Bavendamm, Dirk - Roosevelts Weg Zum Krieg - Amerikanische Politik 1914-1939 (1983, 667 S., Text)

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  • Dirk Bavendamm RooseveltsWeg

    zum Krieg

  • Dirk Bavendamm

    R o o s e v e l t s W e g z u m K r i e g

    Amerikanische Politik 1914-1939

    Herbig

  • D O K U M E N T I

  • (bersetzung siehe Seite 631)

  • Den alten und den jungen Deutschen - als Brcke des Verstndnisses

    zwischen den Generationen

    1983 by F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung, Mnchen Berlin Alle Rechte vorbehalten

    Umschlaggestaltung: Christel Aumann, Mnchen, unter Verwendung eines Photos

    vom Bilderdienst Sddeutscher Verlag Verlagsredaktion: H. R. v. Zabuesnig

    Vorsatzkarten (vorne u. hinten): Christel Aumann, Mnchen Layout und Herstellung: Franz Nellissen Satz: Filmsatz Schrter GmbH, Mnchen

    gesetzt aus 9.5 Times auf Linotron 202 Druck und Binden: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gtersloh

    Printed in Germany ISBN: 3-7766-1260-6

  • Inhalt

    Zu diesem Buch 9

    Teil I Franklin Delano Roosevelt

    1. Leben am Hudson 252. Der glckliche Krieger 353. Kleine Erfolge, groe Worte 494. Macht und Moral 625. Die globale Prsidentschaft 75

    Teil II Amerika

    1. Das Spiel mit dem Feuer 892. Die Rechnung geht nicht auf 1083. In London schlgt eine Bombe ein 1294. Krieg haben, ohne ihn zu machen 1455. Die Hitler-Chamberlain-Verschwrung 163

    Teil III Europa

    1. Von der Kunst, Frieden zu schlieen 1832. Amerika hat die Finger im Spiel 1983. Das System der kollektiven Unsicherheiten 2104. Flink wie der Dieb in der Nacht 2295. Auf der Suche nach einem modus vivendi 249

  • Teil IV England

    1. Der Plan des Prsidenten 2712. Tote stehen wieder auf 3003. Die dreifache Schicksalsfrage 3194. Kein Friede in Sicht, nur Krieg 3425. Bereit sein ist alles 363

    Teil V Holland und Polen

    1. Falscher Alarm 3992. Fast so viel wie eine Allianz 4473. Eine bewute Entscheidung fr den Krieg 4934. Ein letztes Mal: Appeasement 5425. Im Kfig der Quarantne 563

    Anhang

    Abkrzungen 615Quellen- und Literaturverzeichnis 617Dokumente II u . I (bersetzungen) 630Register 633Bildnachweis 640

  • Zu diesem Buch

    Die falschen Vorstellungen von der eigenen Geschichte sind eine Krankheit der Seele der Nation.

    Jan Jozef Lipski, polnischer Historiker, 1981

    Kein Historiker kann sich ganz von der Gegenwart freimachen, in der er ber die Vergangenheit schreibt. Die Intention zu diesem Buch ber die Vor-geschichte des Zweiten Weltkrieges reicht zurck in eine Zeit, da die weltpoliti-schen Temperaturen wieder anstiegen und von der Gefahr eines Dritten Weltkrieges gesprochen wurde. Vielleicht wre es ohne den sich verschrfen-den Konflikt zwischen den beiden atomaren Supermchten, den USA und der Sowjetunion, gar nicht entstanden. Seit Beginn der Prsidentschaft Ronald Reagans gibt es in Amerika einen Chor von Stimmen, der einen unmittelbaren Vergleich zwischen den achtziger und dreiiger Jahren dieses Jahrhunderts herstellt. Whrend es seinerzeit um den Kampf zwischen liberaler Demokratie und Faschismus gegangen sei, so heit es, gehe es jetzt um den Konflikt zwischen liberaler Demokratie und Kommu-nismus. Heute wie damals, so sagen die Anhnger der amerikanischen Nach-rstung, stehe dem uneinigen, schwachen und von falschen Friedensparolen betrten Westen eine expansive, offensive, von einer revolutionren Ideologie unaufhaltsam vorangetriebene Macht gegenber, die um fast jeden Preis entschlossen sei, die Weltherrschaft an sich zu reien. Obwohl ein direkter Vergleich zwischen dem Deutschland Hitlers und dem Ruland Andropows sicher fragwrdig ist, zwingt er zum Nachdenken - vor allem ber diejenigen, die ihn anstellen. Prsident Reagan meinte sogar, die USA seien in die beiden Weltkriege dieses Jahrhunderts nicht durch ihre militrische Strke, sondern durch ihre militrische Schwche hineingeschlit-tert. Mit diesem Argument versuchte er nicht nur, das grte Rstungspro-gramm zu rechtfertigen, das die USA seit Roosevelt jemals in Friedenszeiten aufgelegt haben. Vielmehr steht dahinter die berzeugung, da der Weltfrie-den nur durch die berwltigende militrische Macht der Vereinigten Staaten und ihrer Verbndeten zu gewhrleisten sei. Der Zusammenschlu aller freien Vlker zur Erhaltung des Friedens ohne Krieg ist eine alte amerikanische Utopie. Trotzdem hat es in diesem Jahrhun-dert schon zwei Weltkriege gegeben, so da man sich fragt: Hat die Utopie nicht funktioniert, weil der Kriegsgeist mglicher Angreifer von vornherein strker war? Oder wurde ihr Kriegsgeist paradoxerweise gerade durch die Versuche bestrkt, die Utopie eines Friedens ohne Krieg zu verwirklichen? Als Deutscher stellt man diese Fragen nicht ohne eine gewisse Befangenheit, weil Deutschland sowohl im Ersten, als auch im Zweiten Weltkrieg der Aggressor

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    war. Gewi, es gibt Historiker, die behaupten, das kaiserliche Deutschland sei in den Ersten Weltkrieg nur hineingeschlittert wie andere Mchte auch. Aber whrend die Meinungen in diesem Fall noch auseinandergehen, scheint im Falle Hitlers ein eindeutiger Konsens zu bestehen. Man wre geneigt, sich mit dieser Feststellung zufriedenzugeben, wenn man genauere Kenntnis darber htte, wie sich das Land, das die Utopie eines Frie-dens ohne Krieg von jeher am strksten vertreten hat, vor dem Zweiten Welt-krieg verhielt - die Vereinigten Staaten von Amerika. Aber was man ber sie in der zeitgeschichtlichen Literatur liest, ist unbefriedigend. Die meisten Histori-ker erkennen zwar die Schlsselstellung an, welche die USA zwischen den bei-den Kriegen als weltpolitische Entscheidungsmacht einnahmen. Aber sie hal-ten Amerika berwiegend fr eine nicht unmittelbar an der europischen Ent-wicklung beteiligte, vor allem wirtschaftlich interessierte und im Grunde un-politische Macht, die den Ereignissen folgte, anstatt ihnen voranzugehen. Weit verbreitet ist die Ansicht, die USA htten sich nach dem Ersten Weltkrieg in ihr Schneckenhaus zurckgezogen und seien erst Ende der dreiiger Jahre unter dem Zwang der nationalsozialistischen Gewaltdrohungen als selbstloser Retter von Freiheit und Demokratie wieder in die Weltpolitik zurckgekehrt. Dieses Bild erschien mir schon auf den ersten Blick als widersprchlich und unrealistisch. Eine Weltmacht, die sich in ihr Schneckenhaus zurckzieht? Ein deutscher Diktator, der Zwang auf den Prsidenten der Vereinigten Staaten ausbt? Roosevelt als selbstloser Retter von Freiheit und Demokratie? Unge-wollt oder nicht - wenn man die Dinge so betrachtet, kommt einem die Rolle der Vereinigten Staaten vor dem Zweiten Weltkrieg reichlich unterbelichtet vor. Andererseits treten Hitler, das Dritte Reich und der Nationalsozialismus in unserem Geschichtsbild um so greller hervor. Sie sind so berbelichtet, da ich auer ihnen fast gar nichts anderes wahrnahm, als ich die Arbeit an diesem Buch begann.

    Doch je mehr ich mich in den Stoff vertiefte, desto besser lernte ich, Licht und Schatten genauer zu unterscheiden und auch die Stellen auszuleuchten, die bisher im Dunkeln gelegen hatten. Allmhlich trat ein neues, erregendes und in mancher Beziehung berraschendes Bild hervor. Mir war zumute, als wrde ich an einer archologischen Ausgrabung teilnehmen: Whrend ich in den Schuttmassen vorgefater Meinungen, voreiliger Urteile und moralisch zwar richtiger, aber sachlich unzutreffender Behauptungen herumgrub, stie ich auf Roosevelts Weltfriedensplan, der die Utopie vom Frieden ohne Krieg letzten Endes mit militrischen Zwangsmitteln zu verwirklichen suchte. Mit dieser weltpolitischen Fhrungskonzeption hatte ich gewissermaen den Kopf einer Skulptur in der Hand, von der wir bisher nur den Leib und die Gliedmaen gekannt hatten. Als ich den Torso vervollstndigte, vernderten sich alle Proportionen und ich erkannte, da unsere Vorstellungen von der Vorgeschichte des Zweiten Welt-krieges bisher auf dem Kopf gestanden hatten. Am Ende meiner Recherchen, die sich vor allem auf die Jahre 1937 bis 1939 erstreckten, hatte ich die

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    Gewiheit, da 1938/39 nicht Hitler das internationale Geschehen beherrschte und Roosevelt das Gesetz des Handelns aufzwang, sondern da es sich umgekehrt verhielt und da genau hier der tiefere Grund fr den frhzeitigen Kriegsausbruch und schlielich auch fr die deutsche Niederlage liegt. Erstaunt fragte ich mich, warum noch niemand vor mir diese bedeutsame Entdeckung gemacht hatte. Die Antwort war ebenso einfach wie deprimie-rend: Die meisten Historiker hatten bewut oder unbewut das von der amerikanischen und deutschen Vorkriegspropaganda geprgte Axiom vom Grten Fhrer aller Zeiten bernommen, einer Mischung aus Monster und Supermann, die Deutschland und den Westen gleichermaen kriegsbereit machen sollte. Wer Hitler so sieht, der kommt gar nicht auf den Gedanken, da Roosevelt strker war als er. Es ist hier nicht der Platz, Hitlers Verhltnis zu Amerika und insbesondere zu Roosevelt auszubreiten, ein groes und bisher kaum ausgeschpftes Thema, das Stoff fr ein neues Buch abgeben knnte. [1] Aber um den deutschen Kontext nicht ganz schuldig zu bleiben, lt sich doch immerhin feststellen, da sich der Nationalsozialismus als eine Art Gegenrevolution zum liberal-demo-kratischen Internationalismus Amerikas verstand, da Hitler die von Roose-velt und dem New Deal verkrperte Modernitt einerseits bekmpfte, anderer-seits in einer verqueren Weise nachzuahmen versuchte und da auf diese Weise bis zum Kriegsausbruch das Grodeutsche Reich in einer eigentmlich gespal-tenen Gestalt entstand. [2] Trotz seiner rassistischen Zwangsvorstellungen hatte Hitler bereits in seiner 1924 erschienenen programmatischen Schrift Mein Kampf die Vereinigten Staaten ganz nchtern als neue Herrin der Welt erkannt. [3] In seinem Zweiten Buch, das er 1928 fertigstellte, das aber erst 1961 verffentlicht wurde, betrachtete es Hitler als seine Aufgabe, den USA die Stirn zu bieten, um Unheil vom deutschen Volk abzuwenden. [4] Letzten Endes knnte man Hitlers ganzes auenpolitisches Programm als Versuch deuten, sich mit seinem Lebensraum im Osten einen autarken, blockadesicheren und verteidigungs-fhigen Groraum fr die weltpolitische Auseinandersetzung mit Amerika zu verschaffen, die er auf die Dauer fr unvermeidlich hielt, wollte sich Deutsch-land wieder als Weltmacht etablieren. Und das war ja sein erklrtes Ziel. Dabei hatte die von Hitler angestrebte Verstndigung mit England die Funktion, die Vereinigten Staaten mindestens solange zu neutralisieren, bis die deutschen Ostziele erreicht waren. Innerhalb seiner globalen Konzeption nahm England also eine Schlsselposi-tion ein. Fr Hitler hing daher der Erfolg seiner Gesamtpolitik davon ab, ob die Krfte der traditionellen britischen Staatskunst den verheerenden jdischen Einflu noch brechen (knnen) oder nicht, wie er sich auszudrcken beliebte. [5] Fr seine Begriffe bestanden dafr gute Chancen, weil er der Meinung war: In Zukunft wird die grte Gefahr fr England berhaupt nicht mehr in Europa liegen (sprich: in einem von Deutschland beherrschten Europa -D. B.), sondern in Nordamerika. [6] Deshalb, so glaubte Hitler, werde sich

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    England schlielich doch mit der deutschen Hegemonie ber Europa abfinden, sich mit Deutschland weltweit verstndigen und mit ihm gemeinsam der drohenden berwltigung durch die amerikanische Union entgegentreten. [7] Von seinen Botschaftern in London, Paris und Washington auf dem Laufenden gehalten, von seinem Auenminister in seinen antiwestlichen Ressentiments bestrkt und durch den enttuschenden Gang der Ereignisse belehrt, erkannte Hitler jedoch 1937/38 die Gefahr, da sich die westeuropischen Demokratien einer Ausdehnung der deutschen Machtsphre in Osteuropa am Ende doch mit militrischen Mitteln widersetzen wrden. Deshalb stellte er sich darauf ein, da Deutschland in eine Lage geraten knne, in der es seine Ziele ohne oder gar gegen England gewaltsam erreichen msse, das heit durch einen Krieg gegen die Westmchte. Da aber ein Krieg gegen England und Frankreich das voraussichtlich sicherste Mittel war, die USA vollends in die europischen Auseinandersetzungen hineinzuziehen und dadurch die deutsche Ostexpan-sion gnzlich unmglich zu machen, scheute Hitler whrend der Tschechoslo-wakei-Krise immer wieder vor dem Krieg zurck. Anscheinend hoffte er sogar noch am 1. September 1939, als er Polen angriff, den Krieg durch einen Blitzsieg lokalisieren zu knnen. Obwohl die Einzelheiten noch nher untersucht werden mssen, steht fest, da Hitler den zunehmenden Einflu der USA auf England schon im Winter 1938/ 39 erkannt hatte. Nur schien er die Initiative dafr strker in London zu vermuten als es der Wirklichkeit entsprach. So sagte er im November 1938 vor einem kleinen Kreis deutscher Journalisten, die Freundschaft mit England sei beendet, weil London nicht gleichzeitig mit Washington und Berlin sympathi-sieren knne. [8] Die deutsche Wehrmachtfhrung begann, sich nach der Mnchner Konferenz auf einen strategischen Luft- und Seekrieg gegen die angelschsischen Mchte vorzubereiten, und die deutsche Propaganda schal-tete im Januar 1939 von einer anti-englischen auf eine anti-amerikanische Welle um, indem sie die Kriegspaniklgen des Rooseveltklngels anprangerte und den US-Prsidenten als Kriegstreiber Nr. 1 beschimpfte. [9] Der deutsche Botschafter in London, Herbert von Dirksen, meldete seiner Regierung am 27. Januar 1939, als die internationalen Gerchte ber einen angeblich bevorstehenden Angriff Deutschlands auf die Niederlande ihren Hhepunkt erreichten: Die englische ffentlichkeit werde seit Tagen durch offensichtlich aus amerikanischen jdischen Quellen stammende Gerchte beunruhigt. Es handele sich dabei um ein groangelegtes Manver la baisse gegen die Londoner Brse. In der Konservativen Partei wrden die Strmun-gen strker, die mehr Rckgrat gegenber den totalitren Staaten verlangten, und Regierungschef Chamberlain gerate immer strker unter Druck. [10] Dirksens Warnungen gipfelten am 20. Februar 1939 in dem Satz: Die jdische Hochfinanz der Vereinigten Staaten will England von einem Zusammengehen mit den totalitren Staaten abhalten. [11] In seinen beiden Reichstagsreden vom 30. Januar und 28. April 1939, die ausgesprochen programmatischen Charakter trugen, gab Hitler dann auch

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    offen zu erkennen, da er in Roosevelt seinen eigentlichen Hauptfeind sah. Er bezeichnete ihn als einen jener Mnner, die unter allen Umstnden einen Krieg vom Zaun brechen wollen und verbat sich jede Einmischung Amerikas in die europischen Verhltnisse. [12] Unter Hinweis auf das Diktat von Versailles, wo Deutschland im Vertrauen auf die feierlichen Zusicherungen des amerikani-schen Prsidenten Wilson den grten Wortbruch aller Zeiten erlebt habe, erklrte Hitler, da sich kein Deutscher jemals mehr wehrlos an den Konfe-renztisch setzen wrde. Es war eine ganz klare Absage an Roosevelts Friedenspolitik, die - jedenfalls aus der Sicht der Nazis - nicht der Berechtigung entbehrte. Der deutsche Geschftstrger in Washington, HansThomsen, hatte bereits am 27. Mrz 1939 gemeldet: Die Kundgebungen und Manahmen der amerikanischen Regierung in den letzten Wochen lassen immer deutlicher erkennen, da der Fhrungsan-spruch des Prsidenten Roosevelt in weltpolitischen Angelegenheiten in das Ziel einmndet, das nationalsozialistische Deutschland mit allen zur Verfgung stehenden Mitteln zu vernichten .. . Roosevelt ist in seinem Innern davon berzeugt, da Deutschland der Feind ist, der vernichtet werden mu, weil er das Gleichgewicht der Krfte und den status quo derartig empfindlich gestrt hat, da Amerika die Folgen zu spren haben wird, wenn es nicht gelingt, das Prvenire zu spielen (sprich: den Prventivkrieg gegen Deutschland zu wagen -D. B.) . . . Er glaubt nicht an die Mglichkeit der Erhaltung des Friedens und rechnet mit einer Auseinandersetzung zwischen den totalitren Mchten und den Demokratien. Diese sind Amerikas erste Verteidigungslinie; sollte sie wegfallen, ist Amerikas Rolle als Gromacht nach Ansicht Roosevelts ausgespielt ... [13] Zutreffender konnte man die Absichten des amerikanischen Prsidenten kaum beschreiben. Der deutsche Diplomat kannte und nannte in seinen Berichten alle Manahmen, die Roosevelt bereits ergriffen hatte, um Deutschland von England und Frankreich zu isolieren, unter Quarantne zu halten und dadurch vor die Wahl Kapitulation oder Krieg zu stellen. Hitler wertete die vor allem aus Amerika immer lauter herberschallende Parole Kein zweites Mnchen mehr! als Besttigung seiner Annahme, da der Westen eine unblutige Lsung der deutschen Lebensprobleme nicht mehr zulassen werde, und er hatte recht damit.

    Der deutsche Geschftstrger sagte wenig spter voraus, die Vereinigten Staaten wrden innerhalb von sieben Monaten nach Kriegsbeginn an die 50 Heeresdivisionen aufgestellt und ihre Industrie kriegsmig mobilisiert haben. Der frhere deutsche Botschafter in Washington, Hans Dieckhoff, hielt das ffentlich abgegebene Versprechen des amerikanischen Prsidenten, keine Truppen nach Europa zu entsenden, fr einen Bluff und rechnete mit dem Kriegseintritt der USA. Keine der beiden Vorhersagen ging weit an der Wirklichkeit vorbei. Man mag es drehen und wenden, wie man will: Als sich Hitler im Sommer 1939 zum Krieg gegen Polen entschlo, ohne einen gleichzeitigen Krieg gegen England und Frankreich lnger ausschlieen zu knnen, handelte er aus der

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    Befrchtung heraus, da ber kurz oder lang eine militrische Intervention der Vereinigten Staaten in Europa erfolgen werde. Als Veteran des Ersten Welt-krieges wute er, was das bedeuten wrde: den Sieg seiner rgsten Feinde! Thomsen meldete drei Tage vor Kriegsbeginn, die USA wrden in Europa eingreifen, a) falls England und Frankreich in Gefahr einer Niederlage geraten, b) voraussichtlich auch, falls sichere Aussicht auf englisch-franzsischen End-sieg besteht. Freilich, da die Entsendung eines amerikanischen Expeditions-heeres nach Europa binnen Jahresfrist nach Kriegsbeginn technisch nicht mglich sei, wie Thomsen meinte [14] - aus politischen Grnden dauerte es nachher noch sehr viel lnger - worauf sollte Hitler eigentlich noch warten? Da ihm die Westmchte allmhlich die Luft abdrehten? Da ihn die nationali-stisch erregten Polen und Franzosen in einen Krieg verwickelten, wann immer es dem amerikanischen Prsidenten pate? So war Hitler nicht gebaut, und es war nicht so, da dies im Westen niemand wute. Im Gegenteil: Fast alles, was Roosevelt seit 1937 getan und unterlassen hatte, schien darauf berechnet zu sein, in Hitler den ohnehin reichlich vorhan-denen Kriegsgeist zu schren. Und so griff der Diktator - fast mchte man sagen: programmgem - im Osten an, weil Deutschland im Herbst 1939 noch einen gewissen Rstungsvorsprung vor den Westmchten hatte. Offenbar wollte Hitler noch vor der amerikanischen Intervention versuchen, die Hege-monie ber Europa zu gewinnen, ohne die ein strategischer Langzeitkrieg gegen Amerika von vornherein verloren gewesen wre. Gleichzeitig versuchte er, England und Frankreich - und damit auch die USA - durch eine volte de face doch noch aus dem Krieg herauszuhalten: durch seinen Nichtangriffspakt mit Stalin. In bereinstimmung mit Andreas Hillgruber kann man sagen, da das Tempo in der Aufeinanderfolge der einzelnen Aktionen und >Feldzge< Hitlers (natr-lich nicht allein, doch stark) von dem ihm mehr oder weniger drohend erschei-nenden Eingreifen der USA in die europischen Auseinandersetzungen bestimmt wurde. [15] Das ist es, was ich meine, wenn ich davon spreche, da Hitler von Roosevelt das Gesetz des Handelns aufgezwungen wurde. Denn eigentlich hatte sich der Diktator, eingedenk der Schwchen seiner Wehr-macht, erst 1942/43 in das Risiko militrischer Konflikte mit den Westmchten begeben wollen. Daher dann auch sein Bemhen nach dem gelungenen Blitzsieg ber Polen, den ihm zur Unzeit >aufgezwungenen< Krieg im Westen durch eine militrische Niederwerfung Frankreichs und einen >Ausgleich mit England ... so schnell wie mglich zu einem Ende zu bringen. [16] Wenn dies alles so klar zutage liegt, warum hat es nicht strker unser Geschichtsbild bestimmt? Warum wurden wir in dem Glauben gehalten, Hitler sei bis tief in den Krieg hinein - bis zu den Katastrophen von El Alamein und Stalingrad - der bermchtige Akteur gewesen? Warum wurde diese Fiktion aufrechterhalten? Mehrere Grnde lassen sich dafr nennen. Zunchst war es einfach logisch, da man die Ursachen fr den Zweiten Weltkrieg beim Aggressor suchte.

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    Recht so, denn niemand anderes als die Deutschen haben in Polen den ersten Schu abgegeben! Diese Tendenz zu einer monokausalen Erklrung wurde durch die Niederlage Deutschlands und durch die Massenvernichtung der Juden, Polen und Russen, die 1945 zum Vorschein kam, noch mchtig ver-strkt. Die deutsche Schuld an dieser Weltkatastrophe war so gro, da sie den Blick auf das internationale Umfeld, in dem Hitlers Entschlu zum Kriege und zum Holocaust reifte, einfach verstellte. Aber es wre unehrlich, wenn man verschweigen wrde, da sich diese mora-lisch verstndliche Blickverengung von Anfang an auch von politischen Oppor-tunitten beeinflut wurde. So stellten die Siegermchte die (sebst-)kritische Aufarbeitung der deutschen Nationalgeschichte von Luther bis Hitler in den Dienst ihrer Pazifizierungspolitik, mit der sie aus den unruhigen Deutschen folgsame Bundesgenossen zu machen versuchten. Das Ergebnis dieses Umer-ziehungsprozesses ist in beiden deutschen Teilstaaten ein Grundkonsens, der den moralisch-politischen Antifaschismus mit einer betrchtlichen Distanz zur nationalen Idee verbindet. Jede Darstellung, die den Eindruck erweckt, sie wolle die Verantwortung fr den Zweiten Weltkrieg von Deutschland auf andere Mchte abwlzen, wird als Rckfall in unerwnschte Denk- und Werthaltungen bekmpft, die den Ansatz fr eine Destabilisierung des status quo in Europa bilden knnten. Deshalb wurde eine grndliche Revision unseres Geschichtsbildes in den Kpfen der meisten deutschen Historiker unterdrckt, die diese Selbstzensur freilich mit einer gehrigen Portion Provin-zialitt bezahlten. Moralische Rcksichten, politische Pressionen und die einseitige Archivpolitik der Siegermchte fhrten auerdem zu einer zeitweiligen Beschrnkung des wissenschaftlichen Horizonts. Die amtlich publizierten Dokumente zur Vorge-schichte des Zweiten Weltkrieges, die der Forschung zuerst und lange Zeit allein vorlagen, waren die Akten zur deutschen auswrtigen Politik. Die amerikanischen und englischen Archive wurden dagegen grtenteils erst Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre geffnet. Die sowjetischen und polnischen Archive blieben bis heute verschlossen. Durch diese Ungleichzei-tigkeit der Verffentlichung blieb die Kriegsursachenforschung lange Zeit knstlich auf den deutschen Aspekt beschrnkt, was dazu beitrug, die interna-tionalen Rahmenbedingungen fr den Kriegsausbruch auszublenden. So kam es, da man zwar ungefhr wei, warum Hitler 1939 Polen angriff, da aber die internationale Forschung die andere wichtige Frage, warum England und Frankreich zwei Tage spter Deutschland den Krieg erklrten, bis heute nicht schlssig zu beantworten vermag. [17] Abgesehen von den moralischen und politischen Grnden, die ich bereits nannte, gibt es dafr auch einen fachlichen Grund. Historiker pflegen das geschichtliche Geschehen fr ihre Zwecke in mehr oder weniger handliche Einzelteile zu zerlegen. Sie unterschei-den suberlich zwischen Innen- und Auenpolitik und reduzieren die Komple-xitt der internationalen Politik auf lauter bilaterale Einzelbeziehungen. Die-ses sezierende Verfahren vereinfacht zwar die wissenschaftliche Arbeit und

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    macht sie, wie man fairerweise hinzufgen mu, in vielen Fllen berhaupt erst mglich. Aber es verzerrt auch die historische Wirklichkeit, in der die nach-trglich knstlich voneinander getrennten Bereiche ja stets nur gemischt vorkommen. Das heit, der Historiker bezahlt die Vivisektion an seinem Gegenstand mit einem geschichtlichen Realittsverlust. Vielleicht liegt es auch daran, da es wissenschaftlichen Spezialisten manchmal an darstellerischen Gaben gebricht. Jedenfalls haben wir heute zwar eine Menge hervorragender Studien ber die amerikanische, deutsche, englische oder franzsische Innen- und Auenpolitik. Die amerikanisch-deutschen, deutsch-englischen und englisch-franzsischen Beziehungen wurden wieder-holt untersucht. [18] Aber fr die Zwischenkriegszeit fehlte es bisher an einer Arbeit, die zwischen diesen verschiedenen Sektoren des ffentlichen Lebens einen lebendigen Zusammenhang herstellt und auf der Basis des letzten Kenntnisstandes und neuer Forschungen jene Vielgestaltigkeit wiederherstellt, die den tatschlichen Verhltnissen der zwanziger und dreiiger Jahre ent-spricht. Es war von vornherein mein Wille, dieses Ziel zu erreichen, und obwohl ich dem Leser das Urteil darber berlassen mu, ob es mir gelungen ist, kann ich sagen, da fr mich das Geheimnis der Vorkriegszeit in der Zusammenschau der verschiedenen Politiken liegt: Fr sich allein genommen wirkt die national-sozialistische Auenpolitik so zielstrebig, kraftvoll und dmonisch wie die Auenpolitik der angelschsischen Seemchte unsicher, schwach und vernnf-tig wirkt. Fgt man diese beiden Seiten jedoch zu einem flchigen und differenzierten Bild zusammen, ergibt sich ein ganz anderer Eindruck - der Eindruck gebrochener Tne, seltsamer Zusammenhnge und zum Teil ausge-sprochen berraschender Verkehrungen. Bei meinem Versuch, die lange verkannte Realitt so wieder herzustellen, wie sie von den Akteuren im Westen gesehen wurde - und nicht so, wie sie aus moralischen oder politischen Grnden hinterher interpretiert wurde -, stol-perte ich ber den bestrzenden Sachverhalt, da ab Ende 1938 / Anfang 1939 ein in mancher Beziehung grob irrefhrendes Bild von Hitlers nchsten Absichten verbreitet wurde, um England kriegsbereit zu machen und den Diktator zu unbedachten Handlungen zu provozieren. Bis heute haben die Historiker diese vom deutschen Widerstand genhrte Manipulation der ffent-lichen Meinung bersehen. Sie machten dadurch mglich, was der amerikani-sche Journalist Walter Lippmann einmal als das Ziel jeder re-education hinstellte: Erst wenn die Kriegspropaganda der Sieger Eingang in die Geschichtsbcher der Besiegten gefunden hat und von nachfolgenden Genera-tionen geglaubt wird, kann die Umerziehung wirklich als gelungen angesehen werden. Propaganda wurde vor dem Zweiten Weltkrieg ohne Unterla von allen Mchten betrieben, und obwohl die Nazis auf diesem Gebiet wahrlich keine Waisenknaben waren, fanden sie in bestimmten Kreisen, die von Roosevelts Konfrontationskurs bestrkt wurden, ihren Meister. Dieser bis heute unbe-

  • Zu diesem Buch 17

    kannte Sieg in der psychologischen Kriegfhrung, der dem Sieg auf den Schlachtfeldern vorausging, lt sich genau auf die Jahreswende 1938/39 datieren, und er ist zusammen mit der englisch-franzsischen Holland- und Polen-Garantie dasjenige Ereignis, das den Kriegsausbruch neun Monate spter vorprogrammierte. Um die Realitten vorzutragen, die im Teil V dieses Buches in der verdrehten Form alliierter Zweckgerchte erscheinen, mchte ich an dieser Stelle drei Punkte nennen: 1. Fr den falschen Blitzschlag-Alarm, d.h. einen berfallartigen Angriff

    der deutschen Luftwaffe auf die englische Hauptstadt, gibt es in dendeutschen Dokumenten keinen Anhaltspunkt. Zwar bereitete sich diedeutsche Fhrung seit der Konferenz von Mnchen grundstzlich auf dieEventualitt eines Krieges gegen die Westmchte zur See und in der Luftvor. Doch war die Luftflotte 2, die im Zweifel das Bombardement Londonshtte ausfhren mssen, noch im April 1939 gar nicht darauf vorbereitet.Selbst als sich die deutschen Westkriegsplanungen nach der englischenPolen-Garantie im Mai 1939 konkretisierten, wurden Terrorangriffe aufLondon verworfen, weil die Deutschen befrchteten, diese wrden dieEnglnder nur umso fester zusammenschweien. [19]

    2. Ebenso unzutreffend war die Behauptung, Deutschland beabsichtige, Bel-gien, die Niederlande und die Schweiz anzugreifen. Im Gegenteil sah dieDenkschrift des Oberkommandos der Wehrmacht vom 28. Oktober 1938fr den Fall eines Westkrieges, den sie erst in vier bis fnf Jahren ... imBereich der Mglichkeiten liegend ansah, ausdrcklich eine Schonung derbelgischen, niederlndischen und Schweizer Neutralitt vor. [20]

    3. Ebensowenig hatten sich im Winter 1938/39 die angeblichen Plne fr eineoffensive Untersttzung der italienischen Forderungen an Frankreich durchDeutschland verdichtet. Mussolini wnschte zwar seit November 1938 einemilitrische Zusammenarbeit mit Hitler, was ihn aber nicht daran hinderte,auf dem Balkan eigene Plne voranzutreiben, die sich nicht unbedingt mitden Interessen des Dritten Reiches deckten. Doch wurden die deutsch-italienischen Generalstabsgesprche erst am 4. April 1939, vier Tage nachder englischen Polen-Garantie, aufgenommen. Solange hatte Hitler ge-bremst. [21]

    Die im Westen umlaufenden Gerchte, Hitler plane in den nchsten Monaten oder gar Wochen einen Krieg gegen den Westen, die zu einer geheimen Militrkonvention zwischen England und Frankreich fhrten, verunsicherten die deutsche Fhrung sogar so, da der Oberbefehlshaber des Heeres, General Walther von Brauchitsch, am 18. Januar 1939 eine Aufmarschanweisung >Fall West

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    in der Westwendung, die der polnische Auenminister Beck daraufhin unter amerikanischem und franzsischem Einflu vollzog, die eigentliche Ursache fr den Kriegsausbruch lag. Natrlich kann man sagen: Htte Roosevelt 1938/39 nicht gehandelt, Hitler wre sowieso frher oder spter ber Frankreich und Polen hergefallen, und er hat es ja schlielich auch getan. Insofern war die amerikanisch-franzsisch-polnische Konnektion nur ein Akt politischer Daseinsvorsorge. So kann man in der Tat argumentieren. Aber dies ndert nichts an der Tatsache, da es der amerikanische Prsident war, der die Dinge in der Entscheidungssituation des Jahreswechsels 1938/39 machtpolitisch in Bewegung brachte und der Hitler durch seine Quarantne-Politik zwang, die weit verbreiteten Prophezeiungen von seiner Politik weitaus schneller zu erfllen, als dem Diktator selbst recht sein konnte. Da dies zu deutschen Angriffen auf die Nachbarstaaten in Ost und West fhren mute, war 1938/39 nicht schwerer als 1913/14 vorauszusehen. Dieses bel nahm Roosevelt um der amerikanischen Sicherheit willen bewut in Kauf, und unsere Phantasie reicht einfach nicht fr die Vorstellung aus, was geschehen wre, htte es in Europa noch ein, zwei oder drei Jahre lnger keinen Krieg gegeben. Als Deutscher, dessen Leben etwa soviele Jahre zhlt, wie seit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges vergangen sind, schaut man mit groer Betroffenheit auf dieses schreckliche Ereignis zurck. Ich wei, es ist geschehen, ich habe es miterlebt, ich kann es nicht ungeschehen machen. Ich glaube auch, wir Deutschen haben fr unsere Schuld schwer gebt, und ich habe dieses Buch nicht deshalb geschrieben, um anderen Mchten ihre Schuld vorzuhalten, um die Fehler der Vergangenheit gegeneinander aufzurechnen oder um fr die Zukunft Zwietracht zwischen Amerikanern und Deutschen zu sen. Etwas ganz anderes bewegte mich. In einer Zeit, welcher mit dem Sinn fr historische Zusammenhnge ein wesentlicher Teil ihrer politischen Kultur abhanden zu kommen droht, will ich etwas fr die Aufbesserung unseres kollektiven Gedchtnisses tun. Das scheint mir gerade fr uns Deutsche, die wir rund um Hitler alles verdrngt haben, um der Welt zu gefallen, ein Gebot der Stunde zu sein. Htte ich vor einer oder zwei Generationen gelebt, wer wei, vielleicht wre diese mhsame und schmerzhafte Erinnerungsarbeit im Geiste des Revanchismus geschehen - also in dem falschen Bewutsein, man knne Geschichte rckgngig machen. Von Hitler wurden wir Deutschen jedoch belehrt, da dies nicht mglich ist. Wir wissen: Kein gangbarer Weg fhrt in dieses dunkle, verworrene und blutige Kapitel unserer Geschichte zurck.

    Dagegen gibt es eine andere Brcke in die Vergangenheit, und ich beschritt sie mit einem Gefhl wachsender Beklommenheit. Das ist der kontinuierliche Aufstieg der Vereinigten Staaten. Er berglnzt dieses Jahrhundert wie eine ununterbrochene Kometenbahn. Aufstieg und Fall nicht nur des Dritten Reiches, sondern des deutschen Nationalstaates berhaupt, ja aller Reiche und Nationalstaaten hngen mit diesem epochalen Ereignis zusammen. Und es ist

  • Zu diesem Buch 24

    wohl kein Zufall, da man in Washington heute die Sowjetunion und den Ostblock fr das letzte, im Grunde schon anachronistische Imperium hlt. Der von Roosevelt entfesselte liberal-demokratische Internationalismus Ame-rikas erwies sich bisher als die strkste Kraft dieses Jahrhunderts, das man nicht zufllig das amerikanische Jahrhundert nennt. Sie war strker als die deut-sche Reichsidee, strker als das Britische Empire, strker als alles, was frhere Jahrhunderte an politischen Formen und Werten hervorgebracht hatten. Wenn ich den Ereignissen der zwanziger und dreiiger Jahre gerecht werden wollte, und das war mein hchstes Ziel, mute ich diese bergreifende Entwicklung deutlich machen. Dabei ging ich von der Annahme aus, da der Aufstieg der Vereinigten Staaten zur nuklearen Supermacht, der sich ja nicht wie im Falle der Sowjetunion erst nach 1945 gewissermaen als Zufallsprodukt eines vor-hergegangenen Krieges vollzog, die Hauptursache fr die Krise des internatio-nalen Systems seit der Jahrhundertwende bildet. Diese Annahme hatte fr meine Arbeit weitreichende Konsequenzen. Denn von wo aus lie sich der amerikanische Komet am besten beobachten? Nach einigem berlegen entschied ich mich aus zwei Grnden fr London: Erstens war England die Weltmacht gewesen, die von den USA in der ersten Hlfte des 20. Jahrhunderts abgelst wurde. Und zweitens gehrte nicht viel Phantasie zuder Vermutung, da sich dieser Ablsungsproze irgendwie auch auf die Haltung Englands gegenber dem nationalsozialistischen Deutschland ausge-wirkt hat. Wie die Flle der bisher unverffentlichten, aber fr die Beurteilung der Zwischenkriegszeit zentral wichtigen Dokumente beweist, die ich in Lon-don fand, hat diese Standortentscheidung reiche Frchte getragen. Trotzdem kann dieses Buch nur ein Anfang sein - der Anfang fr eine deutsche Vergangenheitsbewltigung, die sich nicht mehr als Fhrerkult mit umge-kehrtem Vorzeichen versteht. Es ist der Anfang einer Geschichtsschreibung, in der nicht mehr Deutschland im Mittelpunkt steht, sondern jene Macht, die strker als das kaiserliche und das nationalsozialistische Deutschland war - die Vereinigten Staaten von Amerika. Mein Buch greift zurck in eine Zeit, in der die Sowjetunion noch so schwach war, da sich Stalin weigerte, fr den Westen die Kastanien aus dem Feuer eines Krieges gegen Hitler zu holen. Aber es erscheint zu einem Zeitpunkt, da die Sowjetunion vom Westen als so bedrohlich eingeschtzt wird, da man hierzulande geneigt ist, in ihr eine Gefahr fr den Frieden zu sehen. Was an die-sem Bild wahr und was an ihm unwahr ist, knnen letztlich nur diejenigen beur-teilen, die fr dieses Bild verantwortlich sind - die Amerikaner. Sicher gibt es keinen vernnftigen Grund, an der sowjetischen Aufrstung zu zweifeln. Aber es gibt gute Grnde, die Anzahl sowjetischer Raketen, Panzer und U-Boote nicht fr den alleinigen oder auch nur wichtigsten Mastab sowjetischer Strke zu halten. Was ihre Wirtschaft, ihre innere und uere Stabilitt angeht, scheint mir die Sowjetunion eher ein Riese auf tnernen Fen zu sein. Es ist nicht blich, da Historiker in ihren Bchern politische Bemerkungen machen, und ich habe mich nach besten Krften bemht, die Zeit zwischen den

  • 20 Roosevelts Weg zum Krieg

    beiden Weltkriegen aus sich heraus zu verstehen. Aber ich wre nicht ber-rascht, wenn der Leser wie ich manche Parallele zwischen den dreiiger und achtziger Jahren unseres Jahrhunderts entdeckt. Die wichtigste Parallele besteht darin, da die weltpolitische Entwicklung damals wie heute stark von der Einschtzung abhngt, welche die Roosevelt- und die Reagan-Administra-tion der jeweiligen Gegenmacht auf der anderen Seite des Atlantiks entgegen-bringt. Diese Einstellung war im Falle des nationalsozialistischen Deutschlands von vornherein negativ, jedenfalls von dem Augenblick an, da man Hitler in Washington die Fhigkeit zutraute, Mitteleuropa zu beherrschen, sich mit England zu verstndigen und damit jenen maritimen Schutzschild zu durch-dringen, hinter dem die USA in den letzten 150 Jahren ungefhrdet zur nuklearen Supermacht herangereift waren. Im Fall der Sowjetunion hat die amerikanische Einschtzung jedoch immer geschwankt - zwischen pragmatischer Analyse und emotionalem Kreuzzugs-denken. Es war George Kennan, der in seinem berhmten Artikel in Foreign Affairs 1947 feststellte, die Sowjetunion sei einerseits einfacher zu behandeln als das nationalsozialistische Deutschland, weil sie sich gegenber ihren Geg-nern sensibler verhalte. Andererseits sei sie aber auch schwerer zu behandeln, weil sie nicht einfach besiegt oder entmutigt werden kann durch einen einzigen Sieg. [24] Diese Grunderkenntnis fhrte smtliche amerikanischen Administrationen seit Roosevelt zu jener intelligenten langfristigen Politik, die man unter dem Stichwort des Containments oder der Eindmmung zusammenfat. Diese Politik mu zwangslufig dann ins Wanken geraten, wenn sich in Amerika der Glaube festigt, man habe die Mittel fr einen einzigen Sieg in der Hand. Es gibt Beobachter, die diesen Zeitpunkt jetzt mit den Pershing-II-und MX-Raketen fr gekommen halten. In dieser Annahme knnte zugleich mit einer Bedrohung des Friedens eine weitere Parallele zu den dreiiger Jahren liegen. Denn zweifellos war die strategische Luftwaffe damals das, was heute die nuklearen Fernraketen sind. Sicher gibt es auch gewaltige Unterschiede - unter anderem den, da die USA seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr formal neutral, sondern mit England, Frankreich, dem westlichen Teil Deutschlands und einer Reihe anderer Staa-ten tatschlich verbndet sind und da sie ihre Truppen auf dem europischen Festland stehen haben. Ihre Fhigkeit, die sowjetische Gegenmacht in eine Lage zu bringen, in der sie sich wie das nationalsozialistische Deutschland zwischen Kapitulation und Krieg entscheiden mu, wurde dadurch unzweifel-haft bedeutend verstrkt. Man wird sehen, ob dies auf die Dauer dem Frieden mehr ntzt als schadet. Ich mu gestehen, da ich durch die vierjhrige Arbeit an meinem Buch skeptisch gegenber der amerikanischen Friedenspolitik geworden bin. Die Idee vom Zusammenschlu aller freien Vlker zur Erhaltung des Friedens ist zweifellos eine grandiose Idee. Aber schon das Beispiel Roosevelt zeigt, da sie im Ernst praktisch nicht ohne Krieg zu verwirklichen ist. Letztlich luft sie auf

  • Zu diesem Buch 21

    die Zusammenballung einer berwltigenden Macht hinaus, die in jedem Prsidenten die Neigung bestrken mu, sie gegebenenfalls zugunsten der amerikanischen Interessen einzusetzen. Diese Interessen mssen aber nicht immer identisch mit den europischen, geschweige denn mit den deutschen sein! Ohne die Solidaritt meiner Frau, die mir auch in kritischen Situationen zur Seite stand, htte ich dieses Buch mglicherweise nicht vollendet. Ihr gebhrt in erster Linie mein herzlichster Dank. Desgleichen danke ich meinen drei Tchtern und meiner Mutter fr die Geduld, die sie mit mir hatten, sowie meinem Bruder Jrgen und meinen Freunden fr die oft leidenschaftlichen Diskussionen, die dazu beitrugen, meinen Blick fr die wesentlichen Fragen zu schrfen. Wertvolle Anregungen verdanke ich Professor Dr. Hans Jrgen Schrder (Universitt Gieen), Dr. Karl-Heinz Ptz (John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universitt Berlin), Dr. Dietrich Aigner (Universitt Mannheim), Professor Dr. Klaus-Jrgen Mller (Bundeswehrhochschule Hamburg) und Dr. David Reynolds (University of Cambridge). Bei meinen Aufenthalten in der englischen Hauptstadt konnte ich stets auf die kollegiale Untersttzung durch Dr. Lothar Kettenacker und Dr. Gerhard Hirschfeld vom Deutschen Historischen Institut London bauen. Mr. Cox, Head of the Search Room im englischen Staatsarchiv, dem Public Record Office, und Frau Luise Finck, Diplombiliothekarin am Institut fr Internationale Angelegenheiten der Universitt Hamburg, mchte ich fr ihr unermdliches Entgegenkommen, das sie mir bei der Beschaffung von Doku-menten und Literatur bewiesen, hier ein kleines Denkmal setzen. Unvergessen ist auch die Przision, mit der Frau Karin Engel meine Tonbanddiktate per Schreibmaschine in ein satzfertiges Manuskript umsetzte. Last but not least danke ich meinem Lektor, H. R. von Zabuesnig, fr den Humor und fr den Professionalismus, mit denen er fr den reibungslosen Ablauf dieser nicht immer ganz einfachen Buchproduktion sorgte. Es versteht sich von selbst, da keiner von ihnen fr die Aussagen verantwort-lich ist, die ich in diesem Buch treffe. Gern schliee ich auch diejenigen Personen und Institutionen in meinen Dank ein, die meine Forschungsarbeit finanziell gefrdert haben, die aber aus Furcht vor politischen Konsequenzen nicht genannt werden wollen. Die bersetzungen aus den englischen Original-dokumenten, die das knigliche Copyright tragen, geschieht mit Erlaubnis von H. M. Stationary Office. Fr die beiden Faksimiles am Anfang und Ende dieses Buches wurde das Copyright eingeholt.

    Reinbek, im Juni 1983

    Dirk Bavendamm

  • 22 Roosevelts Weg zum Krieg

    Anmerkungen 1 Hans-Jrgen Schrder, Deutschland und die Vereinigten Staaten. Wirtschaft und Politik

    in der Entwicklung des deutsch-amerikanischen Gegensatzes. Wiesbaden 1970 2 Kurt Schfer, Das gespaltene Bewutsein. ber deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit

    1933-1945. Mnchen 1982 3 Adolf Hitler, Mein Kampf. 19. Aufl. Mnchen 1933, S. 722 4 Hitlers Zweites Buch. Ein Dokument aus dem Jahr 1928. Eingeleitet und kommentiert

    von Gerhard L. Weinberg. Mit einem Geleitwort von Hans Rothfels. Stuttgart 1961, S. 130 5 Hitler, Kampf, S. 720 6 Hitlers Zweites Buch, S. 172f. 7 ebda., S. 218 8 DBFP 3/V, S. 278: Forbes 18. 11. 38 Halifax 9 Vlkischer Beobachter, 21. 1. 1939 und 10. 2. 39

    10 Dieses Telegramm wurde nicht in die offizielle Publikation der Deutschen Akten zur auswrtigen Politik 1918-1945 aufgenommen. - Vgl. Auswrtiges Amt (Hg.), Doku-mente zur Vorgeschichte des Krieges. Berlin 1939, S. 159: Dirksen 27.1.39 AA

    11 AD AP D IV, S. 359: Dirksen 20.2.39 Ribbentrop 12 Max Domarus, Hitler, Reden und Proklamationen 1932-1945. Band II. Wrzburg 1963,

    S. 1047ff. bzw. 1148ff. 13 AD AP D VI S. 107 f.: Thomsen 27.3.39 AA 14 ebda. VII, S. 314: Thomsen 28.8 .39 AA 15 Andreas Hillgruber, Der Faktor Amerika in Hitlers Strategie 1938-1941. In: Ders.,

    Deutsche Gromacht- und Weltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert. Dsseldorf 1977, S. 202 f.

    16 ebda., S. 206 17 Andreas Hillgruber, Forschungsstand und Literatur zum Ausbruch des Zweiten Weltkrie-

    ges. In: Wolfgang Benz / Hermann Graml, Sommer 1939. Die Gromchte und der Europische Krieg. Stuttgart 1979, S. 346

    18 David Reynolds, The Creation of the Anglo-American Alliance 1937-1941. A Study in Competitive Co-operation. London 1981

    19 Karl Gundlach, Gedanken ber die Fhrung eines Luftkrieges gegen England bei der Luftflotte 2 in den Jahren 1938/39 (Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Luftschlacht um England). In: Wehrwissenschaftliche Rundschau, Jgg. 10 (1960), S. 33-46

    20 Manfred Messerschmidt u.a., Das strategische Lagebild der deutschen Fhrung 1938. Unverffentlichtes Manuskript 1982, S. 34

    21 AD AP D VI, Anhang I, S. 929ff. bzw. AD AP D IV S. 456 ff: Mackensen 5.11.38 AA 22 Hans-Adolf Jacobsen (Hg.), Dokumente zur Vorgeschichte des Westfeldzuges 1939-

    1940. Gttingen/Berlin/Frankfurt 1956, S. 31 ff. 23 vgl. Anm. 2, S. 34: So Hitler in seiner Ansprache vom 22.8.39 24 X, The Sources of Soviet Conduct. In: Foreign Affairs, 4/1947, S. 575 (X war das

    Pseudonym fr Kennan).

  • Teil I

    Franklin Delano Roosevelt

  • 1. Leben am Hudson

    Franklin Delano Roosevelt - wenn der klangvolle Name fllt, werden wider-sprchliche Erinnerungen wach. Man denkt an den New Deal und an den Zweiten Weltkrieg, an den engagierten Sozialreformer und an den zynischen Machtpolitiker der 30er und 40er Jahre. Obwohl Roosevelts Prsidentschaft fnfzig Jahre zurckliegt, wird unser Leben von ihr bis auf den heutigen Tag bestimmt. Roosevelt war die Sphinx unter den amerikanischen Prsidenten dieses Jahr-hunderts, strahlend und dster und rtselhaft zugleich. Wenn man ltere Fotos betrachtet, sieht man einen grogewachsenen, gut aussehenden und energi-schen Mann vor sich, mit einem schmalen hohen Kopf, das graue Haar gelichtet, die merkwrdig verschatteten Augen meistens hinter einem Kneifer, lchelnd, obwohl an beiden Beinen gelhmt. Bei lngerem Nachdenken erinnert man sich schwach an Pearl Harbor, an die Atlantik-Charta, an die Fliegenden Festungen und an den Morgenthau-Plan, an die Konferenzen von Teheran und Jalta. Dies alles, was unser Leben bis auf den heutigen Tag bestimmt, ist mit dem Namen Roosevelt verbunden, auch die Entwicklung der Atombombe. War das nicht der Mann, der mit Churchill und Stalin das unnatrliche Bndnis gegen Hitler schlo? Der von Deutschland die bedingungslose Kapitulation verlangte? Der Ost-europa dem Kommunismus auslieferte, weil er sich in der Geographie nicht auskannte? Die Vereinigten Staaten von Amerika brachten viele bedeutende Prsidenten hervor. Aber Roosevelt war einer ihrer bedeutendsten, und keiner wurde zu Unrecht so grndlich halbvergessen wie er. Weil seine Amtszeit so lange zurckliegt, glnzt Roosevelts Prsidentenschaft weniger als die John F. Ken-nedys. Aber sie wirkt auch nicht so skandalumwittert wie die Richard Nixons. Kaum zu glauben, da die Zeitgenossen vor 50 Jahren diesen Mann so heftig umjubelt und verdammt haben wie Nixon und Kennedy zusammen. Bis zum Amtsantritt Ronald Reagans war kein Prsident umstrittener als er. Aus Roosevelt wurde, bevor man ihn richtig verstand, ein Mythos, der Mythos des modernen Amerika. Nicht umsonst sprach man Anfang der 30er Jahre, als er fast zeitgleich mit Adolf Hitler an die Macht kam, von der Roosevelt-Revolution. Bis heute begriff man nicht richtig, woraus der New Deal eigentlich bestand. Fr die Konservativen war er ein heimtckischer Klassen-kampf, fr die Revisionisten eine abgefeimte Reparatur des Kapitalismus.

  • 26 Franklin Delano Roosevelt

    Aber irgendwie wurde dieser New Deal das Modell fr unsere Gesellschaft von heute, und irgendwie hing das mit dem Zweiten Weltkrieg zusammen. Aber wie waren die Zusammenhnge genau? Fragen ber Fragen. Nur die Geschichte hlt die Antworten bereit. An europischen Mastben gemessen, haben die Vereinigten Staaten eine kurze Geschichte. Sie wurden gegrndet, als bei uns Friedrich der Groe regierte. Das ist erst zweihundert Jahre her. Aber Amerika ist beileibe kein geschichts-loses Land. Im Gegenteil, kaum irgendwo wird das Geschichtsbewutsein so inbrnstig gepflegt wie dort. Und auf eine schwer zu beschreibende Weise wurde die amerikanische Geschichte in den letzten Jahrzehnten ein Teil unserer Geschichte. Sie wurde es nicht zuletzt durch Roosevelt. In Amerika wei jeder halbwegs gebildete Mensch, wo die frheren Prsiden-ten wohnten, wenigstens die berhmteren unter ihnen. Washington in Mount Vernon, Jefferson in Monticello, Kennedy in Boston, Hyannis Port, oder Washington. Um Franklin Delano Roosevelt zu begegnen, mu man sich nach New York begeben, in diese schne und ehrenwerte Katastrophe, wie der Architekt Le Corbusier diese Stadt einmal nannte, genauer in den Bundesstaat New York, den Hudson River hinauf bis nach Hyde Park. Dort stand die Wiege des Prsidenten. Der Hudson entspringt in den Adirondack-Bergen an der kanadischen Grenze. Er mndet westlich von Manhattan in den Atlantischen Ozean. Der Hudson ist kein beliebiger Flu, er ist einer der mythischen Strme Amerikas, verherrlicht in Gemlden, besungen von Liedern und Legenden, ein flieendes Stck amerikanischer Geschichte. Hier siedelten die ersten Kolonisten, bevor die Mayflower etwas weiter nrdlich bei Boston ihre Anker warf. Es waren brigens Hollnder, die den Indianern die Felseninsel, auf der heute die Wolkenkratzer in den Himmel streben, 1624 fr 24 Dollar in Perlen, Schmuck und Knpfen abkauften. Sie nannten den Flecken New Amster-dam, und nach ihrer Unterwerfung durch den englischen Herzog von York wurde New York daraus. Roosevelt stammte von diesen hollndischen Ursiedlern ab. Das geruhsame Leben an den waldreichen und hgeligen Ufern des Hudsons bedeutete ihm zeitlebens sehr viel. So bekannte er einmal:

    Alles, was in mir ist, geht auf den Hudson zurck. [1]

    Roosevelts Wurzeln waren vergoldet. Er stammte aus wohlsituierten Verhlt-nissen. Anfang des 19. Jahrhunderts gewhnten es sich die erfolgreichen New Yorker Grohndler, Industriellen und Finanziers an, in der Umgebung der City Landsitze zu erwerben. Auf sie zogen sie sich whrend der heien Sommermonate mit ihren Familien zurck. Immerhin liegt New York auf der geographischen Breite von Neapel. James Roosevelt, der Vater des spteren Prsidenten, hatte mit einer Zuckerraffinerie, Bank- und Eisenbahngeschften ein Vermgen gemacht. Er kaufte 1867 Hyde Park. Hier wurde Franklin Delano Roosevelt fnfzehn Jahre spter, am 30. Januar 1882, geboren. Franklin Roosevelt war ein Spro des 19. Jahrhunderts. Als er das Licht der

  • Leben am Hudson 27

    Welt erblickte, schlo das Deutschland Bismarcks gerade den Dreibund mit Italien und sterreich-Ungarn, schrieb Richard Wagner seinen Parsifal und grndete Thomas Edison, der Erfinder der Glhbirne, sein erstes Elektrizitts-werk, brigens in New York. Franklin Delano Roosevelt war der Zeitgenosse des irischen Dichters James Joyce, des russischen Komponisten Igor Stra-winsky und des franzsischen Malers Georges Braque. Hyde Park ist ein weitlufiger Landsitz. Seine Rasenflchen fallen steil zum Ufer des Hudsons ab. Gesumt von Ahornbumen, die links und rechts Spalier stehen, fhrt ein breiter Kiesweg von der Landstrae durch den Park vor das Haus. Was heit Haus? In Wirklichkeit handelt es sich um eines jener brgerli-chen Chalets, wie sie berall in diesem Landstrich New Englands von Reich-tum, Macht und Ansehen knden. Die ockerfarbene Fassade erhebt sich mit jener neoklassizistischen Eleganz, wie sie in Amerika nach der Weltausstellung von Chicago 1893 Mode wurde. Die breite Treppe, der tempelartige Portiko mit seinen weien Sulen und die vielen ebenfalls wei gelackten Sprossenfen-ster unterstreichen den herrschaftlichen Charakter des Anwesens. Von den Dchern gren die Bailustraden der groen Sonnenterrassen und die hohen Kamine wie die Vorboten sommerlicher und winterlicher Freuden herab. Das Haus wurde von Franklin Delano Roosevelt, der eine Frau, zwei Tchter und vier Shne hatte, verschiedentlich erweitert und umgebaut. Schon zu seinen Lebzeiten umfate es neben den weitlufigen Wohn- und Schlafrumen sieben Bder, eine riesige Bibliothek nach englischem Vorbild und eine Veranda, von der aus man einen weiten Ausblick auf den majesttischen Hudson hat. Noch heute zeugen kleine Rampen vor den Trschwellen, die massiven Handlufe im Treppenhaus und der hlzerne Rollstuhl von jenem Mann, den die Kinderlhmung im 41. Lebensjahr heimsuchte und der trotzdem zu den mchtigsten Mnnern unseres Jahrhunderts zhlt. Es war wirklich eine heile Welt, in die Franklin Delano Roosevelt hineingebo-ren wurde. Bei dem italienisch klingenden Delano handelte es sich brigens um den Familiennamen seiner Mutter Sara. Ihr Stammbaum hat sogar einen Unterzeichner der amerikanischen Unabhngigkeitserklrung aufzuweisen, in dem sonst so demokratischen Land ein Zeichen von Adel. Franklin Delano Roosevelt war ein Einzelkind. Er hatte sonst nur noch einen miratenen Halbbruder aus der ersten Ehe seines Vaters, der nicht mit in Hyde Park wohnte. So wuchs der kleine Franklin in der behteten Isolation wohlgeordne-ter Verhltnisse auf, die ihm ein aktiver und interessierter Vater und eine liebevolle, aber recht bestimmte Mutter bereiteten.

    Er ist ein Delano, kein Roosevelt, unterstrich sie ihren Besitzanspruch. [2] Der Vater unterwies seinen Sohn im Segeln und in anderen Sportarten. Gouvernanten und Tutoren, die ins Haus kamen, sorgten fr das ntige Grundwissen. Mit dem Gewehr, das er zum Geburtstag bekam, erlegte Fran-klin in den Wldern jene Vgel, die er ber alles liebte, ausstopfte und zu einer beachtlichen Sammlung zusammenfgte. Das Jahr war ein Reigen warmer Sommer auf der Insel Campobello vor der Kste Kanadas, wo die Roosevelts

  • 28 Franklin Delano Roosevelt

    ein Ferienhaus besaen, und kalter Winter, die den Hudson und seine Umge-bung in Schnee und Eis hllten. Die Eltern verfolgten die Entwicklung des schlanken, etwas blassen Knaben mit jener Mischung aus Ehrgeiz und Besorg-nis, wie sie lteren Ehepaaren zueigen ist. Das prgte seinen Machtwillen aus.

    Mami, wenn ich nicht die Befehle gebe, dann wrde hier berhaupt nichts geschehen. [3]

    So soll der kleine Franklin sich ber seine wohl allzu passiven Spielkameraden geuert haben. Viele hatte er nicht, und so kam die eigentliche Bewhrungs-probe fr sein Durchsetzungsvermgen erst, als Franklin mit vierzehn Jahren in das Internat nach Groton kam. Bis dahin war er mit seinen Eltern oder mit seine Mutter allein nicht weniger als vierzehnmal in Europa gewesen. Er hatte dank seines einflureichen Vaters eine Reihe prominenter Leute kennengelernt, einschlielich des Prsidenten Grover Cleveland im Weien Haus. Schon in Hyde Park erlernte er die Grundzge der deutschen und der franzsischen Sprache. Wahrscheinlich war Franklin Delano Roosevelt von allen Prsidenten, die vor ihm amtiert hatten, derjenige mit einem halbwegs internationalen Bildungshintergrund. Fr den Zuschnitt seiner Politik scheint das nicht unwesentlich gewesen zu sein. Bei lngeren und krzeren Aufenthalten in England, Holland, Frankreich und vor allem Deutschland sah der junge Franklin die Schlsser von Belvoir und Versailles, das kleine Stdtchen Bad Nauheim und den Schwarzwald, das Wagner-Festspielhaus in Bayreuth und die hollndische Nordseekste. In dem hessischen Badeort, den der Vater wiederholt zu Kurzwecken aufsuchte, ging der Sohn einmal sogar drei Monate lang zur Volksschule. Zeit seines Lebens sprach er etwas deutsch. Seine Reiseerfahrungen schienen das negative Deutschland-Bild zu bestrken, das im Roosevelt-Clan vorherrschte. Auch das prgte den jungen Franklin. Viele Jahre spter kam er in einem Schlsselgesprch, das er mit seinem Freund Arthur Willert im kritischen Mrz 1939 fhrte, auf diese frhe Erfah-rung zurck. Willert erinnert sich [4]:

    Der Prsident wiederholte dann, was er mir schon einmal erzhlt hatte, da nmlich sein Widerwille gegen Deutschland auf die Schulzeit zurckgehe, die er dort verbrachte. Sie (die Deutschen - D. B.) htten versucht, ihn zu tyrannisieren. Aber er finde, sie wrden jedesmal zusammenklappen, wenn er hart zurckschlage und ihnen standhalte.

    Das wilheminische Deutschland hatte damals, als der junge Roosevelt es besuchte, in Amerika eine schlechte Presse. Es versuchte als imperiale Macht in der Welt Fu zu fassen. ber die Erwerbung des Flottensttzpunktes Kiautschou kam es 1897 zu einem machtpolitischen Zusammensto mit den USA, die sich ebenfalls fr China interessierten. Spter rasselten die beiden Mchte whrend der Marokko-Krise zusammen. Beide Affren wirbelten in den Vereinigten Staaten ziemlich viel Staub auf, der Deutschlands Ruf verdun-kelte. Den Rest besorgte die Illustrated London News, die jede Woche nach

  • Leben am Hudson 29

    Hyde Park kam. Ihre Fotos zeigten die zackigen Paraden der Hohenzollern, und ihre Kommentare ber den Kaiser waren im Zeichen der englisch-deutschen Flottenrivalitt nicht gerade freundlich gestimmt. Das Foto des Vierzehnjhrigen, der nach Groton ging, zeigt einen hochaufge-schossenen, blassen und empfindsamen Knaben mit einem braven Mittelschei-tel und seltsam tiefliegenden Augen. Er zieht seinen ausdrucksstarken Mund leicht zusammen, als msse er irgendeinen heimlichen Schmerz verbergen. Besonders glcklich wirkt dieser Franklin Roosevelt, der erstmals fr lnger den huslichen Umkreis verlie, nicht. Groton war eine der fhrenden Privatschulen Neuenglands, wo sich um die Jahrhundertwende die jeunesse dore der amerikanischen Ostkste zu ver-sammeln pflegte. Es handelte sich um die Shne jenes weien, angelschsi-schen und puritanischen Patriziats, fr das sich in Amerika die Abkrzung Whasp (white, anglosaxonian, protestant) einbrgerte. Sie beherrschte das wirtschaftliche, politische und kulturelle Leben zwischen Boston und Washing-ton. In Groton wurden die jungen Leute fr den anschlieenden Besuch der Eliteuniversitten von Harvard, Yale, Columbia und Princeton getrimmt und auf ihre angestammten Fhrungspositionen in Staat und Gesellschaft vorbe-reitet. Die Roosevelts gehrten der Episkopalischen Kirche an, einem Ableger der englischen Hochkirche, und deren christlich-missionarischer Geist bestimmte das Leben in Groton. Schulleiter Endicott Peabody bemhte sich wacker um die gottesfrchtige Bildung seiner Zglinge. Dazu gehrte der Unterricht in Griechisch und Latein. Dem jungen Roosevelt, der in den nchsten vier Jahren die Adoleszenz erreichte, vermittelte dieser Aufenthalt zwei Erfahrungen, die sein ganzes weiteres Leben bestimmten: Er legte Grund fr sein politisches Weltbild, und er gewann eine Reihe von Freunden, die er spter in wichtige mter seiner Administration berief. Dean Acheson (spter Unterstaatssekre-tr in Roosevelts Finanzministerium), Joseph Grew (Botschafter in Tokio), Avereil Harriman (Sonderbotschafter bei Churchill und Stalin) und Sumner Welles (Unterstaatssekretr im Auenministerium) zhlten dazu. Den Internatsbetrieb darf man sich freilich nicht besonders weltfremd vorstel-len, sondern straff, am Wettbewerb orientiert und den Dingen des praktischen Lebens, vom Sport bis zur Politik, zugetan. Die Jungen wurden in Handel, Industrie, Geld-, Bank- und Steuerwesen, Auenpolitik, Seestrategie und politischer konomie unterwiesen. Das Ergebnis war eine Mischung aus christlichem Idealismus und konomischem Pragmatismus, vermischt mit einer krftigen Portion Nationalstolz. Sie verlieh ihnen von frh auf die berzeu-gung, da gerade die privilegierten Amerikaner dazu beitragen mten, die belstnde des nationalen und internationalen Lebens zu heilen. Das schlo in ihren Augen keineswegs den privaten Wohlstand aus, machte ihn aber mora-lisch ertrglicher. Denn Erfolg hat nach den Lehren des Puritanismus nur der Gottgefllige.

    Mit einem Wort: Groton war eine Pflanzsttte jenes missionarischen Interna-

  • 30 Franklin Delano Roosevelt

    tionalismus, der die Politik des spteren Prsidenten bestimmte. Sptestens hier machte Franklin Roosevelt auch Bekanntschaft mit den Werken Alfred Thayer Mahans, einem der erstaunlichsten Geister seiner Zeit. Der kahlkp-fige Prsident der amerikanischen Kriegsmarineschule hatte soeben sein Hauptwerk The Influence of Seapower on History (Der Einflu der See-macht auf die Geschichte) verffentlicht. Es machte den Kapitn ber Nacht zum Clausewitz der See, zum fhrenden Seestrategen der Welt. Fr die Welt um die Jahrhundertwende war die pltzliche Popularitt Mahans und der Aufstieg der Vereinigten Staaten zur Seemacht etwas Neues und Ungewohntes. Die Englnder beherrschten damals noch die Weltmeere, und sie waren mit Recht stolz auf ihre Royal Navy, die grte und strkste Flotte der Welt. Als Mahan pltzlich berhmt wurde, sah sich sogar die englische Knigin Viktoria veranlat, fr den Amerikaner ein Staatsbankett zu geben. Seine Bcher ber Das gegenwrtige und zuknftige Interesse Amerikas an der Seemacht und Flottenstrategie las sogar der deutsche Kaiser Wil-helm II. In ihnen stellte Mahan die Grundstze der amerikanischen Globalstra-tegie auf: Die Gleichsetzung von Seeherrschaft und Weltherrschaft; die Kon-trolle der internationalen Seewege durch eine mchtige Flotte zu politischen Zwecken; die Verteidigung der Vereinigten Staaten mglichst weit von ihren Ksten entfernt; die Konzentration der Flotte auf jeweils einen Kriegsschau-platz zur Herbeifhrung einer mglichst raschen und definitiven Entscheidung. Alle diese Einsichten bernahm Roosevelt, der die Bcher und Aufstze Mahans verschlang und sammelte, spter in seine militrische Strategie zu Wasser und in der Luft.

    James und Sara Roosevelt hatten ihren Sohn mit der Erwartung nach Groton geschickt: Wir dachten, er sollte ein paar Preise gewinnen. [5] Vielleicht lag es an diesem Erwartungsdruck, da Jung-Franklin von seinen Mitschlern als geradezu verzweifelt ehrgeizig beschrieben wurde. In ihm brannte ein wildes Feuer, das nicht immer ausreichend Nahrung fand. Was er im Sport nicht an Anerkennung gewinnen konnte, versuchte der junge Roosevelt durch Beitrge in der Schlerzeitung, durch die Mitgliedschaft in der Grotoner Missionari-schen Gesellschaft und als politischer Debattierer wettzumachen. Trotzdem war er kein Intellektueller. Aber seine Biographen heben hervor, Franklin Roosevelt habe von frh an die besondere Verpflichtung des hochge-borenen Amerikaners fr diejenigen empfunden, die vom Leben weniger begnstigt waren. Gelegentliche soziale Dienste, die er bernahm, bezeugen das. Andererseits zeichnete er sich durch brennendes Geltungsbestreben, das Bedrfnis nach einer gewissen Selbstdramatisierung und durch einen rebelli-schen Nonkonformismus aus, der gelegentlich in krassen Opportunismus umschlug. Die nchste Station nach Groton war Harvard, die berhmte Eliteuniversitt in Cambridge bei Boston. Dort besuchte Franklin Roosevelt als 18jhriger die rechtswissenschaftliche Fakultt, die sogenannte Law School, an der schon sein Vater studiert hatte. Aber es war fr den jungen und ehrgeizigen Mann ein

  • Leben am Hudson 31

    schwerer Schlag, als er nicht in den Porcellian Club aufgenommen wurde, wo sich die besten jungen Mnner versammelten. Fr Franklin Roosevelt war diese Zurcksetzung ein Schlsselerlebnis. Offen-bar gab es Menschen in seiner Umgebung, die noch reicher, noch angesehener und noch mchtiger waren als seinesgleichen. Er versuchte, sich mit der Redaktion der Universittszeitung ber seine Schlappe hinwegzutrsten. Nach vier Jahren Harvard wechselte Franklin Roosevelt dann aber auf die rechtswis-senschaftliche Fakultt der Columbia-Universitt in New York ber, um dort sein Studium abzuschlieen. Menschen, die ihm nahe standen, fhrten das soziale Engagement, das der Prsident 30 Jahre spter in seinem New Deal entwickelte, auf jene Krnkung seines Selbstwertgefhls zurck. Roosevelt war wohl immer stark ich-bezogen. An der Columbia-Universitt machte er jedoch die Bekanntschaft mit einer sozialen Klasse, die noch hrter um ihre Gleichberechtigung rang: mit den New Yorker Juden. Auch das war eine entscheidende Erfahrung fr ihn. Die amerikanische Gesellschaft von damals trug zum Teil ausgesprochen antisemitische oder allgemein rassistische Zge. So forderte ausgerechnet der Fhrer der sogenannten Progressisten, Albert Beveridge, seine Landsleute auf, dem Ruf unseres Blutes zu folgen, neue Mrkte und, falls notwendig, neue Lnder zu erobern. Begrndung: Es liege nun einmal in des Allmchti-gen unendlichem Weltenplan, da die in Verfall geratenen Rassen dazu verurteilt seien, der hheren Kultur einer edleren und strkeren Rasse zu weichen. [6] Natrlich waren damit die WASP-Amerikaner gemeint. Diesen Satz htten die Alldeutschen in Berlin und die englischen Imperialisten auch nicht besser formulieren knnen. Vor der Grndung des Staates Israel war New York der Ort mit den meisten und mchtigsten Juden in der Welt. Kein Wunder, da sie hier eine besondere Rolle spielten. Roosevelt war zwar selbst kein Jude, wenngleich es in seiner Familie einige Isaaks, Jonathans, Rebeccas und Saras gab. Aber das Zusammentreffen mit dieser kleinen, aber einflureichen Minderheit war fr ihn als New Yorker unvermeidlich, und als er einmal wegen seiner oft vermute-ten Blutsverwandtschaft attackiert wurde, antwortete der Prsident schlagfer-tig, er htte sich gewnscht, ein Jude zu sein. Jedenfalls machte er auf der Columbia-Universitt die Bekanntschaft mit jenen jdischen Akademikern, die spter seinen New Deal erfanden. Untersttzt in seinem sozialen Empfinden wurde der junge Franklin Delano Roosevelt aber zweifellos auch von seiner jungen Braut. Besondere Schn-heit drckte Eleanor Roosevelt nicht. Aber die zierliche Person besa eine un-heimliche Energie. Dabei war sie eine stille, zarte und nachdenkliche Frau, die eine schwere Kindheit und Jugend hinter sich hatte. Ihre Ausbildung als Sozialhelferin hatte Eleanor Roosevelt in England absolviert. Franklin lernte sie 1902 kennen, als Eleanor in den Armenvierteln der New Yorker Eastside wirkte. 1904 verlobten sich die beiden, ein Jahr spter heirateten sie.

  • 32 Franklin Delano Roosevelt

    In seinem Leben hatte Roosevelt eigentlich drei Frauen: Seine Mutter Sara, Eleanor und Lucy Mercer. Die alte Dame, die erst 1941 starb, wirkte als selbsternannte Beraterin. Wegen ihrer altmodischen Ansichten war sie nicht immer leicht zu ertragen, vor allem, wenn sie ihren Sohn in Gegenwart hochgestellter Besucher schwerhrig fragte: Wer ist dieser furchtbare Kerl? Mit Lucy Mercer, einer dunkelhaarigen Schnheit und ehemaligen Sekretrin seiner Frau, hatte Roosevelt wahrscheinlich schon seit 1913 ein Verhltnis. Als Frau Rutherford war die Geliebte sogar zur Stelle, als der Prsident 1945 starb. Besonders glcklich war die Ehe der Roosevelts, aus der sechs Kinder hervor-gingen, unter diesen Umstnden nicht. Seit Eleanor Roosevelt von der Lei-denschaft ihres Mannes wute, und das war seit 1918 der Fall, lebten die Eheleute innerlich auf Distanz. Gerade das aber gab der spteren Prsiden-tengattin den Freiraum, den sie energisch fr ihre eigene Emanzipation nutzte. So wurde Eleanor Roosevelt schon in den zwanziger Jahren eine politische Figur, und wahrscheinlich gab es vor und nach ihr keine politischere First Lady im Weien Haus. Sie war in der amerikanischen Frauenbewe-gung aktiv und kmpfte fr die Rechte von Minderheiten. Obwohl er mit ihr lngst nicht immer einer Meinung war, nutzte dem Prsidenten das politische Engagement seiner Frau. Neben ihren persnlichen Qualitten brachte Eleanor, die aus einem anderen Stamm der weitverzweigten Roosevelt-Clans stammte, eine besondere Mitgift in ihre Ehe ein: Onkel Theodore Roosevelt, seit 1901 Prsident der Vereinig-ten Staaten von Amerika. Dieser Mann war wie geschaffen, das Idol des jungen Franklin Roosevelts zu sein, der ebenfalls entfernt verwandt mit ihm war.

    Teddy Roosevelt war als Stellvertreter des ermordeten Prsidenten William McKinley 1901 an die Macht gekommen. Er war Mitglied der Republikani-schen Partei, die damals, um die Jahrhundertwende, alle Prsidenten stellte. Whrend die Republikaner in einer Orgie des Bossismus, der Korruption und der Miwirtschaft versanken, wurde die amerikanische ffentlichkeit von einer Woge des Militarismus und der Eroberungssucht heimgesucht. Die Vereinigten Staaten hatten ihr eigenes Territorium erst in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis hin nach Kalifornien erschlossen. Jetzt vollzo-gen sie den Bruch mit der amerikanischen Vergangenheit (Barbara Tuch-mann), indem sie aufhrten, die unschuldige Heimstatt aller Verfolgten und Entrechteten zu sein. Stattdessen reihten sie sich in die Phalanx der imperiali-stischen Mchte ein. Drei Ereignisse putschten die Leidenschaften auf: Der Sieg Japans ber China, der bewies, wer die fhrende Macht in Ostasien war; der Grenzstreit zwischen Venezuela und England, der die Gefahr heraufbeschwor, da die Briten in Sdamerika noch strker Fu faten; und der Aufstand der Kubaner gegen die spanische Kolonialherrschaft. Alle drei Ereignisse fanden 1895 statt. Das erste bedrohte die langfristigen Perspektiven der amerikanischen

  • Leben am Hudson 33

    Macht im pazifischen Raum. Das zweite forderte die amerikanische Macht gewissermaen vor der eigenen Haustr heraus. Das dritte gab ihr den Vor-wand zum Eingreifen gegen einen moralisch unterlegenen Gegner, der Anzei-chen von Schwche zeigte. Tatschlich brach 1898 - Franklin Roosevelt war gerade 16 - der amerikanisch-spanische Krieg aus. Teddy Roosevelt, damals Stellvertretender Marine-minister, legte sein Amt nieder, bildete aus Freiwilligen ein Kavallerieregi-ment, die berhmten Rauhreiter (Rough Riders), und kmpfte am San Juan Hill auf Kuba erfolgreich gegen die Spanier. Als Freiheitsheld gefeiert, kehrte er nach New York zurck. Ein halbes Jahr spter ergatterte er dort das mchtige Amt des Gouverneurs. Natrlich wurde Spanien, das lngst keine erstklassige Seemacht mehr war, von den Amerikanern in einem Krieg besiegt, in dem es vor allem um wirtschaftliche Interessen ging. Im Frieden von Paris mute Madrid wesentli-che Konzessionen machen. Es trat Puertorico in der Karibik und die Phillippi-nen in Ostasien an die Vereinigten Staaten ab. Kuba wurde in die Freiheit entlassen, sogleich aber durch einen Interventionsvertrag der amerikanischen Macht unterworfen - sprich: dem Trust, der sich fr den kubanischen Zucker interessierte. Auerdem annektierten die USA Hawaii, das sie schon vorher besetzt hatten. Im Besitz eines ungehinderten Zugangs nach China und einer konkurrenzlosen Machtposition in der Karibik stiegen sie nun, an der Jahrhun-dertwende, zur Weltmacht auf. Kann man es einem jungen Mann verdenken, der eben erst die Lehren Mahans in sich aufgesogen hatte, da er sich fr seinen Onkel Teddy begeisterte, der den kometenhaften Aufstieg seines Landes als imperialer Star berglnzte? Im Frhjahr 1905, als Franklin Roosevelt heiratete, war der Prsident sein Hoch-zeitsgast. Im Herbst 1905 schlichtete Theodore Roosevelt den japanisch-russischen Krieg, wofr er sogar den Friedensnobelpreis erhielt. Bisher hatte sich Franklin Roosevelt mehr fr Briefmarken, Autographien, Drucke mit Marine-Motiven und modisches Schuhwerk interessiert. Jetzt gestand der Fnfundzwanzigjhrige, der gerade in die prominente Anwalts-firma Carter, Ledyard and Milburn eingetreten war, einem Freund: Ich will Prsident werden. Das Vorbild hatte also gewirkt. Franklin Roosevelt nannte auch genau die Schritte, die ihn zu diesem Erfolg fhren sollten: Erst ein Sitz im Parlament des Bundesstaates New York, dann stellvertretender Marineminister, dann Gouverneur von New York - genau wie Teddy Roose-velt. [7] Warum wurde Franklin Roosevelt dann nicht auch Republikaner, wie es der Onkel war? Weil sie bereits einen Roosevelt als Prsidenten gestellt hatten? Weil dies Franklin Roosevelt auf dem Weg ins Weie Haus behindert htte? Zuzutrauen wre ihm eine solche berlegung schon. In Harvard hatte er jedenfalls noch dem Republikanischen Club angehrt. Vielleicht war fr seine politische Orientierung aber auch die Tradition der engeren Familie auschlaggebend.

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    Die Mnnlichkeit der Roosevelts, sagte Franklin Delano einmal, kommt aus ihrem sehr demokratischen Geist. Sie haben nie geglaubt, da sie nur deshalb, weil sie aus besseren Kreisen stammten, ihre Hnde in die Taschen stecken und trotzdem erfolgreich sein knnten. [8]

    Anmerkungen 1 James Roosevelt, My Parents. A Differing View. London 1977, S. 7. 2 Roosevelt, Parents, S. 7. 3 Robert Dallek, Franklin Delano Roosevelt and American Foreign Policy 1932-1945. New

    York 1979, S. 5. 4 PRO CAB 27/627: FP (36) 80: Willert Notizen 25.4.39 FO betr. Gesprch Arthur Willert

    25-/26.3.39 FDR. 5 Dallek, Roosevelt, S. 5. 6 Barbara Tuchmann, Der stolze Turm. Ein Portrt der Welt vor dem Ersten Weltkrieg 1890

    bis 1914. Mnchen 1969, S. 189. 7 Dallek, Roosevelt, S.6. 8 ebda., S.6.

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    Senator in New York, Stellvertretender Marineminister, Vizeprsident, Gou-verneur, Prsident - eigentlich war es erstaunlich, da Roosevelts Karriere genauso verlief, wie er sie sich als Fnfundzwanzig]hriger ertrumt hatte. Ihr haftete ein Hauch von traumhaftem Glck, aber auch von kalter Berechnung an. Beinahe wre sie sogar ganz gescheitert an einem Ereignis, das niemand voraussehen konnte: An der Kinderlhmung, die den Vierzigjhrigen befiel. Zunchst fing alles ganz normal an. Hyde Park liegt im Dutchess-Kreis, einer lndlichen Gegend vor den Toren New Yorks. James Roosevelt, der Vater des spteren Prsidenten, war ein Freund und Mzen der Demokratischen Partei. Und so nahm es nicht Wunder, da die lokale Parteiorganisation 1910, vier Jahre vor Beginn des Ersten Weltkrieges, auf seinen 28jhrigen Sohn zukam. Sie bot dem Wallstreet-Anwalt Franklin Roosevelt einen Sitz in der Zweiten Kammer des Bundesstaates, im New Yorker Senat, an. Die beiden Parteien der Vereinigten Staaten, die Republikanische und die Demokratische Partei, befanden sich damals in einem beklagenswerten Zustand. Sie waren Ausgeburten der Vetternwirtschaft, persnlicher Rivalit-ten und der Korruption. Vor allem waren sie unfhig, die arbeitenden und vielfach notleidenden Menschen Amerikas mit dem rden Manchesterkapita-lismus zu vershnen, der die aufstrebende Industriemacht kennzeichnete. Nach einer Reihe von Wirtschaftskrisen, Streiks und anderen Alarmsignalen schien das ganze politische System der Vereinigten Staaten um die Jahrhun-dertwende vom Verfall bedroht zu sein.

    Die Anzeichen fr eine soziale Revolte mehrten sich. 1896 grndeten die Farmer eine populistische Partei, die spter mit den Demokraten ver-schmolz. Die Kirchen verkndeten ihr soziales Evangelium. Das Parlament in Washington, der Kongre, verabschiedete ein Gesetz, das die wenigen Monopolgesellschaften, die sog. Trusts, aufsprengen sollte. Die Arbeiter organisierten sich in der American Federation of Labor (AFL), einer nicht-sozialistischen Gewerkschaftsbewegung, und schlielich grndete Prsident Theodore Roosevelt, das Idol des jungen Franklin, seine eigene Nationale Progressive Partei. Sie gab der ra ihren Namen. Die progressive ra reichte von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg. Sie stellte fr den Nachwuchspolitiker Franklin Roosevelt das entscheidende innenpolitische Bildungserlebnis dar. Diese Reformperiode prgte nicht nur das moderne Amerika im ersten Viertel unseres Jahrhunderts.

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    Sie formte auch das politische Selbstverstndnis des werdenden Prsidenten, seinen Geist, seine Rhetorik und seine Methoden. Whrend der junge Roose-velt in einem roten Maxwell-Cabriolet, das er mit knatternden Fahnen und Wimpeln schmckte, seinen Wahlkreis abgraste, sog er soviel von dem neuen und optimistischen Zeitgeist ein, da zwanzig Jahre spter noch sein New Deal davon profitierte. Im Grunde war die progressive Bewegung vor dem Ersten Weltkrieg das, was der New Deal vor dem Zweiten Weltkrieg war: Der Versuch, das politische System der Vereinigten Staaten zu modernisieren, es neuen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedingungen anzupassen, es wieder erfolgreich zu machen. Natrlich gab es die zeitbedingten Unterschiede. Aber die Entspre-chungen reichten bis hinein in die politische Philosophie und die Terminologie. Bekanntlich nannte Theodore Roosevelt seine Politik der sozialen Integration einen Square Deal, einen gerechten Handel. Und der Begriff der neuen Grenze, die es nun zu erreichen galt, spielte auch im New Deal eine Schlssel-rolle. Ausgangspunkt und Hauptursache der progressiven ra war die amerikani-sche Wirtschaftskrise von 1893 bis 1897, die schwerste vor der Groen Depres-sion von 1933 bis 1939. Sie versetzte dem Selbstbewutsein der jungen und aufstrebenden Nation einen gewaltigen Schock. Effektivitt und Expan-sion hieen danach die Stichworte der herrschenden Elite, zu der ja auch Franklin Roosevelt gehrte, hhere Produktivitt im Inneren und bessere Handelsbeziehungen nach auen, Hebung des Volkswohlstandes. Diese Ergebnisse sollten aber nicht mehr wie bisher dem rden Spiel der industriellen und imperialistischen Krfte Amerikas berlassen bleiben. Diese Ziele sollten die Politiker knftig vielmehr in einem geregelten, rechtlich einwandfreien und sozial vertretbaren Rahmen erreichen. Das war das neue, progressive an der amerikanischen Schicksalsbestimmung, an der manifest destiny, wie man sie damals interpretierte. Auf den jungen Roosevelt bten diese Ideen eine groe Anziehungskraft aus. Er mobilisierte seine politischen Energien zunchst gegen das, was in seiner Nhe reformbedrftig war - gegen die eigene Parteifhrung, nach ihrem New Yorker Versammlungslokal auch Tammany Hall genannt. Unter ihren Bossen Charly Murphy und Packy McCabe war sie wegen ihrer Bestechlichkeit geradezu sprichwrtlich verrufen. Auch damit blieb Franklin Delano Roose-velt seinem Idol Theodore Roosevelt treu: Er startete seine politische Lauf-bahn in derselben Rolle, in der sie der Ex-Prsident gerade beendete, als Parteirebell. Gleichzeitig schien er nach einem neuen Vorbild Ausschau zu halten, das er in Woodrow Wilson fand. Der Prsident der Princeton-Universitt amtierte im Nachbarstaat New Jersey als Gouverneur. Der sechsundfnfzigjhrige Professor der politischen Wissen-schaften hatte sich bereits als sozialer Reformer profiliert, als er auf dem Parteitag der Demokratischen Partei 1912 im - sage und schreibe - 46. Wahl-gang zum Kandidaten fr das Amt des amerikanischen Prsidenten nominiert

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    wurde. Ein Jahr spter wurde Wilson gewhlt. Zwei Jahre spter begann der Erste Weltkrieg. Fnf Jahre spter befanden sich auch die USA im Krieg gegen Deutschland, sterreich-Ungarn und die Trkei, den sie fr England und Frankreich gewannen. Sieben Jahre spter war Wilson ein toter Mann. Nichts vernderte die Welt damals mehr als Aufstieg und Fall dieses amerikani-schen Prsidenten. Der dnnhutige Gelehrte mit dem weien Haar, dem Kneifer und dem stets etwas suerlichen Gesicht startete als innenpolitischer Reformer und endete als verspotteter Idealist. Dazwischen hatte er eine kurze, aber kometenhafte Weltkarriere als Hoffnungstrger aller Vlker erlebt. Gegen sein Versprechen, Amerika aus dem Krieg herauszuhalten, lie sich Wilson von seinen pro-englischen Beratern in den Krieg hineinziehen. Aus-schlaggebend war dafr nicht nur die deutsche Gefahr, sondern auch das weltumspannende Herrschaftsinteresse des liberal-demokratischen Internatio-nalismus. Schlielich wirkte Wilson in Versailles auch noch an jener diktatori-schen Nachkriegsordnung mit, die allen seinen Idealen von einem Frieden ohne Sieg und einem freien Bund der Vlker zum Trotz aus dem Weltkrieg eine Weltkatastrophe machte. Wilsons Aufstieg zum Weltfriedensprsidenten war fr Roosevelt ein Vorgang von leuchtender Strahlkraft. Wilsons Abstieg zum politischen Wrack war ihm dagegen immer ein warnendes Beispiel. Das Hosiannah und das Kreuziget ihn lagen im Falle dieses Prsidenten nur sechs Jahre auseinander. 1912, auf dem Parteitag in Baltimore hatte Roosevelt hinter den Kulissen hart fr die Nominierung des verklemmten Gelehrten gekmpft. 1920, als die Demokraten in San Francisco einen anderen Prsidentschaftsbewerber nominierten, fiel auch Roosevelt von Wilson ab. In der Zwischenzeit hatte seine politische Selbstdarstellung eine eigentmliche Wandlung durchgemacht. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte Roosevelt seine erste Berh-rung mit der Macht in ihrer reinsten Form, nmlich mit der militrischen Macht, genauer gesagt, mit der Seemacht Amerikas. Er wurde 1913 von Wilson zum Stellvertretenden Marineminister berufen. Roosevelt erklomm damit die zweite Stufe in seiner Karriereleiter, und zum erstenmal hatte er die Gelegen-heit, sich in einem politischen Amt von nationaler, ja internationaler Bedeu-tung zu bewhren. Als militrische Macht waren die USA damals in erster Linie eine Seemacht, d. h. sie hatten eine Flotte und sonst nichts von alledem, was man zum Kriegfhren brauchte. Obwohl ihnen Alfred Mahan die Augen fr die Brden geffnet hatte, die sie nach dem berhmten Gedicht des englischen Dichters Rudyard Kipling fr den weien Mann schultern sollten, waren die Amerikaner 1913 noch gar nicht auf den Krieg vorbereitet. Die amerikanische Flotte war zu klein. Sie mute erst einmal aufgebaut werden. Und dazu brauchte man zuallererst einen industriellen Apparat, Werften, Stahlfabriken, Kanonengieereien, die schnell, billig und in groen Stckzah-len produzieren konnten.

    Es war die wichtigste Aufgabe des Stellvertretenden Marineministers Roose-velt, diesen Apparat binnen krzester Frist auf die Beine zu stellen. Eine

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    gigantische Aufgabe. Roosevelt lste sie zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten und aller Beteiligten mit Hilfe jener Gaben, die ihm die Natur reichlich zur Verfgung gestellt hatte: mit Optimismus, Charme, Energie und der nie ermdenden Geduld, mit der er widerstreitende Interessen an einen Tisch und zu bestimmten Kompromissen brachte. So machte der jngste Stellvertretende Marineminister, den die USA bis-her hervorgebracht hatten, mit 31 Jahren das, was er 26 Jahre spter als Pr-sident wieder machte: Er organisierte die grte und mchtigste Kriegs-maschine der Welt. Es war eine Lektion, die fr Roosevelts ganzes Leben reichte. Die Hauptleistung des Stellvertretenden Marineministers bestand darin, Unternehmer und Gewerkschaften, Idealisten und Imperialisten, Zivilisten und Militrs zu einer wenigstens halbwegs effektiven Zusammenarbeit zu bewegen. Strker als diese technische Fingerbung fr den spteren New Deal interessieren jedoch ihre politischen Vorzeichen. Von Roosevelts tiefsitzender Abneigung gegen alles Deutsche wurde bereits gesprochen. Fr die Parole Hang the Kaiser, die der englische Kriegspremier David Lloyd George ausgegeben hatte, empfand er herzliche Sympathie. Mindestens aber fr die Abschaffung der Monarchie, wie sie Wilson forderte. Roosevelt fungierte damals als Vizeprsident der English-Speaking Union, der USA, einer weltweit operierenden Kultur-Organisation, die whrend des Ersten Weltkrieges ein Bndnis zwischen Amerika und England verlangte. Roosevelt war jedoch keineswegs uneingeschrnkt pro-britisch. Davor bewahrte ihn schon seine progressive Einstellung gegenber den alten Zpfen der englischen Monarchie. Auerdem standen massive amerikanische Wirt-schaftsinteressen hinter dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten, die sich nicht nur gegen ein deutsches Mitteleuropa, sondern auch gegen das englische Empire richteten. Schlielich gehrte die Ablehnung des Kolonialismus als Hindernis auf dem Wege zu einer Welt ohne Unterdrckung, Verschwendung und Handelsschranken zu den festverwurzelten Denkmustern der progressiven Bewegung. Dies alles machte aus Roosevelt keinen Freund Englands. Aber einen Sieg des kaiserlichen Deutschlands ber England und Frankreich, die in Europa die erste Linie der amerikanischen Verteidigung bildeten, htte er zweifellos als das schlimmere bel betrachtet. Gegen die moralischen Beden-ken seines Prsidenten und gegen den politischen Willen seines Vorgesetzten, Marineminister Joseph Daniels, die von der Neutralitt Amerikas nicht lassen wollten, befrwortete Roosevelt daher von Anfang an den mglichst frhen Kriegseintritt Amerikas. Die Entschlossenheit, mit der er das tat, entsprang nationalistischen Motiven, die im Dienst internationalistischer Ziele standen. Er wollte die Welt nicht nur besser, sondern auch amerikanischer machen in ihrer Wirtschaft und ihren Werten, einheitlicher in ihrem Aufbau, Geist und Stil.

    Unsere nationale Verteidigung mu sich ber die ganze westliche Hemisphre erstrek-ken. Sie mu tausend Meilen weit in das Meer hinausreichen, sie mu die Philippinen

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    und die berseeischen Gebiete umfassen, wo immer unsere Handelsinteressen lie-gen. [1]

    So sprach der Roosevelt des Jahres 1914. Der Roosevelt des Jahres 1939 sprach kaum anders. Roosevelt war schon 1914 ein unermdlicher Anwalt jenes militrischen Bereitschaftszustandes, der es Amerika erlauben sollte, die politischen Ent-scheidungen der europischen Kabinette zu beeinflussen. Ein wenig glich dieser Interventionismus der Politik des groen Knppels, die Theodor Roosevelt schon lange vor dem Ersten Weltkrieg in Sdamerika verfolgt hatte. Dieses Beispiel wirkte unzweifelhaft nach. Vorbergehend spielte der Nach-wuchsminister whrend des Ersten Weltkrieges sogar mit dem Gedanken, den Dienst zu quittieren, um sich in Frankreich an der Front auf seinem Juan Hill zu bewhren. Nach Ende des Krieges reiste Roosevelt 1919 nach Versailles, wo er als Berater der amerikanischen Delegation fr Deutschland die hrtesten Friedensbedin-gungen befrwortete. Wrden die Deutschen noch einmal Krieg machen, so warnte er, wrde es einen Frieden in Berlin geben, was die bedingungslose Kapitulation Deutschlands voraussetzte. Der Erste Weltkrieg bestimmte die Grundzge seines auenpolitischen Den-kens. Aber merkwrdig, kurz bevor Wilsons Stern sank, hrte Roosevelts martialische Rhetorik pltzlich auf, und er begann, in friedlichen Tnen zu sprechen. Im Wahlkampf fr die Kongrewahl von 1919 nahm der Ex-Minister die von Moralismen und Idealen gesttigte Sprache seines neuen Vorbildes auf. Pltzlich forderte auch Roosevelt Amerikas Beitritt zum Vlkerbund. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, das mit dem Ende seines Lebens zusammen-fiel, lie Roosevelt nicht mehr von dieser hochgestimmten Friedensrhetorik, obwohl er es als Prsident stets vermied, Wilsons Fehler eines ungeschtzten und ungeschickten Bekennermutes zu wiederholen. Beruhte dieser Wandel nur auf opportunistischer Verstellung? In der Tat war Roosevelts pltzlicher Pazifismus in der Hauptsache eine Reaktion auf den begeisterten Empfang, der Wilson 1919 bei seiner Rckkehr aus Versailles von den Amerikanern zunchst bereitet wurde. Und sie war ein Stck Anpassung an eine ffentliche Meinung, die nach den Entbehrungen des Krieges nichts mehr von Krieg hren wollte. Wenn Roosevelt beabsichtigte, an die Spitze der politischen Pyramide zu gelangen - und das war ja sein erklrtes Ziel -, dann mute er aus sich einen Mann des Friedens machen. Behende versuchte Roosevelt, alle Zweifel an seiner Glaubwrdigkeit zu zerstreuen.

    Dies ist eine Zeit fr Idealismus, bemerkte er damals, eine Zeit, in der man billigerweise mehr Ideale von uns verlangen kann und in der die Welt darauf achtet, wie wir den hohen Zweck rechtfertigen, unter dem wir in den Krieg eintraten. [2]

    Es klang fast so, als wollte Roosevelt seine Ideale vom Ausma der zeitbeding-ten Nachfrage abhngig machen. Da sein Geschick im Umgang mit der

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    ffentlichen Meinung sprichwrtlich wurde, drngt sich die Vermutung auf, da er niemals wirklich an Wilsons Ideale einer friedlichen, freien und gerech-ten Welt ohne Zwangsanwendung glaubte. In seinem Innersten blieb er wahrscheinlich stets der amerikanische Nationalist, der sich des liberal-demo-kratischen Internationalismus als Mittel zum Zweck weltumspannender wirt-schaftlicher, politischer und militrischer Machtinteressen bediente. Trotzdem hatte Roosevelt natrlich auch seine politischen Grundberzeugun-gen. Nur waren sie alles andere als ein fader, zahnloser und letztlich ohnmchti-ger Idealismus. Sein Vorbild Theodore Roosevelt hatte ihm ja gezeigt, da die amerikanische Friedenspolitik eine kraftvolle und bisweilen gewaltttige Durchsetzung amerikanischer Interessen keineswegs ausschlo - den Krieg um des Friedens willen. Irgendwo in der Mitte zwischen dem Idol seiner Jugend und dem Vorbild seiner Reifezeit, zwischen dem Idealpolitiker Wilson und dem Imperialpolitiker Roosevelt I., stand daher auch der Realpolitiker Roosevelt II. Als solcher war er nach dem Abgang Wilsons so anerkannt, da ihn seine Partei 1920 in San Francisco fr das Amt des Vizeprsidenten nominierte. Ein Jahr spter, im August 1921, drohte jedoch ein furchbarer Schicksalsschlag diesen aufstrebenden Stern vom Himmel seiner politischen Trume zu holen. Roosevelt und seine Kinder segelten auf der Familienyacht Vireo vor Campobello, lschten gemeinsam einen kleinen Waldbrand am Ufer und schwammen dann noch ein bichen im Meer zum Abschlu dieses Ferientages. Hinterher blieb der Politiker in seiner nassen Badehose noch auf der Veranda sitzen, um ein paar Briefe zu lesen. Weil er in der abendlichen Khle frstelte, zog er sich wenig spter in sein Bett zurck. Dem Frsteln, das nicht aufhren wollte, folgte hohes Fieber, das man zunchst fr das Anzeichen einer nahen-den Grippe hielt. Aber als Roosevelt in den nchsten Tagen unter hllischen Schmerzen die Fhigkeit verlor, seine Beine zu bewegen, begann man zu begreifen, da es Kinderlhmung war. Franklin Roosevelt brauchte sieben bis acht Jahre, ehe er sich endgltig damit abgefunden hatte, da er Zeit seines Lebens auf Beinschienen, Krcken und einen Rollstuhl angewiesen sein wrde - und auf einen Menschen, der ihn sttzte, wenn er gezwungen war, ein paar Schritte zu machen. Nie wieder, sein ganzes Leben lang, konnte Roosevelt trotz eisernen Trainings auch nur eine einzige Zehe bewegen. Und trotzdem wurde er 1932 zum Prsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewhlt. Ein erstaunlicher Triumph des Willens, der spter den harten Kern des Roosevelt-Mythos bildete. Das Beispiel des angehenden Prsidenten zeigte, da man die grten Schwierigkeiten im privaten und politischen Leben berwinden konnte, wenn man nur wollte - auch die eigene Schwche. Natrlich war es Roosevelt nicht allein, der dieses Wunder vollbrachte. Drei Menschen halfen ihm dabei mit Energie, Ausdauer und Hingabe: seine Frau Eleanor, seine Sekretrin Missy LeHand und Louis McHenry Howe. Der frhere Provinzkorrespondent der republikanischen New York Herald

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    Tribne hatte bereits 1912 Roosevelts Wiederwahl in den New Yorker Senat gerettet, als der junge Senator an Typhus erkrankt war. Seitdem diente ihm der zwergenhafte, asthmatische und immer etwas ungepflegt wirkende Journalist als politischer Chefberater mit Festgehalt. Ohne Louis McH