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63 Binswanger und andere vaskuläre Demenzen Kriterien zur Diagnose einer vaskulären Demenz 1. Vorhandensein eines dementiellen Syndroms nach ICD-10-Kriterien, 2. anamnestischer, klinischer oder radiologischer Nachweis einer zerebrovaskulären Erkrankung sowie 3. zeitlicher Zusammenhang von 1. und 2. 5 Binswanger und andere vaskuläre Demenzen R. L. Haberl, A. K. Schreiber Zum Thema Nach der Alzheimer-Krankheit sind zerebrale Durchblutungsstörungen die zweithäufigste Demenzursache in Europa. Aufgrund der Hete- rogenität des Krankheitsbildes ist die Einord- nung und Klassifikation uneinheitlich. Begriffe wie chronische zerebrovaskuläre Insuffizienz, Binswanger-Erkrankung oder Multi-Infarkt- Syndrom werden ohne klare Abgrenzung ver- wendet. 5.1 Definition Unter dem zuletzt weitgehend anerkannten Oberbegriff „vaskuläre Demenz“ (VD) werden unter Berücksichtigung klinischer, radio- logischer, neuropathologischer und genetischer Kriterien im Fol- genden alle dementiellen Syndrome, die auf Erkrankungen der Hirngefäße basieren, zusammengefasst. Angelehnt an die NINDS-AIREN-Kriterien (Román et al. 1993) stützt sich die hier angewandte Definition „vaskuläre Demenz“ auf drei Hauptpunkte:

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63Binswanger und andere vaskuläre Demenzen

Kriterien zur Diagnose einer vaskulären Demenz

1. Vorhandensein eines dementiellen Syndroms nach ICD-10-Kriterien,2. anamnestischer, klinischer oder radiologischer Nachweis einer zerebrovaskulären

Erkrankung sowie3. zeitlicher Zusammenhang von 1. und 2.

5 Binswanger und andere vaskuläre Demenzen

R. L. Haberl, A. K. Schreiber

Zum ThemaNach der Alzheimer-Krankheit sind zerebraleDurchblutungsstörungen die zweithäufigsteDemenzursache in Europa. Aufgrund der Hete-rogenität des Krankheitsbildes ist die Einord-nung und Klassifikation uneinheitlich. Begriffewie chronische zerebrovaskuläre Insuffizienz,Binswanger-Erkrankung oder Multi-Infarkt-Syndrom werden ohne klare Abgrenzung ver-wendet.

5.1 Definition

Unter dem zuletzt weitgehend anerkannten Oberbegriff „vaskuläreDemenz“ (VD) werden unter Berücksichtigung klinischer, radio-logischer, neuropathologischer und genetischer Kriterien im Fol-genden alle dementiellen Syndrome, die auf Erkrankungen derHirngefäße basieren, zusammengefasst.

Angelehnt an die NINDS-AIREN-Kriterien (Román et al. 1993)stützt sich die hier angewandte Definition „vaskuläre Demenz“ aufdrei Hauptpunkte:

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64 Theorie

Erläuterungen zu den Diagnosekriterien „vaskuläre Demenz“Nach der ICD-10-Klassifikation erfordert die Diagnose Demenzdas Vorliegen einer alltagsrelevanten Abnahme von Gedächtnis-leistung und kognitiven Fähigkeiten, die durch Anamnese und/oder neuropsychologische Testung verifiziert werden kann. Beidem Verdacht auf eine VD müssen delirante Syndrome, Bewusst-seinsveränderungen jeglicher Ursache sowie Aphasien, die keinezuverlässige Beurteilung erlauben, ausgeschlossen werden.

Nach NINDS-AIREN-Kriterien müssen neben Störungen dermnestischen Funktionen mindestens zwei der folgenden kogniti-ven Bereiche betroffen sein: Orientierung, Aufmerksamkeit, Spra-che und Ausdruck, visuospatiale Funktionen, Kalkulation, exeku-tive Funktionen, Motorik, Abstraktion und Urteilsvermögen.

Die Diagnose einer zerebrovaskulären Erkrankung wird zum einenklinisch durch das plötzliche Auftreten fokalneurologischer Zeichen wieHemiparese oder zentrale Fazialisparese gestellt. Zum anderen weisteine positive Anamnese für Schlaganfälle sowie der Nachweis ischä-mischer oder hämorrhagischer Läsionen in der zerebralen Bildgebungauf das Vorliegen einer zerebrovaskulären Erkrankung hin.

Ein zeitlicher Zusammenhang (3 Monate) zwischen zerebro-vaskulären Ereignissen und dementieller Entwicklung macht einevaskuläre Genese wahrscheinlich. Zusätzlich sollte bei einer plötz-lichen und/oder schubförmigen Verschlechterung kognitiverFähigkeiten ohne klinisch manifesten Schlaganfall differential-diagnostisch auch eine vaskuläre Erkrankung berücksichtigt wer-den und eine zerebrale Bildgebung veranlasst werden.

5.2 Epidemiologie

Aufgrund der Heterogenität des Krankheitsbildes sowie uneinheit-licher Diagnosekriterien sind epidemiologische Daten zu den VDnur eingeschränkt verfügbar und valide.

In Europa und Nordamerika stehen zerebrale Durchblutungsstö-rungen als Ursache einer dementiellen Entwicklung mit 10–30% anzweiter Stelle, in Asien mit mehr als 50% angeblich an der Spitze. Eine

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breit angelegte europäische Studie zeigte eine kontinuierliche Zunah-me der Prävalenz vaskulärer dementieller Syndrome mit fortschrei-tendem Alter. Jenseits des 80. Lebensjahres liegt sie zwischen 3 und16%. Die Inzidenz wird auf 1–7 Neuerkrankungen pro 1000 Personenpro Jahr geschätzt. Im Gegensatz zur AD sind Männer in fast allenAltersklassen häufiger betroffen als Frauen (Román et al. 1993).

Die Prognose ist individuell und je nach Grunderkrankung ver-schieden, insgesamt liegt die durchschnittliche Überlebensdauerbei den VD aber deutlich unter der von Patienten mit AD.

Der weit verbreitete angloamerikanische Terminus „mixed demen-tia“ bzw. „gemischte Demenz“ beschreibt ein dementielles Syn-drom, das sich aus Komponenten einer neurodegenerativen (z. B.Morbus Alzheimer) und einer zerebrovaskulären Erkrankung zu-sammensetzt (Gorelick 1997).

5.3 Klinische Symptomatik

Trotz der verschiedenen Subtypen der VD mit unterschiedlicherPathogenese gibt es gruppenübergreifende charakteristische klini-sche Merkmale (Caplan 1995, Román et al. 1993). Siehe Seite 66.

5.4 Unterformen vaskulärer Demenzen

Vaskuläre Demenzen entstehen durch Infarkte im Versorgungsge-biet großer hirnzuführender Arterien oder im Rahmen einerMikroangiopathie. Die Ursachen dieser Infarkte, und damit dieursächlich bezogene Therapie, sind unterschiedlich (Tabelle 5.1).

5.4.1 Große hirnzuführende Arterien

Multiple kortikale Infarkte („Multi-Infarkt-Demenz“)Multiple kortikale Hirninfarkte können eine Demenz verursachen.

!

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66 Theorie

Die Diagnose wird durch das kraniale Computertomogrammgestellt (multiple Territorialinfarkte mit kortikaler, keilförmigerLokalisation). Typische Ursachen für multiple Hirngefäßverschlüssesind eine persistierende kardiale Emboliequelle (z. B. unbehandel-tes Vorhofflimmern, Herzwandaneurysma, rheumatische Klappen-erkrankung, Mitralstenose, Vorhofmyxom, Endocarditis lenta) oder

Charakteristische klinische Merkmale der vaskulären Demenz

1. Plötzliches Auftreten von kognitiven Störungen im zeitlichen Zusammenhang mit einerzerebrovaskulären Erkrankung und im Verlauf fluktuierender oder schubförmiger Aus-prägung, weist auf eine vaskuläre Genese hin, ist jedoch keine notwendige Bedingung.

2. Schon im frühen Krankheitsstadium kommt es zu Gangstörungen mit kleinschrittigem,engbasigem, teilweise schlurfendem oder auch spastischem Gangbild mit gehäuften Stürzen.

3. Miktionsstörungen im Sinne einer Frequenzzunahme, vermehrter Urge-Symptomatikbis hin zur Dranginkontinenz sind Frühsymptome.

4. In der klinisch-neurologischen Untersuchung finden sich fokalneurologische Zeichen,die je nach Lokalisation der Ischämie bzw. vaskulärem Subtyp variieren können:– Typisch sind pyramidale Symptome wie Hemiparese und/oder zentrale Fazialispa-

rese mit positivem Babinski-Zeichen sowie extrapyramidale Symptome mit Tonus-steigerung und Akinese. Häufig kommt es zum Auftreten eines pseudobulbärenSyndroms, das durch Sprech- und Schluckstörungen sowie affektiver Labilität mitpathologischem Weinen und Lachen gekennzeichnet ist.

5. In der neuropsychologischen Beurteilung sind v.a. Veränderungen des Antriebs undder Affektivität im Sinne eines Frontalhirnsyndroms auffällig. Die Patienten wirkenzurückgezogen, teilnahmslos und gleichgültig. Es kommt vermehrt zu Stimmungs-schwankungen mit depressiv gefärbter Grundstimmung.Inwieweit bestimmte kognitive Symptome im Vordergrund stehen, hängt von derLokalisation, Größe, Anzahl und Ursache der vaskulären Läsionen ab.– Kortikale vaskuläre Demenzen, meist Folge von atherothrombotischen oder

kardiogen-embolischen Schlaganfällen, sind durch plötzlich auftretende Lähmun-gen, sensible Störungen und aphasische Syndrome charakterisiert.

– Subkortikale vaskuläre Demenzen dagegen bieten Pseudobulbärhirn-Symptome, isoliertePyramidenbahnzeichen, Haltungs- und Tonusanomalien sowie Frontalhirnsyndrome mitVerlangsamung, Interessenverarmung, Perseverationen und Aufmerksamkeitsstörungen

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eine arterio-arterielle Emboliequelle (hochgradige Karotisstenosen,v.a. wenn beidseits vorhanden). Multiple kortikale Infarkte kommenauch bei Gerinnungsstörungen (Protein-S- oder Protein-C-Mangel,Antithrombin-Mangel, aktivierte Protein-C-Resistenz bei Faktor-V-Leiden, Kardiolipin-IgG-Antikörpersyndrom) vor. Klinisch zeigensich in Abhängigkeit von der Lokalisation kortikale Funktionsstö-rungen wie Aphasie, Apraxie oder verschiedene Neglect-Syndrome.

Strategische Einzelinfarkt-DemenzAn entsprechender Stelle lokalisiert können auch einzelne ischä-mische Infarkte ein dementielles Syndrom verursachen. FolgendeLokalisationen sind beschrieben:– Gyrus-angularis-Infarkte (hinterer Mediateilinfarkt der domi-

nanten Hemisphäre),– A.-cerebri-posterior-Infarkte mit Beteiligung des medialen

Temporallappens,– mediale frontale Infarkte (A. cerebri anterior),

TTTTTabelle 5.1.abelle 5.1.abelle 5.1.abelle 5.1.abelle 5.1. Unterformen vaskulärer Demenzen

Läsionsort Große Arterien Kleine Arterien

Infarkttyp Multiple Strategische Strategische Multipleterritoriale territoriale lakunäre lakunäreInfarkte Infarkte Infarkte Infarkte

Patho- Kardiale Arterio- Hyalinose M. Binswangergenese Embolie, arterielle Amyloidose CADASIL

Arterio- Embolie, Vaskulitisarterielle KardialeEmbolien, Embolie,Karotisstenose In-situ

Thrombose

Therapie- Antikoagula- Thrombozyten- Antihypertensiva Antihyper-prinzip tion funktions- Antidiabetika tensiva

Operation hemmer Vit. B12/Folsäure AntidiabetikaAntikoagulation Immun-Operation suppressiva

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– Ischämie im Bereich des Nucleus caudatus, v.a. linksseitig,– bilaterale oder linksseitige paramediane Thalamusinfarkte

(Abb. 5.1).Diese Thalamusanteile werden z. T. unpaarig, d. h. beidseitsdurch eine Arterie aus dem Gabelungsbereich der A. basilarisversorgt, so dass ein einzelner Gefäßverschluss (meist eineBasilariskopfthrombose) einen beidseitigen Infarkt und eineDemenz häufig mit amnestischem Syndrom („thalamische De-menz“) verursachen kann.

Ursache dieser strategisch ungünstig gelegenen Infarkte könnenArteriosklerose (in-situ Thrombose), arterio-arterielle Embolienoder kardiale Embolien sein.

AAAAAbbbbbbbbbb. 5.1.. 5.1.. 5.1.. 5.1.. 5.1. Computertomogramm mit bilateralen paramedianen Thalamusinfarkten alsUrsache für eine Demenz durch strategisch gelegene Hirninfarkte

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GrenzzonenischämienInfarkte im sog. Grenzzonengebiet zwischen zwei Hirnarterienkönnen ein dementielles Syndrom verursachen, v.a. wenn sie bila-teral und im vorderen Grenzzonengebiet (zwischen dem Ver-sorgungsgebiet der vorderen und mittleren Hirnarterie) auftreten.Ursache sind hochgradige Stenosen oder Verschlüsse der A. carotisinterna mit unzureichender Kollateralversorgung.

5.4.2 Kleine Arteriolen und Kapillaren

Häufiger werden vaskuläre Demenzen durch eine Erkrankung derkleinen und kleinsten Hirngefäße verursacht, v.a. der Endab-schnitte langer penetrierender Marklagerarterien.

Multiple lakunäre InfarkteDurch den Verschluss kleiner zerebraler Endarterien entstehen sog.Lakunen, d. h. kleine, runde oder ovaläre Infarkte bis zu 1,5 cmDurchmesser und einer bevorzugten Lokalisation in den Stamm-ganglien (v.a. innere Kapsel), Thalamus, Brücke und periventri-kulärem Marklager. Lakunen werden durch das CT und weitaussensitiver durch das MRT diagnostiziert. Sie verlaufen z. T. asymp-tomatisch oder aber werden klinisch durch sog. lakunäre Syndro-me erkennbar:– Paresen ohne sensible Beteiligung („pure motor stroke“),– Sensibilitätsstörungen eines Armes und/oder Beines ohne Läh-

mung („pure sensory stroke“),– Hemiballismus,– Artikulationsstörungen mit Feinmotorikstörungen („dysarthria

clumsy hand“-Syndrom) oder halbseitige Zeigeataxien mit nurgeringer Armparese („atactic hemiparesis“).

Eine dementielle Entwicklung beginnt häufig erst dann, wenn La-kunen konfluieren („Status lacunaris“) und sich in der zerebralenBildgebung als periventrikuläre, fleckige Dichteminderungen dar-stellen (in der T2-gewichteten Sequenz sind dies hyperintense, d. h.

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helle Marklagerläsionen, die auch als „Leukaraiose“ bezeichnetwerden). Patienten mit Lakunen haben meist mehrere vaskuläreRisikofaktoren, v.a. arterielle Hypertonie >140/90 mmHg, Diabe-tes mellitus, und – wohl häufiger als bislang angenommen – einenHomocysteinspiegel >15 mmol/l im Blut, welcher nicht nur zu ei-ner arteriosklerotischen Makroangiopathie, sondern auch zu einerVerschlusskrankheit der kleinen zerebralen Gefäße führen kann(Faßbender et al. 1999).

Morbus Binswanger(Synonym: Subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie, SAE)Dieses 1894 erstmals beschriebene Syndrom stellt eine Sonder-form einer mikroangiopathischen vaskulären Demenz dar, derenEigenständigkeit und Abgrenzbarkeit zu multiplen lakunärenInfarkten nicht allgemein anerkannt ist. Die Patienten haben eineschleichend beginnende, chronisch progrediente Symptoma-tik mit kognitiver Beeinträchtigung, Frontalhirnzeichen wieAntriebsverlust und Verlangsamung, Gangstörungen, Blasen-inkontinenz und Zeichen der Pseudobulbärparalyse (Caplan1995). In der Bildgebung – am sensitivsten ist die Kernspin-tomographie – zeigen sich periventrikuläre Dichteminderungen(„Leukaraiose“) sowie eine Erweiterung der Ventrikel. Die kli-nische Abgrenzung zum Status lacunaris, manchmal auch zumNormaldruckhydrozephalus (Trias Demenz, Gangstörung, Blasen-inkontinenz) ist unscharf.

Die kernspintomographisch darstellbaren Marklagerverände-rungen sind unspezifisch, und können in ähnlicher Weise alters-bedingt ohne neurologische Symptome, bei lakunären Infarktenmit oder ohne Demenz, bei CADASIL (s. unten), bei zerebralenVaskulitiden oder bei Entmarkungskrankheiten (z. B. multipleSklerose, Leukodystrophien oder Neuroborreliose im Stadium III)auftreten.

Pathologisch zeigen sich ischämische Läsionen im periventri-kulären Grenzzonenbereich, mit Erweiterung der perivaskulären

!

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Räume, Elongation der medullären Arteriolen, Arterioloskleroseund sekundären Demyelinisierungsherden.

Patienten mit der Binswangererkrankung haben meist vaskuläreRisikofaktoren. Besonders ungünstig waren langfristig erhöhteBlutdruckwerte, hypertensive Krisen und das Fehlen des zirka-dianen nächtlichen Blutdruckabfalls. Bei manchen Binswanger-patienten wurden erhöhte Fibrinogenwerte im Blut, Hypervis-kosität, Thrombozytenaggregation oder eine Aktivierung derGerinnungskaskade während der Krankheitsprogression festge-stellt – eine der theoretischen Grundlagen für Behandlungs-versuche mit Substanzen wie Pentoxifyllin oder Propentofyllin.

CADASIL („Cerebrale autosomal-dominante Arteriopathie mitsubkortikalen Infarkten und Leukenzephalopathie“)Eine Demenz bei jüngeren Menschen (ab 30–40 Jahren) ohnevaskuläre Risikofaktoren mit kernspintomographischen Charak-teristika der Binswangererkrankung sollte an CADASIL denkenlassen (Mellies et al. 1999). Seit der erstmaligen Beschreibung alsgenetisch bedingte Krankheitsentität 1993 sind in Deutschlandetwa 100 CADASIL-Fälle bekannt geworden, die Prävalenz liegtvermutlich jedoch viel höher. Es handelt sich um eine autosomal-dominant vererbte (Chromosom 19p13.1, Mutation im Notch-3Gen), nichtarteriosklerotische Erkrankung der leptomeningealenund penetrierenden Mikrogefäße im Gehirn ohne Amyloidablage-rungen. Möglicherweise liegt eine Schädigung der elastischenFasern der Gefäßwände zugrunde. Die jungen Patienten fallenklinisch durch episodisch auftretende affektive Störungen (30%)z. T. mit Wahn und Halluzinationen, Migräneattacken mit Aura(40%), epileptische Anfälle (10%) und im Verlauf progredienterDemenz auf. Kernspintomographisch zeigen sich in der T2-ge-wichteten Sequenz bei allen symptomatischen Genträgern kon-fluierende Dichteminderungen periventrikulär, im Marklager undspäter im gesamten Hirn unter Aussparung des Kortex und desKleinhirns (Abb. 5.2). Die Krankheit schreitet langsam fort und istbislang nicht behandelbar. Zur Diagnosesicherung eignet sichneben der direkten DNS-Analyse eine Hautbiopsie, da elektronen-

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AAAAAbbbbbbbbbb. 5.2.. 5.2.. 5.2.. 5.2.. 5.2. Kernspintomogramm eines Patienten mit zerebraler autosomal-dominanterArteriopathie mit subkortikalen Infarkten und Leukenzephalopathie (CADASIL). Ähnlichwie bei M. Binswanger zeigen sich in der T2-gewichteten Sequenz multiple peri-ventrikuläre Dichteminderungen

mikroskopisch in der Basalmembran der Haut charakteristischeosmophile Granula nachgewiesen werden können.

AmyloidangiopathieDemenzen bei älteren, nicht hypertensiven Patienten können auchauf einer Amyloidangiopathie beruhen. Amyloidablagerungen inzerebralen Gefäßen führen einerseits zu intrazerebralen Blutungenwie Mikro- und Lobärhämatomen, andererseits auch zu ischämi-schen Mikroinfarkten mit konsekutiver dementieller Entwicklung.Betroffen sind (im Gegensatz zu M. Binswanger und CADASIL) dieArteriolen und Kapillaren von Leptomeningen und zerebralem

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Kortex – nur in geringem Maße auch von Marklagerarterien.Durch fibrinoide Nekrosen und Gefäßverschlüsse führt dies zukleinen, kortikal gelegenen Ischämien. Ätiologisch unterscheidetman sporadische von autosomal-dominant vererbten Formen (is-ländischer oder holländischer Typ).

Zerebrale VaskulitidenMultiple Hirninfarkte im Rahmen von Vaskulitiden mit zerebralerBeteiligung können ebenfalls ein dementielles Syndrom bedingen:beispielsweise im Rahmen von Kollagenosen (v.a. Lupus erythe-matodes, seltener Panarteriitis nodosa, Wegenersche Granulo-matose), der Arteriitis cranialis Bing Horton, einiger infektiöserGefäßentzündungen (z. B. Lues cerebrospinalis, HeubnerscheEndarteriitis bei Tuberkulose, Herpes zoster, Lyme Borreliose)oder als paraneoplastisches Syndrom. Die entsprechenden serolo-gischen Tests gehören zum erweiterten diagnostischen Repertoirevaskulärer Demenzen (antinukleäre Antikörper, anti-DNS-Anti-körper, antizytoplasmatische Antikörper, Komplementkompo-nenten C3 und C4, Blutsenkung, TPHA, Lyme- und Zoster-Antikör-per in Serum und Liquor, Liquorpunktion). Größere diagnostischeSchwierigkeiten bereitet die „isolierte Angiitis des zentralenNervensystems“. Diese immer wieder sporadisch auftretendeVaskulitis ausschließlich der kleinen leptomeningealen und korti-kalen parenchymatösen Hirngefäße verursacht eine rasch pro-grediente Demenz, typischerweise ohne alle o. g. Laborauffällig-keiten. Die angiographische Gefäßdarstellung ist meist normal,Computertomogramm und Kernspintomogramm zeigen unspezi-fische, subkortikal gelegene Infarkte. Zur Diagnosesicherung wirdeine leptomeningeale und kortikale Hirnbiopsie benötigt, die inAnbetracht der therapeutischen Konsequenz – mit Remissionenunter Kortikosteroiden und Cyclophosphamid – auch immer danndurchgeführt werden sollte, wenn eine anderweitig ungeklärte,rasch progrediente Demenz mit zusätzlichen, plötzlichen fokal-neurologischen Zeichen auftritt.