2012 Grundkurs Menschenrechte 2 Umschlag -...

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Otto Böhm Doris Katheder Die 30 Artikel Kommentare und Anregungen für die politische Bildung Menschenrechte grundkurs echter band 2

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Otto BöhmDoris Katheder

Die 30 Artikel

Kommentare und Anregungen für die politische Bildung

Men

sche

nrec

hte

grundkurs

echter band 2

sieglinde.bieber
Schreibmaschinentext
Leseprobe

4

inhalt

böhm / katheder

8 Einleitendes

10 Zur Einführung

Recht als Medium der Humanität?

23 literatur

24 Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

in Kurztiteln

26 Der Aufbau der AEMR

28 Meilensteine des Menschenrechteschutzes

32 Instrumente des Menschenrechteschutzes

Teil 1: Europa

46 Artikel 6

49 kurzkommentar

50 kommentierungen und kontroversen

Aus dem Menschen wird

– im Lauf der Geschichte –

eine Rechtsperson

64 literatur

65 empfehlungen

66 interview

Fragen an: Hauke Brunkhorst

5

70 Artikel 7

73 kurzkommentar

74 kommentierungen und kontroversen

Besondere Menschen –

vor dem Gesetz gleich

89 empfehlungen

90 literatur

92 interview

Fragen an: Elisabeth Holzleithner

100 Artikel 8

103 kurzkommentar

104 kommentierungen und kontroversen

Wirksamer nationaler Rechtsschutz

gegen Grundrechtsverletzungen

119 literatur

120 interview

Fragen an: Marei Pelzer

125 empfehlungen

6

inhalt

126 Artikel 9

129 kurzkommentar

130 kommentierungen und kontroversen

Recht oder Willkür – der zentrale, aber

nicht allein entscheidende Unterschied

145 empfehlungen

146 literatur

148 interview

Fragen an: Rainer Huhle

154 Artikel 10

157 kurzkommentar

158 kommentierungen und kontroversen

Gerecht und fair

171 empfehlungen

172 literatur

174 interview

Fragen an: Julia Zinsmeister

7

184 Artikel 11

187 kurzkommentar

188 kommentierungen und kontroversen

Menschenrechtliche Sorgfalt bei den

scharfen Instrumenten des Strafrechtes

201 literatur

202 interview

Fragen an: Till Müller-Heidelberg

211 empfehlungen

burmann / katheder

212 Inklusion und Partizipation.

Das Recht, Rechte zu haben,

gilt für alle Menschen

242 interview

Fragen an: Sigrid Arnade

247 interview

Fragen an: Markus Schäfers

254 Nachwort

Siegfried Grillmeyer

Menschenrechte –

Auftrag und Verpflichtung

für die politische Bildung

10

zur einführung

Recht als Medium der Humanität?

11

Der erste Band dieser Reihe ging – der Logik der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte

folgend – von dem Grundsatz „Alle Menschen sind frei und gleich geboren“ aus. Mit dieser Überzeugung haben Menschen die Ketten der vordemokratischen Re- gime im 18. Jahrhundert gesprengt und tun es noch in der Gegenwart. Als tragenden Begriff haben wir die Menschenwürde hervorgehoben und interpretiert. Im fünften Abschnitt der Präambel wird der Glaube an die Würde und den Wert des Menschen betont. Kein Mensch darf Opfer von Diskriminierung, von Folter oder Sklaverei werden, ihr/sein Leben ist heilig, aus skeptischer Sicht: Ihr/Sein Leben sei heilig. Das ist der moralische, politische und rechtliche Anspruch der AEMR.

Im Mittelpunkt des vorliegenden zweiten Bandes stehen die Rechte in den Artikeln 6 bis 11. In ihnen tritt der Rechtscharakter der Menschenrechte noch stärker hervor. Deshalb sind hier dem Verständnis von „Recht“ einige grundlegende Überlegungen gewidmet.

Denn Recht, wiewohl es immer gesetzt sein muss, ist nicht einfach so gesetzt; immer läuft die Frage nach seiner Berechtigung, nach seiner Begründung und nach seinem Gerechtigkeitsgehalt mit. Darauf Antwor-ten geben zu können, ist nicht nur eine Frage der Men-schenrechte-Philosophie, sondern auch der politischen Bildung. Zufriedenstellende Antworten müssen dabei überzeugender sein als die einfache rechts- und geistes-geschichtliche Herleitung oder der Verweis darauf, dass sich eine soziale Bewegung einzelne „Für das Recht auf …-Parolen“ zu eigen gemacht hat.

Die Menschenrechte gewinnen an Überzeugungs-kraft, wenn in der Bildungsarbeit Genesis und Geltung,

12

zur einführung

historischer Entstehungszusammenhang und nicht- revidierbare, überzeitliche Humanität erklärt werden können. Die grundlegenden Rechte der Menschen wer-den ja nicht nur am Werktag verletzt und am Sonntag heruntergebetet. Nein, es gibt auch Widerspruch und stellenweise einen Mangel an einleuchtender Kraft, auf den einzugehen ist.

Beispielsweise wenn der Einwand zu widerlegen ist, dass die angeborene, natürliche Gleichheit der Men-schen und ihrer Rechte ja eher eine Behauptung sei. Ist nicht das Gegenteil der Fall? Warum können denn Menschen so leicht verlieren, was sie doch von Natur aus haben – Rechte!? Oder ein anderer Einwand: Die gleichen Rechte sind doch allenfalls formal gleich; von Natur aus sind wir ja nicht nur verschiedene, sondern unaufhebbar ungleiche Individuen! Dennoch: Niemand verliert ihre / seine mora lischen Rechte, zu keiner Zeit und unter keinen Umständen. Hier ist, wie im ersten Band der vorliegenden Reihe, auf die kontrafaktischen Annahmen von „natürlicher Gleichheit und angebore-nen Rechten“ zu verweisen. Sie stellen zwei Sei ten der-selben Medaille dar.

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Die Skepsis ernst nehmen

Ausgangspunkt des Rechtsverständnisses kann die Erinnerung daran sein, dass die Begründungen für die nordamerikanischen und französischen Erklärungen am Ende des 18. Jahrhunderts aus dem natur- und vernunftrechtlichen Hintergrund der Politischen Phi-losophie am Beginn der Neuzeit stammen. Nicht von Gott, sondern kraft ihrer/seiner Natur, später dann – mit dem Philosophen Kant – kraft ihrer/seiner Ver-nunft- Natur, kommen jedem Menschen qua Mensch-sein, durch ihre/seine Zugehörigkeit zur Gattung Mensch, durch ihre/seine Ausstattung auch mit einem Gewissen die gleichen Rechte zu. Diese begründende Formel konnte auch in der Arbeit der Menschenrechte-kommission 1945 bis 1948 nach längerer Diskussion Zustimmung finden (Morsink 1999: 281–328). Wenn also nachvollziehbar ist, dass Sprache und Denkweise im Ansatz der Menschenrechteerklärung zur Geschich-te der Europäischen Aufklärung gehören, wird niemand von Relativierungen durch Anti-Universalist_innen oder Common-Sense-Aufklärungsskeptiker_innen geschockt sein. Denn: „Den modernen Menschen beschleicht bei diesen Begriffen ein Unbehagen, die Argumentation scheint in die Gefilde der Metaphysik und des Natur-rechts abzugleiten, ja die Vorstellung von so etwas wie Menschenrechten gerät als Ganzes in Zweifel.“ (König 1994: 27).

Eine verbreitete Menschenrechteskepsis drückt sich in der Überzeugung aus, „dass der Anspruch auf Achtung und das Recht auf Rechte weniger Feststellungen als vielmehr Festsetzungen sind, die als solche nicht den

14

zur einführung

Charakter einer Entdeckung haben, sondern eher gu-ten Erfindungen gleichen, die auf verallgemeinerbaren ethischen Reflexionen gründen. Demnach gibt es we-der einen dem Menschen vorge gebenen Anspruch auf Achtung noch ein angeborenes Recht auf Rechte. Diese beliebten Zankäpfel sind wurmstichig geworden. Zwar bleibt das Anliegen dieser erhabenen Vorstellungen weiterhin sinnvoll, sie selbst sind es aber nicht. Trotz-dem sind der Anspruch auf Achtung und das Recht auf Rechte keine willkür lichen Zuschreibungen (...). Die Annahme ist schlichtweg falsch, dass sich Menschen ihren Anspruch auf Achtung oder ihr Recht auf Rechte notwendigerweise erst durch besondere Fähigkeiten erwerben oder durch bestimmte Leistungen verdienen müssen, wenn sie mit ihrem Dasein nicht bereits ge-geben sein sollten. Selbst im Flüchtigen und Vergäng-lichen lassen sich feste Stand- und sichere Anhalts-punkte für eine angemessene Lebensorientierung aus- machen.“ (Wetz 2008: 15 f.).

Menschenrechte nur als juridische Rechte?

Wer also nicht von Feststellungen (von Natur aus, an ge-boren, unveräußerlich, jedem Menschen innewohnend) ausgeht, sondern von Festsetzungen, der wird die „Fest-setzenden“, die Gesetzgebenden, nennen müssen. Und befindet sich dann im breiten Strom derer, die von Recht nur als positivem, gesetztem Recht sprechen wollen. Und in der Tat: Auch die Menschenrechte brauchen die Umsetzung in tatsächlich geltendes Recht, sei es national oder transnational. Und es könn-te dann dabei sein Bewenden haben: Was gesetzt ist,

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gilt und wird angewandt. Sich mit Fragen nach Her-kunft und Legitimation aufzuhalten, ist ein müßiger Umweg. Zudem spielen Begründungsfragen in der harten politischen Konfrontation um die Einhaltung der Menschenrechte ja auch keine wirklich entschei-dende Rolle. Jedoch zeigt sich die Bedeutung dieser Diskussion, wenn Herkunftsfragen in Begründungs-fragen und diese in Legitimationsfragen übersetzt wer-den. Welche Verbindlichkeit haben die Menschenrech-te also über die Setzung als „rechtliche Rechte“ hinaus? Weshalb entwickeln sie sich weiter? Wie sind sie zu in-terpretieren? Eine erste Antwort ist: Wie jedes Recht, das gesellschaftliche Normen ausdrückt, ändern sich auch die Menschenrechte mit der Dynamik gesell-schaftlicher Normen und Auseinandersetzungen. Dass dem so ist, lässt sich zum Beispiel am Umgang mit dem Diskurs zu sexueller Identität zeigen.1

Menschenrechte als moralische Rechte?

Viel spricht dafür, die Menschenrechte nicht nur posi-tiv, als Gesetze, sondern auch als moralische Rechte zu verstehen. Die beiden Philosophen Christoph Menke und Arnd Pollmann führen zwei wichtige Argumente an. Zum einen: Auch ohne faktisch ein gegangene Ver-pflichtung müsste ein autoritärer Staat den Anspruch seiner Bürger_innen zum Beispiel auf Meinungsfreiheit respektieren (vgl. hierzu Menke/Pollmann 2007: 27).

1 Siehe hierzu Band 1 der vorliegenden Reihe, S. 113 ff.

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zur einführung

Zum anderen: „Die Regeln der Moral besagen, dass jeder Mensch jeden anderen Menschen als Gleichen achten soll. Diesem Sollen, dieser moralischen ‚Pflicht‘ entspricht das moralische ‚Recht‘ eines jeden Men-schen, von anderen als Gleiche/r geachtet zu werden. Die moralische Pflicht zu gleicher Achtung eines jeden und das moralische Recht auf gleiche Achtung durch jeden sind nur zwei Seiten desselben moralischen An-erkennungsverhältnisses.“ (Menke/Pollmann 2007: 28).

In dieser zweiten Begründung, in der „Gleiche-Achtung-Moral“, gibt es aber nach Menke und Poll-mann auch schon einen wichtigen Grund, weshalb von Menschenrechten nicht nur als moralischen Rechten gesprochen werden sollte. Denn: Menschenrechte sind nicht an ein anderes Individuum als „Gegenüber“ adres- siert, sondern an Staaten, Institutionen, politisch ver-antwortliche Instanzen. Damit müssen sie als politi-sche, nicht als moralische Konzeption verstanden wer-den (a.a.O.: 32).

Der Rechtscharakter der Menschenrechte ist also entscheidend mehr als nur ein rechtliches oder ein moralisches Verhältnis zwischen Menschen. Er hat sein Fundament im Status von Menschen als Bürger_innen, als Personen, die damit das Recht haben, Rechte zu haben.

Können wir das Recht als Medium

verstehen, in dem die Entwicklung

zur Humanität aufgehoben ist?

Wenn die Menschenrechte somit in ihrem moralischen und politischen, aber auch in ihrem Rechts charakter verstehbar gemacht werden sollen, kann eine Antwort

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auf die Frage nach dem humanen Charakter des Rech-tes allgemein und von Rechtsordnungen im Besonde-ren nützlich sein. Positives Recht, wie es empirisch-faktisch vorhanden ist und durchgesetzt wird, wird in modernen Gesellschaften als funktionale Norm, als Steuerungsmedium einer Gesellschaft verstanden. Eine kurze und doch umfassende Auflistung dieser Funktio-nen des modernen Rechtes gibt der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht, Wolfgang Hoffman-Riem: Maßstabsfunktion, Wertbildungsfunktion, Bereitstel - lungs funktion, Ausgleichsfunktion, Regulierungsfunk-tion und Innovationsfunktion (Hoffmann-Riem 2000: 25–44).

Diese Dimensionen sind hier für das innerstaatli-che Recht formuliert, beschreiben aber auch die trans-nationalen Aufgaben der Rechtsentwicklung. Aus ihnen wird klar, dass ein nur rechtspositivistisches, funktio-nales Rechteverständnis den Menschenrechten nicht gerecht wird. Recht ist zwar insofern immer von „mo-ralischer Gesinnung“ entlastet, als es auf Einhaltung, auf wahrnehmbare, „äußere“ Handlungen und Verhal-ten und nicht auf Haltungen und auf innere Anerken-nung ausgerichtet ist. Aber im Sein des Rechtes steckt dennoch immer auch ein Sollen. Das trifft vor allem im grund- und strafrechtlichen Bereich zu. Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind nicht nur neutrale Regulative oder Normen, sondern auch Werte. Das unterscheidet das (Menschen-)Recht von anderen Regelsystemen, seien es Wirtschaftsbetriebe, Interessenverbände oder, häufig als Extrembeispiel ge-braucht, Seeräuberbanden oder Verbrechens-Kartelle. Rechtsetzungs- und Verrechtlichungs prozesse sind nicht einfach nur Ergebnisse von Machtentfaltung oder

• Funktionen des

•modernen Rechtes

• Maßstabsfunktion

• Wertbildungsfunktion

• Bereitstellungsfunktion

• Ausgleichsfunktion

• Regulierungsfunktion

• Innovationsfunktion

• (Hoffmann-Riem 2000:

• 25–44)

18

zur einführung

Machtfragmentierung, sondern auch Ergebnis einer Monopolisierung von Gewalt, die zumindest auf dem Entwicklungspfad des Westens in die Moderne zum demokratischen Rechtsstaat führt. Der Philosoph Ot-fried Höffe findet dafür sogar anthropologische Grün-de, wie er am Beispiel des Strafgesetzes zeigt:

„Seine kulturunabhängig gültige, anthropologische Grundlage besteht aus der Verbindung von drei Ele-menten: der Gewaltfähigkeit – der Mensch kann die Hand gegen seinesgleichen erheben –, dem Fehlen eines gewaltresistenten Schutzpanzers und dem Um-stand, daß eine Gewalthemmung gegen seinesgleichen, selbst eine Tötungshemmung, fehlt.“(Höffe 1998: 35).

Auch wer den rechtsethischen Relativismus nicht so fundamental widerlegen will wie Höffe aus seiner kan-tianischen Sicht, wird doch einen gewissen, in unserer Rechtskultur aufgehobenen Fortschritt der Humanität vertreten und vermitteln können. Es geht um „Rechts-werte (…), die, wiewohl geschichtlich wandelbar, für uns heute unverzichtbar sind; die, wiewohl nicht dedu-zierbar und more geometrico beweisbar, das normative Niveau unseres Rechtssystems in der Weise kennzeich-nen, daß ihre Verletzung oder Funktionalisierung un-sere historischen Erfahrungen und unsere Tradition zur Entwicklung eines gerechten Rechts umkehren würden.“ (Hassemer 2000, S. 87–108, in: Reemtsma 2005: 124).

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Umkehrungen des Rechtes –

zugleich Fortschritte in die Barbarei

Die schwachen Anzeichen für einen menschenrecht-lichen Fortschritt in der Geschichte sollten nicht zu naivem Optimismus verleiten. Die Entwicklung zur Humanität ist kein Selbstläufer, der aus der vernünfti-gen Kraft des Rechts entstehen würde. Erfahrungen und Beispiele, die dagegensprechen, gibt es genug. Hier ist die zentrale Erfahrung der jüngeren europäischen Geschichte angesprochen. Die Verbrechen des Natio-nalsozialismus – der Mord an 6 Millionen Jüdinnen und Juden, an 25 Millionen Sowjet-Bürger_innen, Po-len, Sinti und Roma und vielen anderen Menschen in Europa – waren zwar „(…) sogar während der Jahre der NS-Diktatur förmlich verboten (…). Gleichwohl (…) wurden die Mordtaten möglich, weil ihnen, zu-nächst innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches, dann in den Grenzen des vom nationalsozialistischen Deutschland besetzten Europa, rechtsförmige Normie-rungen entgegenkamen, die mit den Worten des Rechtsphilosophen Gustav Radbruch nichts anders darstellten als Formen des ‚gesetzlichen Unrechts‘ (…)“ (Brumlik 2005: 17 f.). Im funktionalistischen und rechts-positivistischen Sinne war die Ordnung des national-sozialistischen Staates eine Rechtsordnung. Wir teilen das Grundverständnis, wie es Brumlik formuliert:

„Ohne eine inhaltlich bestimmte Grundnorm, die mehr und anderes ist als lediglich das vorausgesetzte Implikat einer effektiv bestehenden Zwangsordnung, kommt man weder zu angemessenen Urteilen über Formen totalitärer Herrschaft noch zu Argumenten grundsätzlicher Art gegen den sich unter dem Deck-

20

zur einführung

mantel der Demokratie ausbreitenden Maßnahme- und Ausnahmestaat.“ (Brumlik 2005: 23).

Durch den Hinweis auf dieses Problem und seine Auflösung soll natürlich kein moralisches Verdikt über jedes rechtspositivistische Denken gesprochen werden. Der antitotalitäre Rückgang auf das Naturrecht – die traditionelle Gegenposition zum Rechtspositivismus – in der Grundgesetz-Begründung ist zum Beispiel ein immer kontroverses Thema. Eine zentrale Frage für die historisch-politische Bildung ist nach wie vor: Wie las-sen sich die Verbrechen des Nationalsozialismus erklä-ren? Für das Verständnis von Rechten, in das hier im Zusammenhang mit den Menschenrechten eingeführt werden soll, ist die Auseinandersetzung mit dem „ju-ristischen Erbe“ des NS-Regimes, mit der Präsenz des im Nationalsozialismus sowohl „gesetzten“ als auch „gestalteten“ Rechtssystems, mit dem also, was oben „gesetzliches Unrecht“ genannt wurde, hilfreich. Denn 1945 als „Stunde Null“ erweist sich gerade in der Frage der Kontinuität des Justiz systems als falsche Vorstel-lung. „Die Legende von der dem wertfreien Gesetz un-terworfenen NS-Justiz war die legitimatorische Vor-aussetzung für die Übernahme der NS-Richter in den Staat des Grundgesetzes.“ (Perels 2007: 244).

Und das inzwischen geklärte Selbstverständnis der Bundesrepublik als Rechtsstaat – eben in klarer Kontur gegen den NS-Unrechtsstaat – musste erst nachträglich durchgesetzt werden. Gerade die Übernahme des Jus-tizpersonals aus der NS-Zeit, ihres Selbstverständnisses und auch ihrer Logik führte dazu, dass insbesondere in den menschenrechtlich sensiblen Bereichen eine ver-schleiernde Kontinuität hergestellt wurde. Im Sinne des Kontroversitätsgebotes der politischen Bildung

21

stellt sich hier die Frage: Gab es politische Alternativen zur Politik dieser Kontinuitäten?

Der Kampf um globale soziale Rechte

Menschenrechte sind auf eine komplexe Weise jeweils mit den nationalen, europäischen und internationalen Rechtssystemen verbunden; als Grundwerte in Verfas-sungen oder als Völkerrecht. In der Dynamik der trans-nationalen Rechtspolitik verstehen wir vor allem die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Rechte als Konfliktbereich gegensätzlicher Interessen. Die rechts-politischen Auseinandersetzungen in der globalen So-zial- und Umweltpolitik orientieren sich an den eman-zipatorischen Leitbegriffen der Menschenrechte wie Gerechtigkeit und „human security“. Kritisch zu fragen ist also, wem das transnationale Recht im Konfliktfall „dient“. Politische Bildung muss sich mit einem Fazit wie dem der Politikwissenschaft ler und Völkerrechtler Andreas Fischer-Lescano und Kolja Möller zum globa-len Recht auseinandersetzen: „Es bietet dem Neolibe-ralismus Rechtssicherheit, den Unternehmen weltweite Handlungsspielräume, den Investorinnen und Investo-ren Eigentumsschutz, dem Staat Legitimationsgründe für militärisches Handeln.“ (Fischer-Lescano/Möller 2012: 12).

22

zur einführung / literatur

Wie kann Rechtserziehung

als Teil der Menschenrechtebildungsarbeit

verstanden werden?

Menschenrechtebildung muss sich aktiv mit den mora-lischen Intuitionen der Teilnehmenden auseinander-setzen und sie zu klären versuchen. Wir wollen mit diesem Buch dabei helfen, Empathie im politischen und rechtlichen Raum umzusetzen, jenseits von Naivi-tät und diesseits von abgeklärtem „Realismus“. „Rechte lernen“ heißt natürlich zuerst, seine Rechte erkennen und durchsetzen. Aber das politisch-moralische Ge-flecht der Menschenrechte ist nicht nur zu verstehen als ein Instrument zur Durchsetzung von berechtigten In-teressen, sondern auch als ein Medium der demokra-tisch-kommunikativen Selbstverständigung. In der eta-blierten politischen Bildung gibt es dementsprechend den Ansatz der „Rechtserziehung“, der aus unserer Sicht aber noch nicht genau genug mit den vorhande-nen Ansätzen der Menschenrechtebildung verzahnt ist. Der Politikwissenschaftler Heinrich Ober reuter unter-streicht die Bedeutung von Ethik-Prinzipien und Rechts- fragen. Als Ziel der Rechtserziehung formuliert er: „Der Einzelne sollte die politische Funktion des Rechts für sich selbst und die Rechtsgemeinschaft erkennen und beurteilen können. Er sollte die Fähigkeit gewin-nen, den Rechtsstaat nicht als formale, sondern auf Gerechtigkeit und die Verwirk lichung fundamentaler ethischer Maximen verpflichtete Ordnung zu verste-hen.“ (Oberreuter 2005: 332).

Dazu soll auch der vorliegende Band 2 beitragen.

Niemand darf

willkürlich verhaftet,

gefangen gehalten

oder

des Landes verwiesen

werden.

Artikel 9

128

kurzkommentar

Die Straße der Menschenrechte in Nürnberg, Säule 9

129

Artikel 9

Fassbender kommentiert hierzu [Auszug]:

„Die Gewährleistungen des Art. 9 folgen aus der Ver-bürgung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit der Person in Art. 3. Der Gegenbegriff zu ‚willkürlich‘ ist ‚gesetzmäßig‘ (…)“ (Fassbender 2009: 97).

130

kommentierungen und kontroversen

Recht oder Willkür – der zentrale, aber nicht allein entscheidende Unterschied

131

Artikel 9

Festnahmen, Inhaftierungen und Ausweisungen sind gängige Maßnahmen im objektiv-rechtlichen

Rahmen des staatlichen Gewaltmonopols. Demgegen-über beinhaltet die subjektiv-rechtliche Seite, die in Ar-tikel 9 AEMR formuliert ist, den Schutz der Bürgerin-nen und Bürger. „Niemand darf …“. Und „niemand“ heißt hier auch in der Umkehrung: Alle Menschen sind überall vor willkürlicher Freiheitsberaubung durch Militär, Polizei, Geheimdienste oder paramilitärische Gruppen zu schützen. Entscheidend hier ist also: Wenn „festgenommen, in Haft gehalten oder des Landes ver-wiesen“ wird, muss dies auf rechtliche Art und Weise getan werden.

Das ist das Mindeste, sich aber damit zufrieden zu geben, wäre naiv.

Blicken wir mit Johannes Morsink zuerst wieder in die Akten der Sitzungen, die zur 1948 verabschiedeten Fas-sung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte führten. Bei der Diskussion des Artikels 9 wird dabei zuerst auf Unbestimmtheit der Kategorien verwiesen, mit denen im Nationalsozialismus Justiz und Polizei die Dekrete des Führers umsetzten (vgl. dazu Morsink 1999: 49), sodann kommt die Willfährigkeit zur Spra-che, mit der die Gerichtshöfe die Wünsche und Ziele der Nazis zu erfüllen suchten (ebd.). Als Alternative zum Begriff „willkürlich“ wurde „außer, wenn es das Gesetz vorschreibt“1 diskutiert (a.a.O.: 49 f.). Diese Va-riante wurde aber mit dem Hinweis auf die Nationalso-zialisten, die für ihre eigenen Unrechtstaten eine perfi-

1 Im englischen Original: „(...) except in cases prescribed by law

and after due process.“ (Morsink 1999: 49 f.).

132

kommentierungen und kontroversen

de gesetzliche Grundlage geschaffen hatten, verworfen. Die Gruppe der internationalen Diplomat_innen, Ju-rist_innen und Philosophen („the drafters“) dachte beim Verfassen des Artikels 9 der AEMR bei willkür-lichen und zugleich weisungsgemäß ausgeführten Ver-haftungen allerdings nicht nur an die Unrechtsaktio-nen der Nationalsozialisten, sondern auch mit Miss- trauen an die stalinistischen „Säuberungen“ der 1930er Jahre: „The drafters were just as suspicious of the Com-munist legal System as they were of the Nazi one.“ (Morsink 1999: 50).

Verbindliche Umsetzungen des Artikels 9

Das Anliegen der AEMR ist es insbesondere, allgemei-ne Normen zu formulieren und nicht in die konkrete juristische Umsetzung zu gehen, das gilt auch für Arti-kel 9 und die diskutierte Frage von Recht, Gesetz und Willkür. Sind dann die Verträge und Konventionen, die nach der Verabschiedung der AEMR im Jahr 1948 in ihrem Geist beschlossen wurden, juristisch verbind-licher?

Umsetzung in der EMRK

In der Europäischen Menschenrechteerklärung (EMRK) Artikel 5 von 19502 wird aufgelistet, in welchen Fällen eine Freiheitsentziehung zugelassen ist: nach einer Ver-urteilung durch ein zuständiges Gericht; als Durchset-zung einer gerichtlichen Anordnung (Erzwingungs-

2 Quelle: http://www.emrk.at/emrk.htm

133

Artikel 9

haft); zur Vorführung vor Gericht. In der Aufzählung finden sich dann aber auch problematischere Dimensi-onen, wie „bei Minderjährigen zum Zweck überwach-ter Erziehung“, „bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern“.

Umsetzung im IPBPR

Der UN-Zivilpakt (IPBPR) von 1966 lässt Festnah -men „aus gesetzlich bestimmten Gründen“ zu und legt dann genauer fest, worin die Rechte der Bürger_innen im Falle einer Festnahme bestehen: Sie müssen über die Gründe der Festnahme informiert werden, sie müs-sen unverzüglich einem Richter vorgeführt werden, sie haben das Recht, ein Verfahren vor Gericht zu be-antragen; sie müssen bei unrechtmäßiger Festnahme entschädigt werden. Im deutschen Grundgesetz ist die Freiheitsbeschränkung – im Anschluss an GG Artikel 2 („Die Freiheit der Person ist unverletzlich“) – in Artikel 104 definiert.

Gesetzes- und Richtervorbehalt

In der umfassenden Sammlung und Rechtsverglei-chung „Menschenrechte – Texte und Fallpraxis“ be-stimmt Albrecht Weber (Weber 2004) den Gewährleis-tungsinhalt des Schutzes vor unrechtmäßiger Frei - heits beschränkung oder, als weitergehender Form, der Freiheitsentziehung aus Artikel 2 und 104 des Grund-gesetzes genauer. Er verweist auf ein Bundesverfas-sungsgerichtsurteil zur „Einweisung eines Entmündig-ten in eine Anstalt“ (Weber 2004: 258), in dem es heißt:

IPBPR

Artikel 9, Absatz 1:

Jedermann hat ein Recht

auf persönliche Freiheit

und Sicherheit. Niemand

darf willkürlich festge -

nommen oder in Haft

gehalten werden.

Niemand darf seine

Freiheit entzogen wer-

den, es sei denn aus

gesetzlich bestimmten

Gründen und unter

Beachtung des im

Gesetz vorgeschrie-

benen Verfahrens.

134

kommentierungen und kontroversen

GG Artikel 104

(Rechtsgarantien bei Freiheitsentziehung)

(1) Die Freiheit der Person kann nur auf Grund eines förmlichen

Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen

Formen beschränkt werden. Festgehaltene Personen dürfen weder

seelisch noch körperlich misshandelt werden.

(2) Über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung

hat nur der Richter zu entscheiden. Bei jeder nicht auf richterlicher

Anordnung beruhenden Freiheitsentziehung ist unverzüglich

eine richterliche Entscheidung herbeizuführen. Die Polizei darf

aus eigener Machtvollkommenheit niemanden länger als bis zum

Ende des Tages nach dem Ergreifen in eigenem Gewahrsam halten.

Das Nähere ist gesetzlich zu regeln.

(3) Jeder wegen des Verdachtes einer straf baren Handlung vorläufig

Festgenommene ist spätestens am Tage nach der Festnahme dem

Richter vorzuführen, der ihm die Gründe der Festnahme mitzuteilen,

ihn zu vernehmen und ihm Gelegenheit zu Einwendungen zu geben

hat. Der Richter hat unverzüglich entweder einen mit Gründen

versehenen schriftlichen Haftbefehl zu erlassen oder die Freilassung

anzuordnen.

(4) Von jeder richterlichen Entscheidung über die Anordnung

oder Fortdauer einer Freiheitsentziehung ist unverzüglich ein

Angehöriger des Festgehaltenen oder eine Person seines Vertrauens

zu benachrichtigen.

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949

135

Artikel 9

„Artikel 2 Abs. 2 GG gewährleistet die Freiheit der Person schlechthin nur unter dem Vorbehalt gesetz-licher Eingriffe. (…) Artikel 104 Abs. 1 GG wiederholt und ergänzt den Vorbehalt für alle Freiheitsbeschrän-kungen. Für den schwersten Eingriff, die Entziehung der Freiheit, hingegen schränkt Art. 104 Abs. 2 GG den Vorbehalt des Gesetzes (…) durch den weiteren ver-fahrensrechtlichen Vorbehalt richterlicher Entschei-dung ein, der nicht zur Verfügung des Gesetzgebers steht. Die Gewährleistung grundsätzlich vorgängig zu treffender – notfalls unverzüglich nachzuholender – richterlicher Entscheidung ist somit die einzige Siche-rung für die Freiheit der Person, die auch den Gesetz-geber bindet; durch eine Nichtbeachtung dieser Ge - währleistung wird notwendig zugleich das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Freiheit der Person verletzt. (…)“ (BVerfGE 10, 302, 322 f.; zitiert nach Weber 2004: 258 f.).

Der berechtigten Skepsis gegenüber dem „legalisti-schen“ Denken – wenn es nur rechtlich angeordnet ist, dann geht es „mit rechten Dingen zu“ – ist so mit dem Verweis auf diesen Richter- und Gesetzes-Vorbehalt zu begegnen, dessen Wirkung und Sicherung aber von der tatsächlichen Unabhängigkeit von Exekutive, Judikati-ve und Legislative abhängt.

Es kommt also alles darauf an, dass die Gewalten-teilung tatsächlich funktioniert und keine Gleichschal-tung stattgefunden hat.

Hier stoßen wir auf eines der zentralen Hindernisse bei der Durchsetzung eines weltweiten Menschenrechte- schutzes: den Mangel an tatsächlicher, nicht nur forma-ler Gewaltenteilung, den Mangel an Unabhängigkeit der Justiz bei der Garantie der justiziellen Grundrechte.

„Gesetzes- und Richter-

vorbehalt sind aber

wesentliche Elemente

einer rechtsstaatlichen

Ordnung für freiheits-

entziehende Maßnah-

men und in den inter-

nationalen Konventio-

nen und beinahe allen

Verfassungstexten zu

Recht eng miteinander

verknüpft (…)“

(Weber 2004: 259).

136

kommentierungen und kontroversen

Beispiel Ermächtigung und „Führerprinzip“

Die Konstituierung der nationalsozialistischen Herr-schaft in den Jahren 1933–1935 vollzog sich über die Stationen: Gleichschaltung der Länder mit dem Reich (Gleichschaltungsgesetz vom 31. März 1933), Ausschaltung der konkurrierenden Parteien („Gesetz gegen die Neubildung der Parteien“, 14.7.1933) und die Gleichschaltung von Presse und Kunst („Gesetz über die Errichtung des Ministeriums für Volksauf-klärung und Propaganda“ vom 13.3.1933) (Hirsch/Ma-jer/Meinck 1984: 126 ff.). Die Zerstörung der Struktur-elemente der parlamentarischen Demokratie fiel um -so leichter, als viele der politischen Gegner schon mit Hilfe des von Hindenburg erlassenen Gesetzes „zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28.2.1933, nach dem Reichstagsbrand, ausgeschaltet worden waren. Die Ver- ordnung ermöglichte die willkürliche Festnahme ohne Haft- oder Durchsuchungsbefehl.

Das NS-Rechtsprinzip des völkischen Führerstaa-tes und der Einheit von Staat und Partei folgte aus dem Artikel 1 des „Gesetzes zur Behebung von Not von Volk und Reich“ vom 24.3.1933. Danach konnte nur die Reichsregierung und somit Adolf Hitler Gesetze und neues Verfassungsrecht erlassen. (Hirsch/Majer/Meinck 1984: 141).

Die Unabhängigkeit der Richter_innen gegenüber der Regierung und die Bindung der rechtsprechenden Gewalt an Recht und Gesetz gehörten auch in der Wei-marer Republik zum richterlichen Berufsethos; zur mentalen Grundausstattung der NS-Bewegung gehörte jedoch die Distanz zum rechtsstaatlichen Denken. Das NS-System musste also eine Kohärenz von rechtlich

137

Artikel 9

geordnetem Staatshandeln auf der Basis eines funktio-nierenden Justizsystems mit den Zielen von Räuber- und Mörderbanden schaffen. Das „Zusammenspiel“ lässt sich am Beispiel der sogenannten „Arisierung“ verstehen. Der Historiker Jörg Friedrich berichtet un-ter dem Titel „Normierung und Legalisierung staat-licher Kriminalität. Zu den Aufgaben der Justiz im Dritten Reich“ (Friedrich 1987: 55 ff.) von der Art der Kooperation zwischen einem Amtsgerichtsrat Leiss in Fürth und der NSDAP. Der Jurist fertigt die Kauf-urkunden für den faktischen Raub jüdischen Besitzes aus. Im zu den Akten gelegten Rechtsgutachten von Leiss heißt es sinngemäß: „Die Verträge sind äußerlich Kaufverträge und ihrem inneren Wesen nach Zwangs-enteignungen.“ (Nach: Friedrich 1987: 57).

Nicht nur bei der Zwangsenteignung, sondern ge-rade auch bei den Aktionen zur „Vernichtung“ von po-litischen Gegnern, von Menschen mit Behinderungen, von Juden, Sinti und Roma und Homosexuellen sieht Friedrich ein scheinbares Rätsel:

„Warum muss man bei der Entrechtung von Per-sonen ausgerechnet den Rechtsweg bestreiten? Darü-ber hat sich als erster der Führer gewundert. Hitler hielt die Justiz im Prinzip für entbehrlich und die Justiz hat zeit seiner Kanzlerschaft versucht, ihm das Gegenteil zu beweisen. Sie stand nämlich auf dem Standpunkt, dass der Staat immer Gesetzmäßigkeitsstaat sein müs-se, erst recht der Verbrecherstaat. Nur wenn das Staats-verbrechen legal ausformuliert werde, werde es über-haupt durchführbar“ (Friedrich 1987: 56). Nur dann können Gesetze und ihre Anwendenden maschinell und effektiv für das System und dessen Ziele arbeiten.

138

kommentierungen und kontroversen

„Nacht-und-Nebel-Aktionen“

Nach dem Sieg der deutschen Armeen über Frankreich erwuchs der Wehrmacht und der Gestapo ein neuer politischer und militärischer Gegner, die Résistance. Hitler entzog die Verurteilung von Täter_innen, bei de-nen nicht sofort ein Todesurteil durch die Wehrmacht gesprochen werden konnte, der Wehrmachtjustiz. „In allen anderen Fällen sollten die Täter ‚bei Nacht und Nebel‘ über die Grenze nach Deutschland geschafft und an einem geheimzuhaltenden Ort von der Umwelt abgeschlossen werden“ (Gruchmann 1981: 343). Auch zu diesem Teil des Terrorprogramms, das sich gegen jeden Widerstand in Westeuropa, Dänemark und Nor-wegen richtete, „NN-Aktion“ genannt, gab es einen auf den 7.12.1941 datierten „Führer-Erlass“, den der Ober-befehlshaber der Wehrmacht, Wilhelm Keitel, unter-schrieb (Gruchmann 1981: 344). Nach einem Dreivier-teljahr waren bei den drei zuständigen Staatsanwalt - schaften bereits Verfahren gegen mehr als 2400 Perso-nen im Gange. (Gruchmann 1981: 356).

Los Desaparecidos – die Verschwundenen und

die Praxis des Verschwindenlassens weltweit

Die willkürlichen Verhaftungen politischer Gegner_in-nen ohne Haftbefehl und richterliche Prüfung, ohne Verteidigung und Kontaktmöglichkeit mit der Außen-welt, diese verbrecherische Verfolgungsmethode wur-de in den 1970er und 1980er Jahren von den latein-amerikanischen Diktaturen im Namen der „Nationalen Sicherheit“ reaktiviert. „FEDEFAM, der lateinamerika-

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Artikel 9

„Die Verwandten der

Ermordeten, Vertrie-

benen, Gefangenen

und allen voran der

‚Verschwundenen‘

schlossen sich zu

Organisationen zu-

sammen, die immer

lauter nach ihren

Angehörigen riefen.

‚Lebend haben sie sie

verschleppt, lebend

wollen wir sie wieder‘

war das so schlichte wie

unter den gegebenen

Umständen radikale

Motto, mit dem sie,

da es unerhört blieb,

die Diktatur moralisch

bloßstellten.“

(Huhle 2002: 203)

weite Dachverband der Familienangehörigen der Ver-haftet-Verschwundenen, gibt als Gesamtzahl der Opfer dieser terroristischen Praxis 90 000 bis 100 000 an, von denen allein die Hälfte auf das kleine Guatemala ent-fällt.“ (Huhle 2002: 201).

Die Praxis des Verschwindenlassens als Teil der schmutzigen Kriege gegen die Subversion hatte in vie-ler Hinsicht Folgen, zuerst als Ausgangspunkt für viele Menschenrechtsgruppen des Kontinentes.

Sodann kommt als ein wesentlicher Konfliktpunkt im Rahmen des Überganges zur Demokratie in diesen Staaten die Forderung nach Aufklärung der Verbrechen und des Schicksals der Verschwundenen auf den Tisch. In Artikel 9, Absatz 5 des Zivilpaktes heißt es, dass den unrechtmäßig Verhafteten eine Entschädigung zusteht. Damit ist zuerst die materielle Wiedergutmachung ge-meint; jedoch wird zunehmend die gesellschaftliche Anerkennung des Unrechtes durch Strafverfolgung der Täter als ein notwendiger Bestandteil der Entschä-digung verstanden. So sind in den meisten Ländern, in der Regel unter maßgeblicher Beteiligung von Menschenrechtsgruppen, offizielle „Kommissionen für Wahrheit und Gerechtigkeit“ eingerichtet worden.

Es muss kaum ausdrücklich betont werden, dass diese Art der Menschenrechteverletzung für die Be-troffenen die Grausamkeit bereithält, auf keine Rettung hoffen zu können, weil niemand ihr genaues Schicksal kennt. Für die Angehörigen wird dem Leid noch die Ungewissheit und nicht beendbare Sorge hinzugefügt; insgesamt könnte die einschüchternde und terrorisie-rende Wirkung in der Öffentlichkeit nicht größer sein als durch Geheimoperationen „unbekannter Kräfte“, in Lateinamerika Paramilitärs genannt.