5 - Marco Brusotti - Wille Zum Nichts, Ressentiment, Hypnose

26
Marco Brusotti WILLE ZUM NICHTS, RESSENTIMENT, HYPNOSE. ,AKTIV‘ UND ,REAKTIV‘ IN NIETZSCHES GENEALOGIE DER MORAL * „Was bedeuten asketische Ideale?“ Die dritte Abhandlung der Genealogie zählt eine Reihe z. T. gegensätzlicher Bedeutungen auf. Gleich im ersten Aphorismus erhält der Leser eine so bunte Vielfalt möglicher Antworten, daß die Frage nach der einen Bedeutung selbst fraglich erscheint. Das entspricht einem Grundsatz von Nietzsches genealogischer Methode: „[D]efinirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat“ (GM II 13). Diesen Grundsatz erläutert die zweite Abhandlung an der Institution der Strafe. Nietzsche splittert den scheinbar eindeutig definier- baren Begriff in eine durch keine eindeutige Bestimmung einholbare Heteroge- nität auf, indem er eine seitenlange Liste historisch belegter Bedeutungen (Be- stimmungen, Zwecke, Funktionen) der Strafe aufstellt (ebd.). So löst sich die Frage nach der Bedeutung dieser Institution weitgehend auf. In Hinsicht auf den Gegenstand der dritten Abhandlung - die asketischen Ideale - verhält es sich jedoch nicht so einfach. Nietzsche schwankt zwischen dem Plural („asketische Ideale“ wie im Titel) und dem Singular („das asketische Ideal“). Zuletzt scheint die vereinheitlichende Tendenz zu überwiegen: Entfernt man die uneigentlichen, exoterischen Formen, schält sich die eigentliche Bedeu- tung, der gleichbleibende esoterische „Kern“ des asketischen Ideals heraus. Die Abhandlung bewegt sich - wie auch der einleitende Aphorismus 1 - gleichsam * Der vorliegende Aufsatz geht auf einen unveröffentlichten Vortrag zurück, den ich am 6. Mai 1993 auf dem internationalen Nietzsche-Seminar „Leggere Nietzsche: la Genealogia della morale(Pisa, Scuola Normale Superiore) gehalten habe. Eine frühere Fassung ist unter dem Titel „Ressentimento e Vontade de Nada“ erschienen (portugiesische Übersetzung von E. Chaves). Vgl. Cadernos Nietzsche 8. Sao Paulo 2000. S. 3-34. 1 Der dritten Abhandlung der Genealogie ist - so die Vorrede - „ein Aphorismus vorangestellt, sie selbst ist dessen Commentar.“ (GM Vorrede 8) In Wahrheit stellte Nietzsche den Aphorismus erst der schon geschriebenen Abhandlung voran; im Druckmanuskript begann sie mit dem aktuellen Abschnitt 2 (vgl. KSA 14, S. 380). Eher faßt der erste Aphorismus die Abhandlung nachträglich zusammen, als daß diese ihn kommentiert. - Einige Interpreten beziehen die Äußerung der Vor- rede nicht auf § 1, sondern auf das Motto, einen Vers aus Also sprach Zarathustra. (Zu einer Kritik dieser Annahme vgl. Wilcox, John T.: That Exegesis of an Aphorism in Genealogy III. Reflections on the Scholarship. In: Nietzsche- Studien 27 (1998). S. 448-462.) Für die folgenden Ausführun- gen ist die Frage, worauf sich die Vorrede bezieht, jedoch nicht von Bedeutung.

description

5 - Marco Brusotti - Wille Zum Nichts, Ressentiment, Hypnose

Transcript of 5 - Marco Brusotti - Wille Zum Nichts, Ressentiment, Hypnose

Marco Brusotti

WILLE ZUM NICHTS, RESSENTIMENT, HYPNOSE.,AKTIV‘ UND ,REAKTIV‘ IN NIETZSCHES

GENEALOGIE DER MORAL *

„Was bedeuten asketische Ideale?“ Die dritte Abhandlung der Genealogie zählteine Reihe z. T. gegensätzlicher Bedeutungen auf. Gleich im ersten Aphorismuserhält der Leser eine so bunte Vielfalt möglicher Antworten, daß die Frage nachder einen Bedeutung selbst fraglich erscheint. Das entspricht einem Grundsatzvon Nietzsches genealogischer Methode: „[D]efinirbar ist nur Das, was keineGeschichte hat“ (GM II 13). Diesen Grundsatz erläutert die zweite Abhandlungan der Institution der Strafe. Nietzsche splittert den scheinbar eindeutig definier-baren Begriff in eine durch keine eindeutige Bestimmung einholbare Heteroge-nität auf, indem er eine seitenlange Liste historisch belegter Bedeutungen (Be-stimmungen, Zwecke, Funktionen) der Strafe aufstellt (ebd.).

So löst sich die Frage nach der Bedeutung dieser Institution weitgehend auf.In Hinsicht auf den Gegenstand der dritten Abhandlung - die asketischenIdeale - verhält es sich jedoch nicht so einfach. Nietzsche schwankt zwischendem Plural („asketische Ideale“ wie im Titel) und dem Singular („das asketischeIdeal“). Zuletzt scheint die vereinheitlichende Tendenz zu überwiegen: Entferntman die uneigentlichen, exoterischen Formen, schält sich die eigentliche Bedeu-tung, der gleichbleibende esoterische „Kern“ des asketischen Ideals heraus. DieAbhandlung bewegt sich - wie auch der einleitende Aphorismus1 - gleichsam

* Der vorliegende Aufsatz geht auf einen unveröffentlichten Vortrag zurück, den ich am 6. Mai1993 auf dem internationalen Nietzsche-Seminar „Leggere Nietzsche: la Genealogia della morale“(Pisa, Scuola Normale Superiore) gehalten habe. Eine frühere Fassung ist unter dem Titel„Ressentimento e Vontade de Nada“ erschienen (portugiesische Übersetzung von E. Chaves).Vgl. Cadernos Nietzsche 8. Sao Paulo 2000. S. 3-34.

1 Der dritten Abhandlung der Genealogie ist - so die Vorrede - „ein Aphorismus vorangestellt, sieselbst ist dessen Commentar.“ (GM Vorrede 8) In Wahrheit stellte Nietzsche den Aphorismus erstder schon geschriebenen Abhandlung voran; im Druckmanuskript begann sie mit dem aktuellenAbschnitt 2 (vgl. KSA 14, S. 380). Eher faßt der erste Aphorismus die Abhandlung nachträglichzusammen, als daß diese ihn kommentiert. - Einige Interpreten beziehen die Äußerung der Vor-rede nicht auf § 1, sondern auf das Motto, einen Vers aus Also sprach Zarathustra. (Zu einer Kritikdieser Annahme vgl. Wilcox, John T.: That Exegesis of an Aphorism in Genealogy III. Reflectionson the Scholarship. In: Nietzsche- Studien 27 (1998). S. 448-462.) Für die folgenden Ausführun-gen ist die Frage, worauf sich die Vorrede bezieht, jedoch nicht von Bedeutung.

Marco Brusotti108

von der Peripherie zur Mitte hin: Hier gibt Nietzsche die sich kaum festlegendeRede im Plural auf und geht zum Singular über.

Er betrachtet als erste die Künstler; bei ihnen lautet die Antwort auf dieFrage, was asketische Ideale bedeuten, schlicht und ergreifend: „g ar Nichts !…Oder so Vielerlei, dass es so gut ist wie gar Nichts!“ (GM III 5) Selbst beiPhilosophen fällt die Antwort eher unverbindlich aus: Sie gehen mit jenen Idea-len verhältnismäßig locker um, unterwerfen sich ihnen nur scheinbar, und inden besten Fällen funktionieren sie sie um: Sie bejahen dabei ihre eigene Lebens-form mit deren ganz eigentümlichen Bedingungen und/oder benutzen die aske-tischen Ideale einfach als Tarnung und Verkleidung.

Das elfte Kapitel der Abhandlung stellt eine Zäsur dar, „jetzt erst wird es,Ernst‘“: Nietzsche führt die Gestalt des asketischen Priesters ein und formuliertdas Problem gleich in die Singularform um: „,[W]as bedeutet das asketischeIdeal?‘“ (GM III 11) Auch die vorausblickende Zusammenfassung im erstenAphorismus geht zuletzt zum Singular über. Hier fällt der Übergang zum Singu-lar mit einem Wechsel der Fragestellung zusammen: Die Frage „was bedeutenasketische Ideale?“, die eine Vielfalt verschiedener Antworten zuläßt und erfor-dert, wird zuletzt auf eine zweite, grundsätzlichere zurückgeführt. Denn es gehtnun nicht mehr darum, „was“ asketische Ideale bedeuten, sondern darum,„daß“ das asketische Ideal überhaupt etwas - und zwar so viel - bedeutet hat.

Warum hat das asketische Ideal dem Menschen so viel bedeutet? Das läßtsich offenbar eindeutiger und grundsätzlicher klären als die Ausgangsfrage. Esgenügt der Hinweis auf „die Grundthatsache des menschlichen Willens“: „Dassaber überhaupt das asketische Ideal dem Menschen so viel bedeutet hat, darindrückt sich die Grundthatsache des menschlichen Willens aus, sein horror vacui:er braucht e in Zie l - und eher will er noch das Nichts wollen, als n ichtwollen.“ (GM III 1) Der Schluß der Abhandlung bestätigt diesen Grundsatz,nachdem Nietzsche die Allgemeinherrschaft des asketischen Ideals eindrucksvollgeschildert hat: „[L]ieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als n ichtwollen …“ (GM III 28)2 Der Hinweis auf den „horror vacui“ des menschlichenWillens und auf diese Leere selbst erklärt hier nicht einfach, daß das asketischeIdeal so viel bedeutet hat, sondern beantwortet ipso facto die Frage, was diesesIdeal überhaupt bedeutet hat. „Das eben bedeutet das asketische Ideal: dassEtwas fehl te“ (ebd.). Es fehlten ein anderer, gegensätzlicher Wille, „der Wi l lefür Mensch und Erde“ (ebd.), und „ein Geg en-Idea l - bis auf Zarathu-stra .“ (EH, Genealogie der Moral)

2 W. Stegmaier zufolge hat man diesen Schlußsatz „nie so recht deuten können“ (Stegmaier,Werner: Nietzsches ,Genealogie der Moral‘. Darmstadt 1994. S. 207). Der vorliegende Beitragversucht eine schlüssige Auslegung dieser „Grundthatsache des Willens“ - ihrer scheinbarenParadoxie zum Trotz.

Wille zum Nichts, Ressentiment, Hypnose 109

Im folgenden soll erläutert werden, was Nietzsche unter jener scheinbar para-doxen „Grundthatsache des menschlichen Willens“ versteht und wie er durchsie die Übermacht des asketischen Ideals erklären will. Zunächst aber ist ineinem ersten Schritt die Frage zu beantworten, weshalb die Bedeutungsvielfaltder asketischen Ideale der Einheit des asketischen Ideals weichen muß.

Ungefähr ein Jahr nach der Genealogie faßt Ecce homo die Grundthese derdritten Abhandlung noch einmal knapp zusammen. In diesem Rückblick gerätdie Vielheit lose zusammenhängender asketischer Ideale völlig aus dem Blick.Es ist nur noch vom einen asketischen Ideal die Rede.3 Warum jene Asymmetriezwischen einer Institution wie der Strafe und dem Fall der asketischen Idealebzw. des asketischen Ideals? „Asketische Ideale“ weisen auf eine Vielfalt vonSubjekten hin. Das asketische Ideal im Singular ist dagegen das Ideal des asketi-schen Priesters. Es ist wie dieser eine universale Erscheinung.4 Eigentlich aberüberlebt das asketische Ideal auch den Priester. Die Moderne drängt religiöseErscheinungen allmählich an den Rand, der Priester ist bald eine überholte Ge-stalt, und Nietzsches Kritik zielt vor allem auf die dominierenden Lebensformenseiner Zeit. Er will nachweisen, daß die Macht des asketischen Ideals gegen allenAnschein noch ungebrochen ist.

In der Abhandlung erhält die Frage nach der Bedeutung des asketischenIdeals eine letzte, überraschende Formulierung, die der einleitende Aphorismusnoch verschweigt. Zunächst formuliert Nietzsche die Leitfrage etwas anders.Die „Frage nach der Bedeutung“ des asketischen Ideals hat einen „letzten undfurchtbarsten Aspekt“: „Was bedeutet eben die Macht jenes Ideals, das Ung e-heure seiner Macht?“ (GM III 23)5 Aus welchen Gründen ist gegen jenesIdeal „nicht besser Widerstand geleistet worden“? und warum hat es an einemalternativen Ideal, an einem „gegnerische[n] Wille[n]“ (ebd.) gefehlt? Anschlie-ßend wehrt Nietzsche ein mögliches Gegenargument ab: Das Zeitalter sieht inder Wissenschaft die Macht, die Metaphysik und Religion endgültig überholthat. Laut Nietzsche aber mangelt es der Wissenschaft überhaupt an einem Ideal;und die letzten Idealisten, die kleine wissenschaftliche Elite selbsternannter freierGeister, sind dem alten asketischen Ideal immer noch hörig. In ihnen lebt nicht

3 „Die dr i t te Abhandlung giebt die Antwort auf die Frage, woher die ungeheure Macht desasketischen Ideals, des Priester-Ideals, stammt, obwohl dasselbe das schädl iche Ideal par excel-lence, ein Wille zum Ende, ein decadence-Ideal ist. Antwort: n icht, weil Gott hinter den Prie-stern thätig ist, was wohl geglaubt wird, sondern faute de mieux, - weil es das einzige Idealbisher war, weil es keinen Concurrenten hatte. ,Denn der Mensch will lieber noch das Nichtswollen als n icht wollen‘ … Vor allem fehlte ein Gegen-Idea l - bis auf Zarathustra.“(EH, Genealogie der Moral, KSA 6, S. 353)

4 Vgl. GM III 11.5 So formuliert auch Ecce homo die Leitfrage der dritten Abhandlung. Wer die Frage beantwortet,

was die ungeheure Macht des asketischen Ideals bedeutet, erklärt damit auch die Tatsache, daß

das asketische Ideal so viel bedeutet.

Marco Brusotti110

ein bloßer „Rest“, sondern der „alles Außenwerks entkleidet[e]“ „Kern“ (GMIII 27) des asketischen Ideals weiter: der Glaube an einen unbedingten Wert derWahrheit, der unbedingte Wille zur Wahrheit. Wer die äußerlichen Formen desasketischen Ideals entfernt, schält gleichsam dessen Kern heraus: dessen ureigen-ste Bedeutung. Nietzsche, genauer, „die christliche Wahrhaftigkeit“ selbst stelltzuletzt „die Frage […]: ,was bedeutet a l ler Wi l le zur Wahrhei t?‘“ (ebd.).In dieser Form wird sich die Frage nach der Bedeutung des asketischen Ideals„den nächsten zwei Jahrhunderten Europa’s“ stellen. Wer nach der Bedeutungdes Willens zur Wahrheit fragt, fragt im Grunde, was der weiterhin wirksameKern des asketischen Ideals bedeutet. Er fragt im Grunde, ob auch der Willezur Wahrheit ein Wille zum Nichts ist.

Diese letzte Wendung der Frage, was das asketische Ideal bedeute, sei andieser Stelle nur Anlaß zu einer Bemerkung.6 Denkt man die westliche Ge-schichte als Geschichte des einen asketischen Ideals und seines möglichen künfti-gen Untergangs, dann wird sie zu einer sinnvollen Erzählung. Das asketischeIdeal ist der rote Faden, der sich bei allen von Nietzsche hervorgehobenenDiskontinuitäten durch die Geschichte der Metaphysik und der christlichen Mo-ral zieht. Die Annahme eines asketischen Ideals erlaubt dem Philosophen, diezweitausendjährige Geschichte der christlichen Moral als eine einheitliche Ge-schichte zu erzählen, die in dem welthistorischen Gegensatz zwischen jenemIdeal und einem „Gegen-Ideal“ gipfelt, Nietzsches eigenem.

Das ist wohl einer der Gründe, weshalb er an jener problematischen An-nahme festhält. Freilich ist es nicht der einzige. Es gibt mindestens noch einenweiteren entscheidenden Grund. Asketische Ideale im Plural können nicht weni-ger als Institutionen allerlei Funktionen und Bedeutungen erhalten: z. B. könnenKünstler oder Philosophen sich jene Ideale aneignen und neu interpretieren, siekönnen ihnen einen neuen Sinn geben. Die Methode, die unendliche Vielfaltvon Funktionen und Bedeutungen einer Institution, z. B. der Strafe, aufzulistenund voneinander zu unterscheiden, gründet in der Lehre vom Willen zur Macht.Nun legt diese Lehre zugleich eine typologische Untersuchung nahe: Es stelltsich vor ihrem Hintergrund die Frage, ob dem asketischen Ideal ein bestimmterTypus (oder eine Familie von Typen) entspricht, eine bestimmte Form von Wil-len zur Macht. Nietzsche bejaht die Frage: Die entsprechende Form ist der Willezum Nichts.

Faßt Nietzsche aber unter diesem Ausdruck nur eine Vielfalt heterogener,mehr oder weniger miteinander verwandter Formen zusammen? Oder steht

6 Auf das hier nur angedeutete „Sich-bewusst-werden des Willens zur Wahrheit“ (GM III 27)gehe ich ausführlich ein in Brusotti, Marco: Die „Selbstverkleinerung des Menschen“ in derModerne. Eine Studie zu Nietzsches „Zur Genealogie der Moral“. In: Nietzsche-Studien 21(1992). S. 81-136.

Wille zum Nichts, Ressentiment, Hypnose 111

,Wille zum Nichts‘ für eine einzige, deutlich bestimmte Form von Willen zurMacht? Welches ist dann das spezifische Kennzeichen des Willens zum Nichts?Denn jener horror vacui, das Faktum, daß der Mensch unbedingt etwas wollenmuß, ist die Grundtatsache menschlichen Willens überhaupt. Ist das asketischeIdeal durch diesen horror vacui genügend erklärt? Geht es nicht vielmehr auf dasRessentiment zurück? Ist es nicht eine Schöpfung des Ressentiments? Die ersteAbhandlung legt diese Auffassung nahe.7 Wie verhalten sich der horror vacui, derauch dem Willen zum Nichts zugrundeliegt, und das Ressentiment zueinander?

Das Problem ist für die Interpretation der „Genealogie“ fundamental. Esbetrifft die zentrale Unterscheidung zwischen ,aktiv‘ und ,reaktiv‘: Das Ressenti-ment ist das reaktive Phänomen par excellence; und der horror vacui des Willens istwesentlich anderer Natur. Es ist eine Grundabsicht der Genealogie, den allge-meinen Primat der Aktivität herauszustellen. Der Mensch (allgemeiner noch:jedes „Thier“) strebt - so Nietzsche - „instinktiv nach einem Optimum vongünstigen Bedingungen, unter denen es seine Kraft ganz herauslassen kann undsein Maximum im Machtgefühl erreicht“ (GM III 7). Das grundlegende Bedürf-nis nach Kraftauslösung zeigt sich am deutlichsten beim Typus des starken,aktiven Menschen. Er muß handeln, tätig sein, seine Kraft auslassen.8 AberNietzsche findet jenes Bedürfnis nicht ausschließlich bei ihm. Der horror vacui

ist die Grundtatsache menschlichen Willens überhaupt, auch des Willens zumNichts; und dieser horror vacui ist mit dem Bedürfnis nach Kraftauslösung we-sensgleich. Wenn selbst hinter dem Willen zum Nichts die Notwendigkeit derAktion liegt, stellt sich aber die Frage, was der Gegensatz von ,aktiv‘ und ,reak-tiv‘ zuletzt bedeutet. Ist dann nicht alles und jedes aktiv?

In der Tat gibt es bei Nietzsche keine reaktiven Kräfte. Der Ausdruck „reak-tive Kraft“ kommt in der Genealogie nicht vor. Deleuze hat ihn erfunden: Ermißversteht den Gegensatz ,aktiv‘-,reaktiv‘ als Gegensatz von aktiven und reakti-

7 Die erste Abhandlung berührt das asketische Ideal eher nebenbei. (Der Ausdruck kommt hiernur einmal vor.) Aber sie schildert die Entwicklung der sogenannten „Sklavenmoral“. Diese hatihren eigentlichen Entstehungsherd nicht bei den Sklaven, sondern in der Priesterkaste. Wegenihrer dem Handeln abgewandten Lebensweise sind die Priester mit einer Art ,physiologischer‘Ohnmacht geschlagen (vgl. GM I 6). Ihr ohnmächtiger, gehemmter Wille zur Macht wird zumWiderwillen: Ihrer Ohnmacht entspringt ein Ressentiment ohnegleichen (vgl. GM I 7). Wenndieses Ressentiment schöpferisch wird und Werte schafft, entsteht die „Sklavenmoral“ (vgl. GMI 10). Die Sklavenmoral ist also ein Instrument jenes ohnmächtigen, ressentimentgeladenenWillens zur Macht, sie ist sein Mittel zur Herrschaft. Als ein solches Mittel kennzeichnet danndie dritte Abhandlung das asketische Ideal.

8 Vgl. GM I 13. Die Auffassung, daß der Starke seine Kraft auslassen muß, vertritt Nietzsche nichterst in der Genealogie. Bedeutend sind insbesondere einige Texte aus der Zeit der Morgenröthe. Aufdiese an J. J. Baumann anschließenden Reflexionen zum „Bösen der Stärke“ und auf ihre Bedeu-tung für die Genealogie habe ich hingewiesen in Brusotti, Marco: Die Leidenschaft der Erkennt-nis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenröthe bis Also sprach

Zarathustra. Berlin, New York 1997. § 1.3.2 „Die zwei Arten des Bösen“, S. 71 ff.

Marco Brusotti112

ven Kräften.9 Die Idee einer „reaktiven Kraft“, einer Reaktivität als innerer Quali-tät bestimmter Kräfte, ist Nietzsches Denken jedoch fremd. Nietzsche zufolgeist die Kraft als Wille zur Macht ursprünglich aktiv.10 So ist in der Genealogie nurvon „Reaktions- und Ressentiments-Instinkte[n]“, von „reaktiven Affekte[n],vom „reaktiven Gefühl“ bzw. „reaktiven Pathos“ oder von „reaktiven Men-schen“ die Rede. Reaktive Erscheinungen sind nicht auf bestimmte reaktiveKräfte zurückzuführen. Das Ressentiment ist ein komplexes Phänomen, das ineinem komplexen Kräfteverhältnis gründet.

In einem früheren Beitrag habe ich es in diesem Sinn ausführlich erläutert.11

Jenen Versuch, den Gegensatz ,aktiv‘ und ,reaktiv‘ ohne den Nietzsche fremdenBegriff der reaktiven Kraft zu deuten, muß nun eine eingehende Analyse desWillens zum Nichts ergänzen und weiterführen.

Es ist mehr als fraglich, ob die Sprache des Kraftbegriffes und das Gegen-satzpaar ,aktiv‘ und ,reaktiv‘ menschlichem Verhalten wirklich gerecht werden.12

Nietzsche hat jedoch in dieser Sprache komplexe Unterschiede formuliert undin diesen Bildern sehr differenzierte Begriffsverhältnisse artikuliert. Dement-sprechend muß der Interpret ihnen nachgehen. Sicher greift Nietzsche dabeiauch auf inzwischen lange überholte und an sich problematische physiologischeErklärungsansätze zurück. Es wäre aber ein Fehler, daraus zu schließen, derheutige Leser dürfe von diesen Aspekten einfach absehen. Im Gegenteil: Nureine philosophische Analyse, die sie beachtet, kann das subtile Begriffsschemader dritten Abhandlung erhellen.

Dazu sind folgende Schritte nötig: 1) Zunächst ist die ,Grundtatsache desWillens‘ vor dem Hintergrund von Nietzsches dynamischer Willensauffassungzu erläutern. 2) Dann stellt sich die Frage nach der spezifischen Natur desWillens zum Nichts. 3) Einen besonderen Platz in der Phänomenologie des

9 Deleuze, Gilles: Nietzsche und die Philosophie. Aus dem Französischen von B. Schwibs. Frank-furt a. M. 1985. S. 45 ff. u. passim.

10 Zu Nietzsches Vorbehalten gegen den Kraftbegriff siehe jedoch die unten folgenden Ausfüh-rungen.

11 Vgl. Brusotti: Die „Selbstverkleinerung des Menschen“, a. a. O., S. 82 ff., S. 108 ff.12 Nicht zuletzt Paul Ricœur hat überzeugend gezeigt, daß in Freuds Psychoanalyse ,Energetik‘

und ,Hermeneutik‘ ein problematisches Verhältnis eingehen (Ricœur, Paul: Die Interpretation.Ein Versuch über Freud. Frankfurt a. M. 1969). ,Energetik‘ und Interpretation sind in Nietz-sches Begriff des Willens zur Macht jedoch viel enger verflochten als in Freuds Metapsychologie.Man darf also Ricœurs Ergebnisse nicht einfach auf Nietzsche übertragen. Auch wer den Inter-pretationscharakter des Willens zur Macht im Blick behält, muß sich jedoch die Frage stellen,ob in der Metaphorik der Kraft und deren Aktivität (bzw. Reaktivität) menschliches Verhaltenadäquat zu erfassen ist. - In einem gerade erschienenen Buch untersucht Jean Starobinski dieGeschichte der Begriffe Aktion und Reaktion. Er zeigt insbesondere die Erfolgsgeschichte desletzteren vom seltenen Fachterminus zum allgegenwärtigen Ausdruck sowie die verschiedenarti-gen Übertragungen, die jenes Begriffspaar in weit auseinanderliegenden Wissensfeldern und inder Literatur erfährt. Vgl. Starobinski, Jean: Action et reaction. Vie et aventures d’un couple.Paris 1999 (zu Nietzsche vgl. insbes. S. 336 ff.).

Wille zum Nichts, Ressentiment, Hypnose 113

Willens zum Nichts nimmt die „Ruhe im Nichts“ ein, jener entrückte Zustand derAsketen, den Schopenhauer als Selbstverneinung des Willens auffaßte und in demEugen Dühring dagegen das Ressentiment sah. Nietzsche selbst hebt das Ressenti-ment der asketischen Priester immer wieder hervor; aber gerade die „Ruhe imNichts“ versucht er alternativ zu deuten: weder als noluntas noch als Ressentiment.Er löst das Problem, indem er sie in Anlehnung an Braids Untersuchungen alshypnotischen Zustand interpretiert. Die Ruhe im Nichts ist aber nur ein Sonderfallin der Phänomenologie des Willens zum Nichts. Wie verhalten sich sonst Willezum Nichts und Ressentiment zueinander? Nietzsche will die Grundtatsache desWillens an der sogenannten „Rückwärtsrichtung des Ressentiments“ nachweisen.Meine Untersuchung versucht zu zeigen, wie der horror vacui des Willens und dasreaktive Moment sich hier zueinander verhalten. Der abschließende Ausblick weistauf den breiteren Kontext und auf die allgemeine Absicht von Nietzsches Analy-sen hin: Die Genealogie soll den Primat der Aktivität herausstellen und dadurchder Tendenz zur Selbstverkleinerung des Menschen entgegenwirken - somit demWillen zum Nichts und seinem asketischen Ideal.

1.) Die „Grundthatsache des menschlichen Willens“. - Dank dem asketischen Idealkonnte der Mensch „nunmehr Etwas wollen, - gleichgültig zunächst, wohin,wozu, womit er wollte: der Wi l le se lbst war g eret te t.“ (GM III 28) Undmit ihm der Mensch. Das asketische Ideal „war bisher der einzige Sinn; irgendein Sinn ist besser als gar kein Sinn; das asketische Ideal war in jedem Betrachtdas ,faute de mieux‘ par excellence, das es bisher gab.“ In diesem Sinn warder Wille zum Nichts ebenfalls ein faute de mieux - es mangelte an einem,besseren‘ Willen. Auch der Wille zum Nichts „ist und bleibt ein Wil le !“(ebd.)13 Das Wesentliche ist Wollen überhaupt. Der jeweilige Zweck ist Neben-sache. Das Nichts wollen ist immerhin etwas wollen. Das Nichts ist in diesemSinn das allerletzte Etwas und als solches das faute de mieux par excellence. Durchdas Nichts scheint „[d]ie ungeheure Leere“, vor der den Willen schaudert, „aus-gefüllt“ (ebd.). Wesentlich ist die innere Dynamik des Willens. Im Vergleichdazu sind Vernunft, Zwecke und Mittel wenn nicht gleichgültig, so doch zweit-rangig. Die Vielfalt der Bedeutungen asketischer Ideale scheint zuletzt auf dieursprüngliche Gleichgültigkeit jeder einzelnen Bedeutung hinzuweisen.

Man merkt die antiteleologische Valenz dieser dynamischen Kraftauffassung:Wesentlich ist, die Kraft irgendwie zu entladen, auf den jeweiligen auslösendenReiz kommt es so gut wie nicht an.14 Der Wille zum Nichts verweist zuletzt auf

13 Die Frage, was Nietzsche unter ,Nichts‘ versteht, darf dementsprechend vorerst ausgeklammertwerden.

14 Zum Auslösungsbegriff vgl. insbes. Mittasch, Alwin: Nietzsche als Naturphilosoph. Stuttgart1952. S. 110 ff., 138 ff., 150 ff. und passim; Müller-Lauter, Wolfgang: Der Organismus als innererKampf. Der Einfluß von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche. In: Nietzsche-Studien 7 (1978).S. 189-223, insbes. S. 210 f., jetzt auch in: ders.: Nietzsche-Interpretationen. Bd. 1: Über Wer-den und Wille zur Macht. Berlin, New York 1999. S. 97-140, insbes. S. 120 f.; Abel, Günter:

Marco Brusotti114

dieselbe Dynamik und auf eine ähnliche Notwendigkeit wie das Phänomen „desthierischen ,schlechten Gewissens‘ (der rückwärts gewendeten Grausamkeit)“,des „gleichsam in seinem Rohzustande“ befindlichen Schuldgefühls (GM III20).15 Der Mensch leidet hier wie dort an der verhinderten Kraftauslösung. Eserfolgen zwei analoge seltsame Wendungen: Die Grausamkeit wendet sich nachinnen. Der Wille wendet sich dem Nichts zu. Die Grausamkeit hat keine andereEntladungsmöglichkeit. Der Wille hat keinen anderen Gegenstand. Die Grau-samkeit muß sich irgendwie entladen: mangels eines Besseren nach innen, gegendas Subjekt selbst. Der Wille muß unbedingt etwas wollen, mangels eines Besse-ren das Nichts. Es handelt sich nicht um dasselbe Phänomen, aber wohl um diegleiche Denkfigur: Nietzsche denkt auch das Leiden an der Sinnlosigkeit nachdem dynamischen Muster der verhinderten Kraftauslösung.

Das Hauptleiden des Menschen war, daß seinem Willen ein Ziel fehlte: „[E]rl i t t am Probleme seines Sinns.“ (GM III 28) Im Vergleich zu diesem Leiden ander Sinnlosigkeit ist alles sonstige Leiden Nebensache. Der Mensch brauchteinen Sinn, um überhaupt zu wollen; und das asketische Ideal setzt dem Leidenan der Sinnlosigkeit ein Ende. Der Mensch braucht einen Sinn auch, um dasLeiden im allgemeinen zu bejahen; und jenes Ideal schafft das sinnlose Leidenab. „Was eigentlich gegen das Leiden empört, ist nicht das Leiden an sich, son-dern das Sinnlose des Leidens“ (GM II 7).16 Das Leiden ist erst dann wirklichfragwürdig und unerträglich, wenn es sinnlos ist. Das asketische Ideal gibtjedem Leiden einen Sinn; und wenn irgendein Sinn da ist, kann der Mensch dasLeiden sogar wollen und aufsuchen. Auf diese Weise bewältigt das asketischeIdeal die zwei Hauptformen schlechthin unerträglichen Leidens - das Leidenan der Sinnlosigkeit und die „Sinnlosigkeit des Leidens“ (GM III 28). DerMensch „litt auch sonst, er war in der Hauptsache ein krankhaftes Tier“(ebd.), und das asketische Ideal war auch sonst ein System von Kunstgriffengegen das Leiden. Freilich machte laut Nietzsche diese nur die Symptome lin-dernde „Affekt-Medikation“ (GM III 16) das kranke „Tier“ Mensch noch krän-ker. Das asketische Ideal vervielfachte und vertiefte das Leiden. Aber dieseschädlichen Auswirkungen wurden gleichsam zur Nebensache. Entscheidend

Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr. Berlin, New York1984. S. 43 ff.; Brusotti: Die „Selbstverkleinerung des Menschen“, a. a. O., insbes. S. 83 ff.

15 Zum schlechten Gewissen siehe unten.16 Die zweite Abhandlung der Genealogie unterscheidet zwei Grundarten, dem Leiden einen Sinn

zu geben (vgl. GM II 7). Eine dieser Grundarten - immerhin eine Alternative zum asketischenIdeal - ist „die vorzeitliche Logik des Gefühls“, die freilich die Vorgeschichte überdauert hat,wenn auch nur noch in sublimierten, kaschierten Gestalten. Für die Grausamkeit ist das Leidenein „Fest“; auf sie gründen jene frühen Theodizeen, die das Leiden rechtfertigen als Quelle derFreude für grausame Zuschauer. Noch die homerischen Götter gehören zu diesem Typus grau-samer Zuschauer. Die dritte Abhandlung betont die Übermacht des asketischen Ideals. Sie gehtauf jene alternative Sinngebung nicht mehr ein, nicht einmal am Schluß.

Wille zum Nichts, Ressentiment, Hypnose 115

war, daß das asketische Ideal jenen beiden Hauptformen des Leidens ein Endesetzte; „die Thür schloss sich vor allem selbstmörderischen Nihilismus zu“ (GMIII 28).

Das physiologische Leiden daran, daß die Kraft sich nicht nach außen entla-den kann, bildet das nicht unproblematische Muster, nach dem Nietzsche dasLeiden an der Sinnlosigkeit denkt. Er benutzt jedoch den Kraftbegriff nichtohne Vorbehalt: In theoretischen Begriffen wie „Kraft“ und „Wille“ macht sichjene „Verführung der Sprache (und der in ihr versteinerten Grundirrtümer derVernunft)“ geltend, die „alles Wirken als bedingt durch ein Wirkendes, durch ein,Subjekt‘ versteht und missversteht“. „Ein Quantum Kraft ist ein eben solchesQuantum Trieb, Wille, Wirken - vielmehr es ist gar nichts anderes als ebendieses Treiben, Wollen, Wirken selbst“. Die Kraft kann nicht aufhören, Kraft,d. i. tätig zu sein; denn „Kraft“ ist nur ein Name für dieses Tätigsein; „das Thunist alles“ (GM I 13). In der ersten Abhandlung zeigt Nietzsche diese Identitätvon Kraft und Tätigkeit vor allem an den starken, aktiven Menschen. In derzweiten und dritten wendet er jenen Grundsatz jeweils auf das an, was er Grau-samkeit (oder auch Instinkt bzw. Instinkte der Freiheit) oder Willen nennt. Beideweisen nicht nur ein analoges dynamisches Bedürfnis auf. Nietzsche meint mitihnen wohl dasselbe: Grausamkeit und ,Wille‘ sind Formen jener aktiven ,Kraft‘,die „in [s]einer Sprache“ (GM II 18) Wille zur Macht heißt.17

Vor allem in der dritten Abhandlung benutzt Nietzsche mit äußerster Non-chalance auch den von ihm sonst scharf kritisierten Willensbegriff. Fällt er hierin jene naive Teleologie zurück, die in der ersten Abhandlung überholt schien?In die metaphysische Vorstellung, der (bewußte) Wille (den es für Nietzsche janicht gibt) brauche unbedingt eine causa finalis? Der Anschein trügt. Nietzschepaßt einfach seine Ausdrucksweise an diejenige des Philosophen an, mit dem ersich hintergründig auseinandersetzt. Er formuliert die Grundtatsache des Wil-lens so, daß seine antischopenhauerische Absicht am deutlichsten hervortritt.

Schopenhauers Wille zum Leben ist letztlich blindes, unersättliches, ziellosesStreben. Auch dieser Wille muß von seiner inneren Dynamik her immer weiterwollen. Aber der Gegensatz von Willen und (intuitiver) Erkenntnis eröffnetbeim Menschen die Möglichkeit einer Willensverneinung: Nur in diesem Aktder Selbstverneinung wird die Freiheit des Dings an sich in der durch und durchkausal determinierten Welt der Vorstellung unmittelbar sichtbar. Der Wille ist injeder einzelnen Handlung unfrei, kann aber durch Erkenntnis in seinem Ganzenaufgehoben werden.18 Der Verstand gibt dem Willen jene Motive, die ihn zwin-

17 Zum Willen zum Nichts als Willen zur Macht vgl. das Kapitel „Nihilismus als Wille zumNichts“ in Müller-Lauter, Wolfgang: Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Ge-gensätze seiner Philosophie. Berlin, New York 1971. S. 66-80, insbes. S. 74 ff.

18 Vgl. dazu insbesondere § 70 der Welt als Wille und Vorstellung (Schopenhauer, Arthur: Die Weltals Wille und Vorstellung 1. In: Sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. 6 Bde. Leipzig

Marco Brusotti116

gend determinieren. Die intuitive Erkenntnis kann dem Willen ihrerseits Quie-tive geben: intuitive Einsichten in die täuschende Natur der Welt als Vorstellung,die das principium individuationis durchbrechen. Beim Heiligen führen derlei Quie-tive zur noluntas, also in das „Nichts“.

Dem setzt Nietzsche die Grundthese entgegen, „lieber will noch der Menschdas Nichts wollen, als n icht wollen.“ (GM III 28) Eine Übersetzung dieserKritik in Schopenhauers Begrifflichkeit würde in etwa lauten: „Der Wille kenntnur Motive, keine Quietive. Das ,Nichts‘ selbst ist ein Motiv, wenn auch nurfaute de mieux; dem Willen wird eher das ,Nichts‘ zum Motiv, als daß er in einenoluntas aufgehoben wird.“ Diese Übersetzung von Nietzsches Hauptsatz istfreilich in mancher Hinsicht inadäquat. Sie bleibt Schopenhauers Motivbegriffverhaftet. Nietzsches Wille zur Macht kennt im Grunde weder Motive nochQuietive. Nietzsche ist ein scharfer Kritiker des Motivbegriffs und des bewußtenWillens. Aber die implizite Schopenhauer-Kritik der dritten Abhandlung will vorallem mit der für die Askese wesentlichen Idee eines Quietivs aufräumen. DerWille zum Nichts bleibt eine Form von Willen - die Form „faute de mieux“.Innerhalb einer Auffassung, die den Willen durch und durch dynamisch inter-pretiert, ist Schopenhauers Willensverneinung nicht mehr denkbar.

2) Der Wille zum Nichts. - Was Nietzsche unter jener Grundtatsache desmenschlichen Willens versteht, dürfte nun vor dem Hintergrund seiner dynami-schen Auffassung und durch den Gegensatz zu Schopenhauer geklärt sein. Wasist aber die spezifische Natur des Willens zum Nichts? Und was versteht Nietz-sche unter „Nichts“?

Der Schluß der Abhandlung nennt den „Wil len zum Nichts“ „einen Wi-derwillen gegen das Leben, eine Auflehnung gegen die grundsätzlichsten Vor-aussetzungen des Lebens“ (GM III 28). Bei jenem asketischen Priester, bei demdie Frage nach der Bedeutung des asketischen Ideals sich erst in ihrem wahrenErnst stellt, nimmt der Wille zum Nichts folgende Form an: „Der asketischePriester ist der fleischgewordne Wunsch nach einem Anders-Sein, Anderswo-Sein, und zwar der höchste Grad dieses Wunsches“ (GM III 13). Die vornehm-ste Form dieses Andersseins, zu dem im Grunde auch der Tod gehört, ist die„Ruhe im Nichts“, die Empfindungs- und Leidlosigkeit der Heiligen (oder auchnur der Epikureer). „[N]ihilistische Abkehr“ vom Dasein, „Verlangen in’s Nichtsoder Verlangen in seinen „Gegensatz“, in ein Anderssein, Buddhismus und Ver-

1873 f. (BN). Bd. 2, S. 476 ff.). Über Schopenhauers Kritik an Kants Freiheitsbegriff und Nietz-sches Schopenhauer-Kritik vgl. Müller-Lauter, Wolfgang: Nietzsches Auf-lösung des Problemsder Willensfreiheit. In: Bauschinger, Sigrid / Cocalis, Susan L. / Lennox, Sara (Hg.): Nietzscheheute. Die Rezeption seines Werkes nach 1968. Bern, Stuttgart 1988. S. 23-73; vgl. auch dieunter dem Titel „Freiheit und Wille bei Nietzsche“ erschienene erweiterte Fassung in ders.:Nietzsche-Interpretationen. Bd. 2: Über Freiheit und Chaos. Berlin, New York 1999. S. 25-129.

Wille zum Nichts, Ressentiment, Hypnose 117

wandtes“ sind eins (GM II 21). Sofern „Gott“ für den „Gegensatz“ zum Daseinsteht, sind „Gott“ und „Nichts“ synonym; „das Verlangen nach einer uniomystica mit Gott ist das Verlangen der Buddhisten in’s Nichts, Nirvana - undnicht mehr!“ (GM I 6) „Nach derselben Logik des Gefühls heisst in allen pessi-mistischen Religionen das Nichts Gott.“ (GM III 16) Das sogenannte wahreSein, die wahre Welt der Zweiweltentheorie, ist eigentlich das Nichts. Die Genea-

logie interpretiert die tiefste Natur von Christentum, Hinduismus (Vedanta),Buddhismus und Askese überhaupt (Epikurs Philosophie miteingeschlossen) alsWillen zum Nichts.

Die These, das Nichts sei das allgemeine Ziel aller asketischen Religionen,schließt bekanntlich an Schopenhauer an. Schopenhauer sieht das „Nichts“ „alsdas letzte Ziel hinter aller Tugend und Heiligkeit“ schweben. Wie die christlichenErzählungen sind auch hinduistische „Resorbtion in das Brahm, oder Nirwana

der Buddhaisten“ gegen den schlichten Ausdruck „Nichts“ nur „Mythen undbedeutungsleere Worte“.19 Die Lehre von der Bejahung und Verneinung desWillens, die Wahrheit, daß der Wille bei erreichter Selbsterkenntnis sich selbstverneint, ist der „Kern des Christenthums“; man muß diesem nur die ,optimisti-sche‘ „Einkleidung und Hülle“ abstreifen.20 Nietzsche bestimmt ,das Nichts‘ähnlich allgemein wie Schopenhauer. (Die Unterscheidung von relativem undabsolutem Nichts - von nihil privativum und nihil negativum - spielt bei Nietzscheallerdings keine Rolle.) Auch die Genealogie führt das Positive der Religionen aufein Negatives zurück - auf den Wunsch nach Freiheit vom Leiden. Im asketi-schen Wunsch nach Leid- und Empfindungslosigkeit sieht Nietzsche einen idea-lisierten Willen zum Nichts. Das Nichts (und die Freiheit vom Leiden) ist inSchopenhauers Willensmetaphysik letztlich einfach die Verneinung des Willens.Alles, was es gibt, ist Wille. Willensverneinung ist Seinsverneinung. Nichts undNichtwollen sind dasselbe. Nietzsches Wille zum Nichts ist der Gegenbegriffzum Schopenhauerischen Nichtwollen. Das Nichts (das Anderssein) ist ein mög-liches Ziel des Willens, nicht dessen (Selbst-)Verneinung. Nietzsche koppeltLeidlosigkeit und Willensverneinung voneinander ab. Die Leidlosigkeit ist einewirklich gegebene Möglichkeit. Schopenhauers Willensverneinung ist dagegeneine Fehldeutung.

Schopenhauer sieht in Heiligkeit und Selbstverleugnung einen „Widerspruchder Erscheinung mit sich selbst“.21 Nietzsche scheint sich zunächst an diese

19 Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung 1, § 71, a. a. O., Bd. 2, S. 487.20 Vgl. ebd., § 70, S. 480. Nietzsche benutzt denselben Ausdruck, wenn er den Willen zur Wahrheit

als den „Kern“ des asketischen Ideals bezeichnet (GM III 27; vgl. oben). Es ist wahrscheinlicheine Reminiszenz; noch 1876 hatte er ähnlich wie Schopenhauer nach dem „Kern des Christen-thums“ „ohne alle Schaale und Mythologie“ gesucht (vgl. KSA 8, 18[34]; vgl. dazu Brusotti:Die Leidenschaft der Erkenntnis, a. a. O., insbes. S. 6, Anm. 16).

21 Ebd., S. 339; vgl. etwa S. 340, 355.

Marco Brusotti118

Interpretation der Askese anzuschließen, wenn auch auf eigenwillige Art. InWirklichkeit aber ersetzt er Schopenhauers „Selbstwiderspruch der Erschei-nung“ durch einen anderen, und zwar durch einen, der eigentlich der Gegensatzzu Schopenhauers Vorstellung einer Selbstauslöschung des Willens ist. „Dennein asketisches Leben ist ein Selbstwiderspruch: hier herrscht ein Ressentimentsonder Gleichen, das eines ungesättigten Instinktes und Machtwillens, der Herrwerden möchte, nicht über etwas am Leben, sondern über das Leben selbst,über dessen tiefste, stärkste, unterste Bedingungen; hier wird ein Versuch ge-macht, die Kraft zu gebrauchen, um die Quellen der Kraft zu verstopfen; […].Dies ist Alles im höchsten Grade paradox; wir stehen hier vor einer Zwiespältig-keit, die sich selbst zwiespältig will, welche sich selbst in diesem Leiden g e-niess t“ (GM III 11). Nietzsche reinterpretiert den „Selbstwiderspruch“ desAsketen in seiner eigenen Begrifflichkeit, bis das scheinbare Paradox sich auflöst.Der Idee einer Kraft, die sich selbst zu zerstören versucht, entspricht keineWirklichkeit. Nietzsche unterscheidet - wie etwa in der positivistischen Psychia-trie üblich - zwischen oberflächlicher psychologischer und tiefergehender phy-siologischer Betrachtungsweise. Vom physiologischen Standpunkt aus ist jeneVorstellung nicht nur eine Täuschung, sie ist geradezu sinnlos. „Ein solcherSelbstwiderspruch, wie er sich im Asketen darzustellen scheint, ,Leben g eg enLeben‘ ist […] physiologisch und nicht mehr psychologisch nachgerechnet, ein-fach Unsinn.“ (GM III 13)

Von einem physiologischen Gesichtspunkt aus offenbart sich der angeblicheSelbstwiderspruch als der innere Zwiespalt eines ,degenerierenden‘ Lebens, indem „die tiefsten, intakt gebliebenen Instinkte des Lebens“ gegen eine unüber-windbare „partielle physiologische Hemmung und Ermüdung“ (ebd.) an-kämpfen. Sie setzen als Mittel gegen die jener Hemmung entspringende „De-pression, Schwere und Müdigkeit“ (GM III 20) das asketische Ideal ein; „dasasket i sche Idea l entspr ingt dem Schutz- und Hei l - Inst inkte e inesdeg ener i renden Lebens“ (GM III 13). Gegenüber diesem physiologischen„Thatbestand“ stellt sich die Idee eines beim Asketen auftretenden Selbstwider-spruchs „Leben g eg en Leben“ einfach als „ein psychologisches Missverständ-niss“ heraus. „[E]s steht also umgekehrt als es die Verehrer dieses Ideals meinen,- das Leben ringt in ihm und durch dasselbe g eg en den Tod, das asketischeIdeal ist ein Kunstgriff in der Erha l tung des Lebens“. Dieses „physiologischeRingen des Menschen mit dem Tode“, „die Krankhaft igke i t im bisherigenTypus des Menschen“, ist die „grosse Tatsache“, die sich in der Macht desasketischen Ideals ausdrückt.22 „[D]as physiologische Ringen des Menschen mit

22 Nachdem Nietzsche sein Problem in der Singularform („was bedeutet das asketische Ideal?“)reformuliert hat, erklärt er, die Frage „Was bedeutet aller Ernst?“ sei eine „noch grundlegendereFrage“ (GM III 11). Diese Rangordnung mag überraschen, denn die dritte Abhandlung ist

Wille zum Nichts, Ressentiment, Hypnose 119

dem Tode“ ist „genauer“ ein Ringen „mit dem Überdruss am Leben, mit derErmüdung, mit dem Wunsche nach dem ,Ende‘“ (ebd.). Die Lebenstriebe bedie-nen sich des asketischen Ideals, um dem Wunsch nach dem Ende Einhalt zugebieten. Der im asketischen Ideal verkörperte Wille zu einem Anders-Sein,letztlich ein Wille zum Nichts, verhindert den eigentlichen Nihilismus, den Wil-len zur Selbstzerstörung.

Das ist scheinbar ein Paradox - und gleichsam eine Verdopplung des Willenszum Nichts. Nietzsche ist aber an dieser Denkfigur durchaus gelegen. AmSchluß der Abhandlung wiederholt er sie und leitet sie aus dem horror vacui desWillens ab. Ohne das asketische Ideal war der Mensch „ein Spielball des Un-sinns, des ,Ohne-Sinns‘“ (GM III 28). Durch jenes Ideal schien „die ungeheureLeere […] ausgefüllt; die Thür schloss sich vor allem selbstmörderischen Nihilis-mus zu.“ (ebd.) Dieser wurde jedoch einfach durch einen nicht selbstmörderi-schen Nihilismus abgewendet: durch das asketische Ideal und seinen Willen zumNichts. Wenn dieses Ideal untergeht, steht ein neuer Nihilismus vor der Tür.Um so mehr als das asketische Ideal laut Nietzsche den Typus Mensch hervorge-bracht hat, der zu einem solchen Nihilismus verführen könnte. Aus dem bisheri-gen Ideal mußten der große Ekel, der Wille zum Nichts, der Nihilismus wachsen(vgl. GM II 24). Wenn „der grosse Ekel vor dem Menschen“ und „das grosseMit le id mit dem Menschen“ zueinander finden, und erst dann, kommt „der,letzte Wille‘ des Menschen, sein Wille zum Nichts, der Nihilismus“ zum Vor-schein (GM III 14). Einen Willen zum Nichts in diesem Sinn hat es noch nichtgegeben. Er scheint einer möglichen Zukunft vorbehalten.23 Auch in dieserkünftigen Konstellation geht es um zwei unterschiedliche Formen von Willenzum Nichts: einerseits um einen Nihilismus, der wenigstens so alt ist wie dasasketische Ideal, andererseits um einen ,echten‘ Nihilismus, den ,eigentlichen‘Willen zum Nichts, der erst der Zukunft angehört. Der von Nietzsche befürch-tete tragische Ausgang ist die Ablösung des ersten durch den zweiten. Von

doch der ,weniger grundlegenden‘ Frage nach der Bedeutung des asketischen Ideals bzw.der asketischen Ideale gewidmet. Aber der Ernst ist für Nietzsche ein noch klareresAnzeichen der physiologischen Hemmung, auf die auch das asketische Ideal deutet: DerErnst ist das „unmissverständlichste Abzeichen des mühsameren Stoffwechsels, des ringen-den, schwerer arbeitenden Lebens“ (GM III 25). Auch das asketische Ideal ist ein solchesAnzeichen. Beide Fragen erhalten zuletzt dieselbe Antwort; denn die Bedeutung der zweiErscheinungen ist dieselbe. Ist also jene „grosse Tatsache“ - „die Krankhaft igke i t imbisherigen Typus des Menschen“ (GM III 13) - die Bedeutung des asketischen Ideals?Am Ende der Abhandlung kommt Nietzsche noch einmal darauf zurück, daß der Mensch„in der Hauptsache ein krankhaftes Thier war“ (GM III 28). Die wesentliche Bedeutungdes asketischen Ideals sieht Nietzsche eher darin, daß „das Thier Mensch bisher keinenSinn hatte“, und sein Leiden erst recht.

23 Bekanntlich geht Nietzsche auf diesen künftigen Nihilismus in nachgelassenen Aufzeichnungenweit ausführlicher ein als in seiner „Streitschrift“. Die vorliegende Studie beschränkt sich metho-disch auf die Erläuterung der Genealogie der Moral.

Marco Brusotti120

diesem dem asketischen Ideal entwachsenen Willen zum Nichts - hofft Nietz-sche - wird der „Antichrist und Antinihilist“, der „Besieger Gottes und desNichts“, den Menschen erlösen (vgl. GM II 24).

Aber nicht dieser hoffnungsvolle Ausblick ist hier das Thema, sondern Nietz-sches These, daß der im asketischen Ideal verkörperte Wille zum Nichts deneigentlichen Nihilismus abwehrt. Mit dieser Auffassung kehrt Nietzsche Scho-penhauers Interpretation um. Das asketische Ideal hebt den Willen keineswegsauf. Im Gegenteil: Es rettet ihn. „Der Mensch hat es satt […]: aber selbst nochdieser Ekel, diese Müdigkeit, dieser Verdruss an sich selbst - Alles tritt an ihmso mächtig heraus, dass es sofort wieder zu einer neuen Fessel wird. Sein Nein,das er zum Leben spricht, bringt wie durch einen Zauber eine Fülle zärtererJa’s an’s Licht; ja, wenn er sich verwundet, dieser Meister der Zerstörung,Selbstzerstörung, - hinterdrein ist es die Wunde selbst, die ihn zwingt, zuleben…“ (GM III 13) Gegen Schopenhauer hebt Nietzsche diese Verwandlungder Lebensverneinung in eine Vielfalt oft uneingestandener Bejahungen beson-ders an der Gestalt des asketischen Priesters hervor. „Der asketische Priester istder fleischgewordne Wunsch nach einem Anders-Sein, Anderswo-sein, und zwarder höchste Grad dieses Wunsches, […] aber eben die Macht seines Wünschensist die Fessel, die ihn hier anbindet, eben damit wird er zum Werkzeug, […]eben mit dieser Macht hält er die ganze Heerde […] am Dasein fest.“ (ebd.)

Diese Deutung des Asketismus erinnert an die auch Nietzsche vertraute bud-dhistische Kritik der hinduistischen Askese: Gerade der sehnliche Wunsch nachErlösung und die darauf zielende extreme Askese sind das letzte Hindernis, dasder Buddha hinter sich lassen muß. So scheint die Grundtatsache, daß selbst derWille zum Nichts ein Wille ist, den asketischen Priester in einen performativenWiderspruch zu verstricken. Aber diese Interpretation von Nietzsches Argumentwäre ein Mißverständnis. Kein performativer Widerspruch vereitelt die Bemü-hungen der Asketen. Aus dem Moment der ,Lebensbejahung‘, das Nietzsche anden asketischen Prozeduren hervorhebt, folgt keineswegs, daß sie zum Scheiternverurteilt sind. Im Gegenteil. Sie sind für Nietzsche äußerst ,erfolgreich‘, nurwill er diesen „Erfolg“ uminterpretieren. Die „sportsmen der ,Heiligkeit‘“ „ka-men von jener tiefen physiologischen Depression mit Hülfe ihres Systems vonHypnotisierungs-Mitteln in unzähligen Fällen wirklich los: weshalb ihre Me-thodik zu den allgemeinsten ethnologischen Thatsachen zählt.“ (GM III 17)Wie schon in Morgenröthe belegt Nietzsche diese „allgemeinsten ethnologischenThatsachen“ durch eine groß angelegte Montage verschiedenartiger Lektüren.24

Eine wirkliche physiologische Heilung des Leidens erzielen die Asketen mitnich-

24 Vgl. insbes. M 14 und dazu Brusotti: Die Leidenschaft der Erkenntnis, a. a. O., S. 396 ff.;Orsucci, Andrea: Orient - Okzident. Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischenWeltbild. Berlin, New York 1996. S. 195 ff.

Wille zum Nichts, Ressentiment, Hypnose 121

ten.25 Aber sie erreichen, was sie anstreben. Nietzsche listet ihre unbestreitbaren„Erfolge“ auf und geht auf die Äußerungen tiefster Dankbarkeit der ,Erlösten‘ausführlich ein. Nur mißverstehen die Asketen - und Schopenhauer - ihrePraxis und ihren „Erfolg“. Beides will Nietzsche richtig interpretieren.

3) Hypnotische ,Ruhe im Nichts‘ und ,Rückwärtsrichtung des Ressentiments‘. - Umjene „Ruhe im Nichts“ von Schopenhauers Willensverneinung abzuheben, greiftNietzsche James Braids Theorie des ,Hypnotismus‘ auf.26 Der englische Arzterklärt „physiologisch“ jene Phänomene scheinbarer Aushängung des Willens,die für Schopenhauers Interpretation der Askese als Selbstverneinung des Wil-lens vermeintlich ein beeindruckendes Zeugnis liefern. Braids Analyse des „Hyp-notismus“ bildet den theoretischen Rahmen von Nietzsches Interpretation derHeiligen. Wie dann auch Nietzsche will Braid das Vorkommen ekstatischer Phä-nomene keineswegs leugnen. Im Gegenteil. In seinen „Beobachtungen über dieKatalepsie und den Winterschlaf beim Menschen“27 sammelt er zunächst zuver-lässige Zeugnisse über indische Yogis, die, lebendig eingemauert, extrem langeüberleben können. Braids „physiologisch richtige Erklärung“ dieser erstaunli-

25 „Nur das Leiden selbst, die Unlust des Leidenden wird von ihm [dem asketischen Priester; MB]bekämpft, nicht deren Ursache, nicht das eigentliche Kranksein, - das muss unsren grundsätz-lichsten Einwand gegen die priesterliche Medikation abgeben.“ (GM III 17) Wie die „priesterli-che Medikation“ überhaupt trifft dieser Einwand auch die asketischen Prozeduren; auch siewirken nur auf die Symptome.

26 Braid, James: Der Hypnotismus. Ausgewählte Schriften. Deutsch hrsg. von W. Preyer. Berlin1882. - Braid (1795-1860) ist der Urheber des Begriffs „Hypnotismus“. Sein Einfluß auf Nietz-sche ist meines Wissens bisher unbemerkt geblieben. In der Zeit zwischen Sommer 1886 undHerbst 1887 notierte sich Nietzsche unter anderen Titeln auch „Braid, Hypnotism, deutsch vonPreyer 1882“ (KSA 12, 5[110]). Damals, als er sich den englischen Titel samt Angaben zurdeutschen Übersetzung aufschrieb, hatte er das Buch wahrscheinlich noch nicht gelesen. Erdürfte sich Der Hypnotismus nicht lange vor Abfassung der Genealogie verschafft haben. - Vorallem die Vorführungen des dänischen „Magnetiseurs“ Hansen hatten in Deutschland großesAufsehen erregt. Sie wurden in der Tagespresse ausführlich und kontrovers besprochen undveranlaßten auch zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen über das Thema. Zu diesemund anderen Gründen der damaligen Popularität der Hypnose und zu den entsprechendenKontroversen, die zum historischen Kontext von Nietzsches Braid-Rezeption und seiner allge-meineren Beschäftigung mit dem Thema gehören, vgl. Brusotti, Marco: „Der historische Kon-text von Nietzsches Auseinandersetzung mit den hypnotischen Phänomenen“ (erscheint dem-nächst http://www.hypernietzsche.org/file.php3?brusotti-1). Dort untersuche ich NietzschesRezeption der Literatur über Hypnose und den Braidismus sowie die wissenschaftshistorischenZusammenhänge, auf die ich hier nicht einmal kursorisch eingehen kann, etwa Braids Kritikdes Mesmerismus oder seine (verspätete) Wirksamkeit v. a. in Deutschland. Zu NietzschesQuellen aus der französischen Psychiatrie vgl. insbes. Lampl, Hans Erich: „Ex oblivione: dasFere-Palimpsest. Noten zur Beziehung Friedrich Nietzsche - Charles Fere (1857-1907)“. In:Nietzsche-Studien 17 (1988). S. 225-264; Wahrig-Schmidt, Bettina: „’Irgendwie, jedenfalls phy-siologisch.“ Friedrich Nietzsche, Alexandre Herzen (fils) und Charles Fere 1888. In: Nietzsche-Studien 17 (1988). S. 434-464. Zu weiterer Sekundärliteratur über Nietzsche und die Psychia-trie des neunzehnten Jahrhunderts vgl. meinen eben erwähnten Beitrag.

27 Braid, James: Observations on Trance or Human Hybernation. London 1850. Dt. von A. v.Villers, in: Braid: Der Hypnotismus, a. a. O., S. 39-93.

Marco Brusotti122

chen, aber gut belegten Vorkommnisse lautet: „Die Leute bringen sich selbst ineinen hypnotischen Zustand, in eine kataleptische Starre, so zu sagen in einenvorübergehenden Winterschlaf, während dessen das Lebenslicht, wenn auchschwach, so doch fortbrennt, denn sonst müsste der Tod das unvermeidlicheEnde eines solchen Versuches sein“.28 Der Vergleich von Hypnotismus undWinterschlaf kommt bei Braid weder beiläufig vor, noch ist er metaphorischgemeint. Die deutsche Übersetzung erwähnt den „Winterschlaf beim Menschen“auch im Titel, und Braid setzt auf den Vergleich einen besonderen Akzent: Erbehauptet, daß die Yogis „wie die Thiere im Winterschlaf alle Lebensthätigkeitauf den geringsten Grad herabsetzen, welcher noch mit der Fortdauer der Exi-stenz und der Wiederherstellung der früheren Beweglichkeit vereinbar ist“.29

Gegen Ende einer längeren Anmerkung fügt Braid hinzu, daß dieses Phänomennicht allein im Tierreich anzutreffen ist und daß in bestimmten Gegenden „inFolge der großen Hitze“ „die Samen verschiedener Pflanzenarten eine fast unbe-schränkte Zeit […] mit schlummernder Keimfähigkeit verbleiben können“.30

Nietzsche nimmt Braids Erklärung auf. Die asketischen Versuche, das Leidendurch „Mittel“ zu bekämpfen, „welche das Lebensgefühl überhaupt auf denniedrigsten Punkt herabsetzen“, bezeichnet er „physiologisch“ als „Hypnotisi-rung“. Er betont die von Braid nur am Rand angemerkte Analogie mit demPflanzenreich und versteht jene asketischen Versuche als „Versuch Etwas fürden Menschen annähernd zu erreichen, was der Winterschlaf für einige Thierar-ten, der Sommerschlaf für viele Pflanzen der heissen Klimaten ist, ein Minimumvon Stoffverbrauch und Stoffwechsel, bei dem das Leben gerade noch besteht,ohne eigentlich noch in’s Bewusstsein zu treten.“ (GM III 17) Das geprieseneletzte Ziel der Asketen - wozu ihre grausamen Prozeduren nur Mittel sind -ist „Selbst-Hypnotisirung“, eine hypnotische Ruhe im Nichts, wo das Leidenaufhört. Die „Erlösung selbst, jene endlich erreichte Gesammt-Hypnotisirungund Stille“ (ebd.), jene „hypnotistische Gesammtdämpfung der Sensibilität, derSchmerzfähigkeit“ (GM III 18), „das hypnotische Nichts-Gefühl, die Ruhe destiefsten Schlafes, Leidlosigkeit kurzum“ (GM III 17) - Nietzsche kann nun dasVorkommen dieser Seelenzustände zugeben und zugleich die Möglichkeit einerWillensverneinung im Sinne Schopenhauers abstreiten.31

28 Ebd., S. 60.29 Ebd., S. 43 f. Zu Braids Erklärung des Winterschlafs bei den Tieren vgl. ebd., S. 72 ff.30 Ebd., S. 76. Unter den von Nietzsche gelesenen Autoren behandelt z. B. Semper den ,Sommer-

schlaf‘ in heißen Klimaten, allerdings nur bei Tieren, nicht bei Pflanzen. Vgl. Semper, Karl: Dienatürlichen Existenzbedingungen der Thiere. 2 Bde. Leipzig 1880. Bd. 1, S. 150. Über „Sommer-schlafthiere“ vgl. ebd., S. 272, Anm.

31 Im Zustand kataleptischer Starre ist laut Braid die „Willenskraft vollständig aufgehoben“ (DerHypnotismus, a. a. O., S. 82). Aber diese physiologisch bedingte zeitweilige Aufhebung des Wil-lens ist keine metaphysische Willensverneinung im Sinne Schopenhauers. - An Braids Auffas-sung, daß die lebendig begrabenen Yogis sich selbst in einen dem Winterschlaf analogen hypno-

Wille zum Nichts, Ressentiment, Hypnose 123

Der nachträglich verfaßte erste Aphorismus führt den Heiligen als letzte Ge-stalt an, bevor er auf die zu beweisende „Grundthatsache des menschlichenWillens“, auf dessen „horror vacui“ hinweist. Die „Ruhe im Nichts (,Gott‘)“des Heiligen bildet hier schon lexikalisch den idealen Übergang zum Willen zumNichts. Das Symbol der Willensverneinung - die asketischste aller asketischenLebensformen - schließt die Reihe der asketischen Figuren ab. Damit unter-streicht Nietzsche seine antischopenhauerische Pointe. Auf diese Weise jedochweicht der erste Aphorismus vom tatsächlichen Gang der von ihm zusammenge-faßten Abhandlung ab. Eigentlich läßt sich der horror vacui des Willens - die„Grundthatsache“, daß der Wille unbedingt wollen muß - am verinnerlichten,,rückwärtsgerichteten‘ Ressentiment viel deutlicher nachweisen als an der asketi-schen Ruhe im Nichts. So verfährt die Abhandlung auch. Sie zeigt, wie durchdie Richtungsveränderung des Ressentiments der Wille gerettet wird: im morali-schen schlechten Gewissen.

Der Priester, der die Richtung des Ressentiments verändert, erscheint in die-sem Kontext nicht als Asket im hypnotischen Zustand, sondern als „Zauberer“und Hypnotiseur. Nietzsche vergleicht den Menschen, den der asketische Prie-ster verzaubert, mit einer „Henne, um die ein Strich gezogen ist. Er kommt ausdiesem Kreis von Strichen nicht wieder heraus: aus dem Kranken ist ,der Sünder‘gemacht …“ (GM III 20) Seit zwei Jahrtausenden - fährt Nietzsche fort - stoßtman überall auf den „hypnotische[n] Blick des Sünders, der sich immer in derEinen Richtung bewegt (in der Richtung auf ,Schuld‘, als der e inz ig en Leidens-Causalität)“ (ebd.). Nietzsche scheint weder das Beispiel der durch den Kreide-strich gebannten Henne noch den Vergleich mit dem hypnotisierten „Sünder“seiner Braid-Lektüre zu verdanken.32 Der britische Arzt stellt eine verwandte

tischen Zustand versetzen, lehnt sich auch die Erläuterung des „r uss ischen Fata l i smus“ inEcce homo an: „Die grosse Vernunft dieses Fatalismus, der nicht immer nur der Muth zum Todeist, als lebenerhaltend unter den lebensgefährlichsten Umständen, ist die Herabsetzung desStoffwechsels, dessen Verlangsamung, eine Art Wille zum Winterschlaf. Ein Paar Schritte weiterin dieser Logik, und man hat den Fakir, der wochenlang in einem Grabe schläft…“ (EH, Warumich so weise bin 6)

32 „Verbrecher werden von den moralischen Menschen als Zubehör Einer einzigen That behandelt- und sie selber behandeln sich so, je mehr diese Eine That die Ausnahme ihres Wesens war:sie wirkt wie der Kreidestrich um die Henne. - Es giebt in der moralischen Welt sehr vielHypnotismus.“ (KSA 10, 3[1]96; vgl. dazu Brusotti: Die Leidenschaft der Erkenntnis, a. a. O.,S. 557 ff.; vgl. auch KSA 12, 10[108].) Aus dem Gleichnis wird in Also sprach Zarathustra einWortspiel: „Der Streich bannt die Henne; der Streich, den er führte, bannte seine arme Vernunft- den Wahnsinn nach der That heisse ich diess.“ (Za I, Vom bleichen Verbrecher) In Also

sprach Zarathustra kommt, möglicherweise aus stilistischen Gründen, der technische Term „Hyp-nose“ nicht vor; aber aus der zitierten Aufzeichnung geht zweifelsfrei hervor, daß Nietzscheschon damals die Wirkung des Kreidestrichs auf die Henne als eine hypnotische versteht. Jenehypnotische Wirkung ist im ersten „Zarathustra“ eine Metapher für den „Wahnsinn nach derThat“ des ,bleichen Verbrechers‘. Dieser Wahnsinn ist eine extreme Form von dem, was Nietz-sche dann im zweiten „Zarathustra“ „Rache“ nennt und in der Genealogie Ressentiment. Der

Marco Brusotti124

Analogie auf: Das bewegungslos gemachte Huhn ist ihm zufolge ein Beispielder gleichen hypnotischen Technik, wie sie Fakire auf sich selbst anwenden.33

Der Braid-Herausgeber Preyer weist diese Analogie ausdrücklich zurück.34

Nietzsches verwandte Analogie ist eher metaphorisch gemeint. Auch der „hyp-notische Blick“ des Sünders ist bei ihm eher Metapher; aber die Vorstellung der„Schuld“ „als der e inz ig en Leidens-Causalität“ ist nicht nur im metaphorischenSinn hypnotischer Natur. Sie gleicht in mancher Hinsicht jenen fixen Ideen,die das gesamte psychische System der Hypnotiker beherrschen. Derlei Ideenbeanspruchen das Bewußtsein so weit, daß sie das Leiden zwar nicht ganz, aberdoch weitgehend verdrängen.

Um eine fixe Idee drehen sich auch die asketischen Prozeduren im allge-meinen und insbesondere die autohypnotischen Prozeduren der Fakire.35 Bei

sachliche Zusammenhang, in dem das Gleichnis vorkommt, ist also im ersten Zarathustra undin der späteren „Streitschrift“ der gleiche. Dann aber dürfte Nietzsches Vergleich zwischen derdurch den Kreidestrich hypnotisierten Henne und dem durch seine Schuld hypnotisierten „Sün-der“ nicht auf seine Braid-Lektüre zurückgehen. Er hat die 1882 erschienene Aufsatzsammlungvermutlich erst später gelesen.

33 „Bekannt ist, daß man ein Huhn bewegungslos machen kann, wenn man seinen Schnabel aufden Boden oder auf den Tisch hält und es dadurch nöthigt, einen Kreidestrich oder einen vorden Kopf gelegten Streifen gefärbten Papiers anzusehen. Ein ganz ähnliches Verfahren schlagenseit 2400 Jahren die Fakirs in Indien ein, indem dieselben um ihren religiösen BedürfnissenGenüge zu leisten, sich dadurch in einen Zustand der Verzückung versetzen, daß sie unverwandtihre Nasenspitze oder einen anderen Theil ihres Körpers oder irgend ein lebloses Objekt, z. B.eines ihrer Götterbilder fixiren. […] Es handelt sich im Wesentlichen um einen Zustand geisti-ger Abstraktion und Concentrirung der Aufmerksamkeit, wobei die geistigen Vermögen aus-schließlich von bestimmten Vorstellungen und Gedankenreihen derart in Anspruch genommenwerden, daß die betreffenden Personen andere Eindrücke überhaupt nicht percipiren oder sichwenigstens der Einwirkung derselben nicht klar bewußt werden“ (Braid: Der Hypnotismus,a. a. O., S. 99 f.; zum Experiment mit dem Kreidestrich vgl. auch S. 262). Nietzsche muß dassogenannte „Experimentum mirabile“ des Athanasius Kircher nicht erst durch Braid kennenge-lernt haben. Das Experiment kursierte, spätestens seitdem J. N. Czermak den Sachverhalt nocheinmal untersucht hatte, nicht nur in der Literatur über hypnotische Phänomene. Eine ausführ-liche Darlegung dieser und anderer Phänomene hatte der Herausgeber von Braids Hypnotismus

vorgelegt (Preyer, William: Die Kataplexie und der thierische Hypnotismus. Jena 1878).34 „Die im Texte versuchte Parallelisierung der Kataplexie des Huhns und der Autohypnose der

Inder ist um so weniger zulässig, als jene nur durch plötzliche, ungewohnte, starke, periphereReize, diese durch anhaltende, gewohnte, schwache Reize zu Stande kommt.“ (Preyer, William:Zusätze vom Herausgeber. In: Braid: Der Hypnotismus, a. a. O., S. 283) Preyers Unterscheidungzwischen Kataplexie (Schreckensstarre) und Hypnose wurde in der Literatur oft und kontroversdiskutiert.

35 In der zweiten Abhandlung bestimmt Nietzsche die asketischen Prozeduren als mnemotechni-sche Verfahren und hebt ihren hypnotischen Charakter hervor. Sie machen aus einigen wenigenIdeen ,fixe Ideen‘, allgegenwärtige, unvergeßliche Vorstellungen, die das ganze nervöse undintellektuelle System hypnotisieren. „In einem gewissen Sinne gehört die ganze Asketik hierher:ein Paar Ideen sollen unauslöschlich, allgegenwärtig, unvergessbar, ,fix‘ gemacht werden, zumZweck der Hypnotisirung des ganzen nervösen und intellektuellen Systems durch diese ,fixenIdeen‘ - und die asketischen Prozeduren und Lebensformen sind Mittel dazu, um jene Ideenaus der Concurrenz mit allen übrigen Ideen zu lösen, um sie ,unvergesslich’ zu machen.“(GM II 3) Dasselbe geschieht beim „Sünder“: Eine spätere Aufzeichnung erwähnt „die ,Idee

Wille zum Nichts, Ressentiment, Hypnose 125

der „Selbst-Hypnotisirung nach Art des Fakirs und Brahmanen“ wird das „Brah-man als gläserner Knopf und fixe Idee benutzt“ (GM I 6).36 Die „Gesammt-dämpfung der Sensibilität, der Schmerzfähigkeit“ (GM III 18) - d. i. die „Ruheim Nichts“ der Heiligen - und die Rückwärtsrichtung des Ressentiments er-scheinen also beide als hypnotische Verfahren, durch die der Mensch von seinerDepression loskommt.

Aber warum soll gerade das Phänomen des moralischen schlechten Gewis-sens, des ,rückwärtsgerichteten‘ Ressentiments, den horror vacui des Willens bele-gen? Weil das moralische schlechte Gewissen jene ungeheure Leere ausfüllt,vor der der Wille schaudert. Dieses Gewissen ist für Nietzsche ein komplexesPhänomen, das späte Ergebnis der Überlagerung verschiedener Entwicklungs-phasen und gegensätzlicher Interpretationen.37 Zunächst ist das schlechte Ge-wissen im Rohzustand nichts weiter als ein tierpsychologisches Phänomen: Esentsteht, wenn die Grausamkeit gehemmt wird und sich nicht mehr nach außenentladen kann. Sie richtet und entlädt sich nun nach innen. So entsteht das„Leiden des Menschen am Menschen, an sich“ (GM II 16), in dieser Form ein-

fixe‘ der Sünde, die Hypnotisirung der Henne durch den Strich ,Sünde‘“ (Nachlaß Frühjahr1888, KSA 13, 14[179]). Der Begriff der fixen Idee ist in der Psychiatrie des neunzehntenJahrhunderts eine allgemein verbreitete Erklärung von Geisteskrankheiten wie etwa der „Mono-manie“. (Vgl. dazu das Kapitel „Wahnsinn, Christentum und Mord. Zu Nietzsches Lektürevon H. Maudsleys Die Zurechnungsfähigkeit der Geisteskranken“. In: Brusotti: Die Leidenschaft derErkenntnis, a. a. O., S. 389 ff.) Bei Braid kennzeichnen das „andauernde starre Festhalten einerIdee“, „die Herrschaft einer einzigen Idee“, „die dominirende fixe Idee“ bzw. die oben erwähn-ten „Vorstellungen und Gedankenreihen“ den hypnotischen Zustand (Der Hypnotismus, a. a. O.,S. 30, 260, 194, 100 u. passim). - Zur ,Mnemotechnik‘ vgl. Thüring, Hubert: Friedrich Nietz-sches mnemotechnisches Gleichnis. Von der ,Rhetorik‘ zur ,Genealogie‘, in: Kopperschmidt,Josef / Schanze, Helmut (Hrsg.): Nietzsche oder „Die Sprache der Rhetorik“. München 1994.S. 63-84.

36 Zum „gläsernen Knopf“ vgl. auch FW 364. Der Glasknopf, wie ihn etwa der dänische Magneti-seur Hansen benutzte, war zu Nietzsches Zeiten ein Sinnbild für die Hypnose. In Braids Hypno-

tismus kommt der Glasknopf dagegen nur in den Zusätzen des deutschen Herausgebers vor (vgl.Braid: Der Hypnotismus, a. a. O., S. 279 f.). Braid versetzt seine Patienten in einen hypnotischenZustand, indem er sie etwas, am besten einen leuchtenden Gegenstand, fixieren und daraufihre Aufmerksamkeit konzentrieren läßt (vgl. ebd., S. 169 f. u. passim). Er benutzt etwa seinLanzettkästchen (vgl. ebd., S. 139, 249). Trotzdem weicht Nietzsche in seiner Kennzeichnungder „Selbst-Hypnotisierung“ durch Glasknopf und fixe Idee von Braids Theorie des Hypnotis-mus nicht ab. Im gleichen Sinn wie er deutet der englische Arzt die autohypnotische Technikder „Yogins in Indien“ - und die seiner Patienten. Sie wenden „ihren Blick, sowie ihre ganzeGeistesthätigkeit mit voller Energie unverwandt einem einzigen Punkt, z. B. ihrer Finger- oderNasenspitze“ (oder auch einem leuchtenden Gegenstand) zu und gehen „in einer Idee odereinem begrenzten Ideenkreis“ völlig auf (ebd., S. 31). Daß Nietzsche Hypnose und Autohyp-nose ähnlich versteht wie Braid, heißt jedoch nicht, daß Braids Aufsätze unbedingt seine ,Quelle‘sein müssen; diese Ideen waren damals sehr verbreitet. Die weit spezifischere Gleichsetzungvon Hypnose und Winterschlaf scheint mir dagegen auf eine direkte Braid-Lektüre hinzuweisen.

37 Auf das Ressentiment und seine Rückwärtsrichtung kann ich hier nur äußerst knapp eingehen.Vgl. die ausführliche Erläuterung in Brusotti: Die „Selbstverkleinerung des Menschen“ in derModerne, a. a. O., S. 82 ff., S. 108 ff.

Marco Brusotti126

fach ein von der verinnerlichten Grausamkeit verursachtes physiologisches Lei-den. Erst mit dieser urzeitlichen Verinnerlichung der Grausamkeit bildet sichallmählich das Bewußtsein heraus. Erst dann wird eine weitere Entladung erfor-derlich, die dieses Bewußtsein vom Schmerz befreit, den die erste verursacht.Das heißt: Das Ressentiment - im wesentlichen eine Ausschweifung des Ge-fühls - versucht das Bewußtsein vom Schmerz zu befreien, das die verinner-lichte Grausamkeit bereitet. Das Ressentiment ist also keine Entladung um derEntladung willen. Es entlastet nicht von einem Überfluß an Kraft, es tritt viel-mehr trotz, genauer sogar wegen der Schwäche auf. Die Ökonomie des Ressenti-ments unterscheidet sich also grundsätzlich von derjenigen der aktiven Kräfteund vom horror vacui des Willens.

Das rohe tierische schlechte Gewissen steht am Ursprung des Ressentiments(und nicht umgekehrt), es ist mit ihm nicht identisch. Das Ressentiment ist einevergebliche Reaktion gegen die Aktivität des schlechten Gewissens - vergeb-lich, weil das physiologische Leiden anhält und keine Reaktion es dauerhaft ausdem Bewußtsein entfernen kann. Dieses tiefe ,endogene‘ Leiden ist der Muster-fall eines Schmerzes, dem man nicht entkommen kann. Der Mensch, der einensolchen Schmerz erleidet, sucht, ohne dessen ,endogene‘ Natur zu verstehen,eine Ursache seines Leidens außer sich, um gegen sie das eigene Ressentimentzu entladen und den Schmerz durch eine affektintensive Reaktion zu betäuben.Das Ressentiment braucht einen schmerzempfindlichen Gegenstand, auf den essich wenigstens in effigie entladen kann. Die bewußte Unwissenheit eines solchenphysiologisch Leidenden über die Gründe und den Sinn seiner Qual begegnetdem vermeintlichen Wissen des asketischen Priesters. Der asketische Priesterinterpretiert das physische Leiden als „seelische[n] Schmerz“ und sieht dessenUrsache in der „Sünde“. Durch diesen Begriff macht sich der Priester „dasSchuldg efühl zu Nutze“ (GM III 20), er interpretiert Schuldgefühl undschlechtes Gewissen als Moralphänomene, bis sie die noch heute bekannte Ge-stalt annehmen.

Ähnlich wie der hypnotisierende Arzt bei Braid gibt dieser „Zauberer“ demLeidenden nur einen ersten Wink: Er solle die Ursache jenes physiologischenLeidens in sich selbst, in seiner Sündhaftigkeit suchen. Darauf konzentriert nunder „Sünder“ seine ganze Aufmerksamkeit, diese Vorstellung wird zur hypnoti-schen fixen Idee, er richtet seinen hypnotisch starren Blick unentwegt auf sichselbst. Er betrachtet sich als verantwortlich für sein eigenes Leiden und wendetsein Ressentiment rückwärts, gegen sich selbst. Nun sind also Grausamkeit und

Ressentiment gleichermaßen nach innen gerichtet und verstärken sich gegensei-tig. Grausamkeit, Wille und Ressentiment bekommen im asketischen Interpreta-tionssystem einen Sinn und eine Richtung. Das Ressentiment betäubt das Un-lustgefühl, das der nicht geheilten Hemmung entspringt. Das Ressentiment -und mit ihm die ebenfalls rückwärtsgerichtete Grausamkeit - verursacht so

Wille zum Nichts, Ressentiment, Hypnose 127

neues Leiden, das ebenfalls betäubt werden muß. Der Wille darf in diesemWirbel von Grausamkeit und Ressentiment immer wieder wollen. Es tauchtimmer wieder ein neues „Interesse“ auf. Das schlechte Gewissen rettet zuletztden Willen. Der „Sünder“ hat seine physiologische Hemmung zwar nicht über-wunden, aber er kann nun trotzdem wollen, hat eine Richtung und ein „Inter-esse“ gewonnen.

Am Willen zum Anders-Sein des asketischen Priesters und am moralischenschlechten Gewissen sind die gleichen zwei Momente zu unterscheiden. Einer-seits der horror vacui des Willens zur Macht, die reine Dynamik der Kraft, dasBedürfnis nach Kraftentladung um der Entladung willen, andrerseits das Bedürf-nis, das Bewußtsein vom Schmerz zu befreien, die ausschweifende Kraftentla-dung zum Zweck der Gefühlsbetäubung: das Ressentiment. Der horror vacui istdie Grundtatsache des Willens als solchen (als Wille zur Macht), also auch desWillens zum Nichts. Der ohnmächtige, (physiologisch) gehemmte Wille zurMacht leidet, und das Bewußtsein muß von diesem Leiden befreit werden. DerWille, der vom asketischen Ideal seine Richtung bekommen hat, wird beidenBedürfnissen - horror vacui und Bedürfnis nach Befreiung vom Leiden - ge-recht. Freilich zu einem ungeheuren Preis.

Gesamtdämpfung der Sensibilität und Rückwärtsrichtung des Ressentimentssind also in mancher Hinsicht verwandt: Beide sind hypnotische Prozeduren,und beide wirken rein symptomatisch. Wie verhalten sich diese hypnotischenProzeduren samt ihrer Resultate - Ruhe im Nichts und christliches schlechtesGewissen - zueinander?

Sie bekämpfen den tiefen physiologischen Schmerz auf höchst unterschiedli-che Weise.

Die „sportsmen der ,Heiligkeit‘“ bekämpfen „jene dominirende Unlustdurch Mittel, welche das Lebensgefühl überhaupt auf den niedrigsten Punktherabsetzen.“ (GM III 17) Schließlich gelangen sie zu einer hypnotischenSchmerzlosigkeit. Sie erreichen ein „Minimum von Stoffverbrauch und Stoff-wechsel, bei dem das Leben gerade noch besteht, ohne eigentlich noch in’sBewußtsein zu treten“ (ebd.). Sie haben die Schwelle ihres Bewußtseins durchAnästhesierung herabgesetzt. Dieses ist nun so gut wie abgeschaltet und in sei-nem hypnotischen Winterschlaf für das Leiden unzugänglich. Auch das Ressenti-ment zielt auf Linderung des Schmerzes. Eine Ausschweifung des Gefühls be-setzt das Bewußtsein und verdrängt so den Schmerz. Beim hypnotischen Zu-stand des Heiligen ist dieses Mittel aber überflüssig geworden. Kein Schmerzgelangt mehr ins Bewußtsein. Keine Ausschweifung des Gefühls, kein Ressenti-ment braucht ihn davon wegzudrängen.

Der asketische Priester verlangt leidenschaftlich nach einem Anders-Sein. DerHeilige hat es erreicht: die „Ruhe im Nichts (,Gott‘)“ (GM III 1). Handelt es

Marco Brusotti128

sich beim Priester und beim Heiligen um dieselbe Gestalt, nur auf verschiedenenStationen ihres Lebenswegs? Und dies, auch wenn nicht jeder Priester oder Asketden Stoff zum Heiligen hat? Das asketische Leben ist von einem „Ressentimentohne Gleichen“ beherrscht, vom Ressentiment „eines ungesättigten Instinktesund Machtwillens“, der über das Leben selbst und dessen unterste BedingungenHerr werden möchte (GM III 11). Die hypnotischen Prozeduren des Asketenzielen auf Linderung des Schmerzes, aber nicht durch ständige Ausschweifungendes Gefühls, nicht durch Ressentiment. Der Asket wendet jene Prozeduren an,bis zuletzt ein hypnotischer Ruhezustand die schmerzlindernde Funktion seines„Ressentiment[s] sonder Gleichen“ übernimmt und dieses im eingeschläfertenBewußtsein überflüssig wird.

Nach dieser Lesart von Nietzsches Text entwickelt sich der (psychologische,scheinbare) Selbstwiderspruch, der Nietzsches asketischen Priester kennzeich-net, in außerordentlichen Fällen bis zu einer Ruhe im Nichts. Der Priester, densein vom Ressentiment getriebener Wunsch nach einem Anders-Sein ans Lebenund an seine Herde fesselte, läßt zuletzt ebendieses Ressentiment hinter sich.Handelt es sich aber wirklich um zwei verschiedenen Stationen desselben Le-benswegs? Die Abhandlung läßt es im Unklaren. Und der erste Aphorismusformuliert darüber hinaus einen wesentlichen typologischen Unterschied. Aske-tische Ideale haben demnach bei Priestern und bei Heiligen jeweils eine andereBedeutung. Die Priester machen aus den asketischen Idealen „ihr bestes Werk-zeug zur Macht“, bei den Heiligen dagegen bedeuten jene Ideale im wesentli-chen eine „Ruhe im Nichts“.38 In der Abhandlung selbst aber spielt der typolo-gische Unterschied zwischen Heiligen und Priestern keine Rolle. Nietzsche un-terscheidet hier nicht zwei Menschentypen, sondern eine Reihe von Mitteln imasketischen Kampf gegen das Leiden. Der asketische Priester ist dabei derjenige,der über sämtliche Mittel gebietet und sich so die Herrschaft sichert. Die nureiner kleinen Elite von Priestern vorbehaltene „Gesammt-Dämpfung desLebensgefühls“ (GM III 19), die „Ruhe im Nichts“, für die im ersten Aphoris-mus der Heilige steht, ist nur das erste der vielen „unschuldigen Mittel“ im„Kampfe mit der Unlust“.39 Die „Ausschweifung des Gefühls“ - wie beim Ressen-timent - ist das allgemeine Wesensmerkmal aller „,schuldigen‘“, weil extremgesundheitsschädlichen Mittel. Der asketische Priester verschreibt sie auch sei-nem „Sünder“.

38 Freilich ist auch die „novissima gloriae cupido“ (GM III 1) der Heiligen eine Form von Willenzur Macht.

39 So die dritte Abhandlung. Die erste widerspricht jedoch implizit der Auffassung, daß die Auto-hypnose wirklich ein ,unschuldiges‘, d. i. wenig gesundheitsschädliches Mittel ist. Hier siehtNietzsche in der „Selbst-Hypnotisirung nach Art des Fakirs und Brahmanen“ eine der Ursachenseiner Lebensmüdigkeit. Das hypnotische „Nichts“ ist zugleich eine „Radikalkur“ gegen „dasschließliche, nur zu begreifliche allgemeine Satthaben“ jener krankhaften priesterlichen Aristo-kratien (vgl. GM I 6).

Wille zum Nichts, Ressentiment, Hypnose 129

Die Bedeutung dieses Unterschieds springt ins Auge, wenn man die Genealogie

mit dem späteren Antichrist vergleicht. Der Antichrist unterscheidet scharf zwi-schen Christentum und Buddhismus. Nietzsche betrachtet das Christentum alseine gesundheitszerrüttende Religion des Ressentiments, den Buddhismus dage-gen als eine Form rationeller Hygiene, an der er gerade das Ressentimentverbotherausstellt. Er markiert so einen Gegensatz zwischen den zwei Hauptformennihilistischer Religiosität. Buddhismus und Christentum sind beide zutiefst nihili-stische decadence-Religionen, aber in Hinsicht auf das Ressentiment verhalten siesich antithetisch. Buddhistische Heiterkeit, Stille und Wunschlosigkeit sind derGegensatz zum christlichen Ressentiment.40

Die Genealogie setzt auf diesen Unterschied keinen vergleichbar starken Ak-zent. Wesentlich ist: Die „Ruhe im Nichts“ ist weder Willensverneinung im SinneSchopenhauers noch Ressentiment im Sinne Dührings. Dieser betrachtet das Res-sentiment, die gleichsam mechanische Reaktion auf eine Verletzung, als Grund-lage der Gerechtigkeit: Das Rechtsgefühl ist im wesentlichen ein Ressentiment.Dühring gründet also seine Ethik auf das Ressentiment; aber von seinem natura-listischen Standpunkt aus kritisiert er das Ressentiment von Asketen und Meta-physikern. Er sieht in Schopenhauers Philosophie eine „Metaphysik der Ra-che“.41 Gerade die Lebensform der Heiligen und Asketen stellt für Dühringeine unberechtigte und ungerechte Form von Ressentiment dar.42 1875, mehrals ein Jahrzehnt vor Abfassung der Genealogie, nimmt Nietzsche die in DühringsWerth des Lebens vorgetragene Schopenhauer-Kritik auf, verteidigt aber Heiligeund Asketen. In dem „Evangelium“, mit dem er seine ausführlichen Notizenaus Dührings Buch abschließt, führt er den Begriff der verinnerlichten, gegeneinen selbst gewandten Rache ein.43 Er erklärt durch diese verinnerlichte Racheseinen eigenen Hang zu einer zerfleischenden Selbsterkenntnis, zu einer demChristentum und Schopenhauer nachempfundenen bohrenden Selbsterkenntnis.Schopenhauer führt die Willensverneinung auf Selbsterkenntnis zurück; die Ver-neinung des Willens zum Leben kann erst bei erreichter Selbsterkenntnis erfol-gen. Nietzsche interpretiert diese verneinende Selbsterkenntnis als verinner-

40 Auf dieselbe Weise unterscheidet Nietzsche Jesus selbst vom Paulinischen Christentum. ZumGegensatz von Buddhismus und Christentum vgl. AC 20 ff.; vgl. auch EH, Warum ich so weisebin 6, sowie KSA 13, 24[1], S. 618. Der jeweils andere Akzent in Genealogie und Antichrist hängtmit der unterschiedlichen Zielsetzung zusammen. Im späteren Antichrist überwiegt die Absicht,das Christentum zu isolieren und als die verwerflichste aller nihilistischen Religionen zu brand-marken.

41 Dühring, Eugen: Der Werth des Lebens. Eine philosophische Betrachtung. Breslau 1865. S. 234.42 Zu Nietzsches Dühring-Lektüre vgl. Venturelli, Aldo: Asketismus und Wille zur Macht. Nietz-

sches Auseinandersetzung mit Eugen Dühring. In: Nietzsche-Studien 14 (1985). S. 107-139.Zum Unterschied zwischen meiner und Venturellis Interpretation vgl. Brusotti: Die „Selbstver-kleinerung des Menschen“ in der Moderne, a. a. O., insbes. S. 112, Anm. 51. Dort wird Nietz-sches Dühring-Kritik eingehender behandelt.

43 Vgl. Nachlaß Sommer 1875, KSA 8, 9[1], S. 180.

Marco Brusotti130

lichte, gegen das Subjekt selbst gerichtete Rache. Er selbst habe eine solcheLebensphase durchlebt, schließlich aber habe er jene Rache gegen sich selbst ineinem Akt der „Selbstbegnadigung“ überwunden. Er habe also die lebensvernei-nende Selbsterkenntnis hinter sich gelassen und nicht den Willen zum Leben.Willensverneinung sei unmöglich. Das Leben gehe nach dieser Selbstbegnadi-gung weiter.44

Ab Mitte der siebziger Jahre also assoziiert Nietzsche Rache und Ressenti-ment auch mit Schopenhauer und sieht in ihm den Vertreter einer Metaphysikder Rache. Schon in seinem „Evangelium“ reinterpretiert Nietzsche die lebens-verneinende Selbsterkenntnis als verinnerlichte, gegen einen selbst gerichteteRache. In seiner späten „Streitschrift“ betrachtet er zwar Dühring als seinenHauptgegner in der allgemeinen Auffassung des Ressentiments sowie in derTheorie der Gerechtigkeit, ihres Wesens und ihrer Genealogie. Aber wenn esum zurückgewandtes Ressentiment, Selbsterkenntnis und Willen zur Wahrheitgeht, muß er sich vorrangig mit Schopenhauer auseinandersetzen. Schopenhauerist der Hauptgegner der dritten Abhandlung.45

Auch die Genealogie versteht die verneinende Selbsterkenntnis als nach innengewandte Rache. Sie prangert die Rückwärtsrichtung des Ressentiments an,durch die das moralische schlechte Gewissen des „Sünders“, die eindringlicheSelbsterforschung entsteht. Beim Heiligen freilich findet Nietzsche nun wederRessentiment (im Gegensatz zu Dühring) noch Selbsterkenntnis (im Gegensatzzu Schopenhauer). Von Selbsterkenntnis kann bei der kaum noch bewußtenhypnotischen „Ruhe im Nichts“ nicht mehr die Rede sein. Der Wille wird beimHeiligen überhaupt nicht aufgehoben - erst recht nicht durch Selbsterkenntnis.Die „Ruhe im Nichts“ ist keine Schopenhauerische noluntas. Sie ist zugleich keinRessentiment, keine Betäubung durch Gefühlsausschweifung.

Nietzsche nennt Dühring in diesem Kontext nicht. 1875, als er sich mit Der

Werth des Lebens auseinandersetzte, war ihm noch an einer von Schopenhauerinspirierten Verteidigung der Heiligen gelegen. In der Genealogie nicht mehr. Die„Streitschrift“ bleibt der Auffassung von 1875, daß asketische Entrückungennicht als Ressentiment zu interpretieren sind, zwar treu, aber in den Mittelpunktvon Nietzsches Kritik ist nun Dührings weit allgemeinere These gerückt, daßauf eine Verletzung mit mechanischer Notwendigkeit eine Reaktion folgen muß:die Rache, das Ressentiment.46 Nietzsche leugnet diese allgemeine, gleichsam

44 Zu Rache, Selbsterkenntnis und „Selbstbegnadigung“ in Nietzsches „Evangelium“ vgl. Brusotti:Die Leidenschaft der Erkenntnis, a. a. O., insbes. S. 3 ff. Vgl. auch Heller, Peter: Von den erstenund letzten Dingen. Studien und Kommentar zu einer Aphorismenreihe von Friedrich Nietz-sche, Berlin, New York 1972. Insbes. S. 445 ff.

45 Laut der Vorrede war Schopenhauer nahezu der einzige, mit dem sich Menschliches, Allzumensch-

liches bei der Frage nach dem „Wer th der Moral“ auseinanderzusetzen hatte (GM Vorrede 5).46 Auf diese notwendige Reaktion ist laut Dühring das Rechtsgefühl zurückzuführen. Er orientiert

sich an Newtons drittem Bewegungsgesetz, versteht jedoch in seiner Übertragung Aktion undReaktion nicht als simultan, sondern als sukzessiv. Das ist in den vielen metaphorischen Anwen-

Wille zum Nichts, Ressentiment, Hypnose 131

mechanische Notwendigkeit der Reaktion. (Man kann bei ihm dagegen von einerallgemeinen Notwendigkeit der Aktion reden.) Weder ist das Ressentiment eineeinfache Reaktion, noch entspringt es notwendig jeder Verletzung. Bei „starken,aktiven Menschen“ tritt das Ressentiment nur vorübergehend oder gar nicht auf(vgl. GM I 10). Es kommt sogar bei typischen decadents wie den Heiligen nichtmehr vor. Die Analyse der ,Ruhe im Nichts‘ weist es nach. Sie zeigt 1), daß voneiner noluntas in Schopenhauers Sinn keine Rede sein darf, und gleichsam neben-bei auch 2), daß das Ressentiment keine mechanische Reaktion ist.

Die Genealogie verwendet selbst dort keine ,reaktiven‘ Kategorien, wo sie nihi-listische und asketische Phänomene erläutert. Auch darin zeigt sich Nietzschesantiasketische Absicht: Er erklärt den Willen zum Nichts durch den horror vacui

des Willens und das verhängnisvolle asketische Ideal durch seine lebenserhal-tende Funktion, oder er hebt die ans Dasein fesselnde Macht des asketischenWunsches nach einem Anderssein hervor. Die „Ruhe im Nichts“ ist nur einSonderfall in der Phänomenologie des Willens zum Nichts. Die Interpretationdieser Phänomenologie im Ganzen bestätigt den Primat der Aktivität. Das ist einHauptanliegen der Genealogie. Darauf laufen die erläuterten Argumente gegenSchopenhauer und Dühring hinaus. Im gleichen Sinn kritisiert Nietzsche dasVorherrschen reaktiver Kategorien in der Biologie seiner Zeit oder die reaktivenErklärungsmodelle englischer Psychologen und Moralhistoriker. Auch diese For-scher erklären jedes menschliche Verhalten durch reaktive Vorgänge und leugnenden Vorrang der aktiven Kräfte. In ihren reaktiven Erklärungsmodellen drücktsich laut Nietzsche eine asketische Tendenz aus, ein „heimlicher, hämischer,gemeiner, seiner selbst vielleicht uneingeständlicher Instinkt der Verkleinerungdes Menschen“ (GM III 25). Seit Kopernikus ist die „Selbstverkleinerung desMenschen, sein Wil le zur Selbstverkleinerung“ „in einem unaufhaltsamen Fort-schritte“ begriffen (ebd.). Dieser „Wi l le zur Selbstverkleinerung“ ist eng mitdem Selbstmißtrauen des christlichen Gewissens verwandt. Er ist eine zeitgenös-sische Form von Willen zum Nichts. In ihm herrscht das asketische Ideal weiter-hin vor. Wie in aller Wissenschaft verfolgt dieser Instinkt auch in der Geschichteder Moral den Zweck, die bisherige Achtung des Menschen vor sich in Selbst-verachtung umzuwandeln. So artikulieren jene englischen Psychologen und Mo-ralhistoriker ihre Hypothese über „die Herkunft des Begriffs und Urtheils ,gut‘“durch Kategorien wie „’die Nützlichkeit’, ,das Vergessen‘, ,die Gewohnheit‘ undam Schluß ,den Irrthum‘. Alles als Unterlage einer Werthschätzung, auf welcheder höhere Mensch bisher wie auf eine Art Vorrecht des Menschen überhauptstolz gewesen ist. Dieser Stolz sol l gedemüthigt, diese Werthschätzung entwer-thet werden […]“ (GM I 2). Die mehr oder weniger bewußte Feindlichkeit jener

dungen von Newtons Gesetz in den verschiedensten Gebieten keine Seltenheit, wie J. Starobin-ski an anderen Beispielen nachweist (vgl. Starobinski, Action et reaction, a. a. O., z. B. S. 44 f.).

Marco Brusotti132

Psychologen gilt nicht erst dem vornehmen „Pathos der Distanz“, sondernschon der Achtung des Menschen vor sich selbst. Sicher sind auch sie, wie alle„freien Geister“, dem Christentum feindlich gesonnen - eine Feindlichkeit, dievon einem gewissen unbewußten Ressentiment nicht ganz frei ist - und lehnendie christliche Auffassung des Menschen und der Moral entschieden ab. Darinsieht Nietzsche aber keinen Einwand gegen die Verwandschaft ihres Menschen-und Selbstverständnisses mit dem asketischen. Auch in ihrer Psychologie äußertsich die asketische Selbstverachtung des Menschen. Diese ist eine Form vonzurückgewandtem Ressentiment, jene eine Ressentiment-Psychologie. Der Willezur Wahrheit dieser Moralhistoriker und Psychologen ist ein Wille zum Nichts:Er ist mit dem Willen zum Wissen des „Sünders“ noch verwandt.47

Gegen diese Tendenzen sucht Nietzsche nach einer Auffassung vom Men-schen, die der Wille zum Nichts nicht mehr beherrscht und in der der Menschsich selbst nicht mehr ,verkleinert‘. Es ist - wie gesagt - mehr als fraglich,ob die Sprache des Kraftbegriffes und das Gegensatzpaar ,aktiv‘ und ,reaktiv‘menschlichem Verhalten gerecht werden. Aber Nietzsche braucht einen begriff-lichen Raum, um neue Lebensformen denken zu können. Seine Analyse desWillens zum Nichts ist in diesem Kontext zu lesen: Die antiasketische Absichtder Genealogie äußert sich nicht zuletzt darin, daß sie ,reaktive‘ Kategorien auchnoch in der Beschreibung nihilistischer und asketischer Phänomene vermeidet.

47 Foucaults Kritik der Psychoanalyse knüpft an dieses zentrale kritische Anliegen von NietzschesGenealogie an (vgl. Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen.Frankfurt a. M. 1983). Foucaults Kritik des Willens zum Wissen, den die Psychoanalyse vomPositivismus des neunzehnten Jahrhunderts und dieser wiederum vom Christentum geerbt habe,trägt deutlich nietzscheanische Züge. Das gilt nicht zuletzt auch für den gewaltigen Schrittzurück, den Foucault im zweiten und dritten Band vollzieht: für seinen Rückblick auf das alteGriechenland, in dem das Verhältnis zwischen Selbsterkenntnis und Selbstgestaltung ein andereswar als in der christlichen und nachchristlichen Zeit. Zu Nietzsches entsprechenden Ausführun-gen vgl. Brusotti: Die „Selbstverkleinerung des Menschen“ in der Moderne, a. a. O., insbeson-dere S. 118 ff.