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elektronische Sonderausgabe ISBN 978-3-936382-73-0 © www.berlinerdebatte.de 3 Sozial & ökologisch Wirtschafts- steuerung Organisation knapper Güter Gleichheit, Planung, Tempo Empathie in der Arbeitswelt Die Zukunft der Finanzkulturen 22. Jg. 2011 Witzke Thie Strawe, Benedikter Schreiber-Martens Terpe, Köppen Berliner Debatte Initial

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elektronische SonderausgabeISBN 978-3-936382-73-0© www.berlinerdebatte.de

3Sozial & ökologisch

Wirtschafts -steuerung

Organisation knapper Güter

Gleichheit, Planung, Tempo

Empathie in der Arbeitswelt

Die Zukunft der Finanzkulturen

22. Jg. 2011

Witzke

Thie

Strawe, Benedikter

Schreiber-Martens

Terpe,Köppen

Berliner DebatteInitial

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1Berliner Debatte Initial 22 (2011) 3

Sozial & ökologisch– Zusammengestellt von Rainer Land und Erhard Crome –

Editorial 2

Sozial & ökologisch

Rainer Land, Nikolaus Kowall, Leonhard DobuschMit Linksreformismus aus der Krise? Einleitung und Konferenzbericht 5

Wilhelm Brüggen Ökologischer New Deal – Ein Projekt aus den 1980er und 1990er Jahren 9

Ulrich Schachtschneider Freiheit, Gleichheit, Genügsamkeit. Ein ökologisches Grundeinkommen als anschlussfähiges sozial-ökologisches Reformprojekt 12

Alwine Schreiber-Martens Vorschläge für eine Krisen-Wende: Die Organisation knapper Güter 23

Rudolf Witzke Vom Scheitern der Wirtschaftssteuerung – und ihrer Unentbehrlichkeit 36

Hans Thie Gleichheit, Planung, Tempo. Der grüne Umbau kann nur als gesellschaftlicher Umbau gelingen 47

Rainer Land Ökologische Wirtschaftsentwicklung und soziale Teilhabe 58

Empathie in der Arbeitswelt

Sylvia Terpe, Eva Köppen Empathie in der Arbeitswelt. 66

Sylvia Terpe Empathie im Amtsvollzug: Arbeitsvermittler zwischen Unterstützung und Kontrolle 76

Eva Köppen Empathie in Internetagenturen: Eine Win-win-Situation für Unternehmen und Mitarbeiter? 89

* * *

Die Zukunft der Finanzkulturen des 21. Jahrhunderts. Gespräch zwischen Christoph Strawe und Roland Benedikter 103

Annette Freyberg-Inan, Mihai Varga Ungarn seit der Wahl – Demokratie unter Druck 120

Besprechungen und Rezensionen

Ulrich Busch Die neue Ambivalenz von Kapitalismus und Geld 127

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Gary Herrigel: Manufacturing Possibilities. Creative Action and Industrial Recomposition in the United States, Germany, and Japan Rezensiert von Martin Krzywdzinski 137

Eli Rubin: Synthetic Socialism: Plastics and Dictatorship in the German Democratic Republic Rezensiert von Robert Stock 141

Peter Krause, Ilona Ostner (Hg.): Leben in Ost- und Westdeutschland. Eine sozialwissenschaftliche Bilanz der deutschen Einheit 1990–2010 Rezensiert von Raj Kollmorgen 143

Eva Bettina Görtz (Hg.): Eduard Bernsteins Briefwechsel mit Karl Kautsky (1912–1932) Besprochen von Wladislaw Hedeler 148

Hans-Jörg Sandkühler (Hg.): Enzyklopädie Philosophie, zweite, überarbeitete und erweiterte Ausgabe 2010 Rezensiert von Mariele Nientied 150

Frank Ruda: Hegels Pöbel. Eine Untersuchung der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ Rezensiert von Olaf Briese 156

Silke van Dyk, Alexandra Schauer: „…daß die offizielle Soziologie versagt hat“. Soziologie im Nationalsozialismus Rezensiert von Michael Eckardt 158

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Der Begriff „Reformismus“ geht ursprünglich auf eine Kontroverse in der frühen sozialisti-schen Bewegung um den angemessenen Weg zu einer sozial gerechten Gesellschaftsordnung zurück. Als Begründer des theoretischen Re-formismus in Deutschland und Österreich gilt Eduard Bernstein, der, namentlich in seinem Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ (Stuttgart 1899), die revolutionäre Strategie des Marxismus verwarf und dafür plädierte, gesellschaftliche Veränderungen in Richtung der Reduzierung sozialer Ungleichheit und der Mehrung demokratischer Partizipations-möglichkeiten für die abhängig Beschäftigten ausschließlich auf evolutionärem Wege, d.h. durch Reformen, anzustreben. In den folgen-den Jahrzehnten setzte sich diese Position in der deutschen Sozialdemokratie bekanntlich als deren dominante Gesellschaftsstrategie durch. Reformen waren dabei stets als poli-tische Maßnahmen gedacht, die erstens auf grundsätzliche Veränderungen in der Funkti-onsweise gesellschaftlicher Teilbereiche bzw. Politikfelder zielen und zweitens progressive Entwicklungen im o.g. Sinne befördern sollen. Spätestens seit den 1990er Jahren ist diese spezifische Bedeutung des Reformbegriffs im öffentlichen politischen Sprachgebrauch weitgehend verloren gegangen. „Reform“ wird seitdem vornehmlich mit marktliberalen Dere-gulierungs- und Flexibilisierungsmaßnahmen konnotiert, für welche die o.g. reformpolitischen Ziele eher irrelevant sind. Vielmehr wird bei solchen Strategien die Zunahme von Ungleich-heiten sowie zum Teil auch die Aushöhlung der Demokratie zumindest in Kauf genom-

men. Zudem hat ein inflationärer Gebrauch des Begriffs insofern eingesetzt, als nunmehr auch kleinteilige Gesetzesänderungen, etwa die Anhebung oder Absenkung eines Steuersatzes, zu einer „Reform“ stilisiert werden.

Die Initiatoren des Heftschwerpunktes und des ihm zugrunde liegenden Tagungsprojekts, das im einleitenden Beitrag von Leonhard Dobusch, Nikolaus Kowall und Rainer Land näher vorgestellt wird, versuchen in ihrem Bestreben, strategische Ansätze für die Bear-beitung der gegenwärtigen und absehbaren Krisen der modernen Gesellschaft zu entwer-fen, dem ursprünglichen Reformverständnis insofern wieder Geltung zu verschaffen, als sie die Notwendigkeit eines grundsätzlichen und progressiven Charakters konstruktiver Reformpolitik begründen. Sie setzen sich da-mit nicht nur von der skizzierten Umdeutung des Reformbegriffs ab. Zugleich sind sie ob ihres Versuchs, kapitalistische Moderne und Reformismus auch unter neuen gesellschaft-lichen Bedingungen zusammenzudenken, Anfeindungen fundamentalistischer Kritiker ausgesetzt, deren Zeit seit 20 Jahren abgelaufen schien. Mit ihrer Entscheidung, ausgewählte Texte der Tagung zu publizieren, unterstützt die Redaktion das Anliegen der Initiatoren, einen Diskurs über solche Reformstrategien über parteipolitische Grenzen hinweg zu organisieren und für Intellektuelle zu öffnen, die den betreffenden Parteien eher distanziert gegenüber stehen.

Der Nebenschwerpunkt dieses Heftes ist einem relativ jungen Forschungsfeld gewidmet, das im Schnittfeld von arbeits- und emotionsso-

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ziologischen Fragestellungen angesiedelt ist: Welche Rolle spielt Empathie – die zugewandte Einfühlung in Mitarbeiter, Vorgesetzte oder Kunden – in der zeitgenössischen, „post-bürokratischen“ Arbeitswelt? Wir präsentie-ren drei Beiträge, von denen der erste in das Forschungsfeld einführt, indem er aktuelle Diskurse rekonstruiert und Fragen für empi-rische Forschung skizziert. Anschließend zeigt Sylvia Terpe, welche Strategien der Empathie die Bundesagentur für Arbeit ihren Arbeits-vermittlern ansinnt, wie Arbeitsvermittler mit diesen Anforderungen umgehen und welche Ambivalenzen im Umgang mit den Klienten hieraus resultieren. Eva Köppen untersucht, wie Mitarbeiter von Internetagenturen eine Unternehmenskultur deuten, die auf Empathie setzt und diese auch einfordert, und wie sie diese Erwartungen in ihrer eigenen Berufspra-xis umzusetzen versuchen. Sie arbeitet zwei unterschiedliche Orientierungsmuster heraus, die auf die Funktionalität, aber auch auf den Doppelcharakter von Empathie in der Arbeits-

welt – zwischen verständnisvollem Umgang und Instrumentalisierung – verweisen.

In einem Interview, das Christoph Strawe mit Roland Benedikter führte und das wir hier im vollen Wortlaut abdrucken, geht es um die Zukunft der Finanzkulturen im 21. Jahrhundert. Ausgehend von den Verwerfungen, die durch die Finanzkrise 2007/2010 hervorgerufen wur-den, entwirft Benedikter das Gegenbild eines künftig möglichen „finanziellen Humanismus“. Dazu gehört, dass sich die US-amerikanische, ganz auf Schulden und Verschuldung auf-gebaute Finanzkultur und die kontinental-europäische, auf Geldvermögen und Sparen beruhende Kultur, gegenseitig ergänzen und annähern. Eine stärkere Komplementarität der Geld- und Finanzkulturen in der Zukunft wäre ein Beitrag zur Überwindung der Krise und zur Herbeiführung größerer Stabilität in der Zukunft.

Jan Wielgohs

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Ulrich Busch

Die neue Ambivalenz von Kapitalismus und Geld

Die „große Krise“ der Jahre 2008/2009 hat die Weltwirtschaft in ihren Grundfesten erschüt-tert. Es war die tiefste Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und die erste, die in den Zentren der westlichen Welt ihren Ausgang nahm und auch dort, und nicht an der Peri-pherie, zu den größten Verwerfungen geführt hat. Dies erklärt, warum sie von Anfang an von heftiger Kritik und von einer intensiven Suche nach den Ursachen begleitet war: Irgendjemand musste ja Schuld haben an dem Desaster! Da das System vor dem Kollaps gewinnbringend funktioniert hatte, musste es für sein plötzliches Versagen Schuldige geben. Was lag da näher als die Akteure der Finanzindustrie, Invest-mentbanker, Fondsmanager und Börsenjobber, anzuzählen! Dabei wurde nicht selten der Boden einer sachlichen Auseinandersetzung verlassen und undifferenziert und hysterisch auf die Finanzbranche eingeprügelt. Als gäbe es kein Systemversagen des Finanzmarktkapi-talismus und als hätten die Protagonisten der Finanzindustrie die Krise durch ihre maßlose Gier und ihr unmoralisches Geschäftsgebaren vorsätzlich herbeigeführt.

Die Kritik blieb jedoch nicht bei den Ver-fehlungen und Exzessen einzelner Banker und Finanzjongleure stehen. Sie ergriff zunehmend die Geld- und Kreditwirtschaft als Ganzes, den globalen Finanzmarktkapitalismus, die kapitalgesteuerte Marktwirtschaft, das Bank-wesen – letztlich alles, was mit Geld, Kapital und Finanzen zu tun hat. Auch wenn nicht alle Kritiker so weit gingen, die Geld- und Kreditwirtschaft überhaupt, die Steuerung der Wirtschaft mittels Geld, Zins, Wechselkurs usw., gänzlich abschaffen zu wollen, so zielten

doch nicht wenige Vorschläge in diese Richtung und gingen damit weit über das hinaus, was von Experten unter dem Motto „Regulierung und demokratische Kontrolle der Finanzmärkte“ diskutiert worden ist. Gedacht ist hier insbe-sondere an Forderungen nach einer drastischen Einschränkung der Finanztransaktionen, der Rückführung des Bankgeschäfts auf einfache Depositen- und Kreditgeschäfte, der Verstaatli-chung des Bankensektors, der Reglementierung bzw. Aussetzung von Zinszahlungen (Morato-rium), der Entschuldung öffentlicher Haushalte zulasten privater Gläubiger usw. Häufig ver-binden sich in diesen Forderungen vernünftige Reformüberlegungen und produktive Gestal-tungsabsichten mit radikalen finanzkritischen Positionen, mit alten und neuen Ressentiments gegenüber Geld und Kapital. Die Finanzkrise verschaffte derartigen Auffassungen verstärkt Gehör, wie die Erfolge einschlägiger Titel wie „Der Crash des Kapitalismus“ (Ulrich Schäfer), „Crashkurs“ (Dirk Müller), „Der Crash kommt“ (Max Otte), „Finanzcrash und Weltwirtschaft“ (Sahra Wagenknecht) und „Der Staatsbankrott kommt bestimmt“ (Michael Grandt) belegen. Mit dem Ende der Krise scheint es damit aber wieder vorbei zu sein. Schaut man sich die finanzökonomischen Neuerscheinungen der letzten Monate an, so überwiegt eine der Fi-nanzsphäre und dem Kapitalismus gegenüber sachlich-kritische, im Ganzen aber wieder auf-geschlossene bis positive Haltung. Gleichwohl hat man aus der Krise gelernt: Eine gewisse Skepsis ist geblieben. Die Zeit der Sack-und-Asche-Ökonomie ist vorüber, eine Rückkehr zu der früheren, euphorisch-unkritischen Haltung gegenüber der „Finanzindustrie“ als

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Wachstumsmotor und Garant wirtschaftlicher Prosperität ist aber auch nicht der Fall. Dafür war die Ernüchterung zu groß. Die Fragilität und Unausgewogenheit einer gewinnmoti-vierten, geldgesteuerten, kreditfinanzierten und finanzmarktregulierten Wirtschaft ist den Autoren ins Bewusstsein gebrannt. Mithin ist auch der publizistische Umgang mit dem Geld, dem Kapital und den Finanzen ambivalenter geworden, was an fünf Beispielen gezeigt werden soll.

Dieter Schnaas, Chefreporter der Wirt-schaftswoche, nimmt die jüngste Krise zum Anlass, eine „Kleine Kulturgeschichte des Geldes“ zu präsentieren. 2.700 Jahre Geschichts-report auf 180 Seiten. Das setzt nicht nur einen überlegenen Geist voraus, sondern verlangt auch Mut, vor allem „Mut zur Lücke“, und den weitgehenden Verzicht auf theoretische Erörterungen. Dafür fehlt es dem Buch nicht an vollmundigen Bekenntnissen: „Ohne ein Verständnis dessen, was Geld seiner Herkunft und Bedeutung nach ist, bleibt die Geld-Welt-Moderne unbegreifbar“ (7), so das Credo des Autors. Sein Anliegen ist es, die Leser darüber aufzuklären, wie das Geld in die Welt gekom-men ist, warum, weshalb und wozu, um dann zu zeigen, dass es diese Welt, ihre Wirtschaft, ihren Wohlstand und ihre Kultur, ohne Geld nicht geben würde.

Das Buch ist in drei Abschnitte gegliedert: Der erste Teil erzählt die Geschichte des Geldes als „Mysterienspiel“, als „Chronik magischer Metamorphosen“ vom universellen Symbol religiöser Hingabe bis hin zum Wesensmoment „staatskapitalistischer Pumpwirtschaft“. Der zweite Teil setzt sich mit der Herleitung der kapitalistischen Geldmanie bei Max Weber und der „vulgären Anthropologie des homo oecono-micus“ auseinander und offeriert eine eigene, beim katholischen Ablasshandel ansetzende Erklärung der Genesis der Geldwirtschaft. Im dritten Teil schließlich werden Grundzüge einer aktualitätsbezogenen Geldkritik skizziert und die wirtschaftspolitischen Hauptprobleme des 21. Jahrhunderts umrissen. Das Werk endet überraschend mit dem Schluss, dass die Welt nur durch Geld gerettet werden kann: „Nur wenn wir das Geld regieren (lassen), gewinnen wir unsere Zukunftsfähigkeit zurück.“ (8)

Das Buch ist flüssig geschrieben und bietet für Fachleute wie für Laien durchaus Stoff für eine kurzweilige und lehrreiche Lektüre. Wäre da nicht der unselige Hang des Autors, durch eine eigenwillige Terminologie, zweifelhafte Neuerungen in der monetären Systematik und kuriose Begriffsbildungen unbedingt originell sein zu wollen. So beginnt er seine Abhandlung – ganz unhistorisch – mit einem vom Golde unabhängigen Fiatgeld, stellt diesem dann das Kreditgeld als „Anti-Geld“ gegenüber, um schließlich das Zahlen- und Buchgeld, womit heute die weitaus meisten Transaktionen bewerkstelligt werden, als „Nicht-Geld“ zu klassifizieren. Geld, Anti-Geld, Nicht-Geld – drei sich logisch ausschließende Kategorien, die letztlich aber alle für Geld stehen! Das ist konfus. Der Autor versucht das Problem zu meistern, indem er sich der dialektischen Methode bedient: „Geld ist immer Geld und Anti-Geld und Nicht-Geld zugleich, Geld und Geldillusion…“ (63); es ist „Geld und kein Geld“ (65). Was dabei heraus kommt, ist eine Begriffskonfusion, die im Folgenden auch auf einzelne Geldformen wie die Banknote, das Papiergeld, das Giralgeld usw. Anwendung findet. Für den „virtuellen Finanzkapitalismus im 21. Jahrhundert“ wird behauptet, dass hier „das (haptische) Gefühl dafür, was Geld ist“, verloren geht, dass Geld und Anti-Geld „elektronisch übersinnlich“ werden, dass Geld „körperlos, virtuell und als Simulation seiner selbst zu – Nicht-Geld“ wird (56). Klarer wird das Ganze dadurch freilich nicht.

Was dem Autor fehlt und was Licht in den Begriffsdschungel bringen würde, ist zum einen ein übergreifender qualitativer Geldbegriff, wie ihn Marx, Simmel, Keynes und andere entwi-ckelt haben (Geld als dingliche Verkörperung gesellschaftlicher Verhältnisse), zum zweiten ein historisches Geldverständnis (Geld war nicht zu allen Zeiten dasselbe) und drittens eine hierarchische und zugleich quantifizierende Geldsystematik wie sie die Geldmengenabgren-zungen M1, M2 usw. darstellen. Diese Defizite machen die Lektüre teilweise unerquicklich.

Was an dem Buch jedoch überzeugt, ist das Plädoyer des Autors für das Geld, dessen „unbestechliche Objektivität und Anonymität“ (70), seine „zivilisierende Kraft“ (71) und Zu-

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verlässigkeit im Kräftespiel der Mächte (72). Den „Segnungen“ des Geldes wird viel Raum eingeräumt und es wird wortreich gegen an-ders lautende Vorstellungen polemisiert: „Geld fördert nicht die Gier“, wird betont, „es bremst sie. Es hilft uns, ein Leben ohne Bettelei, Betrug und Gewalt zu führen, es kanalisiert unsere Begehrlichkeiten, temperiert unser Verlangen und verzeitlicht unsere Wünsche. […] Ohne den Erfolg des egalisierenden Geldes, seine nivellierende Kraft und sein pazifistisches Talent sind die ideengeschichtlichen Erfolge der Demokratie […] undenkbar“ (73). Scharf erkennt der Autor, welche Zäsur die Krise der 1970er Jahre für den Kapitalismus bedeutete: den Übergang vom „Industrie- und Konsum-kapitalismus“ zum „finanzmarktliberalen Staatskapitalismus“ (166). Diese Entwicklung brachte einschneidende Konsequenzen für das Geld mit sich, insbesondere entstand eine Finanzindustrie, die „die magische Selbstrefe-renz des Geldes zu ihrer Geschäftsgrundlage“ (165) erklärte. Davon wieder weg und darüber hinaus zu kommen erscheint dem Autor als das Gebot der Zeit. Dies gelingt aber nicht ohne Geld. Daher lautet das Resümee des Buches: „Unsere Zukunft steht und fällt mit der Zukunft des Geldes.“ (170)

Auch der Autor des zweiten Buches, Rai-mund Dietz, ist von Hause aus kein Finanz-ökonom oder Banker, sondern Geldphilosoph. Mit „Geld und Schuld“ legt er eine in Form und Inhalt opulente ökonomische Gesellschaftsthe-orie vor, die sich an Marx, Simmel, Luhmann, Baecker und Rudolf Steiner orientiert und die mit dem Mainstream, der neoklassischen Theorie, hart ins Gericht geht. Dietz behauptet, sein Vorgehen begründend, die Wirtschafts-wissenschaften hätten die jüngste Finanzkrise regelrecht „verschlafen“, was darauf schließen lässt, dass sie „Entscheidendes“ ausblenden und sich durch ihre „dyadische“, auf eine Subjekt-Objekt-Beziehung reduzierte, Weltsicht in eine Sackgasse manövriert haben (216f.). Er setzt dem eine „triadische“ Sichtweise entgegen, wel-che die Beziehungen der Subjekte untereinander favorisiert. In ihr erscheint die Wirtschaft als „ein Gebilde menschlicher Kultur“ (336). Durch diesen Paradigmenwechsel eröffnet sich dem Autor ein gänzlich neuer Blick auf das Geld,

welcher es ihm ermöglicht, die Geldtheorie hinfort nicht mehr als ein staubtrockenes Ne-benfach der Volkswirtschaftslehre anzusehen, sondern als eine „Wissenschaft vom Menschen“ (19). Dies hat nicht nur eine gänzlich veränderte Stellung des Geldes im Theoriegebäude der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zur Folge, sondern impliziert auch eine veränderte Haltung gegenüber dem Geld, eine neue Ethik des Geldgebrauchs und anderes mehr. Das Geld, heute von vielen noch „verdrängt, ver-achtet, dämonisiert“ (11), sollte künftig einen zentralen Platz im Bewusstsein und im Leben der Menschen einnehmen: „Unsere Einstel-lung, unser Denken über und unser Umgang mit Geld wird darüber entscheiden, wie wir den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts begegnen können.“ (12)

Ausgehend von einem triadischen Wirt-schaftsverständnis legt der Autor mit kritischen Fragen an den Mainstream dessen Konstrukti-onsfehler bloß und macht den Leser mit seinem Zugang zum Thema „Geld“ vertraut. Dieser führte ihn über Marx, dem vermeintlichen „Geldfeind schlechthin“ und „Lehrmeister ex negativo“ (23), zu Georg Simmel, durch dessen Lektüre ihm „die Bedeutung des Geldes für die Selbstorganisation moderner Gesellschaften“ (26) bewusst wurde. Simmels „Philosophie des Geldes“ aus dem Jahr 1900 öffnete Dietz – nach eigenem Bekunden – die Augen und prägte ganz entscheidend sein Geldverständnis. Bestärkt wurde er darin noch, insbesondere was die soziale Rolle des Geldes anbelangt, durch die politische Auseinandersetzung mit dem Sozialismus, als einem System „rigidester Geldverdrängung“ (27), und seine Beschäfti-gung mit den ökonomischen Problemen der Transformationsgesellschaften nach 1990. Der beschriebene Erkenntnisprozess ist nicht losgelöst von der Biografie und dem beruflichen Werdegang des Autors zu sehen, der bis 1975 in Berlin wirkte und seitdem in Wien lebt und sich intensiv mit dem Transformationsprozess in Mittel- und Osteuropa beschäftigt hat.

Neben einer Einführung enthält das Buch ein umfangreiches Kapitel über den Tausch als Grundlage des Geldes. Es folgt ein Kapi-tel zur ökonomischen Theorie, die im Kern als eine Theorie ohne Geld vorgeführt wird.

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Sodann folgt ein Kapitel zu Marx und Sim-mel, woran sich ein Kapitel zur Wertform-analyse, dem Dissertationsthema des Autors von 1976, anschließt. Zum Schluss sind eine Zusammenfassung der wichtigsten Aussagen, ein umfangreiches Literaturverzeichnis und eine ausführlich kommentierte Gliederung angefügt.

Der Leser merkt sehr schnell, dass es sich bei dieser Arbeit um eine Art Lebenswerk handelt, worin gleichermaßen theoretische Erkenntnisse, Diskurse in Fachkreisen sowie persönliche Erfahrungen eingeflossen sind. Das Positive hieran ist die lange Reifezeit der Hauptgedanken. Als problematisch erweist es sich es jedoch, wenn persönliche Eindrücke und Ansichten für theoretisches Wissen ausgegeben werden. So entspricht es zum Beispiel nicht der Wirklichkeit, wenn der „Sozialismus“ als ein System, in welchem die „sog. ‚Geld-Ware-Beziehungen’ beseitigt“ sind, definiert wird (27). Auch die apodiktische Behauptung, wonach es in der Welt „keine Alternative zum Kapitalis-mus“ (28) gäbe, „keine Perspektive“ (134) für eine antikapitalistische Bewegung, scheint zu absolut und eher die Überzeugung des Autors zum Ausdruck zu bringen als einen belegbaren Tatbestand. Ebenso sind viele Einzelaussagen sehr eingängig formuliert, erfassen aber nicht immer die komplizierte Struktur der Realität. Dies gilt zum Beispiel für die Unterscheidung von „zwei Arten von Geldern“: „Zentralbank-geld“ und „Giralgeld“ (47, 74, 163). Dass hier beide Arten als Geld (Fiat Money) behandelt werden, entspricht der Praxis, die gewählte Klassifikation überzeugt jedoch nicht: Das eine Mal wird die Emissionsinstitution (Zen-tralbank) als begriffsbildend herangezogen, das andere Mal ist es die Zirkulationsform des Geldes (giral). Das passt nicht zusammen. Ferner legt die gewählte Abgrenzung nahe, dass alles Zentralbankgeld Bargeld sei und alles Geschäftsbankengeld Giralgeld. Letzteres stimmt, ersteres aber nicht. Ein Teil des Zentral-bankgeldes (die Einlagen der Geschäftsbanken bei der Notenbank) existiert in Buchgeldform; es gibt hier also eine Schnittmenge, was Dietz unzulässigerweise ausblendet.

Unstimmigkeiten gibt es auch an anderer Stelle: Mit der klassischen wie der neoklas-

sischen Theorie, zu deren Kernaussagen das Tauschparadigma gehört, geht der Autor sehr kritisch ins Gericht und betont mehr als einmal seinen davon abweichenden Standpunkt. Mit der Herleitung des Geldes aus dem Ausgleich von Geben und Nehmen und der These, dass das Geld „der Erzeuger des Tausches“ (38) sei, befindet er sich selbst aber in ziemlicher Nähe zum Tauschparadigma. Wäre es da nicht stringenter gewesen, auf andere Geldentste-hungstheorien zu rekurrieren, etwa auf die sakrale Gelderklärung, die den Geldgebrauch lange vor dem Gütertausch datiert?!

Richtig ist es, die Geldwirtschaft als ein „Produkt historischer Entwicklung“ (61) dar-zustellen. Dies impliziert jedoch, dass das Geld immer in historisch konkreter Gestalt auftritt. Die sich an Marx orientierenden Passagen beziehen sich also auf das 19. Jahrhundert und die Zitate aus Simmels „Philosophie des Geldes“ und Max Webers Schriften auf die vorletzte Jahrhundertwende. Das heutige Geld und die gegenwärtige Geldwirtschaft sind aber Ergebnis der Demonetisierung des Goldes, die sich zwischen 1914 und 1972 vollzog, sowie Ausdruck der Herrschaft des Finanzmarktkapi-talismus, welcher erst seit den 1980er Jahren den Wirtschaftsablauf bestimmt. Dem Autor mag dies bewusst sein, beim Leser jedoch entsteht durch die unreflektierten Rückgriffe auf Marx, Simmel, Weber, Steiner und andere ein anderer, mitunter irritierender Eindruck.

Bemerkenswerte Einsichten vermittelt das Buch zum Wachstumszwang moderner Geldwirtschaften, zur Differenz zwischen monetärem und realem Wachstum (145ff.) und zur Inflation, welche der Autor bis zu einer bestimmten Größenordnung als durchaus „sys-temkompatibel“ (152) behandelt. Ein Abschnitt ist der Vermögensentwicklung gewidmet. Da der Geldbegriff unter den heutigen Bedin-gungen relativ unscharf ist, unterschiedliche Geldmengendefinitionen existieren, M1, M2 usw., daneben geldnahe Assets (Termingeld, Spareinlagen usw.), kommt die ökonomische Theorie nicht umhin, sich hierzu zu positio-nieren und neben den technischen Abgren-zungsproblemen auch die damit verbundenen inhaltlichen Fragen zu behandeln. Dietz tut dies, indem er verschiedene Facetten der ak-

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tuellen monetären Entwicklung diskutiert und problematisiert (162ff.). Trotz seines positiven Verhältnisses zum Geld charakterisiert er die jüngste Entwicklung unter finanzmarktkapi-talistischen Bedingungen, insbesondere „den explodierenden Umfang der Options- und Derivateindustrie“, wodurch „Gläubiger-Schuldner-Beziehungen ins Unsinnige und Unsittliche ausgedehnt“ werden, als „verfehlt“. Er resümiert: „Die Finanzindustrie stellt mit hoch-innovativen Produkten die Mittel zur Verfügung, mit deren Hilfe nicht-nachhaltige Strukturen erhalten bzw. verschlimmert wer-den.“ (188) Das gegenwärtige Finanzsystem ist, so die Einschätzung des Autors, „eindeutig hy-pertroph“ (326). Dies macht Eingriffe der Politik in das Finanzwesen unabdingbar, zumal das Bank- und Finanzsystem inzwischen faktisch den Beweis dafür erbracht hat, dass es aus sich selbst heraus weder in der Lage ist, sich „zu kalibrieren“ noch zu reformieren (329).

Gut nachvollziehbar ist auch seine, vor dem Hintergrund explodierender Staatsschulden getroffene Unterscheidung zwischen makro-ökonomisch tragbaren Schulden, welche öko-nomisches Wachstum nach sich ziehen, und solchen, die als „bedenklich“ einzustufen sind, weil sie nicht zu einer temporären Erhöhung der Produktion beitragen, sondern weitere Kredite zur Folge haben bzw. lediglich der Spekulation dienen (192). Diese Argumentation hebt sich wohltuend von einer undifferenzierten Verteu-felung jeglicher Verschuldung ab, setzt dieser aber auch Grenzen. Dietz betont in diesem Kontext, dass die an den Staat ausgereichten Kredite meistens „verkonsumiert“ werden. Insofern ist hier Wachsamkeit geboten. Bei der Auseinandersetzung mit den Folgen einer fehlenden Haushaltsdisziplin und exzessiven Staatsverschuldung wird man künftig an den Thesen dieses Autors nicht vorbeikommen.

Die dritte, ebenfalls im Metropolis-Verlag erschienene Arbeit stammt von dem österrei-chischen Wirtschaftsautor Gero Jenner. Sie trägt den Titel „Wohlstand und Armut“, behandelt aber hauptsächlich theoretische Fragen des Eigentums, des Geldes und des Kredits. Die zentrale Botschaft lautet: Der Kapitalismus ist durch eine dialektische Paradoxie gekennzeich-net: Einerseits bewirkt er eine enorme Mehrung

des Wohlstands, andererseits zerstört er diesen wieder durch die ihm inhärente Tendenz zur Konzentration von Kapital. Hieraus leitet sich die praktische Frage ab: Wie kann man die eine, den Wohlstand mehrende Eigenschaft des Kapitalismus erhalten, die andere aber, ihn ruinierende Eigenschaft, aufheben? Mit der analytischen Durchdringung dieser Frage und deren konstruktiver Beantwortung beschäftigt sich das vorliegende Buch.

Als Ausgangskategorie dient dem Autor der Begriff der „Eigentumsgesellschaft“ (10). Er beruft sich hier ausdrücklich auf Heinsohn und Steiger, welche mit ihrer „Eigentumstheorie des Wirtschaftens“ (2002) dafür die Grundla-gen legten. Der Kapitalismusbegriff erscheint damit als entbehrlich. Zumal der Autor den historischen Bogen seiner Darstellung bis in die Antike spannt und Griechenland und Rom als Beispiele früher Eigentumsgesellschaften behandelt. Ihr Aufstieg und Fall entsprach ex-akt der entwickelten Logik: Beide Male wurde der „Aufstieg“ durch die Institutionalisierung von Privateigentum bewirkt, während sich der „Fall“ jeweils durch die konzentrationsbeding-te Selbstzerstörung der Eigentumsordnung ereignete. Am Ende stand der Verlust aller positiven Errungenschaften und aller Dynamik durch „Refeudalisierung“. Überzeugend wird dies anhand der Gegenüberstellung zweier Ordnungssysteme exemplifiziert: „Das kleine Griechenland hat innerhalb von dreihundert Jahren mehr materielle Errungenschaften, geistige Leistungen und soziale Experimente aufzuweisen als das vielfach größere und bevölkerungsreiche Ägypten in dreitausend Jahren.“ (35) Dies bestätigt die Grundhaltung gegenüber dem Eigentum: „Gleichgültig, ob es in Rom, Griechenland oder schließlich im 18. Jahrhundert aufkam“, überall hat das Pri-vateigentum „eine geradezu explosionsartige Entfaltung gesellschaftlicher Kräfte bewirkt“, während es bei Abwesenheit desselben „zu Stagnation und Versteinerung“ kam (ebd.).

Im Folgenden entwickelt der Autor zwei Grundmodelle der Eigentumsgesellschaft: die Mehrwert- oder Börsenökonomie und die Zins- oder Bankenwirtschaft. Beide Modelle gibt es natürlich nicht in reiner Form. Die Mo-dellbetrachtung erweist sich aber als hilfreich,

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wenn es darum geht, die bis heute existierenden Unterschiede zwischen dem US-Kapitalismus und dem kontinentaleuropäischen Kapitalismus herauszuarbeiten. Zweifel an dieser Darstellung melden sich jedoch dann, wenn der Autor zu begründen versucht, dass die Bankenwirtschaft zwangsläufig eine Schuldenwirtschaft ist, die „auf Mehrwert begründete Ökonomie“ aber nicht (57). Überhaupt scheint es fragwür-dig, Zins und Mehrwert (Gewinn) als „zwei durchaus eigenständige Dimensionen der Eigentumsakkumulation“ (67) zu behandeln. Unterstützung verdient aber das Bemühen des Autors, die Spezifik der Bank-, Kredit- und Zinswirtschaft herauszuarbeiten.

Sehr aufschlussreich ist das Kapitel über das Geld. Jenner vertritt hier eine tauschfundierte und warenwirtschaftliche, also eher enge Auf-fassung, wenn er schreibt: „Geld ist, was etwas anderes als sich selbst, nämlich knappe Güter, repräsentiert und dabei deren Kreislauf und Wertaufbewahrung […] ermöglicht und sie als gemeinsamer Maßstab miteinander vergleichbar macht.“ (71) Diese Begriffsbestimmung lehnt sich stärker an Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin an als an Marx, Simmel, Schumpeter oder Keynes. Auch Heinsohn und Steiger, die ansonsten hoch geschätzten Autoren, werden zurückgewiesen, da sie das Geld aus einem Verschuldungsverhältnis ableiten. Demgegen-über betont Jenner die Zirkulationsfunktion des Geldes und sieht „grundsätzlich alles als Geld“ an, „was die Funktion als Zahlungsmittel erfüllt. [...] Geld dient dazu, Güter zu reprä-sentieren, aber das umgekehrte Verhältnis trifft keinesfalls zu…“ (72). Dies mag zu Platons Zeiten so gewesen sein, in einer entwickelten Geldwirtschaft wie dem Kapitalismus gilt aber gerade das umgekehrte Verhältnis: Hier verkörpern die Waren potenzielles Geld. Das wusste bereits Marx.

Der umfangreiche Text folgt keinem stren-gen chronologischen oder systematischen Schema. Überall finden sich historische Ein-sprengsel und theoretische Erörterungen, aber auch aktuelle Bezüge. Dies ist positiv zu werten, da es die Lektüre abwechslungsreicher macht. Ausführungen über die Innovationsfeindschaft feudaler Gesellschaften sind angereichert mit Exkursen über die Rolle der Juden bei der Ge-

nese der Eigentumsgesellschaft, über Inflation und Deflation, über „Geld ohne Arbeit“ und über den Zinseszinsmechanismus. Streng sys-tematisch geht der Autor dann aber der Frage nach, „wie das Geld in die Welt kommt“. Er unterscheidet vier Möglichkeiten: „als eigen-besichertes Warengeld“ (Gold und Silber), als „direkt fremdbesichertes“ (durch Wertpapiere gedeckt) bzw. „indirekt fremdbesichertes Geld“ (durch die volkswirtschaftliche Leistung ge-deckt) und als „Willkürgeld“ (136f.). In diesem Zusammenhang stößt man auf Anleihen des Autors bei so umstrittenen Autoren wie Silvio Gesell und Helmut Creutz, aber auch auf in Fachkreisen heftigen Widerspruch hervor-rufende Äußerungen zur „Geldhortung“ und zur Unmöglichkeit einer Geldschöpfung durch Geschäftsbanken (148, 157). Die Aussagen hierzu werden im folgenden Kapitel weiter vertieft. Es fällt auf, dass der Autor einerseits, mit Blick auf die aktuelle Finanzsituation, klare Positionen zu den Grenzen der Geldschöpfung, zur Verschuldung usw. bezieht, dabei aber an-dererseits die Zahl der Irrtümer über Banken, Kredite und Schulden nicht verringert, sondern eher noch um einige vergrößert. Dies betrifft insbesondere seine eigenwilligen Ausführun-gen zur Kreditschöpfung, zum Geldcharakter von Guthaben, Spareinlagen usw. (157) sowie zum Verhältnis von Geschäftsbanken und Zentralbanken. Anders verhält sich dies mit den Feststellungen zur Staatsverschuldung als „unproduktiver Verschuldung“, deren ständiger Anstieg „auf Dauer zur akuten Gefahr“ (189) wird. Richtig ist auch der Hinweis auf den „Berg“ privater Unternehmensschulden (190), von dem ebenfalls die Stabilität gefährdende Impulse ausgehen können. Jenner warnt vor einem Abgleiten in eine „Verschuldungsgesellschaft“, die dadurch charakterisiert ist, „dass sich in ihr die Schulden der einen und die Guthaben der anderen kumulativ vermehren“ (196), während die Wirtschaft stagniert. Sein Lösungsansatz lässt sich in dem Begriff „Reset“ zusammenfas-sen. Der New Deal Roosevelts nach 1930 war ein solcher Reset. Heute stehen wir vor einer ähnlichen Situation. Die Eigentumsgesellschaft wird, indem „die Interessen des Einzelnen die der Allgemeinheit von innen her untergraben“, ihrer Zukunft beraubt (218). Die „rote Linie“

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ist überschritten. Als maßgebend dafür gilt, dass „der Wachstumsplafonds“ erreicht ist, die Vermögenskonzentration aber weiter geht. „Von diesem Augenblick an, der eben durch den Punkt ‚x’ markiert wird, wachsen die Großen nur noch […] auf Kosten der Kleinen.“ (230) Jenseits des Wendepunktes „x“ gerät eine Gesellschaft in eine lang andauernde Abschwungphase, in welcher die Einkommen der Bevölkerungsmehrheit sinken, „damit eine Minderheit weiterhin ihre Forderungen aufrechterhalten kann“ (242).

Eine „Spreizung der Einkommensvertei-lung“ ist für Deutschland seit Anfang der 1990er Jahre auszumachen, in den USA begann sie be-reits zwanzig Jahre früher (249). Was nun folgt, ist ein „schuldenfinanziertes Scheinwachstum“ (254), worin Finanzspekulationen an die Stelle realer Geschäfte treten und eine Aufblähung des Finanzsektors erfolgt. Diese Entwicklung führt, sofern sie nicht durch ein „Reset“ korri-giert wird, „unausweichlich“ zur Inflation (286). An dieser Stelle verlässt der Autor den Boden nüchterner ökonomischer Analysen und gibt sich spekulativen Betrachtungen über die „Krise der Eigentumsgesellschaft“ hin. Dabei zieht er mit Vorliebe Parallelen zum Römischen Reich und dessen Untergang vor mehr als anderthalb Jahrtausenden. Alternativen Lösungsansätzen, die sich zum Privateigentum und zum Geld kri-tisch verhalten, steht er ablehnend gegenüber. So werden Marx, Keynes und Gesell, Sozialismus und Sozialstaat gleichermaßen als „Holzwege und Sackgassen“ behandelt. Zum Teil mit Ar-gumenten, die durchaus zutreffen, mitunter aber auch in reduktionistischer Manier.

Im letzten Kapitel des Buches wird schließ-lich ein eigener Lösungsansatz vorgestellt. Der Autor geht dabei von drei Fragen aus: Erstens fragt er, wie die besondere Dynamik der Eigen-tumsgesellschaft erhalten werden kann, ohne dass die Konzentration der Vermögen deren Grundlagen zerstört. Zweitens gilt es, wirt-schaftliche Dynamik mit der Forderung nach Nachhaltigkeit zu verbinden. Und drittens soll „Arbeit für alle“ organisiert werden (348). Die Antwort knüpft an Bewährtes an, an privates Eigentum, (qualitatives) Wirtschaftswachstum, Leistung, Staat und Geld. Jenner fasst seine Ideen unter den Begriff „neuer Fiskalismus“

(356) zusammen. Zentral dabei ist ein Steu-ermodell, bestehend aus einer ökologischen Basisteuer und einer progressiv ausgestalteten Endverbrauchssteuer. Damit soll eine ökono-mische, ökologische und soziale Feinjustierung der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft erreicht werden. Das Modell geht wohl in die richtige Richtung, angesichts der Komplexität und historischen Einmaligkeit der Herausfor-derung scheint es aber doch etwas zu einfach gestrickt zu sein.

Das vierte hier zu besprechende Buch stammt aus der Feder des Berliner Literatur-wissenschaftlers Joseph Vogl. Es handelt sich um einen breit angelegten Essay über Kapital, Kapitalismus und unterschiedliche Wahrneh-mungsweisen von Geld, Kredit und Spekula-tion. Angesichts der jüngsten Ereignisstürme und Turbulenzen auf den Finanzmärkten wirft der Autor die Frage auf, ob es sich bei den „irrationalen Exuberanzen“ wirklich um Ausnahmefälle, irrationale Übertreibungen und exogene Schocks handelt, wie uns Fi-nanzexperten weismachen wollen, oder nicht vielmehr um „reguläre Prozesse“ im Getriebe kapitalistischer Ökonomien. Die Beantwortung dieser Frage provoziert weitere Fragen, so etwa jene nach der ökonomischen Rationalität der Finanzmarktsteuerung, nach der Effizienz des Systems, nach der Entwicklungsrichtung der Wirtschaft und nach ihrer Beeinflussbarkeit. Man stößt dabei auf den schwierigen Umstand, dass in den letzten dreihundert Jahren mit Hilfe ökonomischer Theorien wirtschaftliche Tatsachen geschaffen wurden, deren „Entzif-ferung“ durch eben diese Theorien nunmehr jedoch immer weniger gelingt. Vogls Ziel ist es, zu zeigen, „wie die moderne Finanzökonomie eine Welt zu verstehen versucht, die durch sie selbst hervorgebracht wurde. Das ‚Gespenst des Kapitals’ erscheint darin als Chiffre für jene Kräfte, von denen unsere Gegenwart ihre Gesetze empfängt“ (8).

Einen besonderen Stellenwert räumt der Verfasser der Metapher vom schwarzen Schwan ein. Gemeint sind damit vereinzelt auftretende Vorfälle, die „außerhalb aller Erwartungen und Erwartbarkeiten“ liegen, die aber eine „fatale Wirksamkeit“ entfalten und mithin eine „manifeste Erklärungsnot“ provozieren. Da sie

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im Verständnis der traditionellen Theorie als „schiere Unmöglichkeit“ gelten, bezeichnen sie einen „Sprung“ in der linearen Abfolge von Ereignissen, „ein ebenso insuläres wie unglaubliches und turbulentes Geschehen“, eine „Zufälligkeit im Exzess“ (18f.). Schwarze Schwäne bewirken seit mehr als drei Jahrzehn-ten plötzliche Kursstürze, Bankenzusammen-brüche, Währungsturbulenzen usw., die zum Platzen von Spekulationsblasen führen und schwere Finanzkrisen auslösen. Durch die Richtungslosigkeit der Finanzmärkte geriet die Theorie, der zufolge dies alles gar nicht hätte passieren dürfen, in eine höchst „unbequeme Lage“, wodurch schließlich, laut Vogl, das „ganze intellektuelle Gebäude der Finanzwirtschaft kollabiert“ (19) sei. So wie einst, im Jahr 1755, das Erdbeben von Lissabon die Grundlagen der neuzeitlichen Theodizee erschütterte, so stellen die „Finanzbeben“ der Gegenwart die Glaubenssätze der Ökonomie, der „liberalen oder kapitalistischen Oikodizee“, fundamental infrage (29).

Dies betrifft in erster Linie die Grundlagen der politischen Ökonomie, wie sie im 17., 18. und 19. Jahrhundert in Anlehnung an die klas-sische Physik, Geometrie, Astronomie, Mathe-matik und Philosophie erarbeitet worden sind. Darüber hinaus aber auch das Menschenbild des rational handelnden homo oeconomicus, das Tauschparadigma als Basis aller Ökonomie und die Gleichgewichtsdoktrin der Neoklassik von Walras, Jevons, Pareto usw. Mit der Ma-thematisierung der Ökonomie, der Reduktion ihres Horizonts auf „sparsame Modelle“ (54) und wirksame Simplifikationen, löste sie sich mehr und mehr von der wirtschaftlichen Re-alität und verwandelte sich in einen „Zweig angewandter Mathematik“ (61). Durch ihre Axiomatik (allgemeines Gleichgewicht usw.) und Beschränktheit auf die Realsphäre (bei Ausklammerung des Geldes) manövrierte sie sich mit dem Übergang zur Geld- und Kredit-wirtschaft und zum Finanzkapitalismus in eine aussichtslose Lage. Nicht nur, dass bestimmte Seiten der Ökonomie (Geld- und Kreditwesen), entschieden zu wenig Aufmerksamkeit erfuh-ren; mit den „Fragen der Finanzökonomie ver-lieren die notorischen Gleichgewichtsmodelle der politischen Ökonomie ihr verlässliches,

gleichsam naturwüchsiges Statut“ (82). Sie werden zu realitätsfremden Artefakten, wel-che die durch Ungleichgewichte in Bewegung gehaltene Kredit- und Finanzwirtschaft immer weniger adäquat abzubilden vermögen.

In der Sprache fremdartig und nicht selten geschraubt, in der Sache aber durchaus zu-treffend, beschreibt der Autor die Wirtschaft in der „Epoche der Finanzökonomie“ als eine „von Schuldzyklen“ getragene Geldwirtschaft (83). Als „historische Wasserscheide“ regis-triert er die Ablösung des Goldstandards im Jahr 1971. Was sich hier vollzog, war nicht nur die Beendigung der Übereinkunft von Bretton Woods (1944), sondern zugleich „ein unvordenklicher Bruch in einer Geldgeschichte von 2.500 Jahren“ (87). Diese Zäsur stellte die Theorie vor völlig neue Herausforderungen: Das Börsengeschäft wird jetzt zum „Maß für die Finanzökonomie“, der Finanzmarkt „zum Markt aller Märkte“ und zum „Modell des Marktgeschehens überhaupt“ (90). Der Terminhandel beherrscht die Märkte, Derivate, Zertifikate usw. erobern die Finanzsphäre. Der Zusammenhang zur Realsphäre schwindet. Das „normale“ Geschäft wird zur Neben-, das reine Finanzgeschäft zur Hauptsache.

Vogl brilliert, wenn er diese Funktions- und Bedeutungsverschiebung darstellt und dem Leser anhand kurioser Geschäftsabläufe vorführt, wie finanzwirtschaftliche Gewinne entstehen: „Jemand, der eine Ware nicht hat, sie weder erwartet noch haben will, verkauft diese Ware an jemanden, der diese Ware ebenso wenig erwartet oder haben will und sie auch tatsächlich nicht bekommt.“ (94) Dabei muss die „Ware“ keine wirkliche Ware sein, es genügt ein „Anspruch“ darauf, oder ein „Ver-sprechen“, oder eine „Versicherung“ dafür usw. Entscheidend ist nicht, was hier bewegt wird, sondern dass dabei Gewinne realisiert werden. Der Leser kennt die von Marx dafür geprägte Formel: G - G’. Aber der Autor rekurriert hier weniger auf Marx, sondern geht zurück bis zu Aristoteles und dessen Unterscheidung zwischen Ökonomie und Chrematistik (120), ohne aber, was zu loben ist, dessen heute un-zeitgemäße moralisierenden Auslassungen mit zu referieren. Die Chrematistik erscheint da-durch weniger als „manifeste Naturwidrigkeit“

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beziehungsweise „Gestalt einer pervertierten oder dunklen Entelechie“ (121), als welche sie linke und rechte Geldkritiker gerne darstellen, sondern als eine mögliche Form des Gelder-werbs. Mehr nicht. Damit verbunden sind aber bestimmte Wirkungen: Mit der „reinen“ Form des Geldverkehrs und -erwerbs entwickeln sich dem Geld „eigene Bewegungsgesetze“, welche eine „desintegrative Kraft“ entfalten und tra-ditionelle Gemeinwesen aushöhlen (124). Das Geld erscheint somit als Katalysator bei der Auflösung „alter“ Gesellschaften und als Trans-formationsmotor bei der Entwicklung neuer Strukturen. Im modernen Kapitalismus wird, so Vogl, „die chrematistische Reproduktion von Kapitalformen samt ihren Dynamiken und Krisen zum Maß gesellschaftlicher Vitalität“ (131). Das ist sehr schön ausgedrückt. Die das Geld und die Geldwirtschaft grundsätzlich bejahende Argumentation ist gegen jedwede rückwärtsgerichtete Geld- und Kapitalkritik gerichtet. Zudem ist sie von der Gewissheit ge-tragen, dass die Finanz- und Wirtschaftskrisen keine vermeidbaren Unfälle und Abweichungen von der Normalität darstellen, sondern „zum regulären Funktionsablauf“ (150) gehören, ja, für diesen sogar unverzichtbar sind. Dies gilt insbesondere für die sich häufenden Fi-nanzkrisen, welche die ökonomische Theorie nicht vollständig zu erklären vermag und die daher Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der Ökonomie nähren, nicht unbedingt aber an der Sinnhaftigkeit der geldwirtschaftlichen Realität.

Das Buch von Joseph Vogl ist kein Mei-lenstein ökonomischer Theoriebildung oder Politikanalyse. Als ideen- und geisteswissen-schaftliches Werk stellt es aber gewiss einen nützlichen Baustein zum Verständnis des Finanzmarktkapitalismus als einer Spielart kapitalistischer Evolution dar, die ihre Regeln besitzt, aber auch ihre Ungewissheiten, Vorzüge und Fehler und die es deshalb zu verstehen gilt, zu reformieren und weiter zu entwickeln.

Von ganz anderem Charakter erweist sich das Buch von Thomas Strobl, seines Zeichens Manager, Publizist, Feuilletonist (FAZ) und erfolgreicher Blog-Betreiber im Internet. Mit seiner Kritik an der Sparpolitik von Merkel und Schäuble als einer total verfehlten Krisenbewäl-

tigungsstrategie liefert er eine provozierende Analyse der gegenwärtigen weltwirtschaftlichen Lage. Er verbindet diese mit unorthodoxen Einfällen und Lösungsvorschlägen, welche nicht nur die Finanzpolitik, sondern auch die ökonomische Theorie erheblich „gegen den Strich“ bürsten.

Das Buch umfasst vier Teile. Das Ein-gangskapitel behandelt den Kapitalismus als „Geldwirtschaft“ und als ein von Anfang an „schuldengetriebenes System“ (8). Erst die hier zur Blüte gekommene Möglichkeit „massen-hafter, systematischer Verschuldung“ setzte die „Wachstumsspirale“ in Gang und verhalf den Menschen zu Reichtum und Wohlstand (31), so das Fazit. Der Text ist flüssig geschrieben. Anhand von Episoden und Anekdoten aus der älteren und jüngeren Geschichte handelt der Autor das eher spröde Thema allgemeinver-ständlich ab. Aber was heißt das eigentlich? Auf den sachkundigen, akademisch gebildeten Leser dürften der lockere Umgang mit den Fakten und der feuilletonistische Stil eher befremdlich wirken, für den anspruchslosen Leser ohne Vorbildung, auf dessen Rezeptionsniveau der Text sprachlich zum Teil abstellt, dürften die finanzökonomischen Zusammenhänge aber nur schwer zu erfassen sein. So wird der kun-dige Leser dem Autor kaum verzeihen, dass er den Internationalen Währungsfonds mit der Weltbank verwechselt (24), die Entstehung des Finanzkapitalismus auf das 18. Jahrhundert vordatiert (57) und die volkswirtschaftliche Problematik des Sparens derart versimpelt, dass es schon weh tut (65). In guter Absicht wird hier vom „Ockhamschen Rasiermesser“ zu exzessiv Gebrauch gemacht. Die größtmög-liche Vereinfachung führt aber nicht immer zur höchsten Wahrheit. Mitunter stiftet sie auch Verwirrung. So zum Beispiel, wenn die Argumentation darauf hinaus läuft, dass „der Sparer“ als vermeintlicher Verursacher der Krise, „zum Schutz der Allgemeinheit“ besser „an die Kette zu legen“ sei (67).

Im zweiten Kapitel rechnet Strobl mit der ökonomischen Theorie ab. Er zitiert dazu Keynes, der meinte, dass sich die klassischen Ökonomen „wie Anhänger der euklidischen Geometrie in einer nicht-euklidischen Welt“ verhielten (101). Indem die heutige Theorie

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des Mainstream auf dem Neutralitätspos-tulat des Geldes beharrt und gegenüber der Finanzsphäre eine auffällige Abstinenz of-fenbart, erweise sie sich in gewissem Grade als ebenso realitätsfremd. Strobl sieht hierin den „blinden Fleck“ der Theorie. Aber führt sie uns deshalb gleich in die Krise, wie auf S. 107 behauptet wird? Neben Keynes beruft sich der Autor vor allem auf Marx, Schumpeter und Minsky, welche gegenüber der Neoklas-sik eine unorthodoxe alternative Auffassung vertraten. Dem lässt sich folgen, sofern man historisch vorgeht. Daran mangelt es hier jedoch. So übernimmt Strobl von Keynes den Terminus der „Geldhortung“ (133), ohne zu berücksichtigen, dass dieser Begriff heute, unter den Bedingungen der Kreditgeldzir-kulation und totaler Fristentransformation, nur noch wenig Erklärungswert besitzt. Ein Blick in die Bilanzen der Zentralbank und des Bankensystems genügt, um zu erkennen, dass es außerhalb der Geldzirkulation keinen „Geldhort“ gibt und dass es folglich unsinnig ist, zu behaupten, das gehortete Geld würde im Wirtschaftskreislauf „fehlen“ (133). Ähnlich verhält es sich mit dem Kreditverständnis des Autors. So richtig es ist, die Interpretation des Kredits als einfache Umverteilung von Ersparnissen zurückzuweisen und in diesem Kontext auf die Schaffung von neuem Geld hinzuweisen (149), so falsch ist es, die Rolle der Spareinlagen als Kreditquelle gänzlich zu ignorieren. Es handelt sich hierbei um einen komplexen Zusammenhang von Geldemis-sion, Umverteilung und Refinanzierung. Die Betonung nur eines Aspekts dieses Konnex unterstreicht eine, in anderen Darstellungen vielleicht vernachlässigte Seite desselben, führt letztlich aber ebenso zu einer bloß einseitigen Sicht wie die kritisierte Auffassung selbst. Als problematisch erweist sich auch, dass der Autor verschiedene Theorien für seine Argumentation heranzieht, ohne sie hinrei-chend zu kennen. Man prüfe zum Beispiel, wie Strobl dem Leser zu erklären versucht, wie Marx die Entstehung des Mehrwerts begründet und von der Formel W-G-W zur Formel G-W-G’ (im Buch fehlt zudem das bedeutungsvolle Häkchen) gelangt (140ff.). Der springende Punkt der Marxschen Erklä-

rung, der besondere Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft, findet dabei bezeichnenderweise keine Erwähnung!

Besser gelungen ist dem Autor das dritte Kapitel, in welchem er „einen prüfenden Blick unter die Motorhaube der Marktwirtschaft“ (9) wirft. Die Logik der Gedankenführung ist dabei die, dass aus dem Wachstumszwang der Geld- und Kreditwirtschaft die „Schuldenspirale“ des Kapitalismus hervorgeht. Die Investitionen von heute sind die Voraussetzung dafür, dass die Schulden aus den Investitionen von gestern bedient werden können. Da jede Investition kreditfinanziert ist, wächst mit dem realen Vermögen immer auch der Schuldenberg. Der Finanzmarktkapitalismus erweist sich damit als „eine komplizierte Vorwärts- und Rückwärts-verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ (156). Dieses Zusammenspiel lässt sich durch Sparen oder Schuldenabbau nicht auflösen, wie naive Gemüter glauben; es funktioniert wie ein „Kettenbrief“, das heißt solange, wie es durch neue Schulden bedient wird. Richtig ist auch die Feststellung, dass „das Geschehen in der Realwirtschaft“ durch „die Entwicklung an den Finanzmärkten“ be-stimmt wird und nicht umgekehrt (179). Mit aller Deutlichkeit arbeitet Strobl heraus, welche Folgen dies für die Welt hat, insbesondere unter den Bedingungen ungleichgewichtiger Handels- und Leistungsbilanzen. Wohltuend desillusionierend wirkt auch seine Darstellung der merkantilistischen Politik Deutschlands, welche weniger produktive Staaten an den Rand des Abgrunds drängt und global eindeutig Krisen verschärfend wirkt. Zuzustimmen ist ihm auch darin, dass Deutschland trotz hoher Staatsschulden von einer Staatspleite „weit entfernt“ (220) ist und vorerst keine Gefahr einer Eskalation droht. Die Darlegung der Gründe dafür und die gegenwartsbezogene Argumentation machen die Stärken des Buches deutlich. Diese liegen ganz offensichtlich in der Auseinandersetzung mit den Fakten und weniger auf dem Gebiet der Theorie.

In einem kurzen vierten Kapitel werden einige Überlegungen zu gesellschaftspolitischen Alternativen und zum Reformbedarf des gegen-wärtigen Kapitalismus angestellt. Dabei spricht sich der Autor klar für eine Fortexistenz des

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Finanzkapitalismus aus, meldet jedoch auch, auf theoretische und moralische Größen der Vergangenheit rekurrierend, einige notwendige Verbesserungen an: „Der Kettenbrief namens Kapitalismus muss nicht reißen. Der große Kollaps, der Kladderadatsch, wird erneut ver-schoben.“ (263)

Dieter Schnaas: Kleine Kulturge-schichte des Geldes, München: Wil-helm Fink Verlag 2010, 188 Seiten.

Raimund Dietz: Geld ohne Schuld. Eine ökonomische Theorie der Ge-sellschaft, Marburg: Metropolis-Ver-lag 2011, 402 Seiten.

Gero Jenner: Wohlstand und Armut. Eine allgemeine Theorie über Eigen-tum, Geld, Güter und Staat, Marburg: Metropolis-Verlag 2010, 416 Seiten.

Joseph Vogl: Das Gespenst des Ka-pitals, Zürich: diaphanes 2011, 224 Seiten.

Thomas Strobl: Ohne Schulden läuft nichts. Warum uns Sparsamkeit nicht reicher, sondern ärmer macht, Mün-chen: Deutscher Taschenbuch Verlag 2010, 272 Seiten.

Gary Herrigel: Manufacturing Possibilities. Creative Action and Industrial Recomposition in the United States, Germany, and Japan

Rezensiert von Martin Krzywdzinski

Mit seinem neuen Buch „Manufacturing Possi-bilities“ hat Gary Herrigel eine materialreiche Kritik institutionalistischer Ansätze zur Analyse des Wandels von Unternehmen, Industrien und nationalen Varianten des Kapitalismus vorgelegt. Das Buch bündelt seine langjährigen Forschungen zu industriellem Wandel und hat als Ziele nicht weniger als eine Infragestellung der Art und Weise, wie institutionalistische Theorien das Verhältnis von Institutionen und wirtschaftlichem Handeln auffassen, und die Formulierung einer alternativen „pragmati-schen Sozialtheorie“. Sowohl die im Buch ge-sammelten empirischen Erkenntnisse als auch der theoretische Anspruch machen es zu einem wichtigen Diskussionsbeitrag in der Debatte über die Varieties of Capitalism (VoC) und industriellen Wandel in der Globalisierung.

Zu Beginn ist es sinnvoll, kurz Herrigels Kri-tik an institutionalistischen Ansätzen, darunter der VoC-Theorie, zusammenzufassen. Nach Auffassung des Autors scheitern sie daran, die Veränderungen der Unternehmen, Industrien und Kapitalismusvarianten zu erklären. Das Grundproblem liegt darin, dass diese Ansätze die Institutionen primär als Regelsysteme sehen, die Handlungsmöglichkeiten von Akteuren be-grenzen (229). Die VoC-Theorie argumentiert, dass nationale Institutionensysteme soziale Gleichgewichtssituationen repräsentieren und komparative institutionelle Vorteile generieren, die zu pfadabhängiger Entwicklung führen. Beobachtungen abweichender Entwicklun-gen werden als noise oder als Anzeichen von Krisen institutioneller Systeme interpretiert. Der historische Institutionalismus, wie er etwa von Kathleen Thelen oder Wolfgang

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Streeck vertreten wird, geht zwar darauf ein, dass Akteure existierende Institutionen kreativ uminterpretieren können. Aber der Wandel wird als langsam und graduell aufgefasst, da die Handlungsmöglichkeiten durch Machtun-gleichheiten und in den Institutionen verankerte Sanktionsmechanismen begrenzt seien.

Herrigels „pragmatische Sozialtheorie“ betont demgegenüber die gegenseitige Kon-stitution von Institutionen und Handeln sowie die Möglichkeit radikaler Veränderungen. „Handeln wird aus dieser Perspektive nicht als die Auswahl aus einer Reihe von strategi-schen Optionen verstanden, die Akteuren in spezifischen Rollenpositionen innerhalb einer institutionellen (oder sozioökonomischen) Struktur zur Verfügung stehen. Handeln ist vielmehr ein sozialer Prozess, der sowohl die Akteure als auch die Institutionen selbst neu zusammensetzt.” (231) Dementsprechend plä-diert Herrigel dafür, das kreative Handeln von Akteuren ins Zentrum sozialwissenschaftlicher Forschung zu stellen und präsentiert mit dem Buch ein Beispiel für eine solche Forschung.

Das Buch besteht faktisch aus zwei Teilen, die relativ unabhängig voneinander stehen – was für den Lesefluss nicht ganz glücklich ist. Der erste Teil präsentiert eine materialreiche Studie zur Entwicklung der Stahlindustrie in den USA, Deutschland und Japan seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Autor will zeigen, dass die Entwicklung und die Umbrüche der Stahl-industrie in den drei Ländern den Prognosen der VoC-Theorie über industriellen Wandel in liberalen und in koordinierten Marktökono-mien widersprechen. Sowohl in den USA als auch in Deutschland und Japan haben Unter-nehmen sehr ähnliche radikale Innovationen im Hinblick auf Technologie und Organisation der Wertschöpfungskette entwickelt. Zugleich gab es in allen drei Ländern kooperative und koordinierte Prozesse der Restrukturierung, in die Unternehmen, Gewerkschaften und staatliche Akteure einbezogen waren. In allen drei Ökonomien gab es also sowohl radikalen als auch graduellen, koordinierten Wandel. Den Widerspruch zwischen den Prognosen der VoC-Theorie und der empirisch beobachtbaren Entwicklung in der Stahlindustrie nimmt Gary Herrigel zum Anlass, um auf die Bedeutung

kreativen Handelns der Industrieakteure hin-zuweisen, das durch institutionelle Zwänge kaum eingeschränkt wird.

Um sein Argument der Bedeutung des krea-tiven Handelns von Akteuren zu untermauern, beschreibt der Autor mit hoher Detailkenntnis zwei kritische Umbruchphasen in der Stahl-industrie. Die erste dieser Umbruchphasen ist mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und mit dem alliierten bzw. US-amerikanischen Besatzungsregime in Deutschland und Japan verbunden. Die US-amerikanischen Besatzun-gen zerschlugen die Kartelle und entflochten die Konzerne der Stahlindustrie, die als ein Pfeiler der nationalsozialistischen und kaiserlichen Kriegsmaschinerien angesehen wurden, und unterstützten (zumindest in Deutschland) die Etablierung von Gewerkschaften und Mitbe-stimmungsstrukturen in den Stahlunterneh-men, auch wenn die Vorkriegsstrukturen mit dem Einsetzen des Kalten Krieges teilweise wie-derhergestellt wurden. Als Folge der Besatzung entwickelten sich in den USA, Deutschland und Japan sehr ähnliche Industriestrukturen: Oligopole von stark integrierten Stahlunterneh-men mit einer diversifizierten Produktpalette, branchenweiten Koordinationsmechanismen zur Preissetzung und starken Gewerkschaften als Verhandlungspartnern – von nationalen Unterschieden aufgrund komparativer insti-tutioneller Vorteile keine Spur.

In den 1970er und 1980er Jahren erlebte die Stahlindustrie in allen drei Ländern einen tiefgreifenden Umbruch aufgrund des Markt-eintritts neuer Wettbewerber aus Schwellenlän-dern, von Überkapazitäten, hohem Preisdruck der Kunden und neuen Produktionstechnolo-gien. Nach Herrigel ist es bemerkenswert, dass nun in allen drei Ländern radikale Innovationen der Industrieorganisation stattfanden, wenn-gleich der Weg zu diesen Innovationen nicht identisch war. In allen drei Ländern entwickelte sich eine vergleichbare dualistische Struktur: ein konsolidierter Bereich von wenigen stark integrierten Stahlproduzenten und ein Bereich vieler so genannter Minimills, die kostengünstig auch kleine Mengen und spezialisierte Produkt-bereiche bedienen können. Bemerkenswert ist auch, dass sich dieser radikale Wandel in allen drei Ländern als ein verhandelter Wandel

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vollzog, in den Unternehmen, Gewerkschaften und Staat eingebunden waren. Somit entpuppt sich die Gegenüberstellung von Marktme-chanismen und bewusster Koordination zwischen Akteuren, wie sie im VoC-Ansatz vertreten wird, als falsch. Marktkoordination und bewusste Kooperation finden sich in allen untersuchten Ländern; die Akteure sind nicht durch Institutionen eingeschränkt, sondern besitzen große Freiräume.

Der zweite Teil des Buchs wechselt die Perspektive und präsentiert eine Reihe von Kapiteln, die sich mit der vertikalen Desin-tegration von Unternehmen beschäftigen – einem zentralen und weltweiten Prozess der Reorganisation von Unternehmen, Wert-schöpfungsketten und Branchen. Die vertikale Desintegration der Unternehmen verändert nach Herrigel grundsätzlich die Beziehungen zwischen den Akteuren: zum ersten erhöht sie den Kooperationsbedarf zwischen End-herstellern und Zulieferern, was wiederum die Produktentwicklungs- und Qualitätsan-forderungen an Zulieferer massiv steigert; zum zweiten geht sie mit einem hohen Kostendruck der Endhersteller auf ihre Zulieferer einher. Der Autor diskutiert verschiedene Formen der Endhersteller-Zulieferer-Beziehungen, die aus der vertikalen Desintegration re-sultieren. Eine Reihe von Studien hatte in diesem Zusammenhang auf die Entwicklung modularer Produktarchitekturen und auf die Polarisierung der Rollen der Produktentwickler (Markenfirmen in Hochlohnländern) und der Kontraktfertiger (mit Produktionsstandorten in Niedriglohnländern) hingewiesen. Im Un-terschied dazu argumentiert Herrigel, dass es enge Grenzen der Modularisierung gibt und dass die am weitesten verbreitete Beziehungs-form zwischen Herstellern und Zulieferern durch langfristige, aber situationsspezifisch variierende Zusammenarbeit gekennzeichnet ist, was er in einer schwer zu übersetzenden Formulierung als sustained contingent colla-boration (SCC) (145) bezeichnet. Die SCC ist durch eine grundlegende Ambivalenz gekenn-zeichnet: Die Kooperationspartner haben beide wichtige Kompetenzen im Hinblick auf Pro-duktentwicklung und Herstellung und sind auf-einander angewiesen, zugleich variiert jedoch

die Intensität ihrer Zusammenarbeit und sie können ihrer jeweiligen Rollen nie ganz sicher sein. Die Durchsetzung der SCC hat erhebliche Auswirkungen auf die internationale Arbeits-teilung: „Design- und Fertigungsaktivitäten sowie Aktivitäten mit hoher und mit geringer Wertschöpfung werden an allen Standorten der globalen Produktion kombiniert. Unterschied-liche Lohnniveaus spielen eine wichtige, aber nicht die entscheidende Rolle in dieser neuen Logik der Allokation von Kompetenzen und Kapazitäten.“ (175) Die Asymmetrie zwischen Hochlohn- und Niedriglohnstandorten löst sich tendenziell auf.

Für Herrigels Hauptargument ist sein Befund zentral, dass sich die SCC sowohl in den USA als einer liberalen Marktökonomie als auch in Deutschland und Japan als koordi-nierten Marktökonomien durchsetzt. SCC ist sowohl durch Marktkonkurrenz als auch durch intensive (in Verbänden und Public-Private-Partnerships institutionalisierte) Kooperation gekennzeichnet – offensichtlich sind also die Handlungen der Industrieakteure nicht durch die jeweiligen nationalen „institutionellen Vorteile“ geleitet.

Herrigels Kritik des Arguments der „kom-parativen institutionellen Vorteile“ überzeugt. Tatsächlich lassen sich die Handlungen der von ihm untersuchten Unternehmen in den USA, Deutschland und Japan kaum durch die jeweiligen institutionellen Systeme erklären, vielmehr zeigen sich große Freiheitsgrade, die eine Analyse auf der Akteursebene nahelegen. „Bei der Analyse des sozialen Wandels fragen die Institutionalisten und die Ökonomen: Wie verändern sich die Institutionen und die Anreize innerhalb der politischen Ökonomie? Die pragmatischen Sozialtheoretiker fragen dagegen: Wie handeln und wie interagieren die Akteure innerhalb der politischen Öko-nomie?” (234)

Nicht überzeugt hat mich dagegen die vom Autor vertretene Konzeption des Handelns und der Interaktion. Auch wenn der Autor diesen Vorwurf explizit zurückweist, spielen in seiner Konzeption des Handelns Machtasymmetrien keine Rolle. Herrigel analysiert das Handeln der Akteure als die Suche nach Lösungen für kollektive Probleme. Es geht ihm um kreative

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Lösungen für Koordinationsprobleme zwischen Akteuren und er scheint Interessen-, Herr-schafts- und Verteilungskonflikte aus dem Blick zu verlieren. Deutlich wird das bei der Analyse des Stakeholder-Modells in Deutschland, die das Buch abschließt. Herrigel interpretiert den Wandel dieses Modells allein im Hinblick auf ein einziges Dilemma: „wie mit dem Druck zur gleichzeitigen Innovation und Kostenreduzie-rung unter den Bedingungen einer permanen-ten Rollenunsicherheit umgegangen werden soll“ (222), die die Beziehungen zwischen Unternehmen in der Epoche der vertikalen Desintegration kennzeichnet. In seiner Analyse des Wandels der industriellen Beziehungen in Deutschland widerspricht er Ansätzen, welche die Prozesse der Verbetrieb lichung des Tarifsystems und der abnehmenden Deckung der Unternehmen durch Tarifverträge und Betriebsräte als Zeichen einer Erosion des deut-schen Modells interpretieren. Er argumentiert vielmehr, dass es eine Reihe von Experimenten der Akteure gibt, die das Stakeholder-Modell neu interpretieren. Die Verbetrieblichung be-deutet, dass Betriebsräte stärker in Fragen der Produkt- und Prozessentwicklung einbezogen werden. Das sei eine kreative Antwort auf das Dilemma der Akteure. Auch alternative Gremi-en der Arbeitnehmerbeteiligung, die in vielen Unternehmen ohne Betriebsräte geschaffen werden, sieht Herrigel als eine kreative Neu-interpretation des Stakeholder-Modells an: „Tatsächlich ist auch in vielen Betrieben ohne Betriebsräte die Fähigkeit von Mitarbeitern, auf verschiedenen Ebenen an innerbetrieblichen Kontrollgremien in Zusammenarbeit verschie-dener Abteilungen mitzuwirken, genauso groß wie in mitbestimmten Betrieben mit formalen Betriebsräten.“ (219) Herrigels Argument mag stimmen, dass die neuen Formen der Koope-ration von Betriebsräten und Management sowie die Schaffung alternativer Formen der Arbeitnehmerbeteiligung die Unternehmen besser befähigen, „mit dem Druck zur gleich-zeitigen Innovation und Kostenreduzierung“ umzugehen. Nicht einleuchtend ist aber für mich, diese Art der Kooperation zum Kern des deutschen Stakeholder-Modells zu erklären. Neben der Koordination des Handelns von Akteuren mit dem Ziel der Steigerung der

Wettbewerbsfähigkeit zeichnete sich das deut-sche Modell zumindest in der Vergangenheit auch dadurch aus, dass es die Unternehmen zur Ausbalancierung wirtschaftlicher Ziele und sozialer Interessen ihrer Beschäftigten verpflichtete.

Die von Gary Herrigel vorgestellte Konzepti-on des kreativen Handelns von Akteuren in der Industrie kann durch eine stärkere Ausrichtung auf Interessenkonflikte und Widersprüche an Überzeugungskraft gewinnen. Aber auch in der vorliegenden Form ist “Manufacturing Possibilities” eine lesenswerte Kritik der VoC-Theorie.

Gary Herrigel: Manufacturing Possi-bilities. Creative Action and Industrial Recomposition in the United States, Germany, and Japan. Oxford: Oxford University Press, 2010, 279 Seiten

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Im März 1960 blickte die Ausgabe des Ko-mikheftes „Mosaik“ auf die kommenden Sommerfreuden. Das Titelbild zeigt eine Sze-ne auf einem Campingplatz mit Badestrand. Die Szene scheint an sich nichts Besonderes darzustellen, wären da nicht eine Unmenge kleiner Sternchen, die die diversen Gegenstände kennzeichnen. Es handelt sich bei diesen um Schwimmringe, Luftmatratzen, Campingge-schirr, Federballschläger, Angeleimer, Schall-platten usw. Der Text auf dem Titel erläutert: „Daran könnt ihr sehen, welche große Rolle die Kunststoffe in unserem Leben spielen.“ Die Abbildung findet sich in Eli Rubens Monogra-phie “Synthetic Socialism” (146), die sich mit dem Zusammenhang von Diktatur und Plastik in der DDR auseinandersetzt und damit einen differenzierten Blick hinter die beschriebene Kulisse erlaubt.

Rubins Studie situiert sich im Schnittfeld der Geschichte und Kultur der DDR, denn der Autor setzt sich nicht nur mit der Produktion von Plastik, sondern auch dessen Bedeutung für den Alltag auseinander. Anhand dieses umfassenden Zugriffs wird deutlich, dass sich der an der University of Wisconsin lehrende Historiker von verschiedenen Positionen abgrenzt (3ff.). Dazu zählt beispielsweise die Reduktion der DDR auf ihren repressiven Charakter. Aber auch solchen Positionen, die das Totalitarismus-Paradigma überwunden haben, steht Rubin kritisch gegenüber. So teilt er nicht die Ansicht, dass das System der DDR nur funktionierte, weil verschiedene soziale Gruppen es an ihre Bedürfnisse anpassten (Mary Fulbrook). Eher scheint Rubin aus den Forschungen der Alltagsgeschichte (z.B. Alf

Eli Rubin: Synthetic Socialism:

Plastics and Dictatorship in the German Democratic RepublicRezensiert von Robert Stock

Lüdtke) Inspiration zu ziehen, die die Grenzen der staatlichen Macht im Rahmen alltäglicher Praktiken untersuchen. So argumentiert Rubin, dass die ostdeutsche Gesellschaft ein „ganz einzigartiger Zusammenhang von bottom-up und externen Einflüssen, von ökonomischen Bedingungen, bereits bestehenden Auffas-sungen hinsichtlich Ästhetik, Geschlecht und materiellen Werten sowie dem zentralisieren-den Impuls der DDR-Planwirtschaft war“ (8). Um diese These darzustellen, bezieht Rubin unterschiedliche Ebenen in seine Analyse ein: die chemische Industrie, den Wohnungsbau, das Design und der Konsum der aus Plastik gefertigten Gebrauchsgegenstände sowie deren Bedeutung für das Alltagsleben der Menschen in der DDR.

Im ersten Kapitel geht Rubin der Bedeutung des Jahres 1958 nach: Der V. Parteitag der SED erklärte die Erhöhung des Lebensstandards, d.h. die Versorgung der Bevölkerung mit Kon-sumgütern zur Hauptaufgabe, die den Ausbau der Industrie einschloss und darauf abzielte, den Pro-Kopf Verbrauch der Bundesrepublik bei Konsumgütern bis 1961 zu übertreffen. Dies betraf auch den Verbrauch chemischer Erzeugnisse. Im Anschluss an den Parteitag wurde folglich auf der Chemie-Konferenz, organisiert vom ZK der SED und der Staat-lichen Planungskommission im November 1958, die Modernisierung und der Ausbau der chemischen Industrie beschlossen.

Der Siegeszug des Plastiks und vor allem des funktionalen Designs ist Thema des zweiten Kapitels. Hier beschreibt Rubin, wie sich modernes Design für Möbel im Zeitraum 1945–1962 durchsetzen konnte – trotz der Kampagnen gegen den Formalismus und kri-tischer Positionen aus den Reihen linienkon-former Journalisten des „Neuen Deutschland“, die den modernen Möbeln einen Mangel an Kultur und einen kalten Funktionalismus bescheinigten (45, 61).

Sehr wichtig war in diesem Zusammenhang die Entscheidung zur besseren, schnelleren und billigeren Schaffung von Wohnraum, die auf der Bau-Konferenz 1955 in Moskau be-schlossen wurde. Rubin geht darauf im dritten Kapitel ein. Davon ausgehend erläutert er, wie der neu geschaffene Wohnraum in Plattenbau-

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Siedlungen begann, sich mit seriell produzierten Möbeln zu füllen. Eines der charakteristischen Elemente war dabei die Schrankwand, mit der sich „sowohl in der Möbelindustrie als auch im Wohn- und Lebensstil eine neue, moderne Ära“ (94) ankündigte. Materialien wie Polyethylene, Polyester oder Sprelacart fanden für Bestandteile von Tischen, Stühlen oder Furniernachbildungen bei Schränken etc. Verwendung. Solche Möbel, Geschirr usw. zogen auch im Küchenbereich ein und hatten Auswirkungen auf das Leben der Frauen, deren Hausarbeit und Freizeitaktivitäten nun Ziel staatlicher Untersuchungen und Kampagnen wurden, die u.a. auf Rationalisierung – auch durch den Einsatz von Plastik – abzielten.

Im folgenden Kapitel spürt Rubin dem Einzug des Plastiks in die Alltagswelt der Ostdeutschen nach. Texte, die in Zeitschriften für Erwachsene, Kinder oder Jugendliche die Vorteile und den Nutzen des Materials erklär-ten, „glorifizierten schlichtweg die Produktion von Plastik, indem sie die bekannten Ziele des Chemie-Programms wiederholten und Plastik-Produkte einzelner Betriebe präsentierten“ (137). Gerade die Langlebigkeit der Produkte wurde dabei – im Gegensatz zur kapitalistischen ‚Wegwerfmentalität’ – herausgestellt. Diese Distinktion schlug sich auch in der Sprache selbst nieder: Während das ostdeutsche Wort „Plaste“ dem Russischen entlehnt wurde und durch Werbetafeln wie „Plaste und Elaste aus Schkopau“ Verbreitung fand, verbreitete sich in der Bundesrepublik eher die Bezeichnung Plastik (vom englischen Wort plastics), die sich dort mit der Konnotation eines ‚Billigstoffs’ verknüpfte.1 Dass die Produkte aus Plaste in der DDR jedoch nicht immer das hielten, was sie versprachen, zeigt Rubin anhand von Eingaben an das Ministerium für chemische Industrie (217) im fünften Kapitel des Buches.

Ausgehend von einer breiten Materialbasis schildert Rubin überzeugend „eine distinkte ostdeutsche Gesellschaft“ (7) im Spannungsfeld von Herrschaft, Wirtschaft, Alltag und dem Material Plastik. Interne Spannungen kommen dabei allerdings nur am Rande zur Sprache. So etwa der Fall von Angela K., die „eine bewus-ste Entscheidung traf, Plastikgegenstände aus ihrer Wohnung auszuschließen“ (221). Dieser

gewählte Lebensstil – eine Art inneres Exil – wurde auch von Mitarbeitern der Staatssi-cherheit bemerkt, die als getarnte IM Zugang zur Wohnung der Befragten hatten. Dies stellte sich nach 1989 heraus, als die Befragte Einsicht in ihre Stasi-Akte nahm. Solche Fälle sowie Strategien subkultureller Gruppierungen im Hinblick auf die Gestaltung des alltäglichen Lebensumfeldes durch das Material Plastik hätten in der vorwiegend auf den Mainstream gerichteten Studie eingehender berücksichtigt werden können.2

Die auf dem oben angesprochenen „Mo-saik“-Titel dargestellten Objekte sind heute wohl kaum noch in unserer alltäglichen Umgebung präsent. Umso mehr haben aber beispielsweise Eierbecher oder andere Objekte auf Flohmärkten und anderswo einen Status als begehrte Sammler- oder Liebhaberstücke erlangt. Ob dies ein Zeichen von Ostalgie war oder ist, soll an dieser Stelle nicht weiter dis-kutiert werden. Dass sich mit einem solchen Objekt aber komplexe historische Umstände verbinden, die auf unterschiedliche Art auch bis in die Zeit nach 1989 weiterwirken, das zeigt die Studie von Rubin auf sehr anschau-liche Weise.

Bei seiner Forschung wurde Rubin unter anderem von Andreas Ludwig und dem „Doku-mentationszentrum Alltagskultur der DDR“ in Eisenhüttenstadt unterstützt.3 Insofern macht das Buch ebenfalls neugierig, diesem Ort ei-nen Besuch abzustatten. Schließlich liegt die einstige Stalin-Stadt nur eine kurze Zugstrecke von Berlin entfernt und das dortige Museum eröffnet interessante Perspektiven auf wichtige Aspekte der ostdeutschen Alltags-Geschichte, die in dieser Art wohl nicht vom „DDR Muse-um“ in Berlin-Mitte behandelt werden.4

Anmerkungen

1 Vgl. Schroeter, Sabina: Die Sprache der DDR im Spiegel ihrer Literatur. Studien zum DDR-typi-schen Wortschatz, Berlin u.a. 1994, 60, 133.

2 In der Ausstellung „Parteidiktatur und Alltag in der DDR“ des Deutschen Historischen Museums waren zum Beispiel ein Oberteil und ein Rock zu sehen, die von der alternativen Modegruppe ccd hergestellt worden waren. Diese hatte sich Mitte

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der 1980er Jahre im Prenzlauer Berg gegründet. Die Kleidungsstücke gehörten zur „Folien-Kollek-tion“ und waren aus Resten von Duschvorhängen, medizinischen Eingeweidetüten und Folien für Erdbeerpflanzungen gestaltet worden. Vgl. die Abbildung im Ausstellungskatalog: Falkenberg, Regine (Hg.): Parteidiktatur und Alltag in der DDR. Aus den Sammlungen des Deutschen His-torischen Museums, Berlin: DHM 2007, 199.

3 Informationen zum Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt finden sich unter: http://www.alltagskultur-ddr.de/pages/home.html (Zugriff: 13.07.2011). Dort findet sich auch eine Rubrik „50 Jahre Chemiekonferenz – Plastik im Alltag der DDR“. Siehe auch die Beiträge in Ludwig, Andreas (Hg.): Fortschritt, Norm und Eigensinn. Erkundungen im Alltag der DDR, Berlin: Ch. Links 1999.

4 Vgl. die Internetseite dieser Einrichtung mit In-formationen zur Ausstellung und dem Konzept „Geschichte zum Anfassen“: http://www.ddr-mu-seum.de/de/ausstellung/ (Zugriff: 13.07.2011).

Eli Rubin: Synthetic Socialism: Plas-tics and Dictatorship in the German Democratic Republic, Chapel Hill: University of North Carolina Press, 2008, 286 Seiten.

Peter Krause, Ilona Ostner (Hg.):

Leben in Ost- und WestdeutschlandEine sozialwissenschaftliche Bilanz der deutschen Einheit 1990–2010

Rezensiert von Raj Kollmorgen

Das Jahr 2010 war Anlass für vielfältige Bi-lanzierungen der deutschen Vereinigung (vgl. die Sammelbesprechung von Koch 2011). Der rezensierte Band ordnet sich hier ein – wie der Untertitel unmissverständlich anzeigt – und unternimmt einen voluminösen Versuch aus sozialwissenschaftlicher Perspektive zu bilanzieren. Schon die Anzahl der AutorInnen (insgesamt 68), der Beiträge (38) sowie der Umfang des Buches (knapp 800 Seiten) sind Respekt erheischend und lassen erahnen, welcher editorische Aufwand hinter diesem Projekt gesteckt haben muss.

Der Band soll – so formulieren die beiden Herausgeber – „die Entwicklung der Lebensbe-dingungen in beiden Landesteilen seit der Ver-einigung“ thematisieren und „in wesentlichen Teilen komparativ empirisch (mit SOEP-Daten1 und anderen) angelegt sein“ (12). Das erfolgt in vier Kapiteln. Nach der Einleitung werden im ersten Kapitel „Einleitung und Bilanzierung“ vier Überblicksartikel zu den Themen Lebens-verläufe, Transformation und Einkommen, Gerechtigkeitsvorstellungen sowie Psychologie der Wiedervereinigung angeboten. Das zweite Kapitel „Stadien im Lebensverlauf“ umfasst insgesamt 16 Beiträge, die sich in fünf Blöcken mit spezifischen Lebensphasen und ihren sozialen und sozialpolitischen Problemlagen beschäftigen: Lebensbeginn, Kindheit und Jugend; Erwachsenwerden – Partnerschaft und Mating; Lebensmitte – Arbeitsmarkt und berufliche Integration; Übergänge in den Ruhestand; Altern und Lebensende. Das dritte Kapitel „Lebensbedingungen im Lebensverlauf“ befasst sich in ebenfalls 16 Beiträgen mit vier lebenslaufübergreifenden Querschnittsthemen:

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Lebensstandard und soziale Inklusion; Soziale Integration und politische Beteiligung; Gesund-heit, Wohnen und regionale Differenzierung; Lebensqualität, Zufriedenheit und Sorgen. Das vierte Kapitel stellt abschließend wichtige Datenquellen im Analysekontext vor.

Bereits diese inhaltliche Übersicht fordert einen zweifachen Kommentar heraus. Zum einen bleibt es unverständlich, warum die HerausgeberInnen die deutsch-deutschen „Le-bensbedingungen“ als Gegenstand des Bandes bestimmt haben, wo doch mit Lebensverläufen sowie Einstellungen und Zufriedenheiten auch zentrale subjektive Momente der Sozialstruk-tur- und Ungleichheitsentwicklung breit be-handelt werden. Zum anderen und umgekehrt suggerieren Haupt- und Untertitel des Bandes (sowie der Umfang) einen analytischen Rahmen und eine empirische Breite, die keineswegs eingeholt werden. Es fällt schnell auf, was an „Lebens“-Aspekten alles nicht thematisiert wird. Das reicht von den politischen und rechtlichen Institutionen und Entscheidungsprozessen über die makroökonomischen Rahmenbedingungen bis zum (im weitesten Sinne) „kulturellen Le-ben“. Selbst wenn man akzeptiert, dass sich die Publikation auf die Sozialstruktur- und soziale Ungleichheitsforschung konzentriert, fehlen dem Band mindestens Beiträge zu drei essen-tiellen Forschungsbereichen. Weder gibt es eine konzentrierte Analyse subjektiver Lebensweisen im Ost-West-Vergleich, d.h. Untersuchungen zu den Gestaltungen und Verteilungen von Lebensführungsmustern, sozialen Milieus und Lebensstilen (selbst Lebensformen werden lediglich selektiv betrachtet), noch findet sich im Band eine zusammenfassende Problema-tisierung der Dynamik und Verteilung von sozialen Statuspositionen in und zwischen Ost und West (Teilaspekte werden in den Beiträgen von Mayer/Solga, 39ff., oder Andreß/Chris-toph/Lietzmann, 513ff., diskutiert). Schließlich vermisst man eine übergreifende Sozialstruktur- und Ungleichheitsmodellierung, einschließlich der Diskussion von Formierungsprozessen und wechselseitigen Verhältnissen sozialintegrierter (Groß-)Gruppen, für und zwischen Ost- und Westdeutschland sowie in gesamtdeutscher Perspektive. Man erfährt also nichts zum Problem einer (neuen?) deutschen Klassen-

gesellschaftlichkeit, zum gesellschaftlichen Gefüge sozial-moralischer oder soziokultureller Milieus oder zur Dynamik überwölbender Individualisierungsprozesse. Ebenso wenig wird thematisiert, ob – und, wenn ja, welche – die einzelnen Dimensionen und Indikatoren übergreifende Ungleichheitsrelation zwischen Ost- und Westdeutschen existiert bzw. sich seit 1990 entwickelt hat. Handelt es sich um ein Zentrum-Peripherie-Verhältnis? Besitzt es Aspekte eines Klassenverhältnisses, bilden Etablierten-Außenseiter-Beziehungen oder quasi-ethnische Abgrenzungen den Kern der Ungleichheitsrelation?2

Fragt man nach den Gründen für diese ange-sichts des umfangreichen Projekts, der aktuellen Debatten in der Sozialstrukturforschung und im politischen Raum erstaunlichen Defizite, liegt ein wesentlicher auf der Hand: Das Buch verdankt sich offenbar einem Forschungszu-sammenhang, der material und methodisch um das SOEP organisiert ist sowie theoretisch-konzeptuell auf der lebensverlaufsorientierten Sozialstruktur- und Ungleichheitsforschung basiert. Zwar besitzt dieser Fokus erhebliche Vorteile, etwa die Vergleichbarkeit der Daten in und zwischen den Feldern und Lebensphasen, die Langzeitbeobachtung individueller Verläufe und generell eine Prozessorientierung. Ob diese aber die angesprochenen Leerstellen und Nachteile aufwiegen, müssen die LeserInnen entscheiden. In jedem Fall stellt sich die Frage, ob dem Werk nicht eine konzeptuelle Öffnung, also Hereinnahme alternativer Perspektiven und komplementärer empirischer Befunde gut getan hätte. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass es zwischen den Kapiteln II und III verschiedentlich zu inhaltlichen Redundanzen und Doppelanalysen kommt. Diese sind nicht immer von Nachteil; zuwei-len erscheinen aber Mehrfachbehandlungen oder auseinandergezogene Analysen zu einer Lebenszyklus-Gruppe (wie bei den Alten) oder einem Problemfeld (wie Armut) überflüssig oder fordern von der Leserschaft zusätzliche Syntheseleistungen.

Dennoch sind Breite und Qualität der durchweg anspruchsvollen und um das Le-bensverlaufsmodell gruppierten empirischen Analysen hervorzuheben. Die jeweils klaren

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Fragestellungen, präsentierten Daten und In-terpretationen, die sich in den Kapiteln II und III grundsätzlich auf den gesamten Beobach-tungszeitraum (1990–2006/2008) erstrecken, Alterskohorten und/oder Lebensphasen, Geschlechter und Regionen differenzieren und je nach Fragestellung weitere soziodemo-graphische Merkmale und sozioökonomische Lagen auszeichnen – die Texte betreiben im besten Sinne soziologische Aufklärung. Sie unterstreichen, dass die Beschäftigung mit der ost-westdeutschen Differenzierungs- und in Teilen sozialen Spaltungslinie in unserer Gesell-schaft kein überholtes und gesellschaftspolitisch irrelevantes Unterfangen ist. An drei Themen und damit verbundenen Problemkomplexen soll das exemplarisch verdeutlicht werden.

(1) Hinsichtlich der Vermögensentwicklung und –verteilung kommt der Beitrag von Frick und Grabka (493-511) zu dem Ergebnis, dass sich der Abstand zwischen Ost- und West-deutschen in den letzten zwanzig Jahren nur langsam verringert hat und seit dem neuen Jahrtausend sogar „zum Erliegen“ gekommen ist: „Gemessen am Pro-Kopf-Nettovermögen erreichen Erwachsene in Ostdeutschland in 2007 mit etwas mehr als 32.000 Euro nur knapp ein Drittel des westdeutschen Niveaus“ (509). Wie die Autoren zu Recht festhalten, wird sich dieser Abstand auch in den kommenden Jahren angesichts der absehbaren Entwicklungen der Immobilienpreise, der Erwerbstätigenquoten und der Einkommen in Ostdeutschland sowie infolge der im wesentlichen „intraregionalen“ Vermögensübertragungen auf dem Wege von Erbschaften und Schenkungen nicht grund-legend ändern (können) (ibid.). Mit diesem Befund, der andere Berechnungen deutlich nach unten korrigiert3, wird erkennbar, dass sich die deutsch-deutsche Ungleichheit in einer zentralen Dimension keineswegs rasch und kontinuierlich abbaut. Vielmehr muss hier und an anderen Stellen von Verfestigungstendenzen gesprochen werden (vgl. auch die Analysen zum Einkommen durch Krause/Ostner, 27ff.; Hauser, 57ff.; Giesecke/Verwiebe, 247ff.; Frommert/Himmelreicher, 347ff.; Goebel/Habich/Krause, 463ff.; Andreß/Christoph/Lietzmann, 513ff.).

(2) Diese Problemlage wird durch die

Untersuchungen zur Altersarmut in Ost und West bestätigt. Auch wenn hier wie in anderen Lebensphasen die regionalen Streuungen und vertikalen Ungleichheiten in Ost und West in den letzten Jahren zugenommen haben. Die generell geringeren Einkommen (Löhne) im Osten Deutschlands (zur Zeit etwa 20% unter dem westdeutschen Niveau), die höhe-ren Arbeitslosenraten und fragmentierteren Erwerbsbiographien der heute im Osten das Rentenalter Erreichenden sowie der (gegenüber Westdeutschland) deutlich höhere Anteil ost-deutscher Neurentner, der sich allein auf Bezüge aus der gesetzlichen Rentenversicherung stützt (ca. 90%), lassen die Armutsrisiken alter Men-schen in den neuen Ländern und insbesondere im Bereich der unteren Einkommensklassen erheblich stärker wachsen als in den alten. Hier liegt ein sozialpolitischer Sprengstoff verborgen, der in den kommenden Jahren immer stärker zutage treten wird (Frommert/Himmelreicher, 365/366; vgl. auch die anderen Beiträge in den Teilkapiteln „Übergänge in den Ruhestand“ sowie „Altern und Lebensende“, 331-444).

(3) Wendet man den Blick auf die Kindheits- und Jugendphase (Konietzka/Kreyenfeld, 123ff.; Schreiber, 145ff.; Keller/Marten, 161ff.), ist von ambivalenten Befunden zu berichten. Einerseits fanden in den letzten zwanzig Jahren sowohl in den Lebensbedingungen wie in wichtigen Einstellungen wechselseitige Angleichungspro-zesse zwischen Ost und West statt, zum Teil wurden sogar die Plätze getauscht. Das betrifft etwa die Anteile von Familienhaushalten mit zwei Kindern. Im Osten gab es davon Anfang der 1990er Jahre 20%, heute (2005-2009) nur noch 9%. Der Anteil im Westen der Republik blieb demgegenüber im gleichen Zeitraum (1990–2009) mit 15% praktisch konstant (Krause/Ostner, 23). Andererseits haben sich selbst in so dynamischen Strukturdimensionen wie den Lebens- und Familienformen oder Erwerbstätigkeitsmustern der Eltern deutliche Differenzen erhalten. Während z.B. 1996 in den neuen Ländern 17,7% aller Familien mit Kindern solche von Alleinerziehenden waren, erhöhte sich deren Anteil im Jahr 2007 auf 25,7%, d.h. auf über ein Viertel aller Familien. In den alten Ländern stieg der Anteil dieser Familienform zwar zwischen 1996 und 2007 von 12,6% auf

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16,7%. Damit blieb der Abstand zwischen Ost und West jedoch erhalten (Schreiber, 149). Hartnäckige Unterschiede fallen auch bei den Erwerbstätigkeitsmustern von Eltern auf. So lebten 2005 von den 18- bis 55-jährigen Frau-en mit mindestens einem Kind in den neuen Ländern 29% in Haushalten, in denen beide Elternteile vollzeit-erwerbstätig waren. Bei 11% waren der Mann vollzeit-erwerbstätig und die Frau nicht erwerbstätig. Im Westen der Republik betrugen die beiden Werte 14% und 30% (Konietzka/Kreyenfeld, 133). Dass dies mit den Infrastrukturen und der tatsäch-lichen Inanspruchnahme der Kinderbetreuung gerade der Unter-Dreijährigen korrespondiert, ist evident und hinlänglich bekannt. 2009 besuchten in Ostdeutschland 41,3% dieser Altersgruppe eine Tageseinrichtung, aber nur 12% in Westdeutschland.

Blickt man auf die Erwerbstätigkeits- und Karrierechancen junger Menschen in beiden Teilen Deutschlands, so schlagen die bereits angesprochenen Verfestigungen wichtiger sozioökonomischer und sozialstruktureller Ungleichheitsrelationen auch auf die Chancen und Risiken der Jugendlichen im Lebens-verlauf durch. Zwar gibt es im Buch keinen gesonderten Aufsatz zu dieser zentralen Ungleichheitsdimension, die wenigen und zudem verstreuten Befunde lassen aber den Schluss zu, dass jedenfalls zwischen 1990 und mindestens 2005 ostdeutsche Jugendliche im Durchschnitt signifikant schlechtere objektive Chancen besaßen, was sie auch subjektiv re-flektierten. Aus einer Analyse der SOEP-Daten für den Jahrgang 1971 wird erkennbar, dass ostdeutsche Jugendliche Mitte der 1990er Jahre (also im Alter von 25 Jahren) nicht nur erheblich häufiger erwerbslos waren als ihre westdeutschen AltersgenossInnen (ca. 50% gegenüber ca. 15%). Auch die Anforderun-gen an berufliche und territoriale Mobilität waren deutlich größer. So waren etwa 20% der damals 25-jährigen Männer und 25% der 25-jährigen Frauen aus Ostdeutschland in den alten Bundesländern erwerbstätig. Erweitert man den Zeitraum bis 2005, so machten 66% aller Ostdeutschen des Jahrgangs 1971 bereits Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit; im Westen betrug der Anteil „nur“ 33% (Mayer/Solga,

49/50). Die aktuellsten Zahlen (2005-2009) unterstreichen die Ungleichheiten. Aus der Altersgruppe der im genannten Zeitraum 20- bis 34-Jährigen waren im Westen fast 44% als abhängige Vollzeitbeschäftigte erwerbstätig; im Osten betrug der Anteil knapp über 38%. Dafür waren 3,6% im Osten selbständig erwerbstätig, im Westen 2,5%. Der Anteil der Arbeitslosen betrug im Westen 6,9%, im Osten 14%, also das Doppelte (Krause/Ostner, 25).

Die Berufsorientierungen der heutigen Jugendlichen spiegeln diese unterschiedlichen und ungleichen Lagen, da sich jedenfalls in der Summation des Zeitraums 2000-2008 bei den im Durchschnitt 17-jährigen Befragten (des SOEP) eine signifikante Differenz zeigt: Für die westdeutschen Jugendlichen war der berufliche Erfolg zwar annähernd so wichtig wie für die Ostdeutschen (dabei im Zeitverlauf im Westen zunehmend); sie sahen aber eine signifikant höhere (wenn auch im Zeitverlauf abnehmende) Wahrscheinlichkeit, dass sich dieser Erfolg auch tatsächlich einstellt. Mit anderen Worten, die ostdeutschen Jugendlichen sind skeptischer, was ihre beruflichen Erfolgs-aussichten betrifft (Keller/Marten, 161ff., hier: 174-179). Die im Durchschnitt schlechteren sozioökonomischen Bedingungen im Osten und die subjektiv skeptischere Haltung der ostdeutschen Jugendlichen werden für die realen Karrierechancen und vertikalen sozialen Mobilitäten kaum folgenlos bleiben.

Auf eine streitbare Interpretationsfolie vieler Beiträge sei abschließend noch aufmerksam gemacht. Krause und Ostner stellen in der teilweise zusammenfassenden Einleitung fest: „Damit wird bereits ein Ergebnis vieler Bilanzierungen des Bandes deutlich: dass Kompositionseffekte, hier sozialstrukturelle Merkmale wie das Bildungsniveau, häufiger (deutsch-deutsche – R.K.) Unterschiede erklären als tradierte Einstellungen“ (27, siehe auch 33 und passim). Diese Aussage gerät jedenfalls dann zu einem eigentümlichen Prisma, wenn damit die sozialen Ungleichheiten zwischen Ost und West gleichsam temperiert und tem-poralisiert werden sollen in der Art: Hätten wir in Ostdeutschland ähnliche Anteile einer gebildeten Oberklasse und gut verdienender

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147Besprechungen und Rezensionen

Mittelschichten wie im Westen, lösten sich die sozialen Ungleichheiten und kulturellen Unterschiede weitgehend in Wohlgefallen auf. Der Springpunkt und die Dramatik be-stehen doch gerade in diesen sich jedenfalls in wichtigen Dimensionen verfestigenden sozialstrukturellen Differenzen, wenn nicht Spaltungen. Ostdeutschland ist nicht allein und heute wahrscheinlich nicht einmal mehr in erster Linie deshalb Ostdeutschland, weil es eine („mentale“) DDR-Erbschaft gibt. Vielmehr wird Ostdeutschland sozialstrukturell, sozio-ökonomisch und sozio-politisch als inferiore Teilgesellschaft der Bundesrepublik (re)pro-duziert, d.h. die gegenüber Westdeutschland differenten „Kompositionen“ der ostdeutschen Gesellschaft sind nicht (nur) ein Erklärungs-faktor, sondern selbst das Problem.

Damit landet man erneut bei den oben angesprochenen inhaltlichen Leerstellen und konzeptionellen Defiziten des Werkes. Das soll und kann aber seine Leistungen nicht schmä-lern. Ohne Zweifel liefern die Autorinnen und Autoren für die zukünftige wissenschaftliche und politische Debatte der deutsch-deutschen Lebensverhältnisse und Einstellungen viel Stoff sowie Erklärungsangebote. Insofern dürfte der Band sicher ein Standardwerk für die deutsch-deutsche und namentlich lebensverlaufsorientierte Sozialstruktur- und Ungleichheitsforschung in den kommenden Jahren werden.

Anmerkungen

1 Das „Sozio-oekonomische Panel“ (SOEP) ist eine repräsentative Längsschnitterhebung, die seit 1984 in der Bundesrepublik jährlich bei denselben Personen und Haushalten realisiert wird. Im Juni 1990 erfolgt eine erste Erhebung in der DDR. Seit 1991 wird das SOEP als gesamtdeutsche Erhe-bung durchgeführt, die etwa 12.000 Haushalte umfasst.

2 Zu diesem Fragenkomplex sind lesenswert: Geißler 2011; Howard 1995; Neckel 1997; Rehberg 2006; Vester 2001.

3 Während viele Forscher zwischen 1996-2005 davon ausgingen, dass sich der Anteil des ostdeutschen Netto-Geldvermögens im Bereich von 30% bis 40% des westdeutschen Durchschnittswertes bewegt (vgl. die Nachweise bei Kollmorgen 2005: 196, 204), verstieg sich Klaus Schroeder 2010 zu

der These, dass – unter Einbezug der „kapitali-sierten (Vermögens-)Ansprüche“, namentlich aus den gesetzlichen Rentenversicherung (vgl. die Befunde des hier besprochenen Bandes zu diesen Ansprüchen und ihren Entwicklungs-tendenzen) – die Ostdeutschen „im Jahre 2002 – überschlägig geschätzt – zwischen 70% und 80% des westdeutschen Vermögensniveaus erreicht haben“ (Schroeder 2010: 64).

Literatur

Geißler, Rainer (2011): Die Sozialstruktur Deutsch-lands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz zur Vereinigung. Mit einem Beitrag von Thomas Meyer. Wiesbaden: VS Verlag.

Howard, Marc (1995): Ostdeutsche als ethnische Gruppe? In: Berliner Debatte Initial, 6. Jg. (4/5): 119-131.

Koch, Frank Thomas (2011): Bilanzen der deutschen Einheit und die Wiederkehr von Visionen der Gesellschaftsveränderung. In: Berliner Debatte Initial, 22. Jg. (1): 135-160.

Kollmorgen, Raj (2005): Ostdeutschland. Beobach-tungen einer Übergangs- und Teilgesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag.

Neckel, Sighart (1997): Etablierte und Außenseiter und das vereinigte Deutschland. In: Berliner Journal für Soziologie, 7. Jg. (2): 205-215.

Rehberg, Karl-Siegbert (2006): Ost-West. In: Lessenich, Stephan/Nullmeier, Frank (Hg./2006): Deutsch-land – eine gespaltene Gesellschaft: Frankfurt/New York: Campus: 209-233.

Schroeder, Klaus (2010): Ostdeutschland 20 Jahre nach dem Mauerfall – eine Wohlstandsbilanz. Gutachten für die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Berlin (abrufbar unter: http://www.insm.de/insm/Publikationen/INSM-Studien/Wohlstandsbilanz-2010.html; Zugriff am 09.08.2011).

Vester, Michael (2001): Milieus und soziale Ge-rechtigkeit. In: Korte, K-R./Weidenfeld, W. (Hg.): Deutschland-TrendBuch. Opladen: Leske+Budrich: 136-183.

Peter Krause/Ilona Ostner (Hg.): Leben in Ost- und Westdeutschland. Eine sozialwissenschaftliche Bilanz der deutschen Einheit 1990–2010. Frankfurt/New York, Campus Verlag, 2010, 796 Seiten.

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Nach einer Pause von sieben Jahren findet die Edition des Briefwechsels Eduard Bernsteins mit Karl Kautsky endlich ihre Fortsetzung. Die 2003 von Till Schelz-Brandenburg unter Mitar-beit von Susanne Thurn herausgegebenen zwei Teilbände (Quellen und Studien zur Sozialge-schichte. Herausgegeben vom Internationalen Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam; Bd. 19) enthielten die Korrespondenz vom 15. Oktober 1895 bis 19. Januar 1905, insgesamt 309 Briefe. Der außergewöhnlich intensive Briefwechsel, „für die Kernzeit im Mittel mehr als fünf Schreiben pro Monat“, bricht zwischen 1900 und 1912 quasi ab (2011, IX) für diesen Zeitraum sind elf Korrespondenzen, darunter vier Briefe, nachweisbar – auf die Gründe, insbesondere die Revisionismusdebatte, wird in den Einleitungen zu den Ausgaben 2003 und 2011 ausführlich eingegangen.

„Die ab Ende 1912 zögerlich wieder ein-setzenden Schreiben kennzeichnet ein kurz angebundener und geschäftlicher Ton, ihr Inhalt betraf lediglich einige Modalitäten für einen Beitrag Bernsteins zur Parteigeschichte in der Neuen Zeit. Bis zum Sommer 1913 hatte sich das Verhältnis zwischen beiden wieder soweit verbessert, dass Bernstein seine Einlei-tungen zu den Marx-Engels-Briefbänden, die er gemeinsam mit Bebel herausgab, Kautsky zur Vorablektüre sandte. […] im Sommer 1915 erstmals nach 15 Jahren“ fand Bernstein zur „alten intimen Anrede ‚lieber Baron’ zurück“. (2011, IX)

Wie die Herausgeber der ersten zwei Halbbände in der Einleitung (2003, IX) zu recht betonen, sind im Dickicht dieses Brief-konvoluts mehr Hinweise auf „ganz subjektive

Eva Bettina Görtz (Hg.):

Eduard Bernsteins Briefwechsel mit Karl Kautsky (1912 – 1932) Besprochen von Wladislaw Hedeler

Sichtweisen, Befindlichkeiten, Motive und Probleme“ zu finden, als programmatische Aussagen über die großen, für die Geschichte Europas und der Arbeiterbewegung wichtigen Ereignisse. Im Ergebnis der Untersuchung des Briefwechsels unterbreiteten sie den Vorschlag, die Korrespondenz drei Phasen zuzuordnen. (2003, XIV-XV) Die Phase der „Kongenialität“ reicht bis Mitte Februar 1898, darauf folgt bis Oktober 1898 die Phase der Debatte, „die in der Folgezeit ihren offenen Diskurscharakter immer mehr verliert“. Der Reiz des Briefwech-sels besteht vor allem in der Möglichkeit, die miteinander streitenden Theoretiker als Indi-viduen wahrzunehmen. (2003, XVII)

Mit Blick auf den nunmehr edierten Brief-wechsel aus den Jahren 1912-1932, der 155 Schreiben umfasst, stellt die Herausgeberin fest: „Ein wesentlicher Anlass, trotz des gemein-samen Wohnorts hin und wieder die Post zu bemühen, bricht 1917 mit Kautskys Rauswurf aus der Neuen Zeit weg, entsprechend stammen die einzigen beiden Schreiben des Jahres 1918 aus Urlaubsorten. Für die historisch bedeutsa-me Phase von September 1918 bis März 1921 sind gar keine Schreiben überliefert […] der Briefwechsel bis zum Dezember 1923 bleibt extrem fragmentarisch.“ (2011, XI)

Im Abschnitt „Biographische Zäsuren 1917 und 1923/1925“ (2011, XII-XIX) skizziert die Herausgeberin jene Aspekte, die über Ausmaß und Grenzen der politischen Zusammenarbeit von Bernstein und Kautsky Aufschluss geben könnten. Erst als es zur räumlichen Trennung beider kommt, und der mündliche Verkehr, das Telefon ausgenommen, unmöglich wird, greifen beide wieder zur Feder. „Aber leider scheint es so bestimmt zu sein, daß unsere Zusammenar-beit nicht auf mündlichem Verkehr aufgebaut wird“, schrieb Kautsky am 30. Januar 1924 an Bernstein, „Als Du in Zürich warst, ging ich nach London. Als Du nach London kamst, ging ich nach Berlin, und jetzt wo wir in einem Blatt in Berlin zusammenarbeiten könnten, plane ich die Übersiedlung nach Wien.“ (119)

Zeigten die ersten zwei Halbbände die Theo-retiker als Individuen, treten nun die Ehefrauen Regina Bernstein und Luise Kautsky aus dem Schatten ihrer Ehemänner heraus. Dies her-auszuarbeiten und zu dokumentieren war Reiz

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149Besprechungen und Rezensionen

Die nachfolgend genannten Fehler in den Kommentaren zu den Russen, bei der Schreibweise der Namen, den bibliografi-schen Angaben, Funktionen und Lebensdaten sind symptomatisch. Adoratskij leitete das Marx-Engels-Lenin-Institut bis Januar 1939; Aksel’rods Erinnerungen sind unter dem Titel „Perežitoe i peredumannoe, kn. 1“ 1923 in Berlin veröffentlicht worden; Balabanova reiste 1918 nach Russland und verließ Paris 1936; Grigorij Osipovič Binštok (1884 – 19.12.1954) gehörte zu den 1921 verhafteten und 1922 ausgebür-gerten russischen Sozialdemokraten; Louis Boudin lebte von 1874 bis 1952, hinter dem Pseudonym Leon Chazanovič verbirgt sich Kasriėl Šub, der von 1882 bis 1925 lebte; Dan und seine Ehefrau wurden 1922 aus Sowjetruss-land ausgebürgert; das Geburtsjahr von Belá Fogarasi ist 1891; das von Jakob Fürstenberg 1879; David Kojgen war Professor am Lehrstuhl Philosophie und Soziologie des Kiever Instituts für Volksbildung; Kravčinskij war Narodnik; Pašukanis ist nicht 1937 verschollen, sondern am 4. September 1937 in Moskau erschossen worden; Rusanov verstarb am 28. Juli 1939 in Bern; die Dokumente, die Radeks Ermordung am 19. Mai 1939 belegen, sind schon 2005 publiziert worden.

Eva Bettina Görtz (Hg.): Eduard Bern-steins Briefwechsel mit Karl Kautsky (1912 – 1932). Eingeleitet und heraus-gegeben von Eva Bettina Görtz unter Verwendung von Vorarbeiten von Jürgen Rojahn und Tine Koldehofe. Frankfurt a. M./ New York: Campus Verlag 2011, 633 Seiten. (Quellen und Studien zur Sozialgeschichte. Heraus-gegeben vom Internationalen Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam; Bd. 22)

und Herausforderung für die Herausgeberin bei der Edition des zunehmend Monologen gleichenden Briefwechsels. (LIII) Genau ge-nommen war es Luise Kautsky, die den Kontakt zwischen dem 75jährigen Bernstein und dem über 70jährigen Kautsky aufrecht erhielt.

Auch in der Alterskorrespondenz, bemerkt die Herausgeberin, „zwischen Wien und Berlin ab Ende 1923 wird der Leser Themen vermissen [… und] andere Quellen befragen müssen“. (LIII) So gibt der neue Band auch kaum Aufschluss darüber, worüber sich Bern-stein und Kautsky bezüglich ihrer Kritik an den Bolschewiki und deren politischer Praxis verständigten. Bernstein schrieb am 10. De-zember 1925 an Kautsky: „Ich bin in diesem Augenblick der Gegenstand eines wahren Feldzugs von verlogenen Anschuldigungen aus den Reihen der Bolschewisten und ihrer mehr oder weniger offenen Schleppenträger.“ (219) Kautsky erging es nicht anders. Nachdem er 1925 mit der Broschüre „Die Internationale und Sowjetrußland“ hervorgetreten war, wurde er u. a. von Nikolaj Bucharin als „Apostel der Bourgeoisie“ angegriffen.

Aus den wenigen, aber aufschlussreichen Äußerungen über die im Briefwechsel genann-ten Vertreter der Menschewiki, insbesondere den gemeinsamen Freund Pavel Aksel’rod, die zwischen dem „Froschteich“, wie Kautsky seinen Aufenthaltsort Wien nannte, und Berlin hin und her gingen, kann darauf geschlossen werden, worüber sich beide – im Hinblick auf die Russen und die Ereignisse in Sowjetrussland bzw. der UdSSR – einig waren. Die spärlichen, Rjazanov und das von ihm geleitete Marx-Engels-Institut in Moskau betreffenden Bemerkungen sprechen Bände. Eva Bettina Görtz, die als wissenschaftli-che Mitarbeiterin bei der Arbeitsstelle der Marx-Engels-Ausgabe an der Universität Bremen tätig ist, wird sie mit besonderem Interesse gelesen haben. Leider hat sie im Kommentar und in den Registern nicht die Möglichkeit genutzt, die langjährigen Kontakte zu den Russen und deren Platz im russischen politischen sozialdemokrati-schen Spektrum, die in die Exiljahre der Russen vor 1917 zurückreichen, herauszuarbeiten. In diesem Punkt erfüllt der ansonsten exzellente Band die Anforderungen an eine akademische Edition nicht.

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Die Rezension einer Enzyklopädie ist ein ein-schüchterndes Unterfangen, dessen Resultat aus arbeitstechnischen Gründen nicht auf der Lektüre aller Artikel beruhen kann. Aus diesem Grund habe ich mich dazu entschieden, an dieser Stelle grundsätzliche Überlegungen zu Konzeption und Zielsetzung der Enzyklopädie Philosophie und allgemein zur Ordnung, Prä-sentation und Vermittlung von Wissen anzu-stellen, sowohl mit Blick auf die aufklärerische Tradition als auch die derzeit einflussreichste Enzyklopädie, Wikipedia. Dies soll als Initi-alzündung dienen, um zu einem kollektiven Rezensionsprojekt anzuregen: Der Vergleich eines Artikels der Enzyklopädie Philosophie mit Beiträgen zum gleichen Stichwort im Historischen Wörterbuch der Philosophie und Wikipedia (ggf. auch in anderen einschlägigen Nachschlagewerken) dürfte aufschlussreiche Ergebnisse zu Konzeption, Ausrichtung und Qualität dieser Nachschlagewerke gewinnen lassen.

Das Selbstverständnis der Enzyklopädie Philosophie

Wenn die „Rettung der Begriffe […] nach den Normen der Menschenrechte verantwortbare menschenmögliche Welten für morgen zu sichern“ imstande ist und einer „für die De-mokratie als Lebensform bedrohliche[n] Krise der Urteilsfähigkeit der Individuen“ entgegen-zusteuern vermag, kommt der Philosophie eine vornehme und machtvolle pädagogische Aufgabe zu. Eine solche, auf die Vernunft set-zende und aufklärerischen Idealen verpflichtete

Leistung, die sozial, politisch und kulturell wirksam sein soll, traut man philosophisch-begrifflichen Anstrengungen in der Regel seit langem nicht mehr zu. Wie kann es im 21. Jahrhundert gelingen, solch noble Ziele mit Hilfe eines Nachschlagewerks zu befördern? Die Enzyklopädie Philosophie will eine offene Pluralität von Denkstilen und Ansätzen auf Kosten systematischer Geschlossenheit bieten und experimentelles Denken präsentieren, das sich nicht aus einem einzigen Prinzip speist oder auf die eine Wahrheit zuläuft. Ohne den Anspruch auf Rationalität aufzugeben soll Philosophie durchlässig auf ihre Bezüge zu den Wissenschaften und Künsten werden sowie der Transkulturalität von Gesellschaf-ten Rechnung tragen. Daran knüpft sich der appellative Charakter dieser Enzyklopädie, deren Bekenntnis zum Pluralismus keine An-archie, kein gleichgültiges Nebeneinander von interesselosen Wissensbeständen sein will: Es geht darum, den diskursiven Raum zu öffnen für eine eigene Urteilsfindung des Lesers, dessen Aktivität sich nicht in Gelehrsamkeit erschöpfen soll. Aufgrund der Einsicht, dass Monismus, Homogenität und Universalismus totalisierende Effekte erzielen und repressiv ausgrenzen, was sich nicht auf den einen Nenner bringen oder komplikationslos inte-grieren lässt, wird eine Vielheit der Ansätze, Methoden, Wissensweisen und Denkstile aufgeboten, um die Anerkennung des Anderen zu befördern, indem es erst einmal in seinen diversen Spielarten zur Kenntnis gelangt. Basal - wenngleich implizit - ist die Annahme, dass das Verstehen fremden Sinns die Akzeptanz befördert, ohne Identifikation mit sich bringen zu müssen. Moderne Subjektivität, autonom und verantwortlich, soll Hand in Hand gehen mit Solidarität, Toleranz und Anerkennung Anderen gegenüber. An die Stelle der Gänge-lung des Lesers durch einen Prioritäten vor-gebenden Gesamtentwurf in metaphysischer Abstraktion von lebensweltlicher Relevanz soll die Erfahrung des Einzelnen und Besonderen in seinen Bezügen zu philosophischen wie nichtphilosophischen Wissensformen zur Geltung kommen. Das in der Einleitung von Herausgeber Hans Jörg Sandkühler genutzte Adjektiv „epistemisch-ethisch“ schließt tradi-

Hans-Jörg Sandkühler (Hg.):

Enzyklopädie Philosophie, zweite, überarbeitete und erweiterte Ausgabe 2010Rezensiert von Mariele Nientied

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151Besprechungen und Rezensionen

tionell separierte philosophische Disziplinen kurz und enthält (implizit) eine neue Fassung des naturalistischen Fehlschlusses: Wenn aus erkenntnistheoretischen Gründen das Kons-tatieren eines Seins an sich nicht zu leisten ist, ist der Schluss auf ein Sollen ein naheliegender nächste Schritt: Wie soll man damit umgehen, dass man keine vernünftig herleitbare um-fassende Systematik allen Wissens wie in der Enzyklopädie Hegels unterstellen kann? Was ist zu tun angesichts der vielen verschiedenen, teils fremd bleibenden Weltsichten und Ansät-ze? Diese Situation zu reflektieren schult die Urteilsfähigkeit, insofern eine Vielfalt möglicher Verständnisse von Sein, Welt und Wirklichkeit jeweils spezifische Forderungen nahelegen. Mit dem Ziel der Enzyklopädie, dieser Vielfalt Raum zu gewähren, ohne zu hierarchisieren und sie von dem einen Prinzip beherrschen zu wollen, will sie das epistemische Pendant zur Demokratie in der Gesellschaft sein. Sie bekennt sich zu den Zielen der UNESCO und will dazu beitragen, Frieden, Menschenwürde, Gerechtigkeit und Demokratie zu befördern.

Das Erbe der Encyclopédie

Diese Programmatik knüpft in ihrem Anliegen und Genre dezidiert an die Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (Paris 1751-1777) von Diderot, d’Alembert, Voltaire u.a. an. Mit dem Vorhaben der Encyclopédistes teilt sie das Ziel, nicht nur die Bildung, sondern auch die Toleranz und Tugend ihrer Leser befördern zu wollen, die Berufung auf die Vernunft unter Verzicht auf eine theologisch oder metaphysisch begründete Ordnung sowie die Lösung der Philosophie aus der disziplinären Beschränkung mit Blick auf die Kooperation mit anderen Wissenschaften und den Künsten. Anders als zu Zeiten der Aufklärung erregt dieses Anliegen heutzutage weder den Unmut des Souveräns noch den des Klerus, auch die Zensur ist nicht mehr zu fürchten. Im 18. Jahrhundert sorgte der ideo-logische Sprengstoff, wie er sich spätestens in der Französischen Revolution in politischer Aktion niederschlug, nicht nur während des Erscheinens der einzelnen Bände für Krisen

und den Entzug des Druckprivilegs, sondern bescherte beachtliches Aufsehen der kritischen Öffentlichkeit, was nicht nur die Zahl der Bände, sondern auch der Subskriptionen sowie den Preis in die Höhe trieb. Dem Politikum Enzyklopädie war damit eine Aufmerksamkeit beschert, die bis heute in der Forschung und bei Nachdrucken anhält.

Von einer vergleichbaren Wirkmacht kann bei der Enzyklopädie Philosophie keine Rede mehr sein; die Recherche nach Rezensionen der mittlerweile vergriffenen ersten Auflage von 1999 ist wenig ergiebig (Weder die Internatio-nale Bibliographie der Rezensionen geistes- und sozialwissenschaftlicher Literatur (IBR), der Philosopher’s Index, noch die auf der Homepage des Meiner Verlages versammelten Zitate ver-weisen auf fachphilosophische Resonanz.). Das damals noch zweibändige Nachschlagewerk für Studierende ist auf drei Bände angewachsen, weil es von 400 auf 650 Lemmata, verfasst von rund 350 Autoren, erweitert wurde. Artikel aus der ersten Auflage wurden übernommen, ggf. überarbeitet, aktualisiert und erweitert.

Anders als ein Wörterbuch, etwa das nunmehr vollständig erschienene Historische Wörterbuch der Philosophie, geht es einer Enzyklopädie traditionell nicht um Worter-klärungen und Begriffsgeschichte, sondern um Sachwissen, sie ist bezogen auf realia. Der mittlerweile weniger gebräuchliche Titel Realenzyklopädie macht dies explizit. Roland Barthes zeigt in seinem Aufsatz „Bild, Verstand, Unverstand“, wie besonders die Illustrationen der Encyclopédie dem Anliegen geschuldet sind, Gegenstände zu präsentieren, ihre Her-stellung nachvollziehbar zu machen und sie so nicht nur verstehbar zu machen, sondern auch zu kontextualisieren und poetisieren. In philosophischen Kontexten, z.B. bei Hegel, bezeichnete ‚Enzyklopädie’ besonders im 18. und 19. Jahrhundert einen wissens- und wissenschaftstheoretischen Gesamtentwurf mit philosophisch begründeter Struktur, die den inneren Zusammenhang aller Arten von Wissen plausibilisiert: eine Wissenschaft der Wissenschaften. Etymologisch steckt in enky-klios paideia das seit der Renaissance betonte Bild des Kreises, welches Geschlossenheit, verknüpfte Wissensinhalte und Überblick

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suggeriert. Auch wenn die alphabetische Ordnung bereits im Mittelalter in Konkurrenz zur göttlichen Heilsordnung tritt, bleibt eine Systematisierung von Wissen zentrale Leistung einer philosophischen Enzyklopädie. Diderot und d’Alembert wählen zur Versinnbildlichung die traditionelle Metapher des Baumes (arb-re généalogique) und anverwandeln Bacons Klassifikation in die drei Bereiche memoria (Geschichte), ratio (Philosophie) und phan-tasia (Poesie). Aus pragmatischen Gründen gibt es zwar eine alphabetische Anordnung der einzelnen Beiträge, doch nicht ohne die Verortung jedes Stichworts im Ganzen anzu-geben. Die Preisgabe dieses Erbes und damit der Verzicht auf die traditionelle Kernaufgabe dieses Genres in der Enzyklopädie Philosophie ist ein Zugeständnis an das 21. Jahrhundert. Philosophie beansprucht nicht mehr, den anderen Disziplinen ihre Vernünftigkeit zu erläutern und den wissenschaftstheoreti-schen Zusammenhang, in dem jede einzelne von ihnen steht, aufzuzeigen. Vielmehr ist sie eine Disziplin unter und mit anderen, die zwar ein spezifisches Profil, aber aufgrund der vielfältigen Methoden und Ansätze keine einheitliche interne Architektonik mehr haben kann. Damit wird die Enzyklopädie zum Nach-schlagewerk. Auch wird mit den linguistic und iconic turns die strikte Abgrenzung zwischen Zeichen und Sachen fragwürdig, zumal der erkenntnistheoretische Realismus spätestens seit Kant nicht mehr vertretbar ist – die in der Enzyklopädie Philosophie angestrebte „Einheit von Begriffsbestimmung, Systematik und Ge-schichte des philosophischen Denkens“ deutet in diese Richtung, vor allem aber der Rekurs auf Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, um die Allianzen der Philosophie mit anderen Wissenschaften und Künsten zu erläu-tern. Der Aufbau der einzelnen Artikel zeugt ebenfalls davon: Nach einer Begriffserklärung (durch Definitionen und/oder Synonyme) folgt die ungleich umfangreichere Begriffs- und Pro-blemgeschichte, die in der Regel in historische oder thematische Kapitel unterteilt ist. Während Enzyklopädien immer auch und zunehmend Wörterbücher sind, gilt dies nicht umgekehrt. Zudem basieren Beiträge zu Enzyklopädien schon seit dem Mittelalter auf Buchwissen und

Lektüre, also diskursiv bereits aufbereitetes Wissen, um ganze Bibliotheken erschließen zu helfen. Dies ermöglicht unkomplizierten Zugang auch für Nichtfachleute und erspart dem Nutzer einer Enzyklopädie zeitintensive Recherchen sowie das Ausgeliefertsein an kurzlebige Internetforen und den qualitativ unterschiedlichen Beiträgen darin.

Wikipedia

In diesem Zusammenhang wäre eine Abgren-zung zu Internet-Enzyklopädien, insbesondere Wikipedia, zur besseren Profilierung der Enzyklopädie Philosophie angebracht. Die Einleitung tut das mit keinem Wort, obschon zu fragen ist, wieso gerade deren Adressaten, Studierende, bereit sein sollen, 348 Euro für gut sechs Kilo Buch auszugeben. Die traditi-onellen Nachschlagewerke und Printmedien allgemein verlieren gerade in dieser Generation dramatisch an Einfluss (Wenn Studierende angewiesen werden, etwas im Brockhaus nachzuschlagen, wissen etliche nicht, was das ist.) Obschon der kostbare Halbledereinband mit Leinen im neuen Grün des Meiner Verlags schön anzusehen ist und einen frischen Ein-druck macht, dürfte gerade jungen Menschen ihr Notebook für Referenzen und andere Be-reiche der Studien- und Lebensbewältigung die nicht nur erste sondern auch einzige Wahl bleiben. Die Tatsache, dass der Enzyklopädie Philosophie eine CD-ROM beigefügt ist, ist ein benutzerfreundliches Zugeständnis an digitale Medien und die Mobilität unserer Zeit. Die di-gitale Version erleichtert und beschleunigt das Verfolgen von Querverweisen sowie die Suche nach Stichworten und Personen, vermag aber die Vorzüge einer Internetenzyklopädie nicht zu kompensieren. Was also bringt der „verlegeri-sche Mut wider den digitalen Zeitgeist“, wie er auf der Homepage des Meiner-Verlages – also eben das zeitgeistige Medium nutzend – aus einer Rezension (die ebenfalls nur online, auf www.sciencegarden.de, erschienen ist) zitiert wird. Der doppelte performative Widerspruch an dieser Stelle lässt es erahnen: Mit guten Grün-den reklamieren die Gründer und Autoren der Wikipedia, die Nachfolge der aufklärerischen

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Programmatik anzutreten und dabei Büchern den Rang abzulaufen. Die Selbstbeschreibung als „the free encyclopedia that anyone can edit“ zielt darauf, sowohl die Rezeption als auch die Produktion von Wissen basisdemokratisch zu öffnen. Während mit dem Buchdruck im 15./16. Jahrhundert durch das neue Medium der Zugang zum Wissen demokratisiert wurde, wird mit dem Internet auch die aktive Mitwir-kung an der Herstellung und Weitergabe von Wissen so leicht wie nie zuvor. (Allerdings zeigen statistische Untersuchungen, dass mehr als 90% der Wikipedia-Nutzer passiv bleiben und nicht selber an Diskursen teilnehmen.) Weitgehend praktizierte Heterarchie sorgt dafür, dass niemand von vornherein von der Diskussion ausgeschlossen wird; akademische Weihen spielen keine Rolle. Die Autoren schrei-ben meist anonym oder unter Pseudonym, so dass die gängigen Gründe für Diskriminierung (Rasse, Religion, sozialer Status, Nationalität, Geschlecht und Alter) gar nicht erst bekannt werden. Ob es also tatsächlich Laien sind, die ihr Halbwissen in Konkurrenz zum Experten-tum der Wissenschaftler treten lassen, ist nicht gewiss. Sachkundige Informationen und kluge Ideen können auch ohne die traditionellen Mit-teilungsformen (um nicht zu sagen Posen) von Intellektuellen vermittelt werden. Jeder kann Wikipedianer werden und einer Gemeinschaft angehören, der solide Erkenntnis gehörige An-strengungen und intensive Diskussionen ohne Bezahlung wert sind. Einzige Vorraussetzung ist, dass er sich Korrekturen Anderer gefallen lässt und seinen Beitrag zur Diskussion stellt. Diese Wissenskultur beschreibt nicht nur Transkulturalität und Pluralismus, sie entsteht transkulturell auf der Basis argumentativer Auseinandersetzung vieler unterschiedlicher Teilnehmer um der Sache und um des Ge-meinwohls willen.

Die Modifikationen an den einzelnen Artikeln sowie die Diskussionen um die Änderungen sind in der Versionsgeschichte nachvollziehbar und erhellen so das Verständ-nis des jeweiligen Themas von einer Seite, die im Vergleich der Artikel zu einem Schlagwort in verschiedenen Auflagen einer gedruckten Enzyklopädie im Dunkeln bleiben. Es ist meist instruktiv zu wissen, wieso eine Formulierung

einer anderen weichen musste und aus welchen Erwägungen Informationen gestrichen oder zugefügt wurden. Zudem wird die Diskussi-onskultur offen reflektiert und in Regeln, der Wikiquette, festgelegt, aber bei Bedarf neu verhandelt. Das Streichen eines Beitrags oder Teile davon, wie es die Herausgeber von Bü-chern und Zeitschriften oder Redakteure von Printmedien auch ohne Angabe von Gründen tun können und zuweilen auch tun, geht bei Wikipedia selten kommentarlos. Die Autorität ist dezentral, sie liegt bei den Wikipedianern, wenngleich es mittlerweile Sichter und Ad-ministratoren gibt (vor allem wenn es darum geht, Missbrauch, gezielte Fehlinformation oder Vandalismus zu verhindern und Konflik-te zu moderieren). Anders als Querverweise auch digitaler Ausgaben von Enzyklopädien verlinkt Wikipedia seine Artikel nicht nur intern, sondern auch zu externen Seiten, so dass die Möglichkeit besteht, viele Quellen zur Kenntnis zu bekommen, auf eigene Faust weiter zu recherchieren und neue Wege zu erschließen. Die interaktive Beschaffenheit ist gleichzeitig multimedial: nicht nur Text-Bild-Kombinationen, sondern auch kinetische Graphiken, Filme und Tondokumente können abgerufen werden. Ein Vorteil des Internet als Medium ist, dass keine Kosten für die Herstel-lung von Büchern, Lagerung, Werbung oder Honorare der Autoren anfallen. Das Portal ist werbefrei und nicht gewinnorientiert. Der Speicherplatz ist immens, und die Vielzahl der Sprachen ermöglicht weltweite Nutzung und umfasst mittlerweile sogar Dialekte wie das Plattdeutsche. All diese fabelhaften Charakte-ristiken lassen die Wikipedianer als die wahren, zeitgenössischen Erben der Encyclopédistes erscheinen, den derzeit gestellten Antrag auf UNESCO-Weltkulturerbe legitimieren und das mittlerweile zehn Jahre alte Portal zu Recht zu einer der am häufigsten frequentierten Webseiten avancieren.

All dies beseitigt nicht das Unbehagen sei-tens der akademischen Gelehrten: Das einzige Pfund, mit dem ein von sorgfältig ausgewählten und nachweisbar kompetenten Fachleuten verfasstes Nachschlagewerk nach wie vor wuchern kann, ist die gesicherte Qualität der Beiträge. Die nämlich ist bei Wikipedia höchst

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unterschiedlich und in manchen Fällen kata-strophal. Die Korrektur durch das Kollektiv erfolgt nicht bei jedem Artikel oder zu spät, so dass Fehler und unglückliche Formulierungen stehen bleiben. Qualitätsunterschiede fallen bereits beim Vergleich deutscher und englisch-sprachiger Beiträge zum gleichen Stichwort auf. Meist ist letzterer deutlich umfangreicher und fundierter, auch gibt es drei Mal mehr Artikel in der englischsprachigen Version (über drei Millionen sind es zur Zeit). Die Kehrseite des interaktiv ausgelebten Pluralismus und des Ideals der basisdemokratischen Autorschaft ist somit, dass einige Produzenten von Texten besser Rezipienten geblieben wären. Gerade im Fach Philosophie sind die sachkundigen Experten nicht unbedingt Internet-affin und kämen gar nicht auf den Gedanken, eine sol-che Plattform als Alternative zum Buch ernst zu nehmen. (Vielleicht ist es gerade für die etablierten Autoritäten auch nicht angenehm, wenn ihre Beiträge in den Diskussionsforen in flapsigem Ton kritisiert, ironisiert und korri-giert werden.) Das Wort hat online oftmals der schreibfreudige, unausgelastete Laie, der bereits in der frühen Neuzeit von Nikolaus von Kues als idiota in die philosophische Diskussion einbezogen wird.

Allerdings lässt sich diese Kritik ansatzweise entkräften: Um die fachliche Qualität sicher-zustellen, hat Wikipedia in ihren Statuten drei zentrale Normen für das Verfassen von Beiträ-gen aufgestellt: 1. NPOV ist der „Neutral Point of View“. Tendenziöse und manipulative Artikel oder Meinungsmache soll auf diese Weise ver-hindert werden. 2. No Original Research: Jeder Artikel soll auf bereits publizierten Quellen basieren und nichts präsentieren, das sich nicht überprüfen und nachweisen lässt. Die dritte Norm, Verifiability, geht auch in diese Richtung. Dies steht in der oben beschriebenen Tradition, in Enzyklopädien diskursiv vorhandenes Wissen zusammenzufassen und verfügbar zu machen. Vor allem versucht man so zu verhindern, dass beliebige, wenig relevante oder indivi-duellen Vorlieben geschuldete Themen einen Eintrag und damit beachtliche Öffentlichkeit bekommen oder dass Wikipedia als Plattform für Reklame missbraucht wird. Gleichzeitig berührt diese Norm ein von Wikipedianern

kontrovers diskutiertes Thema mit prinzipiel-ler Tragweite: Wann ist etwas relevant genug, einen Eintrag zu verdienen? Wie viel Raum ist Angelegenheiten von Minderheiten einzuräu-men? (Nicht alles, was wichtig ist, lässt sich mit publizierten Quellen belegen, insbesondere Themen mit aktueller Brisanz. Gerade da ist das Internet meist das erste Medium, in dem sich Informationen finden lassen.) In diesem Zusammenhang kann ein zweiter grundsätzli-cher Kritikpunkt an Wikipedia ansetzen: Was im Mittelalter compilatio hieß und später (z.B. bei Kant und Hegel) metaphorisch ‚Rhapsodie’ oder ‚Aggregat’ genannt wurde und zugunsten einer Architektur oder eines Organismus zu meiden war, gewinnt als Enzyklopädismus einen pejorativen Klang: Additiv kumuliertes Einzel-wissen, das in klarer Konfrontation gegen die traditionelle Baummetapher bei Deleuze und Guattari als Rhizom zu neuen Ehren kommt, kann keinen Überblick mehr gewähren und hat keine stabile Struktur. Als unabgeschlossenes und sich als unabschließbar verstehendes Projekt verliert die etymologisch im Wort En-zyklopädie veranlagte und für die Konzeption seit jeher wesentlichen Kreismetapher ihren Sinn. Der Verzicht auf die Strukturierung des Ganzen lässt die Enzyklopädie ihr seit der frühen Neuzeit zentrales Anliegen preisge-ben. Offenheit geht auf Kosten von Struktur und umgekehrt (– ob sie auch auf Kosten von Qualität geht, ist die Frage, die das kollektive Rezensionsprojekt motiviert.) D’Alemberts Metapher der Verkettung (enchaînement) im Discours préliminaire de l’Encyclopédie sowie Wittgensteins Rede von Familienähnlichkeit oder das gängige Bild der Vernetzung bieten zeitgenössische Zwischenstufen zwischen der strengen Geschlossenheit eines Systems und dem uferlosen Enzyklopädismus. Die Enzyk-lopädie Philosophie navigiert ebenfalls einen solchen Kurs, insofern der gezielte Zugriff bei der Konzeption, Selektion relevanter Stichworte und die Prioritäten des Herausgebers ein Profil verleihen auch ohne durchorganisierte Struktur. Gleichwohl kann gerade diesbezüglich Kritik ansetzen, wie bereits oben geschehen, bezogen auf den Verzicht, das eigene Projekt gegenüber seinem stärksten Konkurrenten, dem weitaus

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breiter rezipierten, international erfolgreichen Onlineportal abzugrenzen.

Die Frage, welche Art von Struktur einer Enzyklopädie angesichts der medialen Situation und der epistemologischen Tendenzen des 21. Jahrhunderts vertretbar, umsetzbar und nütz-lich sein kann, ist durch diese Überlegungen nicht beantwortet, nur angerissen in ihrer Komplexität und Problematik. Ein fundiertes Urteil über Anlage und Anspruch eines solchen Nachschlagewerks bedarf der eingehenden Untersuchung auch der einzelnen Artikel.

Vergleichende Rezension als kollektives Projekt

Um genauer zu eruieren, wie es in philosophi-schen Angelegenheiten um die strukturelle wie inhaltliche Qualität von den etablierten philo-sophischen Nachschlagewerken in Buchform einerseits und Wikipedia auf der anderen Seite bestellt ist, bedarf es einer breiter angelegten Studie. Das renommierte Journal Nature hat im Jahr 2005 42 naturwissenschaftliche Artikel der Encyclopaedia Britannica durch Experten aus dem jeweiligen Wissensbereich mit ent-sprechenden Artikeln der englischsprachigen Wikipedia vergleichen und evaluieren lassen. Das Resultat war, dass ein Wikipedia-Artikel im Schnitt vier Fehler oder Ungenauigkeiten aufweist, während es bei der Encyclopaedia Britannica durchschnittlich drei sind. Dieses kontrovers diskutierte und von den Verant-wortlichen der Encyclopaedia Britannica nicht akzeptierte Ergebnis ist auf andere Sprachen und die auf die Philosophie zugeschnittene Enzyklopädie Philosophie sowie das Historische Wörterbuch der Philosophie nicht übertragbar und regt deshalb an, einen ähnlichen Vergleich zu versuchen. Näheres hierzu ist zu finden im Call for Papers auf der Homepage dieser Zeit-schrift (www.berlinerdebatte.de; siehe auch die Anzeige auf der 4. US).

Literatur

Barthes, Roland: Bild, Verstand, Unverstand, in: d’Alembert, Diderot etc. Enzyklopädie. Eine Auswahl, herausgegeben und eingeleitet von G. Berger, Frankfurt a.M. 1989, S. 30-49.

d’Alembert: Discours Préliminaire de l’Encyclopédie/Einleitung zur Enzyklopädie von 1751, Hg.: E. Köhler, Hamburg 1955.

d’Alembert, Diderot etc.: Enzyklopädie. Eine Auswahl, herausgegeben und eingeleitet von G. Berger, Frankfurt a.M. 1989.

Dierse, Ulrich: Enyzklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Sup-plementheft 2, Bonn 1977.

Drösser, Christoph: Die Guten im Netz, in: DIE ZEIT, 2011, Nr. 3, S. 27.

Encyclopaedia Britannica (Macropaedia) Vol. 18, 2003, Eintrag „Encyclopaedias and Dictionar-ies“, S. 257-286.

Giles, Jim: Internet Encyclopaedias go head to head, in: Nature (Dec. 2005) 438/7070, S. 900f.

Pscheida, Daniela: Das Wikipedia-Universum. Wie das Internet unsere Wissenskultur verändert, Bielefeld 2010.

Reagle, J. M. Jr.: Good Faith Collaboration: The Culture of Wikipedia, London 2010.

Hans-Jörg Sandkühler (Hg.): Enzyklo-pädie Philosophie, zweite, überarbei-tete und erweiterte Ausgabe, 3 Bände, 3209 Seiten mit CD-ROM, Hamburg: Meiner Verlag 2010.

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In den letzten Jahrzehnten fand an Hegels Rechtsphilosophie vor allem Interesse, wie sie sich zu den modernen Anforderungen von Demokratie und Freiheit positioniert. Es wurde diskutiert, ob und wie sie trotz ihrer prekären Grundannahmen für moderne gesellschafts- und politiktheoretische, für staats- und rechtsphilo-sophische Diskurse – mithin für die „bürgerliche Gesellschaft“ – fruchtbar gemacht werden kann. Ihre soziale Dimension wurde bisher nur selten thematisiert, und diesem Defizit möchte die vorliegende Studie begegnen. Am Faden der 1821 publizierten „Grundlinien der Philoso-phie des Rechts“ untersucht sie, wie Hegel das Phänomen von Armut verortet, und zwar nicht von Armut als solcher, sondern der Armut eines spezifischen Standes, dessen Armut sich gerade aufgrund seiner Standesmerkmale ergibt, sich aufgrund dieser Standeszugehörigkeit potenziert und zementiert: des Pöbels. Dieses Phänomen „Pöbel“, so die These von Frank Ruda, stellte das verborgene (und bis heute auch der Forschung verborgene) Zentralthema des Buchs dar. Das, was Hegel in den §§ 241-245 entwickelt, erweist sich als der Kern von Hegels Rechtsphilosophie und als der Kern ihres „Scheiterns“.

Der Autor folgt präzise Hegels Unterschei-dungen. Die genannten Paragraphen, die sich im dritten und letzten Teil der „Rechtsphilosophie“, in den Abschnitten zur „bürgerlichen Gesell-schaft“ finden, werden ausführlich interpretiert, wobei sie überzeugend in den Kontext des Hegelschen Systems gestellt werden. Pöbel un-terscheidet Hegel von bloßer Armut. Denn es ist eine zum Stand gewordene Armut, die sich nicht nur als sozialer Zustand manifestiert, sondern darüber hinaus als Gesinnung und Gefühlslage:

Frank Ruda:

Hegels PöbelEine Untersuchung der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“Rezensiert von Olaf Briese

„Gesinnung der Arbeitsscheu, Bösartigkeit, und der weiteren Laster, die aus solcher Lage und dem Gefühl ihres Unrechts entspringen“ (§ 241). Der Arme partizipiert noch aktiv an den Errungenschaften der Moderne, ist durch, u.a., Religion, staatliche Mildtätigkeit, Familie, durch seine demonstrative Moral und seinen Willen zur Tätigkeit in den staatlich-gesellschaftlichen Organismus integriert. Der Pöbel hingegen, der „die Ehre nicht hat, seine Subsistenz durch seine Arbeit zu finden, und doch seine Subsistenz zu finden als sein Recht anspricht“ (§ 244), ist parasitär, und zwar aktiv parasitär. Er negiert die Pflicht zur Tätigkeit, aber er besteht auf dem Recht von Versorgungssystemen. Dem Pöbel abzuhelfen, heißt also nach Hegel primär, der Armut abzuhelfen, und dazu erwägt er sieben Möglichkeiten: „Die sieben Lösungsvorschläge, die Hegel anbietet, sind: 1. die Versorgung der Armen durch die bürgerliche Gesellschaft selbst, 2. die Bettelei, 3. das Notrecht, 4. die Kolonisati-on, 5. die öffentliche Arbeit, 6. die Korporation […], 7. die Polizei und mit ihr verbunden die Religion“ (S. 37).

Aber keines dieser Mittel scheint zu greifen, Armut entsteht gerade und auch in der moder-nen Gesellschaft immer wieder und ist immer wieder da – und erzeugt den Pöbel (sie erzeugt nach Hegel sogar, auch darauf geht die Studie ausführlich ein, einen Pöbel des Reichtums). Dieser aus der Armut entstehende Pöbel ist gleichsam die immerwährende Wunde der bürgerlichen Gesellschaft. Er läßt sich nicht verstecken, nicht wegregeln, er meldet hingegen geradezu unverschämt Ansprüche an. Er trägt – so der Autor – Züge beachtlicher Positivität: „Der Pöbel emergiert an einer Stelle, an der ei-gentlich bereits die Aufhebung der Negation der Armut, die Negation der Negation statt gehabt hat (oder: haben müsste) und die Negativität in die ‚Positivität’ der Aufhebung überführt ist. Man kann daraus folgern, dass der Pöbel eine Stelle markiert, in der eine eigentümliche Positivität der Negativität aufscheint – eine vorhandene, insistierende In-Existenz“ (S. 141). Das ist der argumentative Kern dieser Hegel-Interpretation, die an dieser Stelle von einer deskriptiven in eine normative umschlägt, die Hegel so versteht, wie auch Hegel sich hätte verstehen müssen: „Diese Positivität ergibt sich aus der Hegel’schen Logik

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des Pöbels, auch wenn Hegel beständig darauf beharrt, dass der Pöbel ‚den Standpunkt des Negativen überhaupt’ markiert“ (ebd.). Wäre Hegel nur seiner eigenen Logik gefolgt, dann hätte er diese Momente der „Positivität“ des Pöbels erkennen müssen. Das nicht getan zu haben, sich also selbst nicht verstanden zu haben, ist das, was diese Abhandlung immer wieder als das „Scheitern“ Hegels in den Raum stellt. Erst Marx habe – so die theoretische Klammer dieser Hegel-Analyse in Einleitung und Ausleitung des Buchs – dieses Hegelsche Scheitern produktiv gewendet. Marx vollzog eine Transformation, welche die Hegelschen negativen Unbestimmun-gen hinter sich ließ und die anstehende positive Bestimmung der Pöbel-Problematik vollendete, indem „Marx die Stelle, die der Name ‚Pöbel’ bei Hegel bezeichnet, mit dem Namen ‚Proletariat’ beschreibt“ (S. 250f.), indem „der arme Pöbel bei Marx Proletariat wird“ (S. 251), und schließlich, indem „Marx die entscheidenden Bestimmungen des Hegel’schen Pöbels aufnimmt. Jedoch wird aus Hegels Bestimmung des Inhalts der Pöbel-gesinnung (Empörung) bei Marx die wirklich kommunistische Aktion“ (S. 259).

Soweit, in schmerzhafter Verknappung, der Inhalt des Buchs und seiner Darstellung eines Übergangs von Hegel zu Marx, von folgenloser Pöbel-Empörung zu folgenreicher „kommunis-tischer Aktion“. Ruda legt eine Analyse vor, die Hegels Rechtsphilosophie in überzeugender Weise als problembeladene Sozialphilosophie deutet. Die Leistung besteht darin, die sozial-philosophischen Dimensionen Hegels zu aktu-alisieren, die zentralen Paragraphen zu Armut und Pöbel präzisen und originellen Analysen zu unterziehen und auf die Bedeutung hinzuweisen, die diese Paragraphen für die Marxsche Ausein-andersetzung mit Hegel besaßen. Das geschieht auf gut lesbare Weise und überzeugend, und das machte das Buch, wenn es dabei geblieben wäre, zu einem unbedingten Gewinn.

Doch die Ambitionen des Autors, bekannt u.a. als Mitorganisator der wissenschaftlich-künstlerischen Konferenz „Idee des Kommunis-mus. Philosophie und Kunst“ an der Volksbühne Berlin 2010, beschränken sich nicht auf eine Hegel-Analyse, und gerade das ruft Kritik her-vor. Geschenkt seien die dem Buch einleitend vorangestellten liebenswürdigen Schwätzereien

Slavoj Žižeks über Sigmund Freud oder über Hegels Theorie der Sexualität; geschenkt seien auch die ausleitenden, abgezwungen wirkenden Bemühungen des Autors, sich zwischen Agam-ben, Badiou, Rancière und Žižek theoretisch zu verorten. Geschenkt sei auch die beständige dramatisierende Rede von Hegels „Scheitern“, das sich in den genannten Paragraphen manifes-tiere (eine grundsätzlich inadäquate Kategorie zur Beschreibung und Erklärung philosophi-scher Gedanken oder Systeme; vielmehr eine aufdringliche Übersprungs-Rhetorik, die sich offensichtlich aus dem Wunschdenken eines Scheiterns der „bürgerlichen Gesellschaft“ herschreibt); geschenkt auch die ironiefreie Erkenntnis: „Marx ist kein Deleuzianer“ (S. 257). Deutlich zu kritisieren ist aber, dass der Autor die Frage nach einem „Übergang“ von Hegel zu Marx überhaupt ungebrochen ernst nimmt (S. 20-24), wo „Übergang“ in toto nichts weiter ist als ein diffuses ideologisches Schlagwort, das vor jedem analytischen Blick zerfällt. Die naive Unterstellung eines „Übergangs“ von Marx zu Hegel mündet in unterkomplexe Annahmen wie: „Vielmehr ist der Übergang von Hegel zu Marx, so möchte ich behaupten, der Übergang vom Pöbel zum Proletariat“ (S. 24). Zweifelhaft ist darüber hinaus eine wesentliche theoretische Weichenstellung, die aus der „Übergangs“-These folgt: Hegels Denken über den Pöbel wird nämlich rein auf die „Rechtsphilosophie“, also den späten Hegel beschränkt. Das ist an sich eine legitime Forschungsbeschränkung, die jedoch im Rahmen der Arbeit als solche nicht kenntlich gemacht, sondern als Selbstverständlichkeit unterstellt wird. So entsteht der Eindruck, dass Armut und Pöbel erst spät bei Hegel als wesentliches Problem auftauchen, dass die Rechtsphilosophie (und damit diese Problematik) der zeitliche und logische Endpunkt von Hegels Philosophieren überhaupt seien (und gleichzeitig der Punkt seines sog. Scheiterns).

Die Rechtsphilosophie ist weder zeitlich noch systematisch die theoretische Quintessenz Hegels. Eher müßte man hervorheben: Seit seiner Frühzeit und seit der Adam-Smith-Lektüre in den Jenaer Jahren hatte Hegel der Armuts- und Pöbelproblematik nachhaltig Aufmerksamkeit gewidmet. Falls er schon zu dieser Zeit an ihr „gescheitert“ sein sollte, hat er sein System jedoch

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unverdrossen weiter entwickelt und ausgebaut. Das aber ist im Rahmen von Rudas Arbeit gerade nicht von Interesse, da er das Ziel verfolgt, die be-treffenden Hegelschen Überlegungen möglichst spät anzusetzen, aus dem Spätwerk ein Scheitern zu destillieren und geradezu teleologisch einen bruchhaften „Übergang“ von Hegel und Marx zu statuieren. Innerhalb dieses Vorgehens – und das ist nicht ohne aktionalen Mut, immerhin handelt es sich um eine Dissertation – wird eine Dar-stellung oder gar Analyse des Forschungsstandes zur Problematik „Hegels Pöbel“ gar nicht erst unternommen. Sonst wäre man wohl nicht um ein umfangreiches (und selbstredend auf seine Weise unausgewogenes) Standardwerk umhin gekommen, das in dieser Untersuchung nicht einmal Erwähnung findet: Georg Lukács’ „Der junge Hegel und die Probleme der kapitalistischen Gesellschaft“. Es dürfte von Interesse sein, was der Autor zu dessen Grundthese zu sagen hätte, die der seinen geradezu entgegensteht: dass Hegel um 1800 gerade aufgrund der real erfahrenen und ausführlich von ihm theoretisch reflektierten sozio-ökonomischen Probleme der bürgerlichen Gesellschaft sein umfassendes System entwarf und eben nicht an ihnen „scheiterte“.

Gewiß, man muß sich nicht mit Lukács auseinandersetzen, dem ein momentan gän-giger habitueller Chic zweifellos abgeht. Man kann sich vielmehr ausführlich mit Badiou auseinandersetzen (das Literaturverzeichnis weist nicht weniger als neunzehn seiner Titel aus). Und wohl auch nur gestützt auf Badiou kann man zu faszinierenden Formulierungen kommen wie denen, „dass der Humanismus des frühen Marx ein Angelo-Humanismus“ sei, dessen Prinzip laute: „Der Mensch lebt nur wahrhaft, wenn er dem Menschen ein Engel ist“ (S. 261). Frei nach Schiller könnte man ergänzen: Ebenso „wahrhaft Mensch“ ist er, wenn er spielt. Philosophie war und ist immer ein verlockendes Spiel. Erst recht in der bühnenreifen Spielform des Berliner-Volksbühnen-Kommunismus.

Frank Ruda: Hegels Pöbel. Eine Unter-suchung der „Grundlinien der Philoso-phie des Rechts“. Konstanz: University Press 2011, 300 Seiten.

Selten ist die soziologische Fachliteratur in Deutschland – in der Bleiwüsten á la Luhmann die Regel sind – mit einer buchgestalterisch so vortrefflichen Klappenbroschur beglückt worden wie dieser. Hier stimmt von der Ty-pographie, über den leserfreundlichen Satz-spiegel, dem Papier, den passend eingestreuten und der Farbgebung des Einbandes in Sepia angepassten Abbildungen bis hin zu den Doku-mentenauszügen und dem wissenschaftlichen Apparat einfach alles. Zu verdanken ist dies einer Kooperation zwischen den Soziologen der Universität Jena und Gestaltungsstuden-ten der Bauhaus-Universität Weimar – ohne Zweifel ein Glücksfall für den Büchermarkt. Hervorgegangen ist die Broschur aus der an-lässlich des 34. Soziologiekongresses in Jena konzipierten Ausstellung zur Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), zu deren 100. Geburtstag diese Publikation erschienen ist.

Nach eigener Darstellung geht es den Je-nenser Autoreninnen um die Aufarbeitung der Fachgeschichte der Soziologie im Nationalso-zialismus, der Kontextualisierung des 1934er Soziologentreffens in Jena und um eine Chro-nologie der Aufarbeitung seit 1946. In sieben Kapiteln wird chronologisch die Geschichte der DGS nachgezeichnet: von der Gründung im Jahre 1909 und deren ‚Übervätern‘ wie z.B. Max Weber oder Ferdinand Tönnies u.a., über die Weimarer Republik und die NS-Zeit, die Jenaer ‚Rebellen‘ innerhalb der DGS, besagtes Soziologentreffen 1934, die Verfolgungen durch das NS-Regime, Kontinuitäten nach 1945 ein-

Silke van Dyk, Alexandra Schauer:

„…daß die offizielle Soziologie versagt hat“Soziologie im NationalsozialismusRezensiert von Michael Eckardt

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Republik, als die Nationalsozialisten mit der Förderung empirischer Forschungsarbeiten eine umfassende Professionalisierung und Institutionalisierung der Soziologie als empi-rischer Wissenschaft einleiteten.

Die „Rebellen in der DGS“ waren also vor allem Empiriker, daneben gab es aber auch „Volksgemeinschaftsforscher“, die ihre Soziolo-gie klar in den Geist der neuen Zeit stellten und eine „Deutsche Soziologie“ propagierten. Um das Überleben der DGS zu sichern, verhindert der national-konservative Leipziger Soziologie-professor und seit 1933 „alleinige Führer“ der DGS, Hans Freyer, eine feindliche Übernahme durch die „Jenaer Rebellen“ (Franz Wilhelm Jerusalem, Max Hildebert Boehm, Reinhard Höhn), in dem er die Aktivitäten der DGS für unbestimmte Zeit stilllegte. Die Gesamtheit dieser Vorgänge kann man sicher als „Selbst-gleichschaltung“ negativ kommentieren, als Überlebensstrategie in einer Diktatur zeugten sie gleichwohl von vorbeugender Anpassung zur Verhinderung von noch schlimmeren Folgen. Damit konnte zwar der DGS-Zwangsauflösung entgangen werden, der NS-Kompromitierung hingegen nicht. Das Weiterarbeiten mit vom Regime toleriert und geförderten Methoden der empirischen Sozialforschung pervertierten Soziologen wie eben jener Andreas Walther, der z.B. bestimmte Hamburger Stadtteile soziologisch so kartographierte, dass „gemein-gefährliche Regionen“ ausgewiesen werden konnten, um sogenannte „Volksschädlinge“ oder „hoffnungslos biologisch Defekte aus-zumerzen“.

Mit Beispielen wie diesem gelingt die Entzauberung des genannten Mythos, da trotz der Emigration von zwei Dritteln aller Lehrstuhlinhaber prominente Soziologen wie Ferdinand Tönnies, Leopold von Wiese, Erich Rothacker oder Werner Sombart in Deutschland blieben, ihren Lehr- und For-schungstätigkeiten nachgingen, sowie durch die Konzentration auf empirische Studien der Soziologie neue Wirkungsmöglichkeiten eröffneten. Nach 1945 ging die Soziologie in Westdeutschland mit Fachvertretern wie Karl Valentin Müller, Wilhelm Brepohl oder Helmut Schelksy in personeller Kontinuität weiter den eingeschlagenen Weg; prominenten

schließlich Wiederbegründungsmythos und die Schritte zur Aufarbeitung bis in die Gegenwart. Dies alles geschieht materialreich und gut strukturiert, die eingefügten Biographien der handelnden Personen ergänzen hervorragend den Darstellungszusammenhang. Zudem kommen die Autorinnen ohne ein Übermaß an soziologischen Fachtermini aus, was Leser jenseits der Sozialwissenschaften begrüßen werden.

Hochinteressant ist die Bearbeitung der übergeordnete Zielstellung, nämlich – wie der Titel unmißverständlich klarmacht – für die Periode der NS-Diktatur nachzuweisen, „…daß die offizielle Soziologie versagt hat“. Ausgangs-punkt ist der nach Kriegsende als Notlüge in Umlauf gebrachte Wiedergründungsmythos. Nach diesem sei von einer Nichtexistenz der Soziologie im Nationalsozialismus ob dessen angeblicher Soziologiefeindlichkeit auszugehen, was in den darauffolgenden Jahren dann zur dominanten Vergangenheitsdeutung gemacht wurde. Belegt wurde diese Legende u.a. mit der hohen Zahl emigrierter Soziologen nach 1933 und einem ‚gefühlten‘ Verschwinden der Soziologie aus den Universitäten bis 1945. Um diesen Mythos zu entzaubern, nehmen die Autorinnen die Perspektive einer wissenden Rückschau ein und bewerten die damaligen Handlungsmöglichkeiten und Personen nach dem heutigen Stand der Forschung.

Silke van Dyk und Alexandra Schauer kritisieren die Soziologie bis zum Ende der Weimarer Republik noch als rein formalistisch, a-historisch und von den realen gesellschaftli-chen und politischen Ereignissen weitgehend unberührtes Wissenschaftsprogramm. Ursa-che dafür war u.a. die Entpolitisierung selbst aktuellster Themen, die bis zur 1924 erfolgten Abschaffung des einschlägigen „Werturteilspa-ragraphen“ der DGS-Satzung die Arbeit der Mitglieder prägte. Folgerichtig zog sich z.B. der Hamburger Soziologe Andreas Walther, der in den Jahren 1922 und 1924 für einen empirisch fundierten Strukturfunktionalismus auf den Soziologentagen votierte, das Unverständnis seiner philosophisch orientierten Kollegen zu. Die Wendung zu einer angewandten, gesell-schaftlich und politisch relevanten Soziologie gelang leider erst nach dem Ende der Weimarer

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NS-Sympathisanten wie Reinhard Höhn gelang jedoch keine Fortsetzung ihrer Karriere. Höhn wirkte fortan als Unternehmensberater, der u.a. das in Westdeutschland in den 1950er und 1960er Jahren praktizierte „Harzburger Modell“ entwickelte, welches als Mitarbei-terführungskonzept jedoch umstritten blieb. Emigranten wie Julius Lipps oder René König hatten ihre Karrieren im Ausland fortgesetzt und kehrten nach 1945 wieder in ihre Heimat zurück. Tragisch endeten Soziologen wie Franz Eulenburg oder Ernst Kantorowitz, die an den Folgen von Misshandlungen starben oder im Konzentrationslager ermordet wurden. An die Tradition der Weimarer Republik anknüpfend, wurde 1946 die Wiederbelebung der DGS als eine Reaktivierung des einstigen Gelehrtenzir-kels vollzogen, geradeso, als ob zwischen 1933 und 1945 nichts passiert wäre. Folgerichtig waren die zum 8. Deutschen Soziologentag 1946 in Frankfurt a. M. anwesenden Soziolo-gen und deren Themen der gesellschaftlichen Wirklichkeit seit der Weimarer Republik kaum einen Schritt näher gekommen. All dies geschah mit Duldung der westlichen Besetzungsmächte, welche der Disziplin bescheinigten, zu den Opfern des Nationalsozialismus zu gehören, um sie für ihre Reedukationspläne dienstbar zu machen.

Abgeschlossen wird das Buch durch eine „Schritte der Aufarbeitung“ genannte Chrono-logie, in der Namen und Fakten zur Aufarbei-tung der Fachgeschichte übersichtlich präsen-tiert werden. Mit den „Zentralen Konfliktlinien in der Auseinandersetzung um die Rolle der Soziologie im NS“ resümieren die Autorinnen auf fünf Punkte konzentriert ihre Darstellung. Demnach muss festgestellt werden, dass das Jahr 1933 wissenschaftsgeschichtlich ebensowenig das Ende der Soziologie in Deutschland bedeu-tete, wie der Wiederaufbau nach 1945 keines-wegs als Neuanfang gelten kann. Die Soziologie hat wie alle anderen Wissenschaften in der Zeit des Nationalsozialismus ‚funktioniert‘ – nicht mehr und nicht weniger – die selbstgewählte Sonderrolle hat sie nicht verdient.

Erstaunlich ist die ganz am Ende ein-gestreute Bemerkung, dass im Gegensatz zu Westdeutschland das wissenschaftliche Personal in Ostdeutschland sehr effektiv entnazifiziert wurde und es kaum personelle Kontinuitäten von Sozialwissenschaftlern gab. Da die Soziologie in der SBZ und der frühen DDR als bürgerliche Wissenschaft verteufelt wurde und es keine eigenständigen Studien-gänge gab, kann dieses Argument als verfehlt angesehen werden. Wieder aufgewärmt wird damit der Mythos von der DDR als sauberem und antifaschistischem Gegenentwurf zur BRD. Gerade in Jena, wo das Beispiel des Mediziners Jussuf Ibrahim (1877–1953), der als Professor für Kinderheilkunde am Euthanasie-Programm mitwirkte, so hohe Wellen geschlagen hat, sollte man es besser wissen. Trotz schwerer NS-Belastung wurde Ibrahim nicht angetastet, erhielt in Jena einen Ehrendoktor, die Aus-zeichnung “Verdienter Arzt des Volkes“, den Nationalpreis der DDR erster Klasse usw.

Unterschwellig scheinen die Autorinnen von den damals handelnden Personen immer Heldentaten des Widerstands zu verlangen. Die realgesellschaftliche Praxis sah aber eher An-passungsmechanismen als Überlebensstrategie, was man natürlich gesinnungsethisch aufgela-den hinterfragen kann. Das Theodor Fontane zugeschriebene Wort, dass die Menschen so lange moralische Heldentaten verlangten, wie sie „nicht persönlich dran sind“, dürfte allerdings auch für das Autorinnenduo gelten.

Sylke van Dyk, Alexandra Schauer: „…daß die offizielle Soziologie ver-sagt hat“. Zur Soziologie im Natio-nalsozialismus, der Geschichte ihrer Aufarbeitung und der Rolle der DGS. Essen 2010: Deutsche Gesellschaft für Soziologie, 161 Seiten.

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Autorenverzeichniss

Roland Benedikter, Dott. Dr. Dr. Dr., Soziologe; University of California, Santa Bar-bara/ Visiting Scholar, Stanford University, The European Center

Olaf Briese, Dr. PD, Institut für Kulturwissenschaft, Humboldt-Uni-versität zu Berlin

Wilhelm Brüggen, Dr., Psychotherapeut, Leiter des Berliner Instituts für Psychotherapie und Psychoanalyse (BIPP)

Ulrich Busch, Dr. sc., Wirtschaftswissenschaftler, Berliner Debatte Initial

Michael Eckardt, Dr., Medienwissenschaftler; Joernalistiek Departement, Universiteit Stellenbosch, Südafri-ka

Anette Freyberg-Inan, Prof. Dr., Politikwissenschaftlerin; Universität Amsterdam

Wladislaw Hedeler, Dr., Historiker; Berlin

Eva Koeppen, MA, Philosophin und Literaturwissenschaftlerin; Hasso-Plattner-Institut für Softwaresystemtech-nik, Potsdam

Raj Kollmorgen, Dr. PD, Soziologe; Friedrich-Schiller-Universität Jena/ Otto-van-Guericke-Universität Magdeburg

Martin Krzywdzinski, Dr., Sozialwissenschaftler; Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Rainer Land, Dr. sc.; Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler; Thü-nen-Institut für Regionalentwicklung, Bollewik

Mariele Nientied, Dr. PD, Philosophin, Europa-Universität Viadrina, Frank-furt (Oder)

Ulrich Schachtschneider, Dipl.-Ing., Dr. rer. pol.; Energieberater, freier Autor, Bil-dungsarbeiter; Gesprächskreis Nachhaltigkeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Alwine Schreiber-Martens, Dipl.-Mathematike-rin; Jahnishausen

Christoph Strawe, Prof. Dr., Sozialwissenschaftler, Freie Hochschule Stuttgart

Robert Stock, M.A., Ethnologe, Centre for the Study of Culture, Justus-Liebig-Universität Gießen

Sylvia Terpe, Dr., Soziologin; Martin-Luther-Universität Halle-Wittemberg

Hans Thie, Dr., Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler; Refe-rent für Wirtschaftspolitik bei der Bundestags-fraktion DIE LINKE

Mihai Varga, PhD, Politikwissenschaftler; Max Weber Research Fel-low am Europäischen Universitätsinstitut Florenz

Rudolf Witzke, M.A., Soziologe; Altenpfleger; Arbeitskreis Wirtschaft Bündnis 90/ Grüne Heidelberg;

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Berliner Debatte Initial 22 (2011) 3Sozial- und geisteswissenschaftliches Journal

Preise: Einzelheft ab 2009: 15 €Jahresabonnement: 39 €

Studenten, Rentner und Arbeitslose 25 €. Ermä-ßigte Abos bitte nur direkt bei Berliner Debatte Initial bestellen. Nachweis (Kopie) beilegen.

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Redaktionsrat: Harald Bluhm, Birgit Glock, Cathleen Kantner, Ingrid Oswald, Rainer Land, Udo Tietz, Andreas Willisch, Rudolf WoderichRedaktion: Ulrich Busch, Erhard Crome, Wolf-Dietrich Junghanns, Raj Kollmorgen, Thomas Müller, Dag Tanneberg, Matthias WeinholdRedaktionelle Mitarbeit: Jonas Frister, Robert StockProduktion: Rainer LandVerantwortlicher Redakteur: Jan Wielgohs, für dieses Heft (V.i.S.P.): Erhard CromeCopyright für einzelne Beiträge ist bei der Re-daktion zu erfragen.E-Mail: [email protected]

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