2014 LVZ - 25 Jahre Revolution in Leipzig

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2014 LVZ - 25 Jahre Revolution in Leipzig

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    ebola-Patient wird jetzt in leiPzig behandeltDer Ernstfall ist da: Mediziner im Klinikum St. Georg kmpfen unterhchsten Sicherheitsstandards um das Leben eines sudanesischen UN-Mitarbeiters Seite 6

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    Ausgerechnet zu Beginn dieser Wo-che, die nun gestern in Leipzig imgroen Festakt zum 9. Oktober kulmi-nierte, outete der Spiegel Inter-viewpassagen von Helmut Kohl (84), diegeeignet sind, am Mythos der Helden-stadt zu kratzen. Der Sozialismus seiEnde der 80er-Jahre wirtschaftlich amArsch des Propheten gewesen, wirdKohl zitiert und: Es ist ganz falsch, sozu tun, als wre da pltzlich der heiligeGeist ber die Pltze in Leipzig gekom-men und hat die Welt verndert.

    Nun, ob mit oder ohne heiligem Geist in einem Gotteshaus, in Leipzigs SanktNikolai, nahm die Bewegung jedenfallsihren Anfang, drngte von dort auf dieStrae und wurde letztlich am 9. Okto-ber 89 von 70000 Menschen getragen.

    Ganz klar: Die DDR und mit ihr dergesamte Ostblock war damals tatsch-lich wirtschaftlich am Ende. Doch diekonomische Implosion, die Mangelge-sellschaft und selbst Hungersnte rei-chen nicht unbedingt aus, ein totalitresSystem zum Einsturz zu bringen. Daszeigt das Beispiel Nordkorea. Der Leip-ziger Knstler Michael Fischer-Art hatvor ein paar Tagen in dieser Zeitung auseigenem Erleben geschildert, wie es dortaussieht: Tristesse, Beton und Polizei.

    Die Unfhigkeit der zentralistischenDDR-Planwirtschaft, die Bedrfnisse derMenschen zu befriedigen, hat zweifellosdazu beigetragen, dass es zu allgemei-ner Frustration, Wut und letztlich auchWiderstand kam. Aber diesen am Knei-pentisch, bei Familienfeiern, im Fuball-stadion, bei Rockkonzerten diffus geu-erten Frust irgendwie zu bndeln, zu-sammenzufassen und letztlich klar zu ar-tikulieren, dazu bedurfte es nicht desheiligen Geistes, wohl aber mutigerMenschen, wie etwa Rolf Henrich (74)aus Eisenhttenstadt, der im April 1989das Buch Der vormundschaftlicheStaat im Westen verffentlichte, dasdann als Handabzug im Osten kursierteund wichtiger Impulsgeber fr die sichformierende Brgerbewegung war. Die70000 von Leipzig am 9. Oktober 89mussten den Mut aufbringen, auf dieStrae zu gehen und zu sagen: Wir sinddas Volk! Der groe Lmmel (Heine),der sich nicht mehr einlullen lassen woll-te, und dann in Leipzig einen Protest-sturm lostrat, ohne den die Mauer am9. November nicht gefallen wre.

    Und so hat Leipzig gestern vllig zuRecht mit einem groen Fest seine Vor-reiterrolle bei der berwindung der al-ten Ordnung vor 25 Jahren gefeiert. MitJoachim Gauck sprach ein Mann, dermit hiesigen Verhltnissen aus eigenemErleben vertraut war und der deshalbbei der Aufzhlung der vielen Akteurevon einst einen Namen nannte, der inden zurckliegenden Tagen des Erin-nerns nicht gefallen war: Michail Gor-batschow (83)! Moskau schickte keineTruppen mehr, Gorbatschow sei Dank!,sagte Gauck und das war sehr wichtig.Wenn die Russen nicht stillgehalten ht-ten, wre aus der friedlichen Erhebungeine blutige Niederschlagung gewor-den. Gott sei Dank kam es anders!

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    Gott sei Dankkam es anders

    leitartikelVonJAn EMEnDRFER

    Deutsche Exporte brechen einWirtschaftsforscher senken Wachstumsprognose auf 1,3 Prozent

    BeRlin. Die fhrenden deutschen Wirt-schaftsforschungsinstitute haben dieBundesregierung aufgefordert, mit h-heren Ausgaben die Wachstumskrftezu strken und gnstige Rahmenbedin-gungen fr Investitionsttigkeit zu set-zen. Angesichts erwarteter ffentlicherFinanzierungsberschsse in Hhe vonsieben Milliarden Euro in diesem undvon drei Milliarden Euro im nchstenJahr wre eine Minderung der Abga-benbelastung durchaus mglich, schrie-ben die Einrichtungen, darunter auchdas Institut fr Wirtschaftsforschung Hal-le, in ihrem gestern in Berlin vorgeleg-ten Herbstgutachten.

    Sie reagierten mit ihrem Vorschlagauf die sich abkhlende Konjunktur. Vor

    allem der Export, wichtigste Sttze derKonjunktur, bricht regelrecht ein. Im Au-gust gingen die Ausfuhren zum Vormo-nat drastisch um 5,8 Prozent zurck.

    Erste Konsequenz: Die Institute senk-ten ihre Prognose fr das Wirtschafts-wachstum 2014 von 1,9 auf 1,3 Prozent.Im nchsten Jahr erwarten sie eine Zu-nahme der Wirtschaftsleistung von 1,2Prozent. Im Frhjahr waren sie noch voneinem Plus von 2,0 Prozent ausgegan-gen. Verantwortlich fr die schlechtereLage seien in erster Linie die internatio-nalen Krisenherde. Allerdings gebe esauch Gegenwind aus der Bundespolitik.Das Rentenpaket und die Einfhrungdes flchendeckenden Mindestlohnswirkten wachstumshemmend. miFo

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    Gauck in Leipzig: Die Sehnsucht nachFreiheit war grer als die FurchtGroer Festakt zum Gedenken an den 9. Oktober 1989 / 200000 Menschen beim Lichtfest

    leipzig. Hier wurden vor 25 Jahren dieWeichen gestellt fr das Ende der SED-Diktatur. Joachim Gauck verneigte sichgestern mehrfach verbal vor Leipzig undstellte die Vorreiterrolle der Messestadtbei der Friedlichen Revolution in derDDR heraus. In seiner Festrede vor 1700Gsten im Gewandhaus anlsslich derentscheidenden Montagsdemonstrationvom 9. Oktober 1989 in Leipzig stellteGauck fest: Die Sehnsucht nach Frei-heit war grer als die Furcht. Mit ih-ren friedlichen Protesten gegen das Sys-tem gewannen die DemonstrantenSelbstachtung und Wrde zurck, sagteder Bundesprsident und hob hervor:Der damals in Leipzig kreierte Ruf Wirsind das Volk! fasse auch heute dasGrundprinzip der demokratischen Ge-sellschaft zusammen.

    Gauck rief zu mehr demokratischemEngagement und zum Kampf gegenHass und Intoleranz auf. Er forderte er-neut, Deutschland msse Verantwortungauch im europischen und globalen Rah-men bernehmen. Wir drfen niemalsvergessen, dass unsere Demokratie nichtnur bedroht ist von Extremisten, Fanati-kern und Ideologen, sondern dass sieausgehhlt werden und ausdrren kann,wenn die Brger sie nicht mit Leben er-fllen. Als Lehre aus der Geschichteforderte Gauck mehr Einsatz fr die de-mokratischen Werte. Nur so finden In-toleranz, nationalistische Hybris, Hassund Gewalt keinen Nhrboden.

    Sachsens Ministerprsident StanislawTillich (CDU) stellte fest, dass die Zu-stimmung zur Demokratie heute nichtmehr so gro ist, wie sie es noch vor25 Jahren war. Er vermisse das Engage-

    ment der Menschen fr Freiheit und De-mokratie. Damals sei die Demokratieeine Verheiung gewesen, sagte Tillichbei dem Festakt. Heute shen viele nurdie Mhen der Ebene. Der Geist derGemeinschaft, die sich fr ein gemeinsa-mes Ziel einsetzt, scheint sich verflch-tigt zu haben. Viele, zu viele gehen nichteinmal zur Wahl. Leider auch hier inSachsen, im Mutterland der FriedlichenRevolution, sagte Tillich. Bei der Land-tagswahl am 31. August waren nur49 Prozent der Wahlberechtigten zurStimmabgabe gegangen. Damit war dieWahlbeteiligung auf ein historisches Tiefgerutscht. Tillich: Als Demokrat undMinisterprsident bin ich traurig dar-ber.

    Gauck wrdigte das Engagement dervielen Brger, das zum Sturz desDDR-Regimes gefhrt habe. Deshalbhabe er auch die Prsidenten Ungarns,Polens, Tschechiens und der Slowakei

    genau an diesem Tag nach Leipzig ein-geladen. Sichtlich bewegt betonteGauck: Hier und heute sagen wir esnoch einmal ganz deutlich: Kein 9. No-vember ohne den 9. Oktober. Vor derEinheit kam die Freiheit. Unter denGsten in Leipzig waren auch der ehe-malige Bundesauenminister Hans-Diet-rich Genscher und sein frherer US-Kol-lege Henry Kissinger sowie zahlreichefrhere Brgerrechtler. Ausdrcklichdankte Gauck dem damaligen sowjeti-schen Staats- und Parteichef MichailGorbatschow, der die Freiheitsbewegun-gen in Osteuropa nicht mit Truppen un-terdrckt habe.

    Am 9. Oktober 1989 waren in Leipzigmehr als 70000 Menschen auf die Straegegangen, um Freiheit und Demokratiezu fordern. Unter dem Ruf Wir sind dasVolk! zogen sie durch die Stadt. DieStaatsmacht beugte sich den friedlichenDemonstranten. Der Einsatzbefehl wur-de zurckgezogen. Sechs Persnlichkei-ten, darunter Star-Dirigent Kurt Masur,hatten sich an diesem Tag vor 25 Jahrenmit einem eindringlichen Appell gegenGewalt an die ffentlichkeit gewandt.Nur einen Monat spter, am 9. Novem-ber, fiel die Berliner Mauer.

    Teil der alljhrlichen Feiern am9. Oktober in Leipzig ist das Friedensge-bet in der Nikolaikirche. Von hier warendie ersten Montagsdemos ausgegangen.Gestern sprach hier der frhere US-Au-enminister James Baker.

    Zum Lichtfest in der Leipziger Innen-stadt kamen am Abend 200000 Men-schen. Auf dem Augustusplatz bildetensie mit Tausenden Kerzen eineriesige 89. Seiten 2, 3, 15 bis 17

    heute in der lVz

    eva-Maria Stange: ich mussnichts mehr werdenDReSDen. Die frhere SPD-MinisterinEva-Maria Stange befeuert die schsischenKabinettsspekulationen. Mir braucht mannichts mehr anbieten. Ich muss nichtsmehr werden, sagte sie der LVZ. Seite 5

    SachSen

    Franzose patrick Modianoerhlt literaturnobelpreisStockholM. Der diesjhrige Nobelpreis frLiteratur geht an den franzsischen Schrift-steller Patrick Modiano. Das Nobelpreis-Ko-mitee wrdigt die Erinnerungskunst in denWerken des 69-Jhrigen. Seite 11

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    Das ausfhrliche Wetter auf Seite 24

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    Die Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag derFriedlichen Revolution gehen weiter.Schon heute Abend (20.15 Uhr, MDR)erlebt Leipzig die Verleihung derGoldenen Henne. 3500 Gste in derausverkauften Messehalle werden dieVergabe der begehrten Publikumspreiseverfolgen. Die Preisvergabe in Leipzig isteine Hommage an die Friedliche Revolu-tion, sagte Superillu-ChefredakteurRobert Schneider in einem LVZ-Interview.

    Dresden erlebt am 19. Dezember einenweiteren Hhepunkt. Nach LVZ-Informa-tionen kommt Alt-Kanzler Helmut Kohl(84, CDU) an die Elbe. Genau 25 Jahrenach seiner historischen Rede vor derDresdner Frauenkirche, die als Meilen-stein auf dem Weg zur deutschenWiedervereinigung gilt, wird der Kanzlerder Einheit an einem Forum der Aden-auer-Stiftung im Albertinum teilnehmen.

    ab

    heute goldene-henne in leipzig kohl kommt am 19. Dezember nach Dresden

    Wir werdenbleiben und

    werden, was wir1989 waren.

    Joachim gauck,Bundesprsident

    Emotionaler Hhepunkt amAbend: Kerzen der Freiheitbilden eine riesige 89 aufdem Augustusplatz.Foto: Volkmar Heinz

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  • Wiedersehen im Gewandhaus: Ex-Auenminister Hans-Dietrich Gen-scher (87, FDP) begrt den einstigen US-Kollegen James Baker (84).

    Kunst an der Blechbchse: Beim Lichtfest erstrahlen auf der Fassadeverfremdete Demonstrationsbilder aus dem Herbst 1989.

    OB mit Partnerin: Burkhard Jung (56,SPD) und Ayleena Wagner (34).

    Ausdrucksstark: Das Ballett der Oper tanzt auf einer Videowand amHauptbahnhof luft die Sprengung der Uni-Kirche im Jahr 1968.

    Die von derStasi sind

    nicht mehr daber 150 000 feiern beimLichtfest den Mut von 1989

    Von Winfried Mahr, adelineBruzat und andreas friedrich

    Leipzig. Erneut ging nichts mehr aufdem Leipziger Innenstadtring. Wie vor25 Jahren. Damals zog eine entschlosse-ne Masse von 70 000 bei diesigemHerbstwetter um den Ring. Gestern, zumGedenken an die Ereignisse vom 9. Ok-tober 1989, gehen ber 150 000 Men-schen den selben Weg.

    Begonnen hatte das Lichtfest staats-tragend auf dem Augustusplatz. Wo sichdamals die Teilnehmer des Friedensge-betes aus der Nikolaikirche mit Tausen-den weiteren Leipzigern vereint und ih-ren Protestmarsch begonnen hatten, darfBurkhard Jung (SPD) sich des proppe-vollen Platzes erfreuen: Das ist ein tol-les Bild. Sie machen mich zu einem sehrglcklichen Oberbrgermeister. Untertosendem Beifall ergnzt er: Keine Ge-walt das ist ein starker Ruf. Und das istdie Botschaft von Leipzig.

    Sachsens Ministerprsident StanislawTillich (CDU) scheint angesichts der Be-suchermassen etwas nervs: Er begrtEx-Auenminister Hans-Dietrich Gen-scher mit Helmut und freut sich, den5. Oktober zu feiern. Dafr erntet erBuhs und Pfiffe. Bundesprsident Joa-chim Gauck rettet die Stimmung. Ichbin glcklich hier zu sein. Die Men-schen sind es auch. Zum Beispiel, weilGauck sie erreicht. Deutsche knnenFreiheit, ruft er in den Jubel. Und: Wirgaben unserer Angst den Abschied. Ererinnert an die Vorarbeit der Polen. DieGewerkschafter von Solidarnosc kmpf-ten schon, als wir noch im Schlaf derAnpassung weilten, sagte Gauck.

    Als alle Festreden geredet und Tau-sende Kerzen entzndet sind, setzt sichdas Meer aus Menschen in Bewegung,luft ganz sacht vom Augustusplatz ander Oper vorbei Richtung Hauptbahn-hof. Fr manche ist das Lichtfest Erinne-rung, fr manche Geschichtsstunde. Die17-jhrige Marlene aus Leipzig ist aufEmpfehlung ihres Geschichtslehrers da-bei. Meine Eltern waren bei den Mon-tagsdemos. Wenn ich bedenke, dassDeutschland durch diese Revolution wie-dervereinigt wurde, bin ich sprachlos,sagt eine, die staatliches Unrecht nur ausErzhlungen kennt.

    Die Leipzigerin Christine Genestkennt es mit ihren 80 Jahren aus eige-nem Erleben. Wie die Spannung und dieAngst bei den Montagsdemos. Als diePolizisten auf ihre Schilde schlugen...,sagt sie und gruselt sich erneut. Trotz-dem seien immer mehr Leute gekom-men. Auch sie war regelmig da. Nuram 9. Oktober 89 nicht. An diesem Tagwar ich zu Hause, weil mein Mann undmeine drei Shne bei der Demo warenund jemand musste zu Hause bleiben.Trotzdem trage sie seitdem ein groesGlcksgefhl in sich. Das kann mir nie-mand nehmen, was auch immer in derWelt passiert. Wolf-Dieter Dallmannreiste mit Frau Ute aus Wolfsburg an.Es ist beeindruckend, wie es vor25 Jahren mit friedlichen Mitteln mg-lich war, den Weg in die Demokratie zufinden, lobt er den Mut seiner ostdeut-schen Landsleute.

    Seit 2009 bewegt das Lichtfest Zehn-tausende Besucher. Entlang des vier Ki-lometer langen Demonstrationswegessollen Licht und Ton, Tanz und MusikBezge zwischen 1989 und 2014 herstel-len. Huser, Fassaden, Leinwnde undBhnen sind mit Bildern und Zitaten il-luminiert. An Haltestellen tnt der eins-tige Stadtfunk mit dem Aufruf der sechsProminenten zur Gewaltlosigkeit. JuttaHeinze aus der Nhe von Gttingen istextra die 200 Kilometer angereist. Al-lein schon dieser friedliche Zug der Mas-sen macht mir Gnsehaut. Wie ergrei-fend muss das erst vor einem Vierteljahr-hundert gewesen sein...

    Polizei ist auch heute an allen Eckenprsent aber ohne jede Drohgebrde.Wie kommen wir zur Runden Ecke, derStasi-Zentrale?, wird einer der Unifor-mierten von Touristen gefragt. Der l-chelt und sagt: Einfach im Strom mit-schwimmen. So 300 Meter nach derBlechbchse kommt das Museum. Aberdie von der Stasi sind nicht mehr da.

    Der Geist von 89 erflltnoch einmal die Nikolaikirche

    Bewegendes Friedensgebet mit Politprominenz und Brgerrechtlern

    Von roland herold

    Leipzig. 25 Jahre danach: Am 9. Okto-ber an dem Ort zu sein, wo alles begann mehr Gnsehaut geht eigentlich nicht.Menschen wie Dietmar Gla (63) ausGrlitz stehen dafr auch Stunden in derNikolaistrae an. 1989 war ich zuflligin Leipzig und bin mitgelaufen, erin-nert er sich. Das lange Warten hat sichheute fr ihn gelohnt. Er gehrt zu denGlcklichen, die einen Platz in der Niko-laikirche ergattern. Die anderen mssensich damit begngen, dass der Gottes-dienst auf der Videowand im Nikolai-kirchhof, auf dem Augustusplatz sowieim Fernsehen bertragen wird. Offenfr alle nur so ist das Kirchenwort beiso vielen interessierten Menschen um-setzbar.

    Die Sonne steht schon tief, doch drin-nen in der Kirche leuchten warm dieKerzen. Pnktlich, 17 Uhr, begrt Niko-laikirchenpfarrer Bernhard Stief (45) dieGste, darunter auch BundesprsidentJoachim Gauck (74), Ex-AuenministerHans-Dietrich Genscher (87), Friedens-Nobelpreistrger Henry Kissinger (91),die Staatsprsidenten von Polen, Un-garn, Tschechien und der Slowakei so-wie Sachsens Ministerprsident Stanis-law Tillich (55) und Leipzigs Oberbr-germeister Burkhard Jung (56).

    Zuerst ergreift der 84-jhrige JamesBaker, US-Auenminister unter GeorgeBush von 1989 bis 1992, das Wort. Derunbeugsame Geist der hier ansssigenBrger ist der Hauptgrund dafr, dassder Eiserne Vorhang fiel und der KalteKrieg mit einem Wimmern und nicht mit

    einem Knall endete, sagt Baker mitdeutlich hrbarem Sdstaaten-Slang. Erbeschwrt den Geist der Zwei-plus-Vier-Gesprche, die deutsch-amerikanischeFreundschaft und spart dabei auch diejngsten Abhraffren nicht aus. BeideLnder htten aber in der Vergangen-heit immer wieder die Herausforderun-gen gemeistert. Deutschland und dieVereinigten Staaten seien eben mehr alsVerbndete. Mit Blick auf Russlandmahnt Baker die EU unddie USA, ihre Energie-politik zu berdenken,um die Abhngigkeitvon Moskau zu reduzie-ren. Dennoch, so Bakeram Ende, sollte das Vor-haben, Russland fr dieNato zu gewinnen, nichtaufgegeben werden.

    Danach singt derLeipziger Musiker Se-bastian Krumbiegel (48)Die Liebenden undspter auch noch Er wollte nachDeutschland von Udo Lindenberg.

    Es wird still im Raum, nicht einmalein Knarren der Holzbnke ist zu hren.Brgerrechtler Frank Richter (48) trittans Mikrofon und schildert, wie der Ap-pell vom 9. Oktober 1989 seinerzeit indie Welt fand. Wie Unerschrockene desArbeitskreises Gerechtigkeit und der Ar-beitsgruppen Menschenrechte und Um-weltschutz ihn in zigtausendfacher Auf-lage druckten und im Leipziger Stadt-zentrum verteilten. Dann schlgt Richterden Bogen zur Gegenwart und mahntdie demokratischen Grundrechte an, da-

    runter das Recht auf freie Information.Er blickt Baker tief in die Augen undsagt: Edward Snowden sollte von derBundesrepublik aufgenommen wer-den.

    Nach Richter treten Ex-Nikolaikir-chenpfarrer Christoph Wonneberger (70)und die Brgerrechtlerin Kathrin MahlerWalther (44) ans Mikrofon. Wahrschein-lich wre auch Pfarrer Christian Fhrer(19432014) gern unter ihnen gewesen,

    der unerschrockeneGeistliche, der im ver-gangenen Sommer ge-storben ist. Die beidenverlesen noch einmaldie Worte des Aufrufsvon damals: Wir sindein Volk! Gewalt unteruns hinterlsst ewig blu-tende Wunden! Viel-leicht ist das der bewe-gendste Augenblick die-ses Abends.

    Zeit fr das Friedens-gebet. Es steht unter dem Motto Hoff-nung fhrt unter die Angst und wirdvon Martin Henker (60), Superintendentim Kirchenbezirk, gehalten. Hinter ihmund der Kanzel steht das groe Holz-kreuz neben dem Altar, das noch vonden ersten Friedensgebeten 1981 kn-det. Henkers Worte hallen klar durchdas Kreuzgewlbe mit den hellgrnenBlttern, als er Brgerrechtler und Frie-densgebete wrdigt. Er pldiert dafr,den Verhaltensgrundsatz Keine Ge-walt in die Schulbcher aufzunehmen,um zu zeigen, einen Monat vor dem Fallder Berliner Mauer gab es einen Tag

    und einen Ort, wo Einmaliges in unsererGeschichte sich entschied: eine Friedli-che Revolution begann. Dafr wird ihmApplaus zuteil.

    Hoffnung lasse nicht zuschandenwerden, wie der Apostel Paulus einst andie christliche Gemeinde in Rom schrieb.Gott sei stets auf der Seite derer, dienicht mit den Wlfen heulen, die ihreVerletzlichkeit wahrnehmen, die ihreGter teilen, die Frieden schaffen ohneWaffen. Und dann spricht Henker Wor-te, die klingen fast wie eine Erwiderungauf den Altkanzler Helmut Kohl (84).Der hatte vom Irrtum gesprochen, dassda pltzlich der heilige Geist ber diePltze in Leipzig gekommen sei. DerSuperintendent konstatiert in einem Ne-bensatz, dass sich die Hoffnungen aufblhende Landschaften nicht erfllt ht-ten...

    Henker liest auch den anwesendenPolitikern die Leviten: Von der Unmas-se der Rstungsexporte spricht er unddavon, dass militrische Gewalt als Wegzum Frieden wieder und wieder hinter-fragt werden msse. Am Ende seinerPredigt fordert er, Freiheit, Demokratie,aber auch Wohlstand zu teilen und vorallem die Friedensgebete in der Nikolai-kirche fortzusetzen. Kerzen und Gebe-te knnen zu Vernderungen fhren.

    Nach der Frbitte und dem Vaterun-ser luten die Glocken. Zeitgleich auchin der Thomaskirche, der ReformiertenKirche und der Michaeliskirche. 18.35Uhr, der Zeitpunkt, an dem klar war,dass die Polizei nicht eingreifen wrde.Bewegt verlassen die Menschen die Kir-che. Drauen stoen sie auf frhliche

    Bis auf den letzten Platz gefllt: die Leipziger Nikolaikirche beim gestrigen Friedensgebet.

    Stimmen

    9. Oktober 89 was prominente sagen

    +++ Bilder des Tages +++ Bilder des Tages +++ Bilder des Tages +++ Bilder des Tages +++

    Stanislaw Tillich (57,CDU), MinisterprsidentSachsens, beim Festakt:Der Geist der Gemein-schaft, die sich fr eingemeinsames Zieleinsetzt, scheint sichverflchtigt zu haben. Viele gehen nichteinmal zur Wahl. Leider auch in Sachsen,im Mutterland der Friedlichen Revolution.

    gunther emmerlich(70), Opernsnger undEntertainer: Ich fandden Festakt im Ge-wandhaus sehrangemessen undbewegend. Heute geht

    es fr mich in Leipzig gleich weiter beider Verleihung der Goldenen Henne aufdem Messegelnde.

    Angela Merkel (60,CDU), Bundeskanzlerin,zum Tag der DeutschenEinheit: Die Wiederver-einigung ist ohne dieFriedliche Revolution inder DDR nicht denkbar.Heute knnen wir feststellen, dass sich diemeisten Wnsche erfllt haben. Alles istmglich, dass habe ich wie MillionenDDR-Brger am eigenen Leibe erfahren.

    Matthias Rler (59,CDU), Landtagsprsi-dent, erinnerte wh-rend des Festakts imGewandhaus gesterndaran, dass Sachsendurch die Friedliche

    Revolution seine Selbstbestimmungzurckgewann. Am 3. Oktober 1990konnten wir in Meien auf der Albrechts-burg den Freistaat grnden.

    Martin Dulig (40), SPD-Landeschef in Sachsen,nach dem Festakt:Nach der FriedlichenRevolution ist eine neueGeneration in Deutsch-land herangewachsen,die die Ereignisse des Wendeherbstes nuraus den Geschichtsbchern kennt. Umsowichtiger ist es, die Ideen und Werte derFriedlichen Revolution wachzuhalten.

    Burkhard Jung (56,SPD), Leipzigs Ober-brgermeister, inseinem Gruwort zumFestakt im Gewand-haus: Die friedlicheDemonstration von

    70 000 Menschen in Leipzig und vielenOrten der DDR brachte die Entscheidung.In Leipzig wurde an diesem Tag Geschich-te geschrieben.

    peter Sodann (78),Schauspieler aus Halle,in einer Diskussion: Frmich war es keineFriedliche Revolution,sondern eine ArtGefngnisaufstand.Eine Friedliche Revolution hat Ziele, dieirgendwohin fhren mssen.

    Jochen Bohl (64),schsischer Landesbi-schof, nach demFestakt: Die Oktober-tage in Plauen, Dresdenund Leipzig waren derKernpunkt des Gesche-

    hens, das die deutsche Geschichte indieser beglckenden Weise verndert hat.

    Die Leipziger Nikolaikirche war Ausgangspunkt der Friedlichen Revolution: Nach dem Friedensgebet vom 4. September von 1989 entrollten Oppositionel-le erstmals vor der Kirche Transparente. Stasi-Leute konnten nicht verhindern, dass die Aktion gefilmt und im Westfernsehen gezeigt wurde.

    Gott ist auf der Seitederer, die nicht mitden Wlfen heulen.

    Martin Henker,Superintendent

    BLICKPUNKT2 | FREITAG, 10. OKTOBER 2014 | NR. 236