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MS-preprint-Version (wegen Copyright): erschien 2013 in: Familiendynamik, 38, 1, S. 12 - 21 Übersicht: Im Wettstreit systemtheoretischer Ansätze für klinische und psychotherapeutische Arbeit, sei es in Praxis oder Forschung, wird oft der synergetische Ansatz als „naturwissenschaftlich“ gekennzeichnet – nicht selten mit einem pejorativen Unterton, dass er damit für nicht-naturwissen- schaftliche Fragen weniger gut geeignet sei. Die Autoren zeigen hingegen auf, dass synergetische Systemtheorie als Strukturwissenschaft zu verstehen ist: Sie kann zwar auf Gegenstände des naturwissenschaftlichen Bereiches angewendet werden, genauso gut aber auch auf Prozesse, bei denen es um Sinn, Bedeutung, Narration, Interaktion etc. geht. Dialogisch erarbeiten die Autoren dabei Aspekte, die ihnen an der synergetischen Systemtheorie besonders wichtig sind, und erörtern, welche zentralen Fragen damit beantwortet bzw. untersucht werden können. Insbesondere wird diskutiert, was eine „strukturwissenschaftliche“ Perspektive eigentlich meint und warum ein solcher Ansatz sowohl für Fragen der Forschung als auch der Praxis besonders geeignet erscheint. Schlüsselwörter: Systemtheorie, Synergetik, Emergenz, Strukturwissenschaft, Autopoiese, Leib- Seele-Problem, body-mind, Embodyment, Reduktionismus, Kategorienfehler Systems Theory as Structural Science – Mediator between practice and research In the contest that exists between systems-theoretical approaches to clinical and psychotherapeutic work, both in research or practice, the synergetic approach is often referred to as "natural science", not infrequently with a pejorative undertone suggesting that is then less suitable for dealing with social and psychological issues The authors demonstrate that synergetic systems theory needs to be understood as structural science. Although it can be applied to subjects located in the scientific sphere, it can equally well be brought to bear on processes where issues like meaning, significance, narration and interaction are the central concern. In the form of a dialogue , the two authors home in on aspects of synergetic systems theory that are particularly important to them and indicate which central issues can be dealt with or investigated in this way. Special emphasis is given to the specific perspective in which the term »structural science« takes on meaning and why such an approach is particularly effective in broaching issues posed both by research and by clinical practice. Keywords: systems theory, synergetics, emergence, structural science, autopoiesis, body-soul problem, body- mind, embodiment, reductionism, category error Wir, die beiden Autoren dieses Beitrags, waren uns rasch einig, dass wir unseren Text für die LeserInnen dieser Zeitschrift dialogisch gestalten wollen. So werden trotz unserer grundsätz- lichen Übereinstimmung, Systemtheorie bevorzugt als „Synergetik“ zu betreiben und diese als Strukturwissenschaft zu verstehen, auch die Unterschiede in unseren Auffassungen deutlich (und wir sind selbst gespannt darauf, diese im Gespräch herauszuarbeiten). Vor allem aber

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MS-preprint-Version (wegen Copyright): erschien 2013 in: Familiendynamik, 38, 1, S. 12 - 21

Übersicht: Im Wettstreit systemtheoretischer Ansätze für klinische und psychotherapeutische Arbeit, sei es in Praxis oder Forschung, wird oft der synergetische Ansatz als „naturwissenschaftlich“ gekennzeichnet – nicht selten mit einem pejorativen Unterton, dass er damit für nicht-naturwissen-schaftliche Fragen weniger gut geeignet sei. Die Autoren zeigen hingegen auf, dass synergetische Systemtheorie als Strukturwissenschaft zu verstehen ist: Sie kann zwar auf Gegenstände des naturwissenschaftlichen Bereiches angewendet werden, genauso gut aber auch auf Prozesse, bei denen es um Sinn, Bedeutung, Narration, Interaktion etc. geht. Dialogisch erarbeiten die Autoren dabei Aspekte, die ihnen an der synergetischen Systemtheorie besonders wichtig sind, und erörtern, welche zentralen Fragen damit beantwortet bzw. untersucht werden können. Insbesondere wird diskutiert, was eine „strukturwissenschaftliche“ Perspektive eigentlich meint und warum ein solcher Ansatz sowohl für Fragen der Forschung als auch der Praxis besonders geeignet erscheint. Schlüsselwörter: Systemtheorie, Synergetik, Emergenz, Strukturwissenschaft, Autopoiese, Leib-Seele-Problem, body-mind, Embodyment, Reduktionismus, Kategorienfehler

Systems Theory as Structural Science – Mediator between practice and research In the contest that exists between systems-theoretical approaches to clinical and psychotherapeutic work, both in research or practice, the synergetic approach is often referred to as "natural science", not infrequently with a pejorative undertone suggesting that is then less suitable for dealing with social and psychological issues The authors demonstrate that synergetic systems theory needs to be understood as structural science. Although it can be applied to subjects located in the scientific sphere, it can equally well be brought to bear on processes where issues like meaning, significance, narration and interaction are the central concern. In the form of a dialogue , the two authors home in on aspects of synergetic systems theory that are particularly important to them and indicate which central issues can be dealt with or investigated in this way. Special emphasis is given to the specific perspective in which the term »structural science« takes on meaning and why such an approach is particularly effective in broaching issues posed both by research and by clinical practice. Keywords: systems theory, synergetics, emergence, structural science, autopoiesis, body-soul problem, body-mind, embodiment, reductionism, category error

Wir, die beiden Autoren dieses Beitrags, waren uns rasch einig, dass wir unseren Text für die LeserInnen dieser Zeitschrift dialogisch gestalten wollen. So werden trotz unserer grundsätz-lichen Übereinstimmung, Systemtheorie bevorzugt als „Synergetik“ zu betreiben und diese als Strukturwissenschaft zu verstehen, auch die Unterschiede in unseren Auffassungen deutlich (und wir sind selbst gespannt darauf, diese im Gespräch herauszuarbeiten). Vor allem aber

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ermöglicht es diese Art der Darstellung besser, Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf dialogische Weise herauszuarbeiten und deren Bedeutung für die konkrete Praxis zu verdeutlichen. So werden diese vielleicht auch leichter verständlich.

Statt mit einer abstrakten Definition von „Synergetik“ zu beginnen, wollen wir daher zunächst kurz schildern, wie wir überhaupt zu diesem Ansatz gekommen sind – denn wir vermuten, dass die Fragen und Probleme, die uns dorthin geführt haben, nichts von ihrer Bedeutung verloren haben, sondern auch heute noch viele Leser bewegen. Wir beginnen daher mit der Frage:

Was ist dir an der synergetischen Systemtheorie besonders wichtig – welche Fragen, die dich bewegen, werden damit beantwortet, welche bleiben ggf. offen?

JÜRGEN KRIZ: Was mich betrifft, so hat mich in den 1970ern die Frage umgetrieben, wie wir möglichst viele jener Phänomene erklären können, die zwar für Therapie, Beratung, Erziehung und Entwicklung relevant sind, aber nicht recht in das Schema passen, das mit dem Begriff „wissenschaftlich“ verbunden wurde. Mit Letzterem meine ich die Untersuchung der linear-kausalen Verbindung von Ursachen und Wirkungen und deren Analyse mit faktoren- oder kovarianzanalytischen Modellen. Solche Vorstellungen implizieren wiederum für die Praxis klare, monokausal begründete Interventionen, die ebenso monokausal begründete Wirkungen hervorbringen. Dagegen scheinen die beobachteten Prozesse in Therapie, Bera-tung usw. doch eher auf nichtlinear-sprunghafte, rückgekoppelte, vernetzte Weise zu verlau-fen. Und für die Praxis erschien und erscheint die Förderung selbstorganisierter Entwick-lungsdynamiken zumindest nicht weniger erfolgreich als direkte, instruierende Interventionen. Zu jener Zeit wurden auch in den Naturwissenschaften zunehmend Ansätze diskutiert, welche Selbstorganisationsvorgänge ins Zentrum stellten – ohne übrigens als „unwissenschaftlich“ diskreditiert zu werden, wie es damals vielfach in der Psychologie noch der Fall war. Die Selbstorganisation des Universums von Erich Jantsch (1979) oder Vom Sein zum Werden von Ilya Prigogine (1980), mit dem dieser einem größeren deutschsprachigen Publikum seine systemtheoretischen Konzepte vorstellte, für die er 1977 den Nobelpreis für Chemie erhalten hatte, waren für mich Meilensteine.

Auf der Suche nach guten Modellen für den humanwissenschaftlichen Bereich stieß ich dann Anfang der 1980er Jahre auf Varela und Maturana und deren Autopoiese, wobei ich mich zunächst mit Varela und, 1986 bei Luhmann in Bielefeld, auch mit Maturana ausgiebiger beschäftigte. Man merkt an der Erstauflage meiner Grundkonzepte der Psychotherapie von 1985, dass ich zunächst von dieser Konzeption angetan war. Nach einigen Jahren erschien mir aber Maturana und Varelas Version zu sehr auf die Biologie der Zelle, die Version von Niklas Luhmann zu sehr auf eine makrosoziologische Perspektive beschränkt. Ich kam daher (für mich) zu dem Schluss, dass jene Phänomene, die mit der Autopoiese gut erklärbar sind, nicht diejenigen sind, die mich im Kern interessieren – und umgekehrt: dass also die Fragen, die mich bewegen, mit diesem Konzept nicht befriedigend von mir behandelt werden können.

Im Kontrast dazu stand meine Erfahrung mit dem Band Erfolgsgeheimnisse der Natur: Synergetik, die Lehre vom Zusammenwirken, der 1981 von Hermann Haken erschien und in dieser recht populären Form größere Kreise mit der Synergetik vertraut machte. Obwohl fast

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alle Beispiele aus dem weiten Spektrum der Naturwissenschaften stammten – und die anderen für mich weniger überzeugend waren –, hatte ich, je länger ich mich mit dem Buch beschäf-tigte, den Eindruck, dass hier genau jene Fragen im Zentrum stehen, die auch mich bewegten.

Zentral finde ich an der Erklärungsleistung der Synergetik für klinische und therapeutische Fragen, dass das Entstehen von Ordnung und – für Therapie etc. noch wichtiger – der Über-gang von einem Ordnungszustand in einen anderen beschreibbar werden. Dazu gehört die Veränderung von Umgebungsbedingungen, welche solche selbstorganisierten Dynamiken bewirken – ein Aspekt, der uns als Therapeuten über die prozessförderliche Gestaltung solcher Bedingungen nachdenken lässt. Wesentlich ist auch die – schon in der Gestaltpsycho-logie zentrale – Beziehung zwischen einer Mikroebene (z. B. „Töne“) und einer Makroebene (z. B. „Melodie“). Dabei sind eben nicht nur die Bottom-up-Einflüsse (Töne Melodie) wichtig, sondern auch gleichzeitig die Top-down-Einflüsse (Melodie Töne) – denn ein „Grundton“ oder ein „Leitton“ ergibt sich erst aus der Melodie. Auch das ist in unserem Bereich typisch: Handlungen und Interaktionen erschaffen nicht nur einen sinnvollen Kontext, sondern dieser Kontext bestimmt gleichzeitig, wie eine Handlung oder Interaktion zu verste-hen ist, gibt ihnen somit eine spezifische Bedeutung. Zentral ist letztlich auch die „Komplet-tierungsdynamik“, welche die Tendenz beschreibt, dass ein teilweise geordnetes System diese Ordnung in der weiteren Dynamik (meist) komplettiert. So fällt nicht nur der Rest des Saales in einen gleichmäßigen Klatschrhythmus ein, wenn nur wenige Prozent des Publikums diesen vernehmbar vorgeben. Sondern typischerweise werden auch Ordnungen in semantischen Räumen – d. h. „Sinn“ – so komplettiert, dass weitere Information „in diesem Sinne“ (!) bevorzugt wahrgenommen, selektiert, verstanden und erinnert wird.

Ich glaube in diesen Aspekten stimmen wir voll überein. Auf dieser Basis habe ich dann im Rahmen einer Personzentrierten Systemtheorie (Kriz, 2004, 2010a) weitere Aspekte ausdif-ferenziert – wie „Sinnattraktoren“ oder „Synlogisation“ (Kriz, 2011a) – und die Verschrän-kungen unterschiedlicher Prozessebenen zu thematisieren versucht. Während dich wohl etwas andere Fragen bewegt haben.

Mich interessieren dein Weg zur Synergetik und deine zentralen Fragen.

WOLFGANG TSCHACHER: Mein Weg zur Synergetik entsprang aus dem Bedürfnis nach GUT, nach der "Grand Unified Theory". GUT ist gewissermaßen der Traum vom Schweizer-messer für alle wissenschaftlichen und praktischen Bedürfnisse, von der alles erklärenden Theorie. Die Rede von GUT ist in der Physik entstanden, wo man seit Langem nach einer Brücke sucht, die die Quantentheorie mit der Relativitätstheorie verbindet. Dieser Wunsch nach Integration vieler Fragen durch einen einzigen Ansatz bestand bei mir persönlich schon lange vor meiner "Entdeckung" der Systemtheorie – also eher wie eine romantische Gymnasiasten-Idee.

Eigentlich hätte ich von dieser Ausgangslage her Physik oder Philosophie studieren sollen, Sachfragen und berufliche Praxis interessierten mich kaum, eher nur das "große Ganze"; ich landete aber in der Psychologie ... In der Mitte des Studiums, auf der Suche nach einer Therapierichtung, die mich ansprechen würde, stieß ich, wieder zufällig, auf ein Video von Salvador Minuchin, das mir gefiel. Komischerweise war es also ein konkretes Anwendungs-

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beispiel, Familientherapie bei Anorexie, das mich auf die Systemtheorie brachte. Fortan war ich auf der Suche nach der "richtigen" Variante von Systemtheorie, die für die Psychotherapie (und für den Rest der Welt) geeignet wäre.

Mitte der 1980er Jahre entstand in Tübingen ein Diskussionskreis aus Leuten, die Physik, Pädagogik oder Psychologie noch studierten oder gerade abgeschlossen hatten. Ewald Johannes Brunner, der die Familientherapie in der pädagogischen Psychologie in Tübingen vertrat, hatte uns teilweise zusammengeführt. Dort prallten Varianten der Systemtheorie aufeinander: Luhmanns Ansatz, Chaostheorie, Autopoiese-Theorie und mathematische Selbstorganisationstheorie. Wir debattierten hitzig über die philosophischen Hintergrund-fragen des Konstruktivismus: War Musterbildung immer eine Konstruktion eines Beobachters oder ein realer Prozess in der materiellen Welt? Es wurde schnell klar, dass für mich persön-lich eher die naturwissenschaftliche Lesart der Selbstorganisationsidee infrage kam, nicht die idealistische des radikalen Konstruktivismus. Besonders wichtig waren mir dann zwei Begeg-nungen: zum einen mit dem Chaostheoretiker Otto Rössler in Tübingen und zum anderen mit dem Begründer der Synergetik, Hermann Haken, in Stuttgart. Hermann lud mich als Zuhörer zu seinem Kongress "Synergetics of Cognition" auf Schloss Elmau 1989 ein. Dort war eine Elite der Kognitionswissenschaft unter systemtheoretischer Prämisse versammelt (Haken & Stadler, 1990), und da habe ich ja auch dich, Jürgen, kennengelernt. Auf der Rückfahrt vom Kongress war ich euphorisch, denn ich hatte die passende Systemtheorie gefunden.

Danach ging alles sehr schnell. Günter Schiepek, Ewald Brunner und ich gründeten die Tagungsreihe der Herbstakademie, mit Hermann Haken als Mentor und zentraler Figur. Da die Elmau-Tagungen 1990 zu Ende gingen und die Herbstakademie 1990 in Bamberg zum ersten Mal stattfand, kann man sehen, wie eine Kontinuität systemischer Forschung entstand, die in der Herbstakademiereihe vor allem auf psychologische und sozialwissenschaftliche Fragen fokussiert ist.1 Wir veröffentlichten bald ein erstes Herausgeberbuch (Tschacher, Schiepek & Brunner, 1992), es entstanden in der Folge und bis heute zahlreiche interdiszi-plinäre Kontakte, Veröffentlichungen und Forschungsprojekte.

Welche Fragen werden mithilfe der synergetischen Systemtheorie beantwortet? Ich denke, es sind vor allem drei Fragenkomplexe, die durch die Synergetik zuerst einmal "infrage gestellt" werden, aber für deren Beantwortung die Synergetik dann auch Hypothesen anbietet: Ord-nungsbildung, Stabilität und Emergenz. Bei Ordnungsbildung besteht das Phänomen darin, dass bei einer neuen Systembildung (z. B. wenn Therapeut und Klient ein "Therapiesystem" bilden) nicht etwa die Komplexität des ganzen Systems rasant ansteigt, sondern im Gegenteil abnimmt. Dieser "Ordnungseffekt" wird durch die Synergetik vorhergesagt und hat die schöne Eigenschaft, auch empirisch gut prüfbar zu sein. Man kann die Ordnungsbildung auf verschiedenen Datenebenen untersuchen, etwa als nonverbale Synchronie oder auf der Ebene von Fragebogendaten (Tschacher, 2012). Mehr Ordnung war typischerweise verbunden mit besserer Therapiebeziehung und besserem Therapieergebnis.

Der zweite Fragenkomplex ist Stabilität: Die Synergetik sagt voraus, dass die neu entstehen-den Muster nicht etwa wie Kristalle unverrückbar und starr geordnet sind, sondern eher ein 1 Vgl. http://www.upd.unibe.ch/research/symposien.html [letzter Zugriff am 6.10.2012].

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elastisches, fließendes Gleichgewicht darstellen, einen sogenannten Attraktor. Eine kognitive Manifestation dieser Stabilitätseigenschaft ist die Gestaltwahrnehmung, etwa die der schon vor einen Jahrhundert beschriebenen Scheinbewegung. Gestalten kann man verwenden, um die kognitive Stabilität einzuschätzen. Ihre Stabilität und Prägnanz, so zeigt sich, ist in psy-chopathologischen Zuständen und Symptomen charakteristisch verändert. Schizophrene Pa-tienten können etwa Informationen aus verschiedenen Sinnesmodalitäten (Töne und visuelle Reize) weniger gut in eine stabile Gesamtgestalt einbinden (Tschacher & Bergomi, 2011).

Die dritte Frage betrifft die Emergenz. Ein komplexes System bildet aus der Mikroebene all seiner einzelnen Elemente eine Makroebene aus, von Hermann Haken als Ordnungsparameter bezeichnet. Das Verhältnis zwischen Mikro und Makro ist das einer zirkulären Kausalität, das hast du am Beispiel von Ton und Melodie ja anschaulich dargestellt. Die entscheidende Anschlussfrage ist hier natürlich: Welche Art von Ordnungsparameter bildet sich aus? Hat dieser Ordnungsparameter eine Funktion, einen "Sinn"? Hier befindet man sich schnell bei der Kernfrage der Philosophie des Geistes nach dem Verhältnis zwischen Gehirn (komplexe Mikroebene) und Kognition (Makroebene, Ordnungsparameter). Wir haben eine Intuition entwickelt, wie das Verhältnis zwischen Mikro und Makro aussehen könnte (Tschacher & Haken, 2007; Haken & Tschacher, 2010): Es wäre eine systemtheoretische Annäherung an die Intentionalität mentaler Prozesse, die bisher naturwissenschaftlich schlecht erklärt ist.

Jetzt bin ich schon in ziemlich komplizierte Details hineingeraten, die eigentlich nur zeigen sollen, dass die von Hermann Haken in der Physik entwickelte Synergetik so abstrakte und zugleich anschlussfähige Strukturen bereitstellt, dass sie auch in der Psychologie und syste-mischen Psychotherapieforschung fruchtbar werden können. Das eben ist das Kennzeichen einer Strukturwissenschaft oder Brückenwissenschaft, finde ich: abstrakt und anschlussfähig zu sein. Also lass mich zurückfragen, Jürgen:

Wir sind uns ja einig, dass synergetische Systemtheorie nicht als Naturwissenschaft, sondern als Strukturwissenschaft verstandenen werden sollte. Was bedeutet das ganz konkret für dich?

JÜRGEN KRIZ: Mich hat immer gewundert, dass in den Diskursen über Psychotherapie oft die synergetisch fundierte Systemtheorie als „Naturwissenschaft“ bezeichnet wurde – meist verbunden mit dem pejorativen Hinweis, dass Psychotherapie eben keine Naturwissenschaft sei und daher eine „Übertragung naturwissenschaftlicher Modelle auf die Psychotherapie“ problematisch bis falsch sei. Vermutlich führt die Tatsache, dass Haken Physiker ist oder dass die Synergetik zunächst in Bezug auf den Laser entwickelt wurde, leicht zu einem solchen Missverständnis.

Selbst bin ich aus drei Gründen lange gar nicht auf die Idee eines solchen Irrtums gekommen: Erstens, weil ich immer von den inhaltlich-klinischen Phänomenen und Fragen ausgegangen bin, zweitens, weil ich auf Haken über sein sehr interdisziplinäres Buch gestoßen bin, und drittens, weil ich zunächst über das Simulieren von klinischen Prozessverläufen herausfinden wollte, ob man die Prinzipien, die von Haken beschrieben wurden, tatsächlich brauchbar auch

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für klinische Prozesse verwenden kann. Bei der Präsentation auf Schloss Elmau (vgl. Kriz, 1990) lernten wir uns ja, wie du eben schon erwähnt hast, erstmals kennen.

Als ich dann aber meinen Studierenden – und anderen in Seminaren, Vorträgen oder Work-shops – die bereits von dir benannten Prinzipien (Musterbildung, Stabilität, Emergenz und Ordnungs-Ordnungs-Übergang, Bottom-up- und Top-down-Dynamik) auch an Beispielen aus den Naturwissenschaften verdeutlicht habe, merkte ich bald, welche Probleme diese damit hatten. Strukturelles Denken, wo Beispiele nur die Strukturen und Prinzipien verdeutlichen sollen, ist offenbar für viele nicht selbstverständlich. So begegnete ich in Prüfungen bei der Thematik von Ordnungsbildung im Bereich psychischer Prozesse bisweilen unsinnig-aben-teuerlichen Vorstellungen – etwa, dass das „Gehirn erhitzt“ werden müsse –, was offenbar aus einer allzu wörtlichen Übertragung des Beispiels geordneter Bewegungsrollen bei der Benard-Instabilität in einen völlig anderen Gegenstandsbereich resultierte. Die Benard-Instabilität ist ja eines der meistzitierten Beispiele für Selbstorganisationsprozesse, in dem sich durch Erhitzen einer viskosen Flüssigkeit plötzlich hoch geordnete, hexagonale Konvektionsrollen bilden.

Allerdings muss angemerkt werden, dass sich solche allzu naturalistischen Deutungen selbst bei Autoren finden, die es eigentlich besser wissen müssten: So hat eine Gruppe um Günter Schiepek noch vor einem Jahrzehnt gefordert, für Veränderungen „energetisierende (…) Bedingungen zu schaffen“ (Schiepek et al., 2000, S. 174), und davon gesprochen:

„Sicherlich handelt es sich bei den Kontrollparametern psychischer und sozialer Prozesse um Energetisierungen aus den Systemen selbst heraus und nicht um solche, die extern zuführbar und experimentell kontrollierbar wären (...) Externe müssen immer erst in systeminterne Energetisierungen transformiert werden“ (ebd.).

Was dann (u. a.) in dem Prinzip mündet, man müsse als Therapeut oder Coach „Kontroll-parameter identifizieren/Energetisierungen ermöglichen“ (ebd., S. 175). Diese Vorstellung der „Energetisierung“ – die aus der Anwendung der Synergetik auf Objekte der Naturwissen-schaften stammt – pflanzt sich bis in die jüngste Zeit fort: So übernimmt Rufer (2012) in dem ansonsten systemtheoretisch ausgezeichneten Werk diese „Energetisierung“ als eines der generischen Prinzipien therapeutischer Veränderung. Nun habe ich zwar selbst ein Faible für naturwissenschaftliche Beispiele. Zum einen, weil diese die Psychologie und Psychotherapie an den interdisziplinären Diskurs mit den anderen Disziplinen anschlussfähig machen. Zum anderen aber auch, weil die Phänomene viel leichter abgrenzbar und isolierbar sind, als wenn ich gleich die Prozesse in einer Familie betrachte. Allerdings ist klar, dass solch eine physikalistische Begrifflichkeit von „Energetisierung“ weder zulässig ist noch etwas zur Klärung der Selbstorganisation bei psychischen, sozialen und kulturellen Prozessen beitragen kann. Das hat mich zunehmend dazu gebracht, natur-wissenschaftliche Beispiele zu vermeiden und die Prinzipien, auf die es uns ankommt, gleich auf den Phänomenbereich psychischer und sozialer Prozesse zu beziehen und, damit verbun-den, spätestens seit dem Beitrag für die 16. Herbstakademie in Jena (2010) konsequent von Synergetik als Strukturwissenschaft zu sprechen (Kriz, 2011b).

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Ordnungen, deren Bildung und Veränderung im Bereich des Psychischen und Sozialen liegen, können wir ohne größere Schwierigkeiten konzeptionell so fassen, dass dies für die Erfahrun-gen der Praktiker ebenso anschlussfähig ist wie für die Forschung, beobachtbare Größen sinn-voll zu definieren – auch wenn dies im Detail noch Arbeit machen wird.

Etwas schwieriger scheint mir, das, was in Bezug auf Naturobjekte „Energetisierung“ genannt wurde, konzeptionell sauber zu übersetzen (weshalb wohl auch diese unsinnige Idee herum-geistert). Es geht dabei ja um die Bedingungen der Systemumgebung (formell repräsentiert in den Kontrollparametern), welche ggf. z. B. einen Phasenübergang hervorrufen. Im üblichen Leben – wo ja sehr häufig „Phasenübergänge“ stattfinden, in Adaptation an neue Bedingun-gen – ist es das, was ich „Entwicklungsaufgaben“ genannt habe. Und ebenso bedeutet Thera-pie eine Förderung solcher Umgebungsbedingungen. Klar ist auch, dass es nicht um Energie, sondern um Information geht – oder, besser, um Bedeutung (da sicher die übliche „Informa-tions“-Definition von Shannon & Weaver hier untauglich ist, weil es dort eher um Transmis-son geht). Ein Phasenübergang im Bereich von Sinn- und Bedeutungsprozessen ist also m. E. immer mit Bedeutungsanreicherung verbunden (die dann, im neuen Sinnattraktor, wieder etwas reduziert wird). Ich habe da auch schon weitergehende Vorstellungen – gebe aber zu, dass diese Frage eine der größten „Baustellen“ darstellt (zumindest in der Personzentrierten Systemtheorie).

Es ist spannend zu hören, ob du das auch so siehst, ob du Ideen dazu hast, oder ob dich ganz andere (Detail-)Probleme umtreiben?

WOLFGANG TSCHACHER: Es treiben mich ganz ähnliche Probleme um, vielleicht kann ich die aus etwas anderer Perspektive darstellen. Wenn ich unser Feld der Psychologie und Psychotherapie betrachte, sehe ich eine stattliche Reihe von Kategorienfehlern, die hier dauernd anlanden. Der naturwissenschaftliche Begriff der Energie, den du nennst, ist ein gutes Beispiel dafür, denn Energie existiert schlicht nicht in psychischen oder kognitiven Systemen. Er ist dort nicht definiert, stattdessen gibt es aber doch geeignetere psychologische Begriffe für Kontrollparameter wie Motivation, Valenz, Affordanz. Es gibt auch keine "Energieflüsse", wie von der Bioenergetik oder bei Wilhelm Reich im Körper vermutet, keine "Staus" von fließender Energie oder Ähnliches. Das sind alles lediglich Metaphern, die von weither, näm-lich aus der Physik, entliehen wurden. Insgesamt finde ich es essentiell, zwischen Materie und Geist zu unterscheiden, um dann darauf hinzuarbeiten, dass vielleicht eine Brücke zwischen beiden in Form tiefer struktureller Analogien entsteht. Für diese Brücke sorgt eben, da sind wir uns einig, die synergetische Systemtheorie.

Der Kategorien-Kuddelmuddel geht in der Gegenwart munter weiter, und zwar auf dem Ge-biet der Neurobiologie. Es gibt eine Inflation an echten und auch selbst deklarierten Hirnfor-schern, die sich daran gemacht haben, alle Fragen der Psychologie zu erklären oder wegzu-erklären. In den letzten Jahren haben wir auf allen Medienkanälen erfahren dürfen, was "aus Sicht der Hirnforschung" von Gott und der Welt zu halten ist: dass die Welt eine Fiktion des Gehirns sei; dass wir keine Willensfreiheit besäßen; dass unser Gehirn immer schon vor unse-rer Entscheidung entschieden habe; dass das Internet/der Computer zur digitalen Demenz

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führe; dass das Internet/der Computer das Gehirn intelligenter mache. Die Hirnforscher wis-sen verdächtig genau, was das Gehirn weiß, wie es lernt, wie es träumt. Eine Schlagzeile der Illustrierten stern lautete: "Wie das Gehirn merkt und vergisst". Der englische Neuropsycho-loge Chris Frith schreibt: "like all our experiences, our sense of ownership and agency are created by our brain" (Carter, 2002). Es kursieren viele weitere solche Behauptungen und Redeweisen. Sie haben eines gemein: sie sind aus prinzipiellen logischen Gründen unzutref-fend und irreführend. Es handelt sich nämlich um Kategorienfehler!

Das muss ich kurz ausführen, denn es ist wichtig im Hinblick auf Synergetik als Strukturwis-senschaft. Das Gehirn ist ein materielles System, das daher mit den Mitteln der Naturwissen-schaften gekennzeichnet werden kann. Gültige Maße sind Meter, Sekunde, Gramm, Volt, Konzentration und viele andere mehr. Man kann Prozesse in materiellen Systemen zudem räumlich genau lokalisieren. Ein materielles System kann jedoch nicht wissen, merken oder vergessen, denn dies sind intentionale Begriffe über etwas, die sich also auf einen Inhalt oder eine Bedeutung beziehen. Die Physik besitzt keine Metrik für Bedeutung, so etwas finden wir nur bei mentalen/kognitiven Systemen (Tschacher, Bischkopf & Tröndle, 2011). Umgekehrt kann ein mentales System nicht mit physikalischen Begriffen der räumlichen Ausdehnung, der Spannung oder der Energie beschrieben werden, und es hat auch keine Lokalisation. Dies wären schlicht die falschen Begriffe für kognitive Vorgänge. Deswegen ist das Denken auch nicht "im Kopf", genauso wenig ist Zorn "in der Amygdala". Passende Beschreibungen sind dagegen etwa: an etwas denken, etwas wissen, auf etwas zornig sein, vergessen von etwas. Dies nennt man nach Brentano (1874) Intentionalität: Der Geist kann sich auf etwas beziehen, etwas repräsentieren. Materielle Systeme tun so etwas erst einmal nicht.

Erst wenn man diese "cartesianische" Unterscheidung der Kategorien Geist und Materie durchgeführt hat, kann man mit klaren Begriffen daran gehen, sie aufeinander zu beziehen. Das damit umrissene Leib-Seele-Problem ist sicher die größte Baustelle, die es in der Philosophie und der Psychologie gibt. In der Philosophie ist das Problem uralt, aber in der Psychologie ist es gewissermaßen brandaktuell, denn die Psychologie als Wissenschaft vom Erleben und Verhalten befindet sich haargenau über dem Graben zwischen Geist (Erleben) und Materie (Verhalten). Dass zur Verhaltensseite noch das neuronale und humorale Geschehen hinzukommt, macht die Situation nicht einfacher (Jäncke & Petermann, 2010). Jäncke schlägt nun vor, die Psychologie mitsamt der Biologie zur Strukturwissenschaft zu erheben, aber das ergibt meiner Meinung nach wenig Sinn: Die Psychologie hat ja doch das Problem, aber nicht die Lösung ...

Der Weg zur Lösung müsste nach Meinung zahlreicher Autoren der Philosophie des Geistes eine Art emergentistische Systemstruktur sein. Daraus ergibt sich eine Bekräftigung unserer bereits oben geäußerten Idee, dass Systemtheorie – mit dem zentralen Phänomen der Selbst-organisation – der geeignetste Kandidat für eine Strukturwissenschaft ist.

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Was bedeutet es für die Forschung, wenn strukturwissenschaftliche Aspekte betont werden?

WOLFGANG TSCHACHER: Ich habe mich lange mit dieser Frage auseinandergesetzt. So, wie ich es sehe, gibt es zwei Möglichkeiten für die Psychologie, die synergetische System-theorie als Strukturwissenschaft zu nutzen. Die erste ist, die gesamte Struktur synergetischer Konzepte in das zu modellierende Feld (für Psychologen ist das der Bereich Kognition oder soziale Kommunikation) hinein zu übertragen. Im angezielten Feld werden dann die Analoga für die drei zentralen Konzepte "Kontrollparameter" – "komplexe Mikroebene des Systems" – "emergierende Makroebene des Systems" bestimmt. Dadurch wird es möglich, die von der Synergetik vorhergesagten Prozesse und Phänomene ("Musterbildung", "Phasenübergang", "Stabilität" usw.) zu operationalisieren und als Hypothesen zu prüfen. Dieses Vorgehen ist ziemlich plausibel und lässt sich auf kognitive wie auch auf soziale Ziel-Systeme anwenden; das Schöne und Unproblematische ist, dass man keine unterschiedlichen Kategorien im Ziel-System verwendet. Wenn also das Ziel ist, die Selbstorganisation eines kognitiven Systems unter einer bestimmten Fragestellung zu modellieren, ist der Kontrollparameter eine kognitiv-motivationale Inputvariable, die Mikroebene besteht aus kognitiven Elementen und die Ma-kroebene aus übergeordneten kognitiven Strukturen und Mustern. Man bleibt also innerhalb derselben Kategorie, kein Sprung über den Leib-Seele-Graben ist nötig, kein Kategorienfehler droht.

Die anspruchsvollere Verwendung der synergetischen Systemtheorie als Strukturwissenschaft ist aber diejenige, die davon ausgeht, dass mit der Emergenz von Mikro zu Makro auch ein Sprung von einer Kategorie zu einer anderen verbunden ist. Die Modellierung ist dann folgen-dermaßen: Die Mikroebene ist ein komplexes physikalisches System wie das Gehirn (mithin aus der Kategorie "Materie"), die emergierende Makroebene des Systems ist ein kognitiver Zustand (also Kategorie "Geist"). Solche Modelle sind von Bedeutung für die grundlegenden philosophischen Fragen nach der Emergenz (bzw. Supervenienz) des Mentalen aus dem Materiellen (Beckermann, 2008). Kategorienüberschreitende Modellierungen spielen auch eine Rolle im Rahmen von Embodiment des Geistes, was in den vergangenen Jahren zu einem bedeutenden Thema in der Psychologie geworden ist (Storch et al., 2010). Verkörpertes Den-ken (embodied cognition) bedeutet, dass körperliche oder motorische Kontrollparameter (Kategorie "Materie") einen ausschlaggebenden Einfluss auf die Ausbildung kognitiver Muster haben (Kategorie "Geist"). Solche die Kategorien überschreitenden Zusammenhänge wurden in der herkömmlichen Psychologie wenig beachtet, solange man sich an der "Compu-termetapher" des Geistes orientierte. Zunehmend aber wird anerkannt, dass der Geist im Körper und in die physikalische Umwelt eingebettet ist – Geist also embodied und situiert ist.

JÜRGEN KRIZ: Auch bei diesen Themen sind wir uns weitgehend einig (mehr übrigens, als ich vermutet hätte): Auch mir sind die ständigen Kategorienfehler des Neuro-Bla-Bla – wo die Amygdala Gefühle hat und sich Gedanken macht – ein Graus. Und deine Einschätzung, welche Forschungsfragen relevant sind, teile ich.

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Was den ersten Bereich betrifft – Verzicht auf den Leib-Seele-Brückenschlag – scheinst du mir allerdings die Probleme zu unterschätzen (mit denen ich mich seit Jahren herumschlage): Nehmen wir einmal den Satz „Fritz hat eine Verhaltensstörung“ als Sinnattraktor in den kognitiven Prozessen einer Familie. „Attraktor“ ist hier wirklich passend, weil durch diese Beschreibung viele Wahrnehmungen, Deutungen, Erinnerungen reduzierend geordnet und stabilisiert werden (Kriz, 2010b). Und wir würden als Therapeuten tatsächlich den Kontroll-parameter „Deutungsvielfalt“ erhöhen (indem wir z. B. viele konkrete Situationen abfragen, die angeblich „Verhaltensstörung“ bedeuten, in denen aber deutlich wird, dass diese Situa-tionsvielfalt auch eine weit größere Bedeutungsvielfalt hat). Destabilisierung dieses Sinn-attraktors durch Deutungskomplexität kann zu einem Phasenübergang (= neue(n) Sinn-attraktor(en)) führen. So weit, so gut.

Gleichwohl wirken hier Interaktionsmuster mit, die zwar teilweise auch mit Sinn und Deutun-gen zu tun haben, teilweise aber auch einfach eingeschliffene Verhaltensmuster sind, die durchaus etwas anderes sind als die Bedeutungen, welche ihnen die Teilnehmer geben. In aller Kürze kann ich hier nur andeuten, dass eben auch hier unterschiedliche Prozessbereiche zum Tragen kommen. Ähnlich schwierig wird es, wenn wir das mit berücksichtigen, was wir „Kultur“ nennen: übergenerationelle, historisch verankerte Strukturen, die sich auch nicht nur in Bedeutungsstrukturen auflösen lassen. Ich finde solche Fragen ebenso packend wie auch für die Psychotherapie relevant – und gleichzeitig schwierig zu fassen, wenn man dies präzise strukturwissenschaftlich-systemisch rekonstruieren will.

Zu dem zweiten von dir benannten Bereich – den ich ebenfalls sehr spannend finde – würde ich gern noch die andere Wirkrichtung mit hinzunehmen wollen: Es wird ja nicht nur der Geist durch den Körper beeinflusst, sondern auch umgekehrt, wie Mechsner et al. (2001) in sehr faszinierender Forschung gezeigt haben. Wenn etwa der linke und der rechte Arm Kreis-bewegungen im Verhältnis von z. B. 5:7 durchführen sollen, so ist die Gesamtbewegung recht komplex. Schafft man durch Zahnrad-Übersetzungen im selben Verhältnis, dass sich zwei Zeiger dabei symmetrisch bewegen, so führt diese kognitive Vorstellung von Symmetrie dazu, dass die Motorneuronen sich so koordinieren, dass diese komplizierte Bewegung auf Anhieb möglich wird – aber nur, solange man sich nicht bewusst fragt: „Wie bewege ich hier eigentlich meine Hände?“ D. h., wir haben einen recht klaren Top-down-Effekt vom Geist in den Körper (um das salopp zu formulieren). Ich denke, dass diese Seite der Medaille nicht weniger spannend für weitere Forschung ist als die von dir gekennzeichnete.

WOLFGANG TSCHACHER: Ich finde es ausgezeichnet, dass du hier zuletzt noch komplet-tierst mit dem Top-down-Effekt Geist Körper. Vielleicht ist das ein schöner Abschluss-Sinnattraktor unseres Ping-Pong-Spiels zwischen Osnabrück und Bern, durch das wir iterativ diesen Artikel geschrieben haben! Dieser Sinnattraktor ist nicht so praxisnah geworden, wie beim Aufschlag zum Spiel geplant, betrifft aber ein Thema von grundlegender Bedeutung. Wenn wir weiterhin glauben dürfen wollen, dass der Geist eine Rolle spielt in der Welt, dann muss es solche Top-down-Effekte geben. Die Neuroreduktionisten und dogmatischen Mate-rialisten vertreten das Gegenteil: Die materielle Welt sei "kausal abgeschlossen", also spiele kein Gedanke, kein Wille, keine Idee jemals eine Rolle – alles Täuschung des Gehirns. Der

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Geist wird zum Epiphänomen, zum Schaum auf der Welle. Die praktischen Folgerungen sind sonnenklar: Doping statt Motivation, Elektrostimulation statt Therapie, Tablette statt Päda-gogik. Wenn man das nicht wirklich will, muss man auch und gerade philosophisch Stellung beziehen. Dabei kann man sehr wohl auf naturwissenschaftliche Befunde verweisen: Die phy-sikalische Welt ist ja gar nicht abgeschlossen, wissen die Physiker und Kosmologen ("dunkle Materie"); die Kausalität an der Basis, in der Quantentheorie, ist ebenfalls mit dem Alltags-verständnis der Hirnforscher von Kausalität nicht vereinbar.

JÜRGEN KRIZ: Da will ich, zustimmend, nur noch eines meiner Lieblingszitate anfügen. Ein dem Menschen, der heutigen Zeit und einer strukturwissenschaftlichen Systemtheorie ange-messenes Weltverständnis hat der Quantenphysiker Werner Heisenberg bereits 1955 so aus-gedrückt:

„Wenn von einem Naturbild der exakten Naturwissenschaften in unserer Zeit gesprochen werden kann, so handelt es sich eigentlich nicht mehr um ein Bild der Natur, sondern um ein Bild unserer Beziehung zur Natur.“

Dieses Zitat macht deutlich, dass selbst die Physik längst die Idee aufgegeben hat, sie könne zu einer rein objektiven, vom Menschen und seiner geistigen Erkenntnisfähigkeit unabhän-gigen Ordnung dieser Welt vordringen.

Auf Psychologie und Psychotherapie übertragen, lässt sich freilich die Frage auch so formu-lieren, welches Bild unserer Beziehung zur bio-psycho-sozialen Natur – dem Menschen – wir eigentlich abgeben wollen. Und ich weiß, da sind wir beide uns einig: Gerade eine struktur-wissenschaftlich verstandene synergetische Systemwissenschaft vermag das Bild einer adä-quaten und würdigen Beziehung zu begründen, bei dem der Mensch in seinen komplexen, intentionalen, kreativen und selbstaktualisierenden Lebenszusammenhängen und deren Entwicklungspotenzialen nicht unnötig auf einfache und/oder effiziente Wirkzusammenhänge reduziert wird.

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