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- 34 - Zweites Kapitel - Hörkontrolle Die bisherigen Beispiele enthielten Aufforderungen, bestimmte Aktionen mit den Füßen oder Händen auszuführen oder zu unterlassen ("Tasten festhalten bis ...!", "Pedal erst treten nach ...!"). Damit ist, gewissermaßen, nur die gymnastische Seite richtigen Pedalisierens angesprochen, und damit ist es natürlich nicht getan. Auch in diesem Kapitel bekommen Sie, Beispiel für Beispiel, genau erklärt, was Hände und Füße im Dienste eines guten Pedalspiels tun sollten. Jedoch kommen zwei wichtige Punkte hinzu: Ein Punkt soll unter der Teilüberschrift "Der Konflikt zwischen Fingerlegato und Pedalbindung" etwas ins Bewusstsein rücken, was vielen nicht bekannt ist, nämlich dass ein intensives Fingerlegato, unser bedeutsamstes Ausdrucksmittel, und Pedal- sauberkeit sich oft gegenseitig geradezu behindern. Der zweite Punkt hat mehr Gewicht, weil er alle Pedalfragen in sich einschließt: Unter der Teilüberschrift "Den Klang anhalten ..." möchte ich mit Ihnen an Stellen aus der Literatur gutes Pedalspiel über die Gehörkontrolle üben; denn auf dem Weg zu einem künstlerischen Pedalspiel ist die richtige Abfolge von Ursache und Wirkung zu verinnerlichen. Gutes Pedalspiel resultiert nicht daraus, dass ich etwa oft geübt hätte, einen Basston hinreichend lange festzuhalten, statt ihn zu früh loszulassen, oder weil ich geübt hätte, mit dem Fuß statt eines hastig schnappenden einen ruhigen Pedalwechsel zu vollführen; vielmehr bilden sich die richtigen Bewegungen der Hände und Füße, nach und nach, heraus als Folge unseres Willens, einen Klang in einer gewünschten Weise, und nicht anders, zu hören. Ein gutes Pedalspiel ist also nicht das Ergebnis bestimmter Übungen mit Fingern und Füßen, sondern umgekehrt: Die richtigen Bewegungen stellen sich als Folge unseres Hörwillens ein. Der Gedanke, Technik entstehe aus der Musik und nicht die Musik aus der Technik - Hauptsache die Finger laufen, die Musik kommt dann schon! -, ist freilich nicht neu. Dass allein die Hörvorstellung den Körper dazu erzieht, Hände und Füße als vom Ohr gesteuerte Reflexe in der richtigen Art und Weise zu bewegen und zu koordinieren, Wilhelm Busch

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Zweites Kapitel - Hörkontrolle

Die bisherigen Beispiele enthielten Aufforderungen, bestimmte Aktionen mit den Füßen oder Händen auszuführen oder zu unterlassen ("Tasten festhalten bis ...!", "Pedal erst treten nach ...!"). Damit ist, gewissermaßen, nur die gymnastische Seite richtigen Pedalisierens angesprochen, und damit ist es natürlich nicht getan. Auch in diesem Kapitel bekommen Sie, Beispiel für Beispiel, genau erklärt, was Hände und Füße im Dienste eines guten Pedalspiels tun sollten. Jedoch kommen zwei wichtige Punkte hinzu: Ein Punkt soll unter der Teilüberschrift "Der Konflikt zwischen Fingerlegato und Pedalbindung" etwas ins Bewusstsein rücken, was vielen nicht bekannt ist, nämlich dass ein intensives Fingerlegato, unser bedeutsamstes Ausdrucksmittel, und Pedal-sauberkeit sich oft gegenseitig geradezu behindern. Der zweite Punkt hat mehr Gewicht, weil er alle Pedalfragen in sich einschließt: Unter der Teilüberschrift "Den Klang anhalten ..." möchte ich mit Ihnen an Stellen aus der Literatur gutes Pedalspiel über die Gehörkontrolle üben; denn auf dem Weg zu einem künstlerischen Pedalspiel ist die richtige Abfolge von Ursache und Wirkung zu verinnerlichen. Gutes Pedalspiel resultiert nicht daraus, dass ich etwa oft geübt hätte, einen Basston hinreichend lange festzuhalten, statt ihn zu früh loszulassen, oder weil ich geübt hätte, mit dem Fuß statt eines hastig schnappenden einen ruhigen Pedalwechsel zu vollführen; vielmehr bilden sich die richtigen Bewegungen der Hände und Füße, nach und nach, heraus als Folge unseres Willens, einen Klang in einer gewünschten Weise, und nicht anders, zu hören. Ein gutes Pedalspiel ist also nicht das Ergebnis bestimmter Übungen mit Fingern und Füßen, sondern umgekehrt: Die richtigen Bewegungen stellen sich als Folge unseres Hörwillens ein. Der Gedanke, Technik entstehe aus der Musik und nicht die Musik aus der Technik - Hauptsache die Finger laufen, die Musik kommt dann schon! -, ist freilich nicht neu. Dass allein die Hörvorstellung den Körper dazu erzieht, Hände und Füße als vom Ohr gesteuerte Reflexe in der richtigen Art und Weise zu bewegen und zu koordinieren,

Wilhelm Busch

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ist 1930 in einem guten Buch dargestellt worden: „Die individuelle Klaviertechnik auf der Grundlage des schöpferischen Klangwillens“ von Carl Adolf Martienssen. Der hochgestimmte Tonfall wird im Verlauf der Lektüre etwas anstrengend, auch verschont uns der Autor nicht mit einigen sprachlichen Scheußlichkeiten („Versuche an geeignetem Schülermaterial haben ergeben…“). Diese Einwände aber tun dem Inhalt keinen Abbruch. So zeigt Martienssen die Unmöglichkeit auf, einen erwünschten Klang durch Befehle des Verstandes an den „Spielapparat“ hervorzubringen. Ausführlich und minutiös verbreitet er sich über die unzähligen feinen Schattierungen des Anschlags, die für einen erwünschten Klang nötig sind, um schließlich zu der Konklusion zu gelangen: "Ist es nun wirklich möglich, dass alle diese ungemein differenzierten Relativitäten der Farbabstimmung der physische Spielapparat durch Direktiven des Verstandes aus sich heraus finden könnte? Ist es auch nur denkbar, daß er, wenn er sie einmal fand, sie motorisch-gedächtnismäßig behalten könnte?" Anmerkung: Das gestaltende Ohr, wenigstens partiell, auszublenden und die Ausbildung in einen gleichsam gymnastischen und einen musikalischen Teil zu gliedern, hat eine lange Geschichte, war lange in Deutschland üblich und ist heute noch verbreitet, vor allem in asiatischen Ländern. Schlüsselfiguren dieser Haltung waren in Deutschland Friedrich Kalkbrenner und Clara Schumann mit ihrem Vater Friedrich Wieck, einem Autodidakten, der alles Große und Geniale hasste. Wieck hat davor gewarnt, die Schüler dadurch „zu verderben“, dass man sie „die sogenannten großen Meister“, Mozart und Beethoven, spielen lasse: Das akkurate Arbeiten der Finger, so Wiecks Besorgnis, würde durch die Leidenschaft Beethovenscher Musik beeinträchtigt. Das 13. Kapitel dieses Buches wird einen kurzen zeitgeschichtlichen Abriss enthalten über die Methode eines von der Musik abgekoppelten Fingertrainings, das noch weit in das 20. Jahrhundert hinein wirksam war und bei vielen die Illusion genährt hat, die natürliche Ungleichheit der Finger ließe sich durch technische Übungen überwinden.

DEN KLANG ANHALTEN - DIE HÖRKONTROLL-FERMATE Der Anspruch, das Ohr habe die Bewegungen der Hände und Füße zu leiten, setzt voraus, dass wir hören, was wir spielen. Das ist keineswegs so selbstverständlich, wie man glauben möchte. Wie jemand, ganz in seinem Spiel aufgehend, selbst seine Klänge wahrnimmt, hat oft nicht viel mit dem zu tun, was als Höreindruck beim Publikum ankommt. Die Selbsttäuschung beruht auf der Eigenheit unseres Gehirns, Sinneseindrücke zu interpretieren, zu ergänzen oder in einem von uns erwünschten Sinne umzudeuten. Deshalb hören wir z. B. hohe Klaviertöne innerlich weiter, auch wenn sie akustisch schon verklungen sind. Der Ton ist in Vorstellung und Erinnerung verankert, das Gehirn fügt ihn hinzu. Damit ist der Unterschied zwischen Perzeption und Apperzeption angesprochen, von dem gegen Ende des Buches, im 12. Kapitel, die Rede sein wird. Perzeption ist, was von außen an unsere Sinne gelangt, Apperzep-tion ist die Interpretation der Sinneseindrücke durch unser Gehirn. Der wichtigste Grund, warum wir uns beim Spielen nicht richtig zuhören, ist schon im Vorwort genannt, wegen seiner essenziellen Bedeutung nenne ich ihn noch einmal: Der Klavierton ist nach dem Anschlag nicht mehr beeinflussbar, deshalb interessieren sich viele Pianisten nur für den Moment des Anschlags, nicht für den sich danach ausbreitenden Klang, betrachten mit der Aktion des Anschlags ihre Aufgabe als erledigt. Mit dem Anschlag jedoch beginnt erst das Leben des Tones.

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Die Selbsttäuschung, der man beim Klang erliegt, ist vielen kaum bewusst. Auf einem anderen Gebiet, dem Rhythmus, ist die Täuschung allgemein bekannt. Beim Abhören eigener Aufnahmen fallen uns rhythmische Fehler, die wir in der Aktion des Spielens nicht bemerkt hatten, sofort auf: ungewollte Temposchwankungen, zu kurz gehaltene Pausen, überhetztes Tempo. Dabei macht man auch eine andere Erfahrung: Hörer empfinden das Spieltempo beinahe immer schneller als der Spieler. Rhythmus hat mit Körperlichkeit und Bewegung zu tun, deshalb sind rhythmische Fehler gewissermaßen handfester, teilen sich beim Hören leichter mit. Klangliche Störungen sind schwerer zu fassen, denn der Klang ist flüchtig, zieht meist rasch vorüber, noch bevor das Ohr mit seinen Zweifeln reagieren kann. Deshalb muss man den Klang dort, wo seine Güte geprüft werden soll, anhalten und wie unter einem Vergrößerungsglas „betrachten“. Ich habe mir dafür den etwas sperrigen Ausdruck "Hörkontroll-Fermate" einfallen lassen. Auf den folgenden Seiten erläutere ich das Üben mit der Hörkontroll-Fermate. Noch relativ gut gelingt die Hörkontrolle dort, wo der Klang stehen bleibt: bei Schlussakkorden, langen Pausen, Fermaten. Störungen ergeben sich hauptsächlich im Spielverlauf, wenn wechselnde Harmonien aufeinander folgen. Vorhalte am Ende eines Abschnittes werden sauber aufgelöst, folgen sie inmitten des Stücks rasch aufeinander, werden sie „weggeworfen", die Auflösungen ziehen ungehört vorüber. Eine Stelle aus dem ersten Satz der Sonate Es-Dur, Hob. XVI: 49 von Joseph Haydn ist sehr typisch für solche Vorhaltsauflösungen, die nur im Vorbeigehen passiv und ungehört mitgenommen werden (Beispiel 36). Erst c-moll aushorchen, dann weiter!

G-Dur aushorchen,

Erst f-moll aushorchen, dann die f-Akkorde! dann weiterspielen!

Auch die Vorhaltsauflösung nach c-moll zu Beginn des Adagios aus Beethovens Sonate op. 31, Nr. 2 bleibt oft unausgehorcht und nur passiv angehängt (Beispiel 37).

Beispiel 36

Erst die saubere und vollständige Auflösung nach Es-Dur aushorchen, dann weiterspielen!

Sauberes und voll-ständiges b-moll hören, dann erst weiterspielen!

Takt 117

Mit den f - Schlägen „spät“ kommen! Oft fallen sie der Vorhaltauflösung G-Dur ins Wort. Denken Sie an das Trägheitsmoment eines Orchester-Tutti-Einsatzes!

Nur Pianisten neigen dazu, zu früh einzusetzen.

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Einer der häufigsten Fehler beim Musizieren ist, leichten Taktzeiten und Vorhalts-auflösungen zu wenig Aufmerksamkeit zu schenken: Die musikalische Spannung erstreckt sich bis zum Vorhalt, bezieht dessen Auflösung aber nicht mehr ein, die Auflösung überspringend denkt der Spieler zu schnell voraus. Es ist, als würde ein Gedanke nicht zu Ende gesprochen. Dem Fehler, Vorhaltsauflösungen nur passiv anzuhängen, begegnet man auch bei anderen Instrumentalisten, sehr oft auch bei Orchestern bzw. deren Dirigenten. Am Klavier ist diese Gefahr besonders groß dann, wenn auf die Vorhaltauflösung eine rasche Positionsverlagerung der Hände folgt. Mozarts ironische "Marcia funebre del Signor Maestro Contrapunto", KV 453a (Beispiel 38) ist eine (auch für Klavieramateure) sehr günstige Übung für Hör-kontrollen nach Positionswechseln. Wichtig: Die von den Tasten gehobenen Hände sollen während der Kontroll-Fermaten vorbereitend über dem nächsten Griff liegen.

Hörkontrollfermaten sind ein wirksames Mittel gegen die verbreitete Schwäche,

Auflösungen und leichte Taktzeiten innerlich fallen zu lassen.

Beispiel 38

Takt 2

Takt 7

Hinweis: Für Klavieramateure ist allerdings die Ausführung der Takte 7 und 8 nicht eben leicht; denn rechts sollen die Melodie-Repetitionen (F - F und D - D) und der Sopran-Tonschritt D - Es in Takt 8 gebunden klingen, während links die Viertel der Kontrabass-Schritte jeweils voneinander abgesetzt erklingen müssen.

Takt 8

Erst bewusst auf der zweiten Zählzeit den c-moll-Sextakkord Es - C - G - Es hören; die Musik macht an dieser Stelle einen bedeutsamen Atemzug.

Beispiel 38, Ausführung der Gehörtests: Während z. B. die Hände vorbereitend auf dem G-Dur-Akkord von Takt 3 ruhen, prüft das Ohr, ob die vorausgehende Sexte Es - C sauber (also ohne die Sexte davor) im Pedal klingt. Bei den anderen Fermaten entsprechend verfahren.

Takt 3

Bsp. 37

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Ein in dieser Hinsicht sehr lehrreiches Studienobjekt ist Brahms' Intermezzo op. 117, Nr. 2 (Beispiel 39). In den Takten 27 - 29 wird das Pedal meistens auf den schweren Taktzeiten gewechselt. Diese aber sind Vorhalte, hörbar werden müssen die aparten Klänge und Auflösungen dazwischen, die Klänge, die sich auf den „und-Zeiten“ ergeben. Die Pedalisierung wie unter a) angegeben, ist unter der geringschätzigen Bezeichnung "Korrepetitoren-Pedal“ bekannt.

Übung mit der Hör-Kontroll-Fermate: Bei den Fermaten innehalten und lange den Klängen zuhören, die sich zwischen den vollen Taktzeiten ergeben.

In Takt 23 desselben Werks (Beispiel 39b) sehen Sie eine Schreibweise, die nur bei Brahms sehr oft anzutreffen ist (siehe auch Beispiel 174, Intermezzo op. 119, Nr. 1, Kapitel 7): Eine partielle Resultatschrift verwendend, schreibt er Notenwerte in ihrer tatsächlichen Klingdauer aus. In Takt 23 versieht er das tiefe Des mit einem zusätzli-chen Achtel-Noten-Hals und einem den Ton verlängernden Punkt. Die Schreibweise zeigt, dass Brahms polyphon denkt, sie ist darüber hinaus ein explizit pianistischer Fingerzeig, das Des nicht zu früh loszulassen. Brahms' fürsorgliche Notation wird ihm wenig gelohnt, denn der 5. Finger verlässt die Taste durchwegs zu früh, das Des bricht ab und auf der zweiten Zählzeit ist nur ein Quart-Sext-Akkord zu hören.

Auflösung nach F-Dur gut aushorchen, sie wird oft „weggeworfen“.

Beispiel 39a

Takt 23

Das Des wird grundsätzlich zu früh losgelassen. Ursache ist eine verfrühte Streckbewegung der linken Hand hinauf zum höher gelegenen As.

? a)

Takt 28

b)

b) zeigt die künstlerisch angemessene Pedalisierung: Der Fuß senkt sich jeweils kurz nach den "und-Zeiten" und hebt sich mit dem Anschlag der Vorhalt-Akkorde.

Bei der Fermate innehalten und hören, ob der Des-Dur-Dreiklang vollständig klingt, also mit Grundton Des (und nicht etwa nur als Quart-Sext-Akkord).

Das Bass-Es muss beim Pedalwechsel noch klingen, deshalb das B rechts übernehmen.

Erst den Quint-Sext-Akkord hören, dann weiterspielen.

Erst es-moll hören, dann weiterspielen.

Beispiel 39b

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Nicht nur Vorhaltsauflösungen werden oft passiv, ungehört und nur im Vorbeigehen mitgenommen, auch Bässe, ja gerade Bässe leiden darunter. Eher non forte als forte gespielte Bässe werden nur angetippt, nicht bewusst angefasst, gefühlt, gehört. Machen Sie es sich - siehe erstes Kapitel - stets zur Aufgabe, Bässe breit zu nehmen. Damit haben Sie fast schon gewonnen; denn der Vorsatz, einen Bass breiter zu greifen, impliziert die bewusste Hinwendung zu ihm. Damit ist gewährleistet, dass der Bass nicht im Flug "nur so nebenbei" angetippt wird. Hilfreich sein kann auch die Vorstellung, ein Dirigent suchte den Blickkontakt mit den tiefen Instrumenten des Orchesters und gäbe ihnen ein eigenes, dezidiertes Zeichen. Aber nicht nur Vorhaltsauflösungen und Bässe bleiben ungehört. Die Verbindung zwischen Bläser und seinem Instrument ist eng, körperlich, unmittelbar, die Geige scheint mit ihrem Spieler verschmolzen, die Maschine Klavier hingegen hat zwischen Pianist und Ton eine komplizierte Übertragungsmechanik gesetzt. Und dennoch - über die Maßen erstaunlich - teilt sich dem Ohr, auch auf Tonträgern, untrüglich mit, ob Begleitakkorde unter Strom stehen, prononciert gespielt sind oder nur "hinge-patscht", ob ein Akzent musikalisch gewollt ist oder nur unterläuft, ob der Pianist eine Pause als Spannungsbrücke erlebt oder ob sie ihm nur Zählzeit zum "Nachladen" ist, ob er eine Stimme, die er spielt, wirklich hört oder, beansprucht von Aufgaben an anderer Stelle der Klaviatur, nur die entsprechenden Tasten drückt. Bässe bewusst anzufassen und wahrzunehmen, erlernt man am besten bei solchen Bässen, die als bedeutend anzusehen sind. Das sind z. B. stets die, die unter einer tragenden Melodiestimme einen Harmoniewechsel initiieren, so wie an dieser Stelle aus dem ersten Satz von Schuberts Wanderer-Fantasie (Beispiel 40). Die Dosierung dieser Bässe ist heikel: Sie wollen bewusst angefasst sein, sollen bedeutend klingen, dürfen aber nicht so laut geraten, dass die darüber liegende Melodiestimme zerschnit-ten würde. Ob Bässe als klar und plastisch gehört werden, hängt nur wenig von ihrer Lautstärke ab, viel mehr davon, ob sie sauber sind.

UNTERSCHIEDLICHE KLANGLICHE AUFGABEN IN EINER HAND Künstlerisch und spieltechnisch besonders anspruchsvoll ist eine andere Passage aus der Wanderer-Fantasie, die vierte Variation aus dem zweiten Satz (Beispiel 41). Dass die linke Hand an dieser Stelle oft nicht mitgestaltet, sondern nur mitläuft, liegt

Beispiel 40

Kommentar zu Beispiel 40: Bei den Fermaten anhalten und den Zusammenklang der Bässe mit der Melodie-Oktave prüfen: Bei der ersten Fermate dürfen nur die drei Es (und sonst nichts) zu hören sein, auf der zweiten Fermate nur die sanfte Septimen-Reibung Des mit der C-Oktave, auf der dritten Fermate nur die weite Quarte Es - As.

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hauptsächlich an dem schwierigen Part der rechten Hand, der die Aufmerksamkeit des Spielers an sich zieht. Aber allein der Part der linken Hand ist schon eine nicht geringe Herausforderung. Drei Aufgaben gilt es zu meistern: - Die Bass-Linie ab Takt 228, Cis-A-Gis-Gis-Cis …, muss, im Gegensatz zur

Aufgeregtheit der rechten Hand, ruhig pulsierend Ruhe spenden. - In die darüber liegende, sehr leise zu spielende Schüttelbewegung der Begleitung

ist das Wanderer-Thema verwoben, das einer deutlichen, nicht aber plakativen Hervorhebung der jeweils ersten der dreimal repetierten Melodienoten bedarf.

- Weiterhin sind vor jedem neuen Basston musikalisch unerwünschte Absprung-akzente auf dem letzten Ton der Zweiunddreißigstelgruppe zu vermeiden.

Es zeigt sich hier erneut die Beziehung zwischen Pedal und Fingersatz. Ich erinnere an die Empfehlung aus dem ersten Kapitel: Wähle möglichst einen Fingersatz, der ein langes Festhalten der Bässe erlaubt. Viele springen ab Takt 228 mit dem 5. Finger von den Bass-Tönen A und Gis hinauf zu dem um eine Oktave höheren Ton; viel günstiger ist, diesen ersten Ton der 32stel-Bewegung mit dem Daumen zu nehmen. Dadurch kann der 5. Finger unten ruhiger und länger in der Taste verweilen, störende Absprungakzente werden vermieden, und vom Daumen aus wird, akzentfrei, der folgende 32stel-Griff durch ein gleitendes, seitliches Versetzen der Hand leicht erreicht.

Bass-A breit greifen, also oberes A nicht mit dem 5. Finger nehmen!

Die Bässe breit greifen, also die oberen Gis nicht mit dem 5. Finger nehmen!

ausspielen!

Takt 228

Beispiel 41

Die Sexte A – Fis vor dem ruhigen Pedalwechsel auf dem C überhalten, damit sie nach dem Pedalwechsel noch mitklingt. Auf dem Pedalwechsel selbst hörend verweilen und rechts die letzten Vierundsechzigstel, Eis – Gis – Fis, espressiv melodiös ausspielen.

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Dieser anspruchsvolle Part der linken Hand muss so ruhig und überlegen klingen, als würde er von zwei Händen gespielt. Genau das, den Part einer Hand auf zwei Hände zu verteilen, habe ich in meinem Unterricht sehr oft üben lassen. Es bringt großen Nutzen, eine anspruchsvolle, mehrstimmige Aufgabe einer Hand auch mit beiden Händen zu üben. Damit fallen technische Schwierigkeiten weg und es lässt sich leicht ein klangliches Ideal herstellen, das dann als Hörvorlage dafür dient, wie die Stelle klingen soll, wenn sie, wie notiert, mit einer Hand gespielt wird. Der F-Dur-Teil in Mozarts Rondo a-moll, KV 511 (Beispiel 42) ist eine der seltenen Stellen, an denen Mozart einer Hand zwei Stimmen anvertraut. Takt 32 klingt fast immer unbefriedigend, weil die Sechzehntel der Altstimme mit dem Hinzutreten der Sopranstimme B – A – G aus ihrer ruhigen Gleichmäßigkeit geraten und der Alt anfängt, mit den Achteln des Soprans in einer Zweierbetonung zu skandieren. Oft erhält in Takt 32 schon das E der Altstimme, das dem B des Soprans unmittelbar vorausgeht, einen ungewollten Akzent, weil sich der Spieler von ihm zum B hin abstützt. Das Ohr kann so das B nicht mehr als Fortsetzung des langen, durch die ornamentale Umspielung hervorgehobenen Sopran-C wahrnehmen, sondern wird, wegen des Akzents auf dem E, gleichsam auf einen Zick-Zack-Kurs gezwungen: vom C des Soprans hinunter zum E des Alts, und von diesem wieder hinauf zur eigentli-chen Melodiefortsetzung B. Wird, als Übung, die Sopranstimme mit der rechten, die Altstimme mit der linken Hand gespielt, ist die ruhige Gleichmäßigkeit gewahrt, die dann als Hörvorlage für die Ausführung mit der rechten Hand allein dient.

Übungen wie die eben beschriebene darf man Studenten nicht nur zum häuslichen Studium mitgeben, geübt werden muss auch im Unterricht selbst. Viele Lehrer unterrichten nur in Worten, aber Unterricht muss auch auf der Tastatur stattfinden. Der künstlerische Erfolg hängt, fast mehr noch als von der Unterweisung, davon ab, mit welcher Beharrlichkeit ein Lehrer nicht nachgibt, bis eine Stelle so klingt, wie sie künstlerisch klingen muss.

Beispiel 42

den Doppelschlag hier vor der Zeit spielen!

Zu Beispiel 42: Das obere System der Takte 31 und 32 abwechselnd mit beiden Händen und rechts allein spielen, so lange, bis kein Qualitätsunterschied mehr erkennbar ist, bis auch ein der Tastatur abgewandter Hörer nicht mehr feststellen kann, ob die Passage des oberen Systems mit beiden Händen oder, wie notiert, nur mit der rechten Hand gespielt wird.

Takt 31

kein Stütz-Akzent!

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DER KONFLIKT ZWISCHEN FINGER-LEGATO UND PEDALBINDUNG

Die bisherigen Beispiele haben gezeigt, dass bei Pedalfehlern fast immer mehrere Ursachen zusammenwirken: eine zu schnelle Wechselbewegung des Fußes, ein zu frühes Loslassen der Taste, ein zu früher Pedaltritt, keine Lücke vor dem Pedal-wechsel. Was allerdings vielen unbekannt ist: In die Reihe der Mitverursacher von unsauberen Klängen gehört auch das Fingerlegato, das heißt: Pedalbindung und Fingerlegato können sich bisweilen gegenseitig geradezu behindern. Spielen Sie, am besten im Bass, weil dort Verschmierungen deutlicher zu hören sind, zwei Töne mit Fingerlegato und treten Sie das Pedal mit dem Anschlag des zweiten Tones: Der erste, ohne Pedal gespielte Ton klingt mit.

Günter Philipp, ehemaliger Professor der Musikhochschule Dresden, war der Erste, der auf diesen Konflikt zwischen Fingerlegato und Pedalsauberkeit hingewiesen hat; in seinem schon eingangs erwähnten Buch bezeichnet er diese Wechselbeziehung als „die korrespondierende Abhängigkeit zwischen Finger- und Pedalbindung". Die zwei entscheidenden Sätze dazu aus seinem Buch lauten: „Eine mit Fingerlegato gespielte Tonverbindung verträgt keinen Pedaleinsatz, der

mit dem Anschlag der Taste zusammenfällt.“ Daraus folgt: „Gleichzeitig oder sehr

früh getretenes Pedal verlangt Fingertrennung.“

Mit den Eingangstakten aus Beethovens Sonate op. 78 (Beispiel 43) eröffnet Günter Philipp sein instruktives Pedalkapitel.

Bei der Ursachenkombination "Fingerlegato mit frühem Pedaleinsatz" ist die Gefahr einer Verschmierung umso größer, je intensiver das Legato ist. Ein espressives Fingerlegato zeichnet sich bekanntlich nicht durch exakte Fingerablösung aus, vielmehr durch ein gewisses, meist unbewusstes Überhalten der Töne. Je länger der Ton übergehalten wird, desto leichter wird er vom Pedaltritt auf dem nächsten Ton erfasst. Im Interesse einer sauberen Pedalisierung ist es daher oft unumgänglich, auf

Beispiel 43

Fingerbindung + früher Pedaltritt unerwünschtes Weiterklingen des h1

Fingerlegato plus Pedaltritt auf dem zweiten Ton

lässt den ersten Ton mitklingen - garantiert!

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ein Fingerlegato zu verzichten. Leider, möchte man hier beinahe hinzufügen, die Empfehlung ist nämlich nicht eben leicht zu befolgen, weil das Fingerlegato einem natürlichen Bedürfnis entspringt, die Strebetendenzen zwischen den Tönen, die Intervallspannungen, das Fortschreiten von Ton zu Ton nicht nur akustisch, sondern auch körperlich zu spüren; es ist Ausdruck des Wunsches nach Einheit von körperli-cher und musikalischer Spannung, einer Einheit, wie sie bei Bläsern, Streichern und Sängern als Voraussetzung für die Tonerzeugung von selbst vorhanden ist. Musikalität hat neben der akustischen in hohem Maße auch eine körperliche Seite. Deshalb haben Kinder eine instinktive Abneigung, eine Melodie auf zwei Hände zu verteilen. Eine auf zwei Hände verteilte Melodie lässt die Intervallspannungen körperlich nicht fühlbar werden. Stumme Wechsel sind, pianistisch, oft hinderlich und eine Mehrbelastung des Gedächtnisses, im Unterricht mit Kindern sind sie nützlich, weil sie ein intensives Fühlen und Kneten der Tasten mit sich bringen, das Fortschreiten von Ton zu Ton körperlich besonders gut fühlbar werden lassen. Andererseits muss ein Künstler von einem realen Fingerlegato ganz unabhängig sein, die Klavierliteratur lässt gar keine andere Wahl. Bekanntlich verlangt die Musik sehr oft ein dichtes Legato, ohne dass dies manuell möglich wäre. So ist in unzähligen Fällen ein Legato nur mit dem 5. Finger ausführbar. Vielleicht blättern Sie kurz weiter zu Beispiel 75 im vierten Kapitel: Dort, im ersten Satz von Beethovens Sonate op. 28, ist das Legato des Seitenthemas nur mit dem 5. Finger darstellbar, aber es muss die gleiche gesangliche Dichte aufweisen wie ein Legato, das allein von den Fingern besorgt wird. Dabei darf man nicht vergessen, dass auch ein Fingerlegato fast immer vom Pedal begleitet wird. Zwischen einem guten Pedal- und einem guten Fingerlegato darf das Ohr keinen Unterschied bemerken, gemäß der obersten Richt-schnur künstlerischen Handelns, nach der die Güte der musikalischen Gestaltung nicht von der Bequemlichkeit der Situation auf der Tastatur abhängig sein darf. Das Verhältnis Pedallegato - Fingerlegato werde ich in den Kapiteln 3 und 4 noch einmal aufgreifen. Die Rede wird dann u. a. sein von Fingersätzen, die dem Finger-legato einen, fast möchte man sagen, sittlich höheren Wert zusprechen und eine Analogie zwischen Hand und Musik auch dort erzwingen wollen, wo es diese nicht gibt. Aus solchen Fingersätzen spricht die Botschaft, ein Legato dürfe man erst dann dem Pedal überlassen, wenn das Fingerlegato auch mit großen Umständlichkeiten und vielen zeitraubenden stummen Wechseln nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Anmerkung: So praxisfern und doktrinär "legatomanische" Fingersätze vom pianistischen Stand-punkt oft sind, auf der Orgel sind sie eine Notwendigkeit. Stumme Wechsel spielen auf der Orgel, wo ein Legato nur mit den Fingern darstellbar ist, eine viel größere Rolle als am Flügel. Mein früherer Orgelkollege an der Freiburger Hochschule, Professor Klemens Schnorr, berichtete mir, auch der Daumen allein werde auf der Orgel konsequent zum Legatospiel erzogen. Er habe seine Studenten das Legato mit dem Daumen allein nicht nur an chromatischen Tonleitern üben lassen, auch zwischen zwei weißen Tasten sei mit einem gleitenden Daumen ein Legato zu erzielen, sobald man es einmal verstanden habe, mit dem unteren Daumenglied geschickt zwischen den Positionen einwärts- und auswärts gestellt zu wechseln. Es folgt eine Reihe von Literaturstellen, bei denen sich in einer langen Unterrichts-praxis gezeigt hat, dass das Zusammenwirken von Finger-Legato und einem frühen Pedaltritt eine saubere Pedalisierung erschwert oder unmöglich macht.

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An dieser Stelle des ersten Satzes von Schuberts Sonate a-moll, D 784 (Beispiel 44) sind Klangverschmierungen unvermeidlich, wenn in den Sextakkord-Gängen die Sechzehntel mit Fingerlegato an die punktierten Achtel angebunden werden.

Berüchtigt für Pedalunsauberkeit ist die folgende Stelle aus dem zweiten Satz von Beethovens Sonate op. 101 (Beispiel 45). Auch auf Aufnahmen bekannter Pianisten sind an den mit Pfeil bezeichneten Stellen ineinander klingende Sekunden zu hören.

Wie sehr eine Pedalunsauberkeit stört, hängt von zwei Bedingungen ab: in welcher Lage sie auftritt und welcher Ton der Harmonie im Bass liegt. Es stört kaum, wenn zu Beginn des vierten Satzes von Beethovens Sonate op. 7 (Beispiel 46) das Sopran-Es im folgenden D mitklingt. Die Dissonanz befindet sich in schon relativ hoher Lage und wird leicht vom (Grundton-) Bass aufgesogen, die harmonische Funktion des Septakkordes bleibt zweifelsfrei erkennbar. Man kann der Reibung zwischen dem Es und dem D sogar einen sinnlichen Reiz abgewinnen und auf den (eingeklammerten) ersten Pedalwechsel im Takt verzichten. Schon etwas störender ist die Sekundreibung in Takt 6, wenn das A aufgrund einer expressiven Legatobindung von dem Pedalwechsel auf dem folgenden B miterfasst wird. Die Störung hat damit zu tun, dass sich in Takt 6 der Grundton B nicht mehr in einer tiefen Lage befindet. Tief liegende Grundtöne saugen Dissonanzen viel leichter auf als Grundtöne in höherer Lage. Aber auch hier bleibt, selbst wenn der Vorhaltton A mitklingt, die Harmonie B-Dur noch eindeutig erkennbar.

Bsp. 45

zu Beispiel 45: Die erste Zählzeit der Takte 2, 3 und 4 wird meist mit dem vorausgehenden Sechzehntel verschmiert. Ursache ist das Fingerlegato der linken Hand kombiniert mit einem zu frühen Pedaltritt im neuen Takt. Das Mitklingen des Des im Septakkord von Takt 4 ist dabei die unangenehmste Störung. Das letzte Sechzehntel der linken Hand muss also vom ersten Viertel des folgenden Taktes manuell getrennt werden; zusätzlich aber, um den verfrühten Pedaltritt nicht zu provozieren, darf man auch die Viertel auf der Eins nicht zu früh loslassen.

Takt 4 Takt 2

Beispiel 44

Bei den Akkord-Gängen die Sechzehntel kurz, de facto staccato spielen!

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Viel gravierender sind die Verschmierungen im Beispiel davor, der Stelle aus Beethovens Sonate op. 101, und in dem folgenden Beispiel 47, die einiger Erläute-rungen bedürfen. Hier betreffen die Unsauberkeiten den Bass, der stets für Funktion und Charakter einer Harmonie ausschlaggebend ist. Aber auch Verschmierungen im Bass sind nicht alle in gleicher Weise störend. In Beispiel 45 hatte es sich auf der ersten Zählzeit der Takte 2 und 3 um Sextakkorde gehandelt. Sextakkorde sind schwebender, sind in ihrer Identität nicht so gesichert und werden daher von Verschmierungen eher aus der Bahn geworfen als vom Grund-ton gestützte Dreiklänge. Aus den genannten Sextakkorden des Beispiels 45 mit ihren scharfen Vorhalttönen im Sopran sprechen Übermut und Lebensfreude. Klingen in diese Akkorde die unmittelbar vorausgehenden Sechzehntelbässe hinein, werden Charakter, Schönheit und harmonische Funktion dieser Klänge unkenntlich. Bitte halten Sie fest: Von ihrem Grundton gestützte Harmonien (Dreiklänge, Septakkorde) werden von

Pedalunsauberkeiten weniger in ihrer Eigenart beeinträchtigt als nicht vom

Grundton gestützte Klänge (z. B. Sextakkorde und Quintsextakkorde). Dies gilt

insbesondere dann, wenn den Harmonien, die nicht vom Grundton gestützt sind,

noch ausdrucksstarke dissonierende Töne beigegeben sind. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie ein unsauberer Bass eine Harmonie völlig unkenntlich machen kann, ist eine Stelle aus Liszts Petrarca-Sonett 104 (Beispiel 47). Die leidenschaftliche Passage erweckt das Bedürfnis zu drängen und zu „wühlen“. Die beiden Gruppen der Halbtonschritte im Bass, ohnehin in einem dichten Finger-legato gespielt, klingen in je einem Pedalfeld zusammen, das übergebundene Dis

Beispiel 46

Takt 6

zu Beispiel 46: Die Sekundreibung Es - D in Takt 1 stört nicht, sie wird von der Septakkord-harmonie leicht aufgesogen und ergibt in dieser schon relativ hohen Lage sogar einen sinnlichen Reiz. Der Pedalwechsel auf dem Melodieton D kann daher auch unterbleiben. Schon störender ist eine Sekundreibung in Takt 6. Das mit espressivem Fingerlegato in das B hineingespielte A wird vom Pedalwechsel auf dem B miterfasst. Aber selbst wenn das A im B mitklingt, bleibt die Harmonie B-Dur noch eindeutig erkennbar.

( )

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jedoch muss die Halbton-Dissonanz abstreifen, muss als Basston des Quintsextak-kordes Dis-Fis-A-H unter allen Umständen sauber sein. Andernfalls verliert der Quintsextakkord vollständig seine Eigenart und damit die Fähigkeit, die klagenden Dissonanzen der Sopran- und Tenorstimme aufzunehmen.

Auch der dritte Satz aus Beethovens Sonate op. 31, Nr. 2 ist ein bekanntes Beispiel dafür, dass ein Pedaleinsatz wegen eines vorausgehenden Fingerlegatos unsauber geraten kann (Beispiel 48). Hinter dem vordergründig dünnen Klaviersatz steht die Idee orchestraler Fülle. Deshalb ist reichlich Pedal geboten. Es wird, richtig, stets auf dem Staccato-Achtel der ersten Zählzeit getreten und aus Gründen der Klarheit bei den drei Sechzehnteln, die zur Eins hinführen, weggenommen. Dies gilt dann, wenn das Durchführungs-motiv im Bass erscheint; erscheint das Motiv in der Oberstimme, zumal in höherer Lage, wird das Pedal ganztaktig genommen.

Beispiel 47

Beispiel 48

Die drei Achtel in ein Pedal!

Kommentar zu Beispiel 48 (untere Zeile des Beispiels): Die Heftigkeit der Musik verlangt ein pulsierendes Sich-Abstoßen von den mit Keilen versehenen Achteln. Das letzte Takt-Sechzehntel darf dabei nicht mit Fingerlegato in die Eins gespielt werden, weil es sonst, unvermeidlich, als ungewollte Sekund-Verschmierung im nächsten Takt mitklingt.

Takt 58 Takt 59

zu Beispiel 47: Eine Hörtest-Fermate ist hier fast unabdingbar, weil das Bass-E (Takt 58) in den Takt 59 hineinschmiert und dort zusammen mit dem Dis klingt. Auf dem D innehalten: Nur die weite Reibung Dis - D darf zu hören sein!

Die Bässe E und Dis werden in engem Legato gespielt. Dis wird zu früh losgelassen Pedaltritt kommt zu früh Dis und E klingen in Takt 59 zusammen Harmonie (Quintsextakkord plus espressive Figurationstöne) wird völlig unkenntlich.

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Die linke Hand muss ihren Part der unteren Zeile des Beispiels 48 also ausführen, wie hier unter 48a handschriftlich angezeigt. Die manuelle Trennung vor dem Staccato-Achtel verletzt nicht Beethovens Absicht, der durchgehende Bögen notiert hat; entscheidend ist, wie es klingt: An den Nahtstellen hört man keineswegs ein Loch.

Lücken, manuelle oder Pedal-Lücken, die im Interesse der Pedalsauberkeit notwendig sind, werden von der Eigenresonanz tiefer Töne in einer Weise geschlossen, dass der Hörer keine Unterbrechung wahrnimmt, vielmehr hört er Töne, die tatsächlich voneinander abgesetzt sind, als klare Fortschreitung. Die hier folgende Stelle aus Chopins b-moll-Scherzo (Beispiel 49) zeigt, dass die Eigen- bzw. Restresonanz von Bässen manuelle Lücken vollständig schließen kann. Die starke Trübung, die sich im Takt 46 beim fz-Anschlag der F-Oktave einstellt, ist womöglich hinnehmbar, vielleicht, wegen des unwirschen Charakters der Stelle, sogar wünschenswert. Ob beabsichtigt oder nicht: Die ruppig abgerissene fz-Oktave ist regelmäßig als harte Sekundreibung hörbar. Wegen des noch stark mitklingenden E behält die F-Oktave nur wenig von der Individualität eines eigenen Tones und erhält beinahe den Charakter eines Schlaggeräusches. Dies kann, wie gesagt, inter-pretatorisch auch gewollt sein (siehe Kommentar).

In Beispiel 50 sehen Sie eine Passage aus dem vierten Satz von Schuberts Sonate c-moll, D 958. Die sf-Schläge auf der ersten Zählzeit wirken in die Unisonogänge weit hinein, müssen daher sauber sein, und natürlich nimmt der Hörer auch hier die unerlässliche Trennung vor den sforzati keineswegs als Klangloch wahr.

Beispiel 48a

48a: Saubere Bässe auf der Eins erhalten Sie nur, wenn Sie davor manuell absetzen.

Kommentar zu Beispiel 49: Wenn Sie wollen, dass die F-Oktave noch individuell erkennbar bleibt, dann spielen Sie sie sehr hart und laut, aber nicht zu spitz. Zusätzlich müssen Sie auf ein Legato zwischen der E- und der F-Oktave verzichten; spielen Sie also die E-Oktave ohne Pedal und setzen ein wenig vor dem F ab, so dass die Stelle, de facto, so ausgeführt wird, als stünde auf der ersten Zählzeit eine Viertel-Pause. Der Hörer nimmt dabei zwischen E- und F- Oktave keineswegs eine Unterbrechung wahr, vielmehr hört er die Stelle so, wie sie notiert ist: eine klare F-Oktave, die sich aus der Verschmelzung mit dem vorausgehenden E explosiv löst.

Beispiel 49

Takt 46

zusätzlicher "kleiner" Pedalwechsel, um die dröhnende Wucht der Bassoktave zu mildern und das Diminuendo herbeizuführen.

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In vielen Fällen aber würden sich Pedal-Lücken und manuelle Lücken störend bemerkbar machen. Sie müssen dann, trotz der Gefahr unsauberen Pedals, unter-bleiben, etwa bei der folgenden Stelle aus dem ersten Satz von Robert Schumanns Fantasie C-Dur, op. 17 (Beispiel 51). Das letzte Viertel der abgebildeten Takte schmiert häufig in das Sechzehntel der ersten Zählzeit. Ein Legatoverzicht zwischen diesen Tönen würde nur dann nützen, wenn man an der Nahtstelle gleichzeitig eine Pedal-Lücke machte. Dabei jedoch entstünde ein hörbares Klangloch. Die strebenden Bassschritte rufen zudem den starken Wunsch nach einem dichten Fingerlegato hervor. Gerade an dieser Stelle widerspräche ein Non-Legato der Empfindung und der Idee einer innigen Bindung.

FINGERTRENNUNG DURCH EINEN FINGERSATZ, DER DEN KOPF ENTLASTET

Wird eine erwünschte Trennung zwischen zwei Tönen durch den Fingersatz erzwun-gen, entlastet dies den Kopf, weil dieserart für die Trennung keine zusätzliche steuernde Aufmerksamkeit nötig ist. Der Fingersatz erledigt die Aufgabe von selbst und unterstützt darüber hinaus den Spieler nicht nur bei einer sauberen Pedalisierung, sondern auch bei der Artikulation. Dies gilt besonders für Haydn und Mozart, in deren Werken der letzte Ton unter einem Artikulationsbogen häufig - keineswegs aber immer - vom folgenden Ton abzusetzen ist. Derselbe Finger hintereinander auf zwei verschiedenen Tasten besorgt das erwünschte Absetzen meist in hinreichender und auf natürliche Weise, im Gegensatz zu dem plakativ aufzeigenden Absetzen eines belehrenden und auf Stil getrimmten Spiels, das einen oft ärgerlich zurücklässt. Das Thema Pedal und Stil wird am Ende des sechsten Kapitels eingehender erörtert.

Beispiel 51

Kommentar zu Beispiel 51: An den mit Pfeilen bezeichneten Stellen sind aus musikalischen Gründen weder eine Pedal- noch eine manuelle Lücke angebracht. Ein verfrühter und zu schneller Pedal-Tritt auf der Eins lässt das vorausgehende Viertel des Basses störend mitklingen. Um dies zu verhindern, muss das jeweils erste Sechzehntel im Takt so breit genommen werden, wie es das Spiel-Tempo irgend erlaubt. Das heißt de facto: Im Dienste sauberer Bässe ist eine diskrete Rubato-Dehnung des ersten Sechzehntels geboten.

Beispiel 50

Zu Beispiel 50: An den bezeichneten Stellen Pedal-Lücke und manuelle Trennung! In der linken Hand ergibt sich die manuelle Trennung von selbst.

kein Pedal!

kein Pedal!

kein Pedal!

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In den drei folgenden Beispielen 52, 53 und 54 aus den Kopfsätzen von Beethovens Sonaten op. 57, op. 111 und op. 28 führt der hinzugefügte Fingersatz von selbst die manuelle Lücke herbei, die für die saubere Pedalisierung hilfreich ist.

Noch zwingender geboten ist ein trennender Fingersatz im Thema des ersten Satzes der Sonate op. 111.

Beispiel 53

Takt 19

Staccato b r e i t !

Beispiel 52

Takt 82

Fingertrennung!

Zwischen den Takten 18 und 19 ist eine manuelle Trennung kaum möglich; halten Sie daher in Takt 19 die beiden Staccato - C lange fest, damit der Pedaltritt möglichst spät erfolgen kann.

Takt 21

Takt 87

Zu Beispiel 52: Eine Pedal-Lücke und die manuelle Lücke, die sich mit dem geeigneten Fingersatz von selbst ergibt, gewährleisten ein sauberes Pedal auf dem As von Takt 87.

Sie haben die Wahl: entweder Finger-Trennung oder Pedalverschmierung!

Pedaltritt spät!

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Die folgenden Takte aus der Pastoral-Sonate (Beispiel 54) erfordern jeweils auf der ersten Zählzeit einen Pedalimpuls. Für ein sauberes Pedal ist der Fingersatz, den die hier gezeigte Edition an den Takt-Nahtstellen empfiehlt, der denkbar ungünstigste.

Auch zum Thema "Fingerlegato als Ursache von Pedalverschmierungen" habe ich mehr Beispiele vorgestellt, als zur Erörterung des Themas nötig gewesen wären. Wie schon an anderer Stelle gesagt, geht es mir nicht nur um exemplarische Fehler-korrekturen, sondern auch darum, Ihnen eine große Übersicht über solche Literatur-stellen zu zeigen, an denen erfahrungsgemäß fast immer fehlerhaft pedalisiert wird. Ein berühmtes Beispiel, geradezu ein Klassiker der Pedalverschmierung, darf in diesem Überblick nicht fehlen, der Übergang zu Takt 28 im ersten Satz von Beethovens Sonate op. 110 (Beispiel 55). Das Bass-Es auf der ersten Zählzeit von Takt 28 klingt fast nie sauber. Die inzwischen hinreichend erklärten äußeren Ursa-chen sind immer dieselben: Das Bass wird wegen des folgenden Positionswechsels nur angetippt und der Pedaltritt erfolgt zu früh, oft noch während der letzten Töne der vorhergehenden 32stel-Figur. Die 32stel selbst sind oft nur als unverständliches Rumpeln zu hören, besonders die ersten beiden, G und As, gehen im Hall des letzten Bass-Trillers unter. Die eigentliche, tiefere Ursache ist natürlich: Der Ausführende hört die Verschmierung nicht.

Beispiel 55

Takt 28 Takt 27

Halten Sie bitte das Es lange fest, damit der Pedaltritt spät erfolgen kann, denn wegen des raschen Tempos ist es am Taktstrich etwas unangenehm, eine manuelle Lücke zu machen.

Bitte prüfen Sie mit einer langen Test-Fermate, ob der Klang sauber ist: Nur die weite, mehr als vier Oktaven umspannende Quinte Es – b3 darf zu hören sein! (Realiter ist nur der Bass Es hörbar, der das hohe Diskant-b3 vollständig überdeckt, das hohe B klingt in der Vorstellung weiter.) Während der Hörkontroll-Fermate liegt die linke Hand vorbereitend auf der Terz Es - G.

T. 200 T. 204

Beispiel 54

Zu Beispiel 54: Damit die letzten Achtel der linken Hand in Takt 200 und 204 nicht von dem Pedalstoß auf der folgenden Eins miterfasst werden, empfehle ich den von mir hinzugefügten kursiven Fingersatz, mit dem sich die hilfreiche manuelle Trennung wiederum von selbst ergibt.

Setzen Sie den ersten Ton der Figur, das G, ein wenig vom Triller ab, vielleicht mit dem von mir hinzugefügten Fingersatz, der dieses Absetzen von alleine besorgt. Die 32stel sind, natürlich, ohne Pedal zu spielen.

5 3 3 5 2 4 2 4

1 1 2 2 4 4

1 3

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Das letzte Beispiel des Kapitels hat, zugegeben, nichts mit dem Thema Fingerlegto versus Pedalsauberkeit zu tun. Ich bringe es, weil das weite, mehr als vier Oktaven überspannende Intervall Es - b3 in Takt 28 des soeben erörterten Beispiels 55 an den einzigartigen Höhepunkt in Beethovens letzter Sonate op. 111 (Beispiel 56) denken lässt, wo, nach einem langen dichten Flirren in der Mittellage, die Stimmen aus-einanderstreben, um aus weit entfernten Positionen einen ungeheuren Raum zu öffnen, der sich gleich darauf versöhnlich wieder schließt. Es ist, als seien hier, in Takt 125, in diesen so weit auseinander liegenden Tönen eines bruchstückhaften Quart-Vorhaltakkordes die Grenzen der Musik abgesteckt.

Beispiel 56

Takt 125