58 Blick zurück auf ganz viel Glück - Bourbon...

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Samstag, 20. Februar 2016 Nummer 43 - Seite 58 Kreis Gießen Blick zurück auf ganz viel Glück Gespräch mit Charly und Christel Kreßmann über mehr als die Erfolge ihrer Bourbon Family Gefühlt möchte man meinen, diese Ge- schichte schon mehrfach vernommen zu ha- ben im Rahmen der nostalgischen Serie »Es war einmal …« im Kreisteil der Gießener Allgemeinen Zeitung: Die Bourbon Family aus der Wetterau, die sich später Speed Li- mit nannte, gab weit über ein Jahrzehnt den Abräumer in den Tanzläden und Wirtshaus- sälen Oberhessens, auf Stadtfesten und in den angesagten Discotheken und Clubs. Ge- fühl kann trügen: Fast alle Bands der 1960er und 1970er Jahre hatten rückblickend im Fo- kus gestanden – nur eben nicht die Combos des Melbacher Musikers und Komponisten Karl-Heinz Kreßmann. Es mochte den besonderen Lebensumstän- den geschuldet sein, dass Charly Kreßmann im Gespräch mit dieser Zeitung mehrfach betont, wie glücklich er doch sei, noch ein- mal gefragt zu werden – und vor allem, dies alles erlebt und gelebt zu haben. Derart Ge- mütszustand bedingt, dass der Mann in entscheidenden Momenten viel Glück hatte, oder eben an bedeu- tungsvollen Weggabelungen den rich- tigen Riecher. Das macht glücklich. Dies allein aber kann’s nicht gewesen sein. Denn Glück ist flüchtig, ist allen- falls eine Momentaufnahme. Reicht al- lein das für die Spanne eines über 72 Jahre währenden Lebens? Zumal er in diesen Wochen und Monaten erfah- ren muss, an welch dünnem Faden Glück hängen kann. Kreßmann »allergrößtes Glück« sitzt mit am Tisch und heißt Christel. Fast ein halbes Jahrhundert haben sie als Eheleute hinter sich – und ein paar Jahre mehr als Kollegen. Beide standen (fast) immer ge- meinsam auf der Bühne; singend, musizierend, unterhaltend. Dabei kennen sie sich viel länger, nennen ihre Beziehung »eine Sandkastenliebe«. Reden wir von den Eckdaten. Der in Frank- furt gebürtige und in Melbach aufgewachse- ne Charly ist 16, als er im Bad Nauheimer Lokal »Capri« in Elvis Beisein spielt. Später studiert er in Frankfurt Posaune und Klavier. Schulkameradin Christel ist Saxofonistin bei Hanny’s Dutch Sisters, bringt 1964 von einer Auslandstour zwei Freundinnen mit – und mit Schlagzeuger Reinhard Schneider gründen sie die Band Charly and his Dolls, begeistern vor allem in US-Clubs. Alles »so Schnullersachen« 1966 Neuorientierung: Charly und Christel tun sich mit Gitarrist Hans Watzl, Drummer Günther Zeh und mit Bassist Emil Winnige zusammen. (Letzterer ist von den Beatniks, hat dort mit dem Friedberger Norbert Friedl gespielt, der seinerseits das Lebensglück in Großen-Linden gefunden hat – in Person von Wirtsleutetochter Gitti Schröder.) Charly and the Diamonds treten in US-Clubs in Frankfurt, Heidelberg und Gießen auf, be- gleiten einmal Bill Haley, werden gut bezahlt für ihre Arbeit und zudem vom Armeesender AFN gebucht. Es folgen ein Schallplattenvertrag bei der Bellaphon, ein Auftritt im »Talentschuppen« der ARD, 1970 der Wechsel zu Hansa/Ariola – und der neue Name: Bourbon Family. In den nächsten sechs Jahren veröffentlicht man sechs Singles, die in 17 (!) Ländern un- ter die Leute gebracht werden. Allesamt Kreßmann-Kompositionen und eingängige Musik à la Les Humphries Singers. Die Titel heißen »Acapulco Gold«, »Ooo-chee Boo- chee« oder »Lolly Sue«. Alles »so Schnuller- sachen«, sagt Charly heute. Partymusik eben, sehr gefragt und einträglich. Jahre zuvor hieß man das Bubblegum. Bezeichnend dazu Titel wie »Yummy Yummy Yummy«. Andere sangen »Chirpy Chirpy Cheep Cheep«. TV-Auftritte im benachbarten Ausland fol- gen, 1972 eine erste Karibik-Tour – und wei- tere Umbesetzungen. Uwe Reuss ersetzt Win- nige. Der Friedberger Bassist und Sänger, Profi seit 1964, ist besser bekannt als Johnny Tame (»Sand in my Shoes«), nimmt Mitte der Siebziger zwei LPs mit Peter Maffay auf. Da kommt Winnige zurück, und aus Gießen sto- ßen der frühere Black Shadow Wolfgang Hopka (Gitarre, Gesang) und Günter Englert (Schlagzeug) zur Familie, die ihrerseits in der Erfolgsspur bleibt. Die »Burbonen« wer- den gebucht als Begleitband für Gunter Ga- briel, Michael Holm und Ricky King, treten mit Paola in der Schweiz auf und mit Ho- ward Carpendale in Italien. Dann wieder so ein Glanzlicht: Mehrere Wochen Kreuzfahrt mit der US-amerikanischen Disco-Queen Donna Summer. Fortan werden die Melba- cher von Giorgio Moroder/Pete Bellotte pro- duziert – und mit neuem Namen versehen: Speed Limit. Moroder? Drei Oscars, drei Grammys, vier Golden Globes. Ein Personalwechsel ist hier noch zu notieren: Hopka geht ’81 in die USA, will dort sein Glück finden. Nachfolger sind Ex- Jeronimo Reiner Marz, später der erst 18-jährige Robert Kohlmeyer. »Bin ein Musikverrückter« Hier die Erfolge auf der Bühne – da das ganz private Kreßmann- Glück: 1979 erblickt Timm das Licht der Welt, wird’s Bourbon- Family-Maskottchen, ist überall mit dabei. Erst seine Einschulung bringt das Ende der Combo, die an Rosenmontag 1985 in Fried- berg ihren allerletzten Auftritt hat (wenn man von einem Revival im Sommer 2001 absieht). Die Kreßmanns, die 1979 erneut Eltern werden mit einer kleinen Jenny, haben schon zu diesem Zeitpunkt keine Minute bereut. Ganz im Gegenteil: Das war bis hierhin ihr Leben – mit der Musik. Charly untermauert’s mit einem Wort des Philosophen Friedrich Nietzsche: »Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.« Wie zum Beweis, steht er kurz auf, geht zum weißen Flügel, stimmt Beethovens achte Klavierso- nate an, die Pathétique. »Ich bin doch ein Musikverrückter«, diktiert er dem Zeitungs- mann in den Block, schwenkt um auf »Sunny, thank you for the smile upon your face«. »Elvis, das war uns eigentlich zu viel Schla- ger«, winkt das ordentliche GEMA-Mitglied Charly Kreßmann bei der Rückschau ab. »Wir standen auf Soul, Country, auf Blues. Auf all das, womit man in den Ami-Clubs punkten konnte. Wie ›Stand by me‹ von Ben E. King oder ›Midnight Hour‹ von Wilson Pi- ckett.« Immer auch in Gießen – im »Wood- land«, im »Alpine«, im Casino der Rivers- Barracks. Der Swing sei es gewesen, dem man von Beginn an huldigte, weniger dem Beat: Blood, Sweat and Tears ... Musik von Chicago, von ihm als Posaunist und von Christel, der Saxofonistin, und dem Oktavi- der quasi mit Bläsersatz interpretiert – akus- tisch volle Breitseite. Apropos die Amis: Wie ein Ritterschlag ist es für die Bourbon Family, zum Festakt »30 Jahre AFN Europe« in die Jahrhunderthalle geladen zu werden – neben Neil Sedaka und Peggy March, Günter Noris’ Bigband und dem HR-Orchester, den Les Humphries Sin- gers und den Jazz-Allstars mit Emil Mangelsdorff, Kurt Bong und Heinz Schönberger. Andernorts treten die Wetterauer bei Tanzbällen auf Au- genhöhe mit Max Greger, Paul Kuhn und etwa Ambros Seelos auf. Trotz solcher und anderer Großauftritte – etwa 1974 bei der Fußball-WM im Olympiastadion in Berlin – bleibt die Band auf dem Boden, pflegt die Heimspiele. In Friedberg beim Stadt- fest ebenso wie beim Kronenwirt in Großen-Linden oder in Nonnenroth (»Skyline«). Nur auf eine Frage haben Charly und Christa keine Antwort: Was wäre gewesen, wenn sie 1975 das Angebot der »Hansa«-Musikproduktion ange- nommen und den Abba-Hit »Mamma Mia« deutsch gecovert hätten? Wo- möglich säßen sie jetzt nicht in ihrem Häuschen mit den zwei Flügeln und den Klavieren, mit einem Tonstudio (in dem Charly u.a. Werbespots pro- duzierte für Benz und Audi, Atari und Milupa, Kümmerling und …). Aber wo dann? Die Zweifel sind fehl am Platz. Sie hatten es, ein prall- volles Leben mit Musik, in vielen Fa- cetten, sagt Charly – und setzt sich wieder an die Tasten. »Mir rinnt die Zeit nur so durch die Finger.Der Krebs.« Also musiziert er, denn dann ist die Zeit ihm. Wenigs- tens in diesem Moment. No. Schmidt Diese Bilder aus der Bourbon-Family-Geschichte zeigen die Combo von Charly und Christel Kreßmann unter anderem mit den Gießenern Günter Englert und Wolfgang Hopka (†2016) und mit Michael Holm, mit Hans Blums Anfrage, ob man »Mamma Mia« covern wolle, und (unten) mit Donna Summers Playlist für die Kreuzfahrt-Tour. (Fotos: no, privat) Es war einmal ... ... bei uns in Oberhessen Ehedem die Foto- und Geschichtenserien vom Leben auf dem Land in den 1950ern und 1960ern, dann die Reihen über die wachsende individuelle Mobilität in Ober- hessen sowie nicht zuletzt die Serie »Es war einmal im Gießener Land«, in der es 2013 und 2014 vor allem darum ging, Le- ben und Alltag der 50 Jahre zuvor jungen Menschen darzustellen, deren Musik, deren Autos, deren Urlaubsreisen – ihnen in Gän- ze und fast jedem einzelnen Bericht war et- was Heiteres eigen. Gerade bei »Es war einmal …« ging es nicht ohne Augenzwinkern ab. Nicht alles so ernst nehmen, schon gar nicht sich selbst und die eigene Generation. Ein bisschen, wie es eine Kollegin sagte, Gefühlsakroba- tik, eine Prise Nostalgie dazu, hin und wie- der die kollektiven Erinnerungen neu jus- tieren hinsichtlich der zeitlichen Zuord- nungen, und unter keinen Umständen das Erlebte verklären. Diese Mischung erfreute sich einer ganz eigenartigen, mithin durch- aus angenehmen Beliebtheit. Tausende hatten all dies erlebt im weiten Land zwischen Lahntal, Wetterau und Vo- gelsberg, aber in den offiziellen Archiven war der – wenn man das so nennen darf – Zeitgeist nicht hinterlegt, den man in mög- lichst vollen Zügen genossen hatte in den Jahren zwischen Adoleszenz und Einstieg in den Ernst des Lebens, als einem das Zeitbudget des Daseins als unerschöpflich erschien. Nirgends ein Horizont? Und wenn doch, dann beruhigte man sich im Linden- berg’schen Sinne damit, dass es dahinter gewiss weitergehe … Und jetzt, bei Neuaufnahme der künftig möglichst einmal monatlich erscheinenden Serie, kommt einer daher, dessen Name schon lang auf der Wunschliste des »Es war einmal …«-Autors gestanden hatte, und bringt alle Gefühlsparameter durcheinan- der: Karl-Heinz Kreßmann aus Melbach in der nördlichen Wetterau, genannt Charly. Der Unterhaltungsmusiker und Komponist, der zunächst mit den Diamonds und dann vor allem mit der Bourbon Family, die spä- ter Speed Limit hieß, die Wirtshaussäle, Discotheken und Ami-Clubs in Oberhessen aufmischte, dass es eine wahre Pracht war, er konfrontiert den Gesprächspartner mit einer ganz bitteren Wahrheit. Er habe seit Ende 2013 einen neuroendo- krinen Tumor, sagte der 72-Jährige, müsse sich deshalb in Marburg einer nuklearme- dizinischen Behandlung unterziehen. So ein Interview, so eine Rückschau auf ein be- wegtes und bewegendes Leben, wühle ihn emotional auf. Die Nervenstränge schmerz- ten. »Aber sie können ruhig schreiben: Ich bin ein glücklicher Palliativpatient!« Nicht, weil er den Tod vor Augen habe, sondern weil ihm bis dahin an der Seite seiner Frau Christel so gut wie alles gelungen sei. »Ich habe Glück gehabt!« Die Bourbon-Family-Geschichte ist auch mit Herzblut geschrieben. No. Schmidt

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  • Samstag, 20. Februar 2016 Nummer 43 - Seite 58Kreis Gießen

    Blick zurück auf ganz viel GlückGespräch mit Charly und Christel Kreßmann über mehr als die Erfolge ihrer Bourbon Family

    Gefühlt möchte man meinen, diese Ge-schichte schon mehrfach vernommen zu ha-ben im Rahmen der nostalgischen Serie »Eswar einmal …« im Kreisteil der GießenerAllgemeinen Zeitung: Die Bourbon Familyaus der Wetterau, die sich später Speed Li-mit nannte, gab weit über ein Jahrzehnt denAbräumer in den Tanzläden und Wirtshaus-sälen Oberhessens, auf Stadtfesten und inden angesagten Discotheken und Clubs. Ge-fühl kann trügen: Fast alle Bands der 1960erund 1970er Jahre hatten rückblickend im Fo-kus gestanden – nur eben nicht die Combosdes Melbacher Musikers und KomponistenKarl-Heinz Kreßmann.

    Es mochte den besonderen Lebensumstän-den geschuldet sein, dass Charly Kreßmannim Gespräch mit dieser Zeitung mehrfachbetont, wie glücklich er doch sei, noch ein-mal gefragt zu werden – und vor allem, diesalles erlebt und gelebt zu haben. Derart Ge-mütszustand bedingt, dass der Mannin entscheidenden Momenten vielGlück hatte, oder eben an bedeu-tungsvollen Weggabelungen den rich-tigen Riecher. Das macht glücklich.Dies allein aber kann’s nicht gewesensein. Denn Glück ist flüchtig, ist allen-falls eine Momentaufnahme. Reicht al-lein das für die Spanne eines über 72Jahre währenden Lebens? Zumal erin diesen Wochen und Monaten erfah-ren muss, an welch dünnem FadenGlück hängen kann.

    Kreßmann »allergrößtes Glück«sitzt mit am Tisch und heißt Christel.Fast ein halbes Jahrhundert habensie als Eheleute hinter sich – undein paar Jahre mehr als Kollegen.Beide standen (fast) immer ge-meinsam auf der Bühne; singend,musizierend, unterhaltend. Dabei kennen siesich viel länger, nennen ihre Beziehung »eineSandkastenliebe«.

    Reden wir von den Eckdaten. Der in Frank-furt gebürtige und in Melbach aufgewachse-ne Charly ist 16, als er im Bad NauheimerLokal »Capri« in Elvis Beisein spielt. Späterstudiert er in Frankfurt Posaune und Klavier.Schulkameradin Christel ist Saxofonistinbei Hanny’s Dutch Sisters, bringt 1964 voneiner Auslandstour zwei Freundinnen mit –und mit Schlagzeuger Reinhard Schneidergründen sie die Band Charly and his Dolls,begeistern vor allem in US-Clubs.

    Alles »so Schnullersachen«

    1966 Neuorientierung: Charly und Christeltun sich mit Gitarrist Hans Watzl, DrummerGünther Zeh und mit Bassist Emil Winnigezusammen. (Letzterer ist von den Beatniks,hat dort mit dem Friedberger Norbert Friedlgespielt, der seinerseits das Lebensglück inGroßen-Linden gefunden hat – in Person vonWirtsleutetochter Gitti Schröder.) Charlyand the Diamonds treten in US-Clubs inFrankfurt, Heidelberg und Gießen auf, be-gleiten einmal Bill Haley, werden gut bezahltfür ihre Arbeit und zudem vom ArmeesenderAFN gebucht.

    Es folgen ein Schallplattenvertrag bei derBellaphon, ein Auftritt im »Talentschuppen«der ARD, 1970 der Wechsel zu Hansa/Ariola– und der neue Name: Bourbon Family. Inden nächsten sechs Jahren veröffentlichtman sechs Singles, die in 17 (!) Ländern un-ter die Leute gebracht werden. AllesamtKreßmann-Kompositionen und eingängigeMusik à la Les Humphries Singers. Die Titelheißen »Acapulco Gold«, »Ooo-chee Boo-chee« oder »Lolly Sue«. Alles »so Schnuller-sachen«, sagt Charly heute. Partymusik eben,sehr gefragt und einträglich. Jahre zuvorhieß man das Bubblegum. Bezeichnend dazuTitel wie »Yummy Yummy Yummy«. Anderesangen »Chirpy Chirpy Cheep Cheep«.

    TV-Auftritte im benachbarten Ausland fol-

    gen, 1972 eine erste Karibik-Tour – und wei-tere Umbesetzungen. Uwe Reuss ersetzt Win-nige. Der Friedberger Bassist und Sänger,Profi seit 1964, ist besser bekannt als JohnnyTame (»Sand in my Shoes«), nimmt Mitte derSiebziger zwei LPs mit Peter Maffay auf. Dakommt Winnige zurück, und aus Gießen sto-ßen der frühere Black Shadow WolfgangHopka (Gitarre, Gesang) und Günter Englert(Schlagzeug) zur Familie, die ihrerseits inder Erfolgsspur bleibt. Die »Burbonen« wer-den gebucht als Begleitband für Gunter Ga-briel, Michael Holm und Ricky King, tretenmit Paola in der Schweiz auf und mit Ho-ward Carpendale in Italien. Dann wieder soein Glanzlicht: Mehrere Wochen Kreuzfahrtmit der US-amerikanischen Disco-QueenDonna Summer. Fortan werden die Melba-cher von Giorgio Moroder/Pete Bellotte pro-duziert – und mit neuem Namen versehen:Speed Limit. Moroder? Drei Oscars, dreiGrammys, vier Golden Globes.

    Ein Personalwechsel ist hiernoch zu notieren: Hopka geht ’81in die USA, will dort sein Glückfinden. Nachfolger sind Ex-Jeronimo Reiner Marz, später dererst 18-jährige Robert Kohlmeyer.

    »Bin ein Musikverrückter«

    Hier die Erfolge auf der Bühne –da das ganz private Kreßmann-Glück: 1979 erblickt Timm dasLicht der Welt, wird’s Bourbon-Family-Maskottchen, ist überallmit dabei. Erst seine Einschulungbringt das Ende der Combo, diean Rosenmontag 1985 in Fried-berg ihren allerletzten Auftritt

    hat (wenn man von einem Revival imSommer 2001 absieht).

    Die Kreßmanns, die 1979 erneut Elternwerden mit einer kleinen Jenny, haben

    schon zu diesem Zeitpunkt keine Minutebereut. Ganz im Gegenteil: Das war bishierhin ihr Leben – mit der Musik.

    Charly untermauert’s mit einem Wort desPhilosophen Friedrich Nietzsche: »OhneMusik wäre das Leben ein Irrtum.« Wie zumBeweis, steht er kurz auf, geht zum weißenFlügel, stimmt Beethovens achte Klavierso-nate an, die Pathétique. »Ich bin doch einMusikverrückter«, diktiert er dem Zeitungs-mann in den Block, schwenkt um auf »Sunny,thank you for the smile upon your face«.

    »Elvis, das war uns eigentlich zu viel Schla-ger«, winkt das ordentliche GEMA-MitgliedCharly Kreßmann bei der Rückschau ab.»Wir standen auf Soul, Country, auf Blues.Auf all das, womit man in den Ami-Clubspunkten konnte. Wie ›Stand by me‹ von BenE. King oder ›Midnight Hour‹ von Wilson Pi-ckett.« Immer auch in Gießen – im »Wood-land«, im »Alpine«, im Casino der Rivers-Barracks. Der Swing sei es gewesen, demman von Beginn an huldigte, weniger demBeat: Blood, Sweat and Tears ... Musik vonChicago, von ihm als Posaunist und vonChristel, der Saxofonistin, und dem Oktavi-der quasi mit Bläsersatz interpretiert – akus-tisch volle Breitseite.

    Apropos die Amis: Wie ein Ritterschlag istes für die Bourbon Family, zum Festakt »30Jahre AFN Europe« in die Jahrhunderthallegeladen zu werden – neben Neil Sedaka undPeggy March, Günter Noris’ Bigband unddem HR-Orchester, den Les Humphries Sin-gers und den Jazz-Allstars mit EmilMangelsdorff, Kurt Bong und HeinzSchönberger. Andernorts treten dieWetterauer bei Tanzbällen auf Au-genhöhe mit Max Greger, Paul Kuhnund etwa Ambros Seelos auf. Trotzsolcher und anderer Großauftritte –etwa 1974 bei der Fußball-WM imOlympiastadion in Berlin – bleibt dieBand auf dem Boden, pflegt dieHeimspiele. In Friedberg beim Stadt-fest ebenso wie beim Kronenwirt inGroßen-Linden oder in Nonnenroth(»Skyline«).

    Nur auf eine Frage haben Charlyund Christa keine Antwort: Was wäregewesen, wenn sie 1975 das Angebotder »Hansa«-Musikproduktion ange-nommen und den Abba-Hit »MammaMia« deutsch gecovert hätten? Wo-möglich säßen sie jetzt nicht in ihremHäuschen mit den zwei Flügeln undden Klavieren, mit einem Tonstudio(in dem Charly u.a. Werbespots pro-duzierte für Benz und Audi, Atariund Milupa, Kümmerling und …).

    Aber wo dann? Die Zweifel sindfehl am Platz. Sie hatten es, ein prall-volles Leben mit Musik, in vielen Fa-cetten, sagt Charly – und setzt sichwieder an die Tasten.

    »Mir rinnt die Zeit nur so durch dieFinger. Der Krebs.« Also musiziert er,denn dann ist die Zeit ihm. Wenigs-tens in diesem Moment. No. Schmidt

    Diese Bilder aus der Bourbon-Family-Geschichte zeigen die Combo von Charly und ChristelKreßmann unter anderem mit den Gießenern Günter Englert und Wolfgang Hopka (†2016)und mit Michael Holm, mit Hans Blums Anfrage, ob man »Mamma Mia« covern wolle, und(unten) mit Donna Summers Playlist für die Kreuzfahrt-Tour. (Fotos: no, privat)

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    ... bei uns in Oberhessen

    Ehedem die Foto- und Geschichtenserienvom Leben auf dem Land in den 1950ernund 1960ern, dann die Reihen über diewachsende individuelle Mobilität in Ober-hessen sowie nicht zuletzt die Serie »Eswar einmal im Gießener Land«, in der es2013 und 2014 vor allem darum ging, Le-ben und Alltag der 50 Jahre zuvor jungenMenschen darzustellen, deren Musik, derenAutos, deren Urlaubsreisen – ihnen in Gän-ze und fast jedem einzelnen Bericht war et-was Heiteres eigen.

    Gerade bei »Es war einmal …« ging esnicht ohne Augenzwinkern ab. Nicht allesso ernst nehmen, schon gar nicht sich selbstund die eigene Generation. Ein bisschen,wie es eine Kollegin sagte, Gefühlsakroba-tik, eine Prise Nostalgie dazu, hin und wie-der die kollektiven Erinnerungen neu jus-tieren hinsichtlich der zeitlichen Zuord-nungen, und unter keinen Umständen dasErlebte verklären. Diese Mischung erfreutesich einer ganz eigenartigen, mithin durch-aus angenehmen Beliebtheit.

    Tausende hatten all dies erlebt im weitenLand zwischen Lahntal, Wetterau und Vo-gelsberg, aber in den offiziellen Archivenwar der – wenn man das so nennen darf –Zeitgeist nicht hinterlegt, den man in mög-lichst vollen Zügen genossen hatte in denJahren zwischen Adoleszenz und Einstiegin den Ernst des Lebens, als einem dasZeitbudget des Daseins als unerschöpflicherschien. Nirgends ein Horizont? Und wenndoch, dann beruhigte man sich im Linden-berg’schen Sinne damit, dass es dahintergewiss weitergehe …

    Und jetzt, bei Neuaufnahme der künftigmöglichst einmal monatlich erscheinendenSerie, kommt einer daher, dessen Nameschon lang auf der Wunschliste des »Es wareinmal…«-Autors gestanden hatte, undbringt alle Gefühlsparameter durcheinan-der: Karl-Heinz Kreßmann aus Melbach inder nördlichen Wetterau, genannt Charly.Der Unterhaltungsmusiker und Komponist,der zunächst mit den Diamonds und dannvor allem mit der Bourbon Family, die spä-ter Speed Limit hieß, die Wirtshaussäle,Discotheken und Ami-Clubs in Oberhessenaufmischte, dass es eine wahre Pracht war,er konfrontiert den Gesprächspartner miteiner ganz bitteren Wahrheit.

    Er habe seit Ende 2013 einen neuroendo-krinen Tumor, sagte der 72-Jährige, müssesich deshalb in Marburg einer nuklearme-dizinischen Behandlung unterziehen. So einInterview, so eine Rückschau auf ein be-wegtes und bewegendes Leben, wühle ihnemotional auf. Die Nervenstränge schmerz-ten. »Aber sie können ruhig schreiben: Ichbin ein glücklicher Palliativpatient!« Nicht,weil er den Tod vor Augen habe, sondernweil ihm bis dahin an der Seite seiner FrauChristel so gut wie alles gelungen sei.

    »Ich habe Glück gehabt!«Die Bourbon-Family-Geschichte ist auch

    mit Herzblut geschrieben.No. Schmidt