerikanisch-Samoa vorallem kostspielige Wagen aus US-Produk-tion. Tuila’epa hat seiner Nation extra zweiFeiertage geschenkt, damit sie in Ruhe denSeitenwechsel vollziehen kann. Doch wiedas Aktionsbündnis „People Against Swit-ching Sides“ („Menschen gegen Seiten-wechsel“) mitteilt, sei das Land keineswegsvorbereitet für einen solchen Schritt. Bisetwa neue Schulbusse angeschafft seien,könnten die Kinder nicht am Bürgersteigaussteigen, sondern nur mitten auf derStraße.

Will Smith, 40, Hollywoods bestverdie-nender Star, und seine Frau Jada Pinkett

Smith, 37, ebenfalls Schauspielerin, habendie Leiterin der von ihnen gegründetenPrivatschule „New Village LeadershipAcademy“ gefeuert – angeblich deshalb,weil diese Lehrmethoden von Sciento-logy-Gründer L. Ron Hubbard verweigert

hatte. Seit Gründung der Schule im Herbst2008 verteidigt sich das Ehepaar immerwieder gegen Vorwürfe, es gehöre, wieSmiths Freund Tom Cruise, der Organisa-tion an. Tatsächlich besucht Cruise’ Toch-ter Suri, 3, die Vorschule der smithschen„Academy“ (Schulgeld: im Schnitt 10000Dollar pro Jahr), ebenso wie die eigenenKinder der Smiths, Jaden, 11, und Willow,8. Beide hatte das Paar zuvor daheim un-terrichten lassen – nach der Hubbard-Me-thode „Study Tech“, die Smith zufolge ein-drucksvolle Resultate beschert habe. DieFrage, ob die Schule nicht durch die Zah-lung der Nutzungsrechte von Study TechScientology unterstütze, beantwortete derglamouröse Schulgründer nicht. KeinWunder: Smith soll Berichten zufolgeschon in früheren Jahren Tausende Dollaran Scientology-Organisationen gespendethaben. Seine Schule stellt keine geringenAnforderungen an die kleinen Eleven: Manwolle dort, heißt es auf der Website,„mächtige, verantwortungsbewusste Füh-rer“ heranziehen, „Männer und Frauenmit Tugend, Weisheit und Courage“.

Karen Schwarz, 25, Miss Peru, sorgt fürUnmut im Nachbarland Bolivien. Für ihrenAuftritt bei der Wahl zur Miss Universeauf den Bahamas will sich die peruanischeSchönheitskönigin in einem Kleid zeigen,

auf dessen Gestaltung der südliche An-denstaat kulturelle Hoheitsrechte erhebt.An Schwarz’ Outfit sind Teufelsaugen undHörner montiert, Motive des volkstüm-lichen Andentanzes „Diablada“ („Teufe-lei“). Nach erregten Debatten über denRaub des Andentanzes durch Peru, in de-nen der bolivianische Kulturminister PabloGroux ankündigte, die Organisatoren desMiss-Peru-Wettbewerbs verklagen zu wol-len, hat jetzt Boliviens Präsident Evo Mo-rales ein salomonisches Urteil verkündet:„Wir können der Miss das Kostüm nichtverbieten“, so der indianischstämmige Poli-tiker, „aber sie soll wenigstens seine Wur-zeln, die Herkunft der Diablada, anerken-nen.“ Tatsächlich wird der Tanz um dasGute und das Böse, der zum UN-Weltkul-turerbe gehört, sowohl auf dem Karnevalin Puno, Peru, wie auf dem in Oruro, Bo-livien, aufgeführt. Der Ursprung des um-kämpften Andenspektakels geht auf vor-koloniale Zeiten zurück, als noch keineGrenze die Länder trennte.

Karl Lauterbach, 46, Gesundheitspoliti-ker der SPD, rüstet sechs Wochen vor derBundestagswahl in seinem Grill-Wahl-kampf auf. Gemeinsam mit Umweltminis-ter Sigmar Gabriel, 49, testete er vergan-gene Woche in Leverkusen einen zumSolargrill umfunktionierten Dritte-Welt-Sonnenkocher des „NaturGuts Ophoven“.Mit Hilfe eines 1,40 Meter hohen Para-bolspiegels, der Hitze an das Grillgut ab-gibt, bereiteten Lauterbach und GabrielThunfisch und Lachs zu. „Das Verbrennenvon Holzkohle verpestet die Umwelt. Dagegen kämpft Sigmar Gabriel“, sagte Lauterbach. „Das Grillen mit Holzkohlesetzt krebserregende Stoffe aufs Grill-gut. Dagegen kämpfe ich. Die Holzkohle istunser gemeinsamer Feind.“ Nachdem Lau-terbach seinen Wählern im Frühsommer(SPIEGEL 24/09) bereits verschiedene Me-thoden gesunden Grillens nähergebrachthat („Fleisch vorkochen“, „Wurst weg-lassen“), glaubt er jetzt mit dem Solargrilldie Technik der Zukunft entdeckt zu ha-ben. „In 20 Jahren werden in Deutschlandalle so grillen.“

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Zitate

Die Medienzeitschrift „Horizont“ zuden SPIEGEL-Enthüllungen über denEx-Arcandor-Vorstandsvorsitzenden

Thomas Middelhoff (Nr. 24, 29, 31/2009):

Auch als Arcandor noch kein Fall für denInsolvenzverwalter war, musste derendamaliger CEO Thomas Middelhoff bis-weilen bitterböse Artikel über sich lesen.So richtig heftig wurde es freilich erstnach seinem Abgang. Der SPIEGELbrachte zuletzt eine Enthüllungsgeschich-te nach der anderen über das luxuriöseLeben des Herrn Middelhoff. DieseWoche gibt es neue Geschichten … Ineinem Interview übt der zuständige In-solvenzverwalter harsche Kritik. Middel-hoff habe zu viel Geld ausgegeben und„nichts Nennenswertes an Substanz hin-terlassen“.

Das „Handelsblatt“ über die neue Werbekampagne des SPIEGEL:

„Je spitzer die Feder, desto mehr erkenntman“ – mit diesem treffenden Werbeslo-gan wirbt seit einigen Tagen das Nachrich-ten-Magazin DER SPIEGEL für sich. Es seian der Zeit, die Vorzüge des Qualitäts-journalismus werblich zu betonen, teiltedas Verlagshaus mit. Das ist völlig richtig,finden auch wir. Dass die Hamburger Kol-legen diese „Spitzfedrigkeit“ wunderbarbeherrschen, steht außer Frage.

Der Bayerische Rundfunk über dasSPIEGEL-Reportagen-Buch

„Nebenan. Wahre Geschichten“ (Wallstein Verlag, Göttingen):

Wer über Bruno Schreps jüngsten Bandmit lauter wohlrecherchierten Geschichtenspricht, wird nicht umhinkönnen, auf sieRobert Musils Wort von der „reportieren-den Kunst“ zu münzen. Der so bescheidenauftretende, leise redende Schrep, der dain seinem Büro im SPIEGEL-Hochhaus an der Hamburger Brandstwiete sitzt, inJeansjacke und -hose, ist einer der großenErzähler unserer Wirklichkeit. „Nebenan“ist ein Lehrstück über unser Land, verfasstvon einem, der als wichtigste Gabe einesReporters diese Fähigkeit benennt: zu-hören können.

Die „Süddeutsche Zeitung“ über einenSPIEGEL-ONLINE-Bericht

(am 10. August) zu Umgangsformen im Internet:

„Es ist heute, online, ungleich einfacher,sich wirkungsvoll schlecht zu beneh-men“, räumt Christian Stöcker in einemlesenswerten Essay bei SPIEGEL ONLINEein. Nicht aber am Internet, so Stöcker,sondern an der Erziehung der Nutzer lie-ge das.

Hohlspiegel Rückspiegel

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Aus der „Rhein-Zeitung“: „Am 13. August1961 wurde die Mauer in Berlin gebaut.Sie teilte die Stadt für 48 Jahre. Vor 20Jahren rissen die Bürger der DDR mit ih-rer friedlichen Revolution sie wieder ein.“

Aushang im Schaufenster einer Boutiquefür Hundeaccessoires

Aus der „Lauenburgischen Landeszei-tung“: „Model Lilly Becker (33) hatte we-gen der medialen Gerüchte um den Um-fang ihres Babybauches den Verdacht,Mehrlinge zu bekommen. Doch ihr Frau-enarzt bestätigte, dass sie im dritten Monatsei und es ein Kind werde.“

Anzeige im „Kölner Stadt-Anzeiger“

Aus der „Waiblinger Kreiszeitung“: „DieEibe hat nicht nur die Fähigkeit, nachdemsie gefällt wurde, aus dem Stumpf desStammes neu auszutreiben, sie hat aucheinen hohen Wert als Heilpflanze. Das Ei-bengift Taxin wurde früher zum Schwan-gerschaftsabbruch verwendet.“

Werbung der „Appenzeller Kantonal-bank“ auf einer Zuckertüte

Aus der „Frankfurter Allgemeinen“: „Diefür neue wie alte Musik perfekt kompa-tible, kühle Mezzostimme MagdalenaKo¢enás hat sich in den vergangenen Jah-ren in eine Traumstimme verwandelt, wohlauch bedingt durch die biografischen Um-stände, dass sie nun ein Familienleben hat,einen Ehemann (Simon Rattle) und zweikleine Söhne.“

Aus dem „Bremer Anzeiger“