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MATERIALDIENST Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen 69. Jahrgang 1 / 06 ISSN 0721-2402 H 54226 Schachzüge in der Weltanschauungsarbeit Sind Evangelikalismus und Fundamentalismus identisch? Die „Neue-Welt-Übersetzung“ Zur Bibel der Zeugen Jehovas Im Zweifel für Alexas „Engel“ Martin Kriele über sich und andere Der Kongress tanzt Die Basler Psi-Tage auf neuen Wegen Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen

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69. Jahrgang 1/06IS

SN 0

721-

2402

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4226

Schachzüge in der Weltanschauungsarbeit

Sind Evangelikalismus undFundamentalismus identisch?

Die „Neue-Welt-Übersetzung“ Zur Bibel der Zeugen Jehovas

Im Zweifel für Alexas „Engel“ Martin Kriele über sich und andere

Der Kongress tanzt Die Basler Psi-Tage auf neuen Wegen

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226

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Schachzüge in der Weltanschauungsarbeit 3

Reinhard HempelmannSind Evangelikalismus und Fundamentalismus identisch? 4

Wolfgang VögeleReligiöses Amerika – Säkulares Deutschland?Eine Tagung in der Katholischen Akademie Bayern in München vom 3. – 4. 11. 2005 16

Dietrich HellmundDie „Neue-Welt-Übersetzung“ – die Bibel der Zeugen Jehovas 19

MormonenUnser Wachstum ist phänomenal 27

Politisch-religiöse BewegungenDer Mensch denkt? Gott lenkt! – Neues von der Partei Bibeltreuer Christen 29

EsoterikIm Zweifel für Alexas „Engel“: Martin Kriele über sich und andere 30

Der Kongress tanzt – die Basler Psi-Tage auf neuen Wegen 32

PersonaliaGordon Freeman Fraser ist tot 33

In eigener SacheNeue Hexen: Zwischen Kommerz, Kult und Verzauberung Rückblick auf ein EZW-Seminar in Hamburg 34

INHALT MATERIALDIENST 1/2006

ZEITGESCHEHEN

INFORMATIONENIM BLICKPUNKT

INFORMATIONENBERICHTE

INFORMATIONENINFORMATIONEN

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Manfred HutterDie Weltreligionen 36

José Antonio MarinaDas GottesgutachtenReligion für Atheisten, Zweifler und Gläubige 36

Klaus FarinFreaks für JesusDie etwas anderen Christen 38

INFORMATIONENBÜCHER

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Schachzüge in der Weltanschauungs-arbeit. Es war einer jener seltsamen Zu-fälle: Just an jenem Novembertag, an demdie FAZ im Kontext ihrer Berichterstattungüber die EKD-Synode auch über die Kür-zung der EZW um ein Viertel ihres Perso-nals und ihrer Arbeit informierte, wurde inder Bundespressekonferenz ein neues In-ternetportal zu Weltanschauungsfragen vor-gestellt. Unter www.fowid.de findet mannunmehr ein umfangreiches Datenarchiv„für Journalisten, Forscher, Interessierte“.Hinter fowid steht eine „ForschungsgruppeWeltanschauungen in Deutschland“. Wasman jedoch auf den ersten Blick nicht be-merkt: fowid ist ein Projekt der GiordanoBruno Stiftung in Mastershausen und wirdvon Kirchenkritikern und Freidenkern be-trieben. Es handelt sich also keineswegsum ein unparteiisches Informationsportal,sondern um einen geschickt lanciertenCoup der Freidenker in Sachen Öffent-lichkeitsarbeit. Bei der Präsentation vonfowid in der Bundespressekonferenz hatman diese Hintergründe geflissentlich zuverschleiern versucht. Die Rechnung dürfteaufgehen. Sozialwissenschaftler und Jour-nalisten haben fowid inzwischen entdecktund empfehlen das aufgeräumte Portalweiter. Beim genaueren Hinsehen wirdder freidenkerische Hintergrund von fowiddennoch deutlich: Auch wenn die An-gaben überwiegend verlässlich recher-chiert sind, so ist doch die Auswahl ten-denziös. Geboten wird, was für dieKirchen negativ ist. So kann man mit derWahrheit lügen. Die Giordano Bruno Stiftung hat sich bin-nen weniger Monate zu einer erstaunlichpfiffigen, antikirchlichen Plattform ent-wickelt. Dabei setzt man weniger aufgeistige Auseinandersetzung, als vielmehrauf ein medienwirksames Spektakel. So

hatte man im Umfeld des katholischenWeltjugendtages zu einem „Gegenpro-gramm“ eingeladen, das zwar realiterkaum Beachtung fand, aber immerhin den„Tagesthemen“ einen eigenen Beitrag wertwar. Dass man nicht eben zimperlich ist, be-wies kürzlich der Geschäftsführer der Stif-tung, als er erklärte, dem Christentumkomme unter allen Religionen die Son-derstellung als „dümmste Religion“ zu –und ihren Anhängern, so muss man wohlfolgern, die der beschränktesten: „Chris-ten glauben nicht nur trotz Hitler, Hunger,Haarausfall an die Allgegenwart eines all-mächtigen, allgütigen Gottes. Ihr Gott lei-det zudem auch noch an einer höchst selt-samen multiplen Persönlichkeitsstörung(Dreifaltigkeit), was sich u.a. darin aus-drückt, dass er nach einem ärgerlichenStreit mit seinen Geschöpfen (Sündenfall)zunächst 99,99 Prozent allen Lebens ver-nichtet (Sintflut), dann einen Teil seinerselbst (Gottsohn) von einer antiken Besat-zungsmacht (den Römern) hinrichtenlässt, um mit sich selbst und seiner Schöp-fung wieder im Reinen zu sein (Erlösung).Im Andenken an diese hochgradig psy-chopathologische Erlösungstat feiern dieChristen Woche für Woche ein merkwür-diges Ritual, in dem eigens dazu ausgebil-dete Zeremonienmeister geheimnisvolleZaubersprüche sprechen. Hierdurch wer-den profane Teig-Oblaten in den sich an-scheinend milliardenfach replizierendenLeib des hingerichteten Erlösers verwan-delt, der dann von den Gläubigen so-gleich verspeist wird.“ – Vermutlich gibtes auch für solcherart ironisch verpackteSchmähungen ein Publikum. Um so un-verständlicher, dass die beiden großenKirchen seit Jahren stetig ihre Weltan-schauungsarbeit reduzieren. Die entste-henden Lücken werden die Freidenker ge-wiss gern füllen. Auf ihre Art.

Andreas Fincke

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ZEITGESCHEHEN

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Wenn deutsche Medien über Evangelikalein den USA berichten, wird in der Regelvorausgesetzt, dass Evangelikalismus undchristlicher Fundamentalismus im Wesent-lichen identisch sind. Verwiesen wird da-für auf die seit den 1980er Jahren zu be-obachtende politische Wirksamkeit derBewegung. Viele Evangelikale sind treueAnhänger von George W. Bush. Sie unter-stützten die Republikaner nachweislichim Wahlkampf 2004. Sie üben Einfluss aufdie amerikanische Außenpolitik aus. Vielevon ihnen waren und sind Befürworter desIrak-Krieges. Ihre endzeitlichen Erwartun-gen machten sie zu engagierten Unter-stützern der Siedlerbewegung und einesGroß-Israel-Konzeptes. Sie kämpfen gegenFeminismus, gegen die Evolutionslehre anöffentlichen Schulen, gegen die histo-risch-kritische Bibelforschung, kurz gegendie Moderne. Das Erlebnis der Wiederge-burt als persönliche Heilserfahrung unddie Überzeugung der unbedingten Gel-tung der Heiligen Schrift hat für vielenicht nur Folgen für ihre individuelleLebensführung, sondern beinhaltet politi-sche Optionen. Dies entspricht einer all-gemein verbreiteten Charakteristik funda-mentalistischer Bewegungen: Sie antwor-ten auf die Krise der Moderne mit demBemühen, „auf der Grundlage der heiligenTexte eine neue Gesellschaft aufzu-bauen“.1Der Hang von Teilen des amerikanischenEvangelikalismus zur Verwischung der

Grenze zwischen Religion und Politikkann im Blick auf Europa und Deutsch-land nicht bestätigt werden. EvangelikaleStrömungen gewinnen zwar auch hier zu-nehmend an Bedeutung, allerdings vor-rangig im gemeindlichen und kirchlichenKontext, nicht im politischen. Dabei wirdauch deutlich, dass sich die EvangelikaleBewegung in Deutschland – zu ihr ge-hören nach Angaben der Deutschen Evan-gelischen Allianz ca. 1,3 MillionenChristinnen und Christen hauptsächlichaus evangelischen Landeskirchen undFreikirchen – keineswegs einheitlich dar-stellt. Sie umfasst verschiedene Richtun-gen und reicht vom in den evangelischenLandeskirchen verwurzelten pietistischenGemeinschaftschristentum bis zu enthu-siastischen und separatistischen Gruppen,die in landeskirchlichen Gemeinden „un-biblische Systeme“ sehen. Im Jahr 2004 erschien das Buch „Gott istnicht pragmatisch. Wie Zweckmäßigkeits-denken die Gemeinde zerstört“2. Verfasserist Wilfried Plock, der als „Evangelist undGemeindeberater“ tätig und seit 1995Vorsitzender der Konferenz für Gemein-degründung ist, einer Initiative, in der sichin den letzten Jahren zahlreiche neueGemeinden (freie Brüdergemeinden, freieBaptisten, Biblische Missionsgemeindenetc.) netzwerkartig zusammengeschlossenhaben. Plocks Buch setzt sich kritisch mitin Deutschland populären evangelikalenInitiativen und Trends auseinander. The-

IM BLICKPUNKTReinhard Hempelmann

Sind Evangelikalismus und Fundamentalismus identisch?Helmut Obst zum 65. Geburtstag am 9. Dezember 2005

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matisiert werden u.a. die Gemeindewachs-tumsbewegung, Alpha-Glaubenskurse fürErwachsene, die evangelistische AktionProChrist mit Satellitenübertragung inzahlreiche europäische Länder, das Kon-zept von besucherzentrierten Gottesdiens-ten (Willow Creek), die Bücher des Grün-ders der Saddleback Community Church,Rick Warren, „Kirche mit Vision“ und„Leben mit Vision“, die auch in Deutsch-land intensiv gelesen und als Therapie fürkleiner werdende und missionsmüde Ge-meinden empfohlen werden. Plock hat denEindruck, dass in manchen evangelikalgeprägten Gemeinden Marketingmetho-den mehr Gewicht haben „als die Briefedes Apostels Paulus“.3 Er kritisiert dasZahlen- und Wachstumsfieber, spricht von„verhängnisvollen Veränderungen“, vonProzessen problematischer kultureller An-passung und dem Verzicht evangelikalerGemeinschaftsbildungen darauf, Kontrast-gesellschaft zu sein. „Der Pragmatismusverändert zuerst die ‚Verpackung‘ des Evan-geliums, dann die Botschaft selbst undschließlich die Identität von Gemeinden.“4

Solche Anfragen sollten sich alle, die Kon-zepte und Strategien des Gemeindewachs-tums aufgreifen, gefallen lassen. PlocksEmpfehlungen offenbaren allerdings seineeigene „evangelikal-fundamentalistische“Position. Dem modernen Evangelikalis-mus rät er zum „neutestamentlichen Ge-meindemodell“ zurückzukehren. Er ver-steht darunter die unveränderliche Predigtvon Gottes Heiligkeit. Praktisch bedeutetdies u.a. den Ausschluss von Frauen ausdem Leitungs- und Lehramt für die Ge-meinde. Dass in evangelikalen InitiativenFrauen Leitungs- und Lehrverantwortunginnehaben, sieht er als zentrales Problemund Defizit an. Ihm geht es um die Auf-rechterhaltung patriarchalischer Autoritätin der Gemeinde. Wofür Plock plädiert, isteine Liaison mit dem Zeitgeist vongestern.

In der Außenperspektive lassen sichsowohl Plocks Position wie auch die vonihm kritisch beleuchteten evangelikalenInitiativen unter dem Stichwort Evange-likalismus zusammenfassen. Das Beispielzeigt, wie schwer es ist, von den Evange-likalen zu sprechen. Welche Evangelika-len sind gemeint? Die Bekenntnisbewe-gung „Kein anderes Evangelium“, die sichähnlich wie Plock äußert, oder dieDeutsche Evangelische Allianz, die ProChrist und Willow Creek mit Nach-druck unterstützt? Stellungnahmen zurevangelikalen Bewegung und zum christ-lichen Fundamentalismus erfordern dif-ferenzierende Wahrnehmungen und Urteils-bildungen, insbesondere eine Klärungdessen, was gemeint ist, wenn von Funda-mentalismus bzw. Evangelikalismus gere-det wird.

Fundamentalismus – eine Strömung innerhalb des konservativen Protestantismus

Die augenfälligsten Formen engagierterChristlichkeit finden sich heute in den-jenigen Bereichen des Christentums, dieaufklärungskritisch und konservativ ge-prägt sind. In seiner Berner Abschiedsvor-lesung meinte der reformierte Theologeund Ökumeniker Lukas Fischer: „Der Traditionalismus in allen seinen Formen –Evangelikalismus, Fundamentalismus, In-tegrismus [Mit Letzterem sind fundamen-talistische Ausprägungen innerhalb desKatholizismus gemeint. R. H.] – hatbessere Chancen. Alle Positionen, die miteinem klaren Profil herkommen, könnenvon vornherein mit einem Vorsprung anPlausibilität rechnen und vermögen Men-schen auch zu übergreifenden Projektenzu mobilisieren.“5 Innerhalb der protes-tantischen Landschaft ist unübersehbar,dass sich erwecklich geprägte Strömun-gen, deren Ziel die Wiederentdeckung ur-

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christlicher Missionsdynamik und Ge-meinschaftsbildung ist, überaus schnellund wirksam ausgebreitet haben. Auchder Katholizismus hat durch die Akzep-tanz charismatischer Frömmigkeit protes-tantischem Erweckungschristentum in sichRaum gegeben und eklektisch aufgenom-men. Zwar zeigen sich diese Entwicklun-gen in Afrika, Lateinamerika und Asiendeutlicher als im europäischen Kontext.Sie werden jedoch auch bei uns immermehr erkennbar und verbinden sich mitden Impulsen, die vom Pietismus, der Er-weckungsbewegung und freikirchlichenGemeinschaftsbildungen ausgehen. Wäh-rend noch vor wenigen Jahrzehnten Strö-mungen des konservativen Protestan-tismus von vielen „modernen Theologen“als eine im Wesentlichen vergangene Er-scheinung angesehen wurden, zeigt sichinzwischen, dass es sich hierbei um eindauerhaftes Phänomen handelt. Man wird der Ausbreitung evangelikalerund pfingstlich-charismatischer Strömun-gen nicht gerecht, wenn man diesen Vor-gang mit dem eindeutig negativ besetztenBegriff Fundamentalismus stigmatisiert.Die Konjunktur des Begriffs deutet zwardurchaus auf eine verbreitete Sache hin.Im Kontext pluralistischer Gesellschafts-systeme verstärken die Kompliziertheitund „neue Unübersichtlichkeit“ desLebens die Sehnsucht nach Einfachheitund Klarheit, nach Reduktion von Kom-plexität. Fundamentalistische Strömungenhaben in diesem Umfeld ihre Chancen.Der gegenwärtige Gebrauch des Funda-mentalismusbegriffs reicht weit über denBereich des Religiösen hinaus. Er ist einwichtiges Wort in der Medienöffentlich-keit geworden. Es gibt jedoch berechtig-ten Anlass, differenzierende Begriffsver-wendungen anzumahnen. KonservativeTheologen, Evangelikale, Charismatiker,Pfingstler wehren sich mit Recht dagegen,mit religiösen Fanatikern in einem Atem-

zug genannt zu werden, die vor der An-wendung brutaler Gewalt nicht zurück-schrecken, um ihre religiös-politischen Visionen zu verwirklichen. Es ist wenighilfreich und sowohl in historischer wieauch phänomenologischer Perspektivenicht zutreffend, den christlichen Funda-mentalismus pauschal z.B. mit der evan-gelikalen oder charismatischen Bewegungzu identifizieren, wie dies teilweise ineiner Außenperspektive durch distanzierteBeobachter wie auch in einer Innenper-spektive durch einzelne Repräsentantengeschieht. Christlicher Fundamentalismusmuss auch vom christlichen Konservativis-mus unterschieden werden. ZwischenEvangelikalismus und Fundamentalismusgibt es zwar vielfältige Zusammenhänge,„Übergänge und sich überlappende Grau-zonen“6 – beide Bewegungen sind trans-konfessionell und international orientiert,beide konkretisieren sich in zahlreichenInitiativen und Werken, in beiden sindmodernitätskritische Orientierungen wirk-sam –, der Hauptstrom des Evangelikalis-mus unterscheidet sich jedoch vom Fun-damentalismus. Ein herkömmlicher kirch-lich-theologischer Sprachgebrauch nimmtdiese Selbstunterscheidung auf und be-zeichnet mit fundamentalistisch denjeni-gen Bereich evangelikaler Frömmigkeit,der hinsichtlich des Bibelverständnissesdie Auffassung ihrer wörtlichen Inspiriert-heit mit den Postulaten Unfehlbarkeit undabsolute Irrtumslosigkeit verbindet. (Poin-tiert wird ein solches Bibelverständnis vonder Staatsunabhängigen TheologischenHochschule in Basel und der Freien Theo-logischen Akademie Gießen vertreten.)Freilich bedarf auch eine solche Begriffs-bestimmung weiterer Differenzierungen.So muss etwa unterschieden werden, objemand die christliche Glaubensüberzeu-gung mithilfe eines fundamentalistischenBibelverständnisses zum Ausdruck bringt,sich aber offen und anerkennend in einer

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größeren Gemeinschaft von Christinnenund Christen bewegt und damit auch an-dere theologische Entscheidungen zurBibelfrage gelten lässt, oder ob jemandseinen Glauben derart eng mit einem fun-damentalistischen Bibelverständnis ver-bindet, dass er anderen, nichtfundamen-talistisch geprägten Christen, ihr Christ-sein abspricht.Auch der Rekurs auf die Anfänge der fun-damentalistischen Bewegung in den USAist ein möglicher Weg, vorläufige Begriffs-klärungen herbeizuführen. Um in histori-scher Perspektive von Fundamentalismusim engeren Sinn des Wortes sprechen zukönnen, reicht das Motiv der wörtlichenInspiriertheit und Unfehlbarkeit der Heili-gen Schrift als Definitionskriterium nochnicht aus. Es müssen weitere Motive hin-zukommen: die konservative politischeGesinnung und der Wille, religiös begrün-dete Überzeugungen auch politischdurchsetzen zu wollen. Dazukommenmuss also die Verbindung von Politik undReligion bzw. das Interesse, die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft in Recht,Politik, Ethos, Wissenschaft und Religionim Namen der Religion zurückzunehmen.Der christliche Fundamentalismus in die-sem engeren Sinn stellt in Deutschland,anders als in den USA, keinen hoch orga-nisierten und politisch einflussreichenFaktor dar. Insofern ist es richtig, wennMartin Marty und andere sagen, dassDeutschland zum „fundamentalismus-schwachen Gürtel“ gehöre, „der vonEuropa über Kanada und die nördlichenTeile der Vereinigten Staaten bis nachJapan reicht“7. In Deutschland artikulierensich politisierte Formen des Fundamenta-lismus beispielsweise in christlichenKleinparteien, wie der Partei BibeltreuerChristen (PBC) oder der Christlichen Mitte(CM). Die PBC hat bezeichnenderweiseeinen Vorsitzenden, der aus der Pfingstbe-wegung kommt und wird u.a. von Pfingst-

lern und Charismatikern maßgeblich un-terstützt. Die CM, die vor allem durch ihreanti-islamische Propaganda hervortritt, istin rechtskonservativen katholischen Mi-lieus verwurzelt. Aus allen bisherigenWahlergebnissen wird sichtbar, dass beideParteien politisch einflusslos bleiben. Diese Hinweise bedeuten nicht, dasschristlich-fundamentalistische Orientierun-gen in ihren politischen Implikationen be-deutungslos wären und vernachlässigtwerden können, wie dies die Praxis desHomeschoolings und Plädoyers für dieAufnahme des Kreationismus in Schul-bücher zeigen. Der christliche Fundamen-talismus in seinen protestantischen oderkatholischen Spielarten stellt sich in unse-rem Kontext vor allem als kirchenpoliti-sche, seelsorgerliche und ökumenischeHerausforderung dar.

Das Prinzip der Übertreibung und der Missbrauch von Autorität

Orientiert man die Begriffsbestimmungvon „fundamentalistisch“ nicht primär his-torisch, sondern geht von gegenwärtigenKonflikten und ihrer öffentlichen Diskus-sion aus, so tritt die dunkle Seite christ-licher Erweckungsfrömmigkeit ins Blick-feld. Der Fundamentalismusbegriff dientdann als Bewertungsbegriff für Fehlent-wicklungen christlicher Frömmigkeit.Religiöse Hingabebereitschaft kann aus-genutzt und missbraucht werden,

• die Orientierung an charismatischenFührerpersönlichkeiten kann das Mündig-und Erwachsenwerden im Glauben ver-hindern,• die Berufung auf die Bibel und auf denHeiligen Geist kann funktionalisiert wer-den für ein problematisches Macht- undDominanzstreben,• das gesteigerte Sendungsbewusstseineiner Gruppe kann umschlagen in ein

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elitäres Selbstverständnis, das sich scharfnach außen abgrenzt, im Wesent-lichen von Feindbildern lebt und GottesGeist nur in den eigenen Reihen wirkensieht.

Ein Grundprinzip, das in fundamentalisti-schen Strömungen immer wieder in Er-scheinung tritt, ist das Prinzip der Über-treibung. Einsichten des Glaubens werdenso übertrieben, dass sie das christlicheZeugnis verdunkeln, ja verkehren. Diesbezieht sich zwar zuerst und vor allem aufdas zur Verbalinspirationslehre gesteigerteSchriftprinzip – verbunden mit der An-nahme einer absoluten Unfehlbarkeit derBibel in allen ihren Aussagen –, darüberhinaus aber auch auf andere Ausdrucks-formen und Motive der Frömmigkeit:

• das Motiv des wiederhergestellten ur-christlichen Lebens;• das Motiv der Unmittelbarkeit gött-lichen Handelns; es bedeutet, dass be-anspruchte Gotteserfahrungen einem Pro-zess der Prüfung und möglicher Korrekturnicht unterzogen werden;• das Motiv autoritativer Vor- und Nach-ordnungen (zwischen Eltern und Kindern,Mann und Frau, Pastor und Gemeinde ...),die als Zeichen wahren christlichen Le-bens verstanden und praktiziert werden;• das Versprechen des geheilten und er-folgreichen Lebens;• die Behauptung der Greifbarkeit undLokalisierbarkeit Gottes und der Mächtedes Bösen;• ein weltbildhafter Dualismus, oft ver-bunden mit einem deutlichen Weltpes-simismus. Rettung wird nur der eigenenGruppe zuteil, während die übrige Weltdem erwarteten Untergang anheim fällt;• elitäres Selbst- und Wahrheitsbewusst-sein, Abgrenzung von der Außenwelt; wernicht zur eigenen Gruppe gehört, wird ab-geschrieben.

Die Gewichtung der genannten Motiveergibt sich u.a. daraus, mit welcher Inten-sität sich das zu Grunde liegende Motivder Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift mitihnen verbindet. Aus der Vielfalt mög-licher Ausprägungen des Fundamentalis-mus haben sich insbesondere zwei Ge-stalten ausgebildet, die im Folgendennäher erläutert werden. 8

Wort- und Geistfundamentalismus –streitende Geschwister

Die eine Gestalt nimmt Bezug auf das un-fehlbare Gotteswort in der Bibel (biblizis-tische, literalistisch-legalistische Orientie-rungen), die andere Gestalt sucht undfindet Gewissheit in außergewöhnlichenErfahrungen des Heiligen Geistes (enthu-siastische, pfingstlich-charismatische, pen-tekostale Orientierungen). Biblizismusund Enthusiasmus können gesteigert wer-den und gewinnen dabei die Gestaltenvon Wort- und Geistfundamentalismus.Für beide (!) Gestalten ist charakteristisch,dass sie sich auf die biblische Traditionberufen und dabei von der wörtlichen In-spiriertheit der Bibel ausgehen. Beide Ge-stalten können sich mit bestimmten An-nahmen zur Entstehung der Welt und desMenschen verbinden (Kreationismus),ebenso mit entsprechenden Annahmenvom Ende der Welt (Millennarismus). Imkreationistischen Gedankengut ist derWiderspruch zur Darwinschen Abstam-mungslehre zusammengefasst. In derChicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit derBibel von 1978 heißt es: „Wir verwerfendie Ansicht, dass die Unfehlbarkeit undIrrtumslosigkeit der Bibel auf geistliche,religiöse oder die Erlösung betreffendeThemen beschränkt seien, sich aber nichtauf historische und naturwissenschaftlicheAussagen bezögen.“9

In den millennaristischen Perspektivenund dem Glauben an das Tausendjährige

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Reich (Chiliasmus) artikuliert sich derProtest gegen den Fortschrittsglauben derModerne. Beide Gestalten tendierendazu, wertkonservative und gesetzes-ethische Lebensorientierungen zu vermit-teln. In beiden Gestalten ist die Sehnsuchtnach Rückkehr in urchristliche Verhält-nisse wirksam. Enthusiastische Orien-tierungen machen sich durchweg auchbiblizistische Anliegen zu Eigen. Die Be-rufung auf religiöse Erfahrungen, auf Vi-sionen, auf Worte der Erkenntnis, aufGlossolalie (Zungenrede), auf Heilungs-wunder, auf unmittelbare EingebungenGottes ... sind der enthusiastische Wegzur Aufrichtung von religiöser Autorität.„Wunder, göttliche Krankenheilung, Dä-monenaustreibung, Umfallen, Zittern,Lachen, Ekstase, spontaner Empfang desSprachengebetes, übernatürlich ausge-löster Lobpreis all das sind Phänomene,die sich oft und deutlich in der Bibelfinden lassen. Sie sind biblisch.“10

Beide, Wort- und Geistfundamentalisten,würden den so genannten fünf „funda-mentals“ des christlichen Fundamentalis-mus (Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift,Jungfrauengeburt, Sühnetod, leibliche Auf-erstehung, sichtbare Wiederkunft Christi),wie sie im zweiten Jahrzehnt des 20.Jahrhunderts in den USA formuliert wur-den, zustimmen, ebenso den grundlegen-den Sätzen, die bereits im Vorfeld der Ent-stehung des protestantischen Fundamen-talismus im so genannten „Niagara Creed“festgehalten wurden.11 Der eine leitet dar-aus eine kreationistische Position ab undist daran interessiert, eine alternative Bio-logie und Geologie aufzubauen, dem an-deren liegt an einer christlichen Psycholo-gie oder am Powermanagement in derKraft des Heiligen Geistes. Der in einerbestimmten Dispensationalismuskonzep-tion (mit der Entstehung des Kanons derSchrift ist die Zeit der Wunder zu Ende)begründete Ausschluss der Zeichen und

Wunder für unsere heutige Zeit beruft sichebenso auf die Schrift wie die emphati-sche Forderung, sie heute zur Normalitätder Frömmigkeit werden zu lassen. Geist-und Wortfundamentalismus können alsstreitende Geschwister verstanden wer-den. Da der Geistfundamentalismus sichin nahezu allen Ausprägungen gegenübereinem Wortfundamentalismus inklusivversteht und dessen Anliegen mitvertretenkann, ist hier Streit in grundsätzlicherWeise vorprogrammiert, wofür es in histo-rischer Perspektive wie auch im Blick aufdie gegenwärtige Situation zahlreiche Bei-spiele gibt. Der Geistfundamentalismusbietet alles, was der Wortfundamentalis-mus auch beinhaltet, kennt jedoch dar-über hinaus ergänzende, steigernde Ele-mente.Solche Differenzierungen zeigen, dassdiejenigen Recht haben, die sagen, dassder Kern des christlichen Fundamentalis-mus nicht allein in dem Verständnis derHeiligen Schrift liegt, sondern in einerbesonderen Art der Frömmigkeit, die vonFundamentalisten als die einzig richtigeangesehen wird. „Fundamentalisten sindkeine Buchstaben-Gläubigen oder zumin-dest keine konsequenten. Man könnte da-gegen sagen, dass das Hauptproblem füreinen fundamentalistischen Exegeten inder Entscheidung liegt, welcher Abschnittwörtlich zu nehmen ist und welchernicht.“12 Damit ist auch ein wichtigerHinweis für die Erklärung des Phänomensgegeben, dass die Ausbreitung christlich-fundamentalistischer Bewegungen Handin Hand geht mit ständig neuen Abspal-tungen und Denominationsbildungen.Wenn sich gegenwärtig ein Geistfunda-mentalismus als chancenreicher darstelltals ein reiner Wortfundamentalismus, liegtdas u.a. darin begründet, dass er an Aus-drucksformen der religiösen Alternativkul-tur anknüpfen kann. In der so genannten„Dritten Welt“ hat der Geistfundamenta-

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lismus zusätzliche kulturelle Anknüp-fungsmöglichkeiten.

Anliegen des Evangelikalismus

Die Wurzeln der evangelikalen Bewegungliegen im Pietismus, Methodismus undder Erweckungsbewegung. Vorläufer hatsie in Bibel- und Missionsgesellschaften,in der Bewegung der Christlichen Vereinejunger Männer und Frauen, der Gemein-schaftsbewegung sowie der 1846 gegrün-deten Evangelischen Allianz. Bereits diegeschichtliche Entwicklung belegt, dassder Evangelikalismus an vorfundamenta-listische Strömungen anknüpft und inner-halb der Bewegung ein breites Spektruman Ausprägungen der Frömmigkeit er-kennbar wird.13 Auf der einen Seite stehtdie Heiligungsbewegung, aus der diePfingstfrömmigkeit erwuchs, auf der an-deren Seite steht ein sozial aktiver Typusevangelikaler Frömmigkeit, der Beziehun-gen aufweist zum Social Gospel. Ähnlichweit wird das Spektrum, wenn die gegen-wärtige evangelikale Bewegung in ihrerweltweiten Verbreitung und Verzweigungins Blickfeld kommt. Sie hat in unter-schiedlichen Kontinenten durchaus ver-schiedene Profile. In Europa geht esneben konfessionsübergreifenden missio-narischen und evangelistischen Aktivitä-ten u.a. auch darum, überschaubare Er-gänzungen und Alternativen zu landes-bzw. volkskirchlichen Einrichtungen zuentwickeln. In Südafrika und Südamerikasetzen sich evangelikale Kreise kritischmit ihrer eigenen Tradition auseinanderund sind darum bemüht, Evangelisationund soziale Verantwortung in einen engenZusammenhang zu bringen. Sowohl dieFrömmigkeitsformen wie auch die theolo-gischen Akzente im Schriftverständnis, inden Zukunftserwartungen, im Verständnisvon Kirche und Welt weisen kein ein-heitliches Bild auf. Gleichwohl lassen sich

gemeinsame Anliegen in Theologie undFrömmigkeit benennen.

• Für evangelikale Theologie und Fröm-migkeit charakteristisch ist die Betonungder Notwendigkeit persönlicher Glau-benserfahrung in Buße, Bekehrung/Wiedergeburt und Heiligung sowie dieSuche nach Heils- und Glaubensgewiss-heit.• In Absetzung von der Bibelkritik libera-ler Theologie wird die Geltung der Heili-gen Schrift als höchster Autorität in Glau-bens- und Lebensfragen unterstrichen.Entsprechend der theologischen Hoch-schätzung der Heiligen Schrift ist eineausgeprägte Bibelfrömmigkeit kennzeich-nend.• Als Zentrum der Heiligen Schrift wirdvor allem das Heilswerk Gottes in Kreuzund Auferstehung Jesu Christi gesehen.Der zweite Glaubensartikel wird im theo-logischen Verständnis und in der Fröm-migkeit akzentuiert. Die EinzigartigkeitJesu Christi wird pointiert hervorgehoben.Evangelikale Religionstheologie ist exklu-sivistisch geprägt.• Gebet und Zeugendienst stehen imMittelpunkt der Frömmigkeitspraxis. Ge-meinde bzw. Kirche werden vor allemvon ihrem Evangelisations- und Missions-auftrag her verstanden.• Die Ethik wird vor allem aus den Ord-nungen Gottes und der Erwartung des Reiches Gottes heraus entwickelt.

Mit diesen Akzenten in Theologie undFrömmigkeit ist der personale Aspekt desGlaubens betont, während der sakramen-tale zurücktritt. Das Verhältnis zwischenevangelikaler Bewegung und katholischerKirche gestaltete sich über lange Zeit eherdistanziert. Inzwischen sind von beidenSeiten zahlreiche gemeinsame Anliegenentdeckt worden, keineswegs nur in Fragender individuellen Ethik. Durch seine Mo-

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dernitäts- und Relativismuskritik sprichtPapst Benedikt XVI. vielen Evangelikalenaus dem Herzen. Kristallisationspunkt der Sammlung derEvangelikalen im deutschsprachigen Raumist die Deutsche Evangelische Allianz, diesich zunehmend in Richtung einer evan-gelikalen Allianz entwickelt hat. ZentraleDokumente der Bewegung sind die Allianz-Basis (in Deutschland/Österreichund der Schweiz in unterschiedlichen Fas-sungen) und die Lausanner Verpflichtungvon 1974, die durch das Manila-Manifest(1989) bekräftigt und weitergeführtwurde. Vor allem mit der Lausanner Ver-pflichtung bekam die weit verzweigteevangelikale Bewegung ein wichtigestheologisches Konsensdokument, welcheszeigt, dass sie sich nicht allein aus einerantiökumenischen und antimodernisti-schen Perspektive bestimmen lässt, son-dern in ihr die großen ökumenischen The-men der letzten Jahrzehnte aufgegriffenwerden (z.B. Verbindung von Evangelisa-tion und sozialer Verantwortung, Engage-ment der Laien, Mission und Kultur). ImUnterschied zur ökumenischen Bewe-gung, in der Kirchen miteinander Gemein-schaft suchen und gestalten, steht hinterder evangelikalen Bewegung das Konzepteiner evangelistisch-missionarisch orien-tierten Gesinnungsökumene, in der ekkle-siologische Eigenarten und Themen be-wusst zurückgestellt und im evangelistisch-missionarischen Engagement und Zeugnisder entscheidende Ansatzpunkt gegen-wärtiger ökumenischer Verpflichtung ge-sehen wird. Evangelikalen und pfingst-lich-charismatischen Gruppen geht esnicht um die offizielle Kooperation undGemeinschaft von Kirchen, wie dies inder Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kir-chen (ACK) geschieht, sondern um einetranskonfessionell orientierte Gesinnungs-gemeinschaft auf der Basis gleichartigerGlaubenserfahrungen und -überzeugungen.

Der „Aufbruch der Evangelikalen“14 imdeutschsprachigen Raum konkretisiertsich in zahlreichen missionarischen Aktio-nen, Konferenzen, Gemeindetagen, theo-logischer Forschung (die in den letztenJahren einen deutlichen Kompetenzge-winn verzeichnen kann) und überaus er-folgreichen publizistischen Aktivitäten,die sich z.T. in Parallelstrukturen zu kirch-lichen Initiativen vollziehen. Das Profilder evangelikalen Bewegung in Deutsch-land ist einerseits durch das Gegenüberzur pluralen Volkskirche und Kritik anbestimmten kirchlichen Entwicklungen be-stimmt, andererseits auch durch kons-truktive Kooperation in verschiedenen Ini-tiativen. Erich Geldbach weist darauf hin,dass die evangelikale Bewegung in stei-gendem Maße durch „intellektuelleOffenheit und irenischen Geist“ gekenn-zeichnet ist.15 Diese Einschätzung trifft je-doch nicht gleichermaßen auf alle Aus-drucksformen des Evangelikalismus zu.

Ausprägungen des Evangelikalismus

Auch im deutschsprachigen Kontext wer-den verschiedene Typen und Ausprägun-gen des Evangelikalismus erkennbar, diesich berühren, überschneiden, teilweiseauch deutlich unterscheiden:

➢ Der klassische Typ,der sich in der Evangelischen Allianz (ge-gründet 1846), der Gemeinschaftsbewe-gung und der Lausanner Bewegung kon-kretisiert und vor allem Landeskirchlerund Freikirchler miteinander verbindet.Dieser Strang knüpft an die „vorfunda-mentalistische“ Allianzbewegung an undstellt den Hauptstrom der evangelikalenBewegung dar.

➢ Der fundamentalistische Typ,für den ein Bibelverständnis charakteris-tisch ist, das von der absoluten Irrtums-

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losigkeit (inerrancy) und Unfehlbarkeit(infallibility) der „ganzen Heiligen Schriftin jeder Hinsicht“ ausgeht (vgl. Chicago-Erklärung16). Kennzeichnend ist ebensosein stark auf Abgrenzung gerichteter, op-positioneller Charakter im Verhältnis zurhistorisch-kritischen Bibelforschung, zurEvolutionslehre, zu ethischen Fragen (Ab-treibung, Pornographie, Feminismus etc.).Da ein fundamentalistisches Schriftver-ständnis unterschiedliche Frömmigkeits-formen aus sich heraus entwickeln kann,differenziert sich der fundamentalistischeTyp in verschiedene Richtungen.

➢ Der bekenntnisorientierte Typ,der an die konfessionell orientierte Theo-logie, die altkirchlichen und die reforma-torischen Bekenntnisse anknüpfen möchteund sich in der Bekenntnisbewegung„Kein anderes Evangelium“ und der „Kon-ferenz Bekennender Gemeinschaften“konkretisiert.

➢ Der missionarisch-diakonisch orien-tierte Typ,der die Notwendigkeit einer ganzheit-lichen Evangelisation hervorhebt, in derEvangelisation und soziale Verantwortungin ihrer engen Zusammengehörigkeit ak-zentuiert werden. Dieser Typ ist u.a. in der„Dritten Welt“ bei den „social concernedevangelicals“ verbreitet, im deutsch-sprachigen Raum ist er eher unterreprä-sentiert. Er findet seinen Ausdruck u.a. inProjekten, die an einer Kontextualisierungvon Evangelisation und Mission inter-essiert sind.

➢ Der pfingstlich-charismatische Typ,dessen Merkmal eine auf den HeiligenGeist und die Charismen (u.a. Prophetie,Heilung, Glossolali) bezogene Frömmig-keit ist und der sich seinerseits nochmalsvielfältig ausdifferenziert und mindestensdrei verschiedene Richtungen ausgebildet

hat: innerkirchliche Erneuerungsgruppen,pfingstkirchliche Bewegungen, neocharis-matische Zentren und Missionswerke, diesich als konfessionsunabhängig verstehen,theologisch und in der Frömmigkeits-praxis eine große Nähe zur Pfingstbewe-gung aufweisen.

Zu allen Typen gibt es entsprechendeGruppenbildungen und entsprechendeGrundlagentexte.17 Erst in den letztenJahren ist die Weitläufigkeit der evange-likalen Bewegung auch im deutsch-sprachigen Raum offensichtlich gewor-den, unter anderem durch die Annähe-rung zwischen Evangelikalen und Charis-matikern. Zur ökumenischen Bewegung,wie sie durch den Genfer ÖkumenischenRat der Kirchen (ÖRK) vertreten wird, hatder oben genannte missionarisch-diako-nisch orientierte Typ die größte Affinität,während der fundamentalistische Typ diegrößte Distanz zu ihr hat. In deutlicherSkepsis gegenüber der Ökumene stehenauch der bekenntnisorientierte Typ undder pfingstlich-charismatische Typ, v.a.der nicht konfessionsgebundene Teil dercharismatischen Bewegung und großeBereiche der Pfingstbewegung. Das Selbst-verständnis zahlreicher Gemeinschaftsbil-dungen und Aktionen als „überkonfes-sionell“ oder „interkonfessionell“ kannfalsche Assoziationen wecken. Es sug-geriert ökumenische Weite, dabei geht eseher um ein bestimmtes christliches Profilund weniger um die Anerkennung vonVielfalt. Vor allem dann, wenn Vertreterevangelikaler oder pfingstlich-charismati-scher Bewegungen dazu neigen, ihreGlaubensform absolut zu setzen und nurevangelikal orientierte Gläubige alsChristinnen und Christen anerkennen,provozieren sie Vorbehalte und Unbeha-gen. Die Antwort auf die Frage „Wer istein Christ?“ lässt sich angemessen nichtallein durch Bezugnahme auf eine beson-

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dere Frömmigkeitsform beantworten.Vielmehr ist anzuerkennen, dass es eineVielfalt und Unterschiedlichkeit von au-thentischen christlichen Lebens- undFrömmigkeitsformen gibt.

Fundamentalismus als Gefährdung desEvangelikalismus

Von dem Philosophen Ludwig Wittgen-stein stammt das Diktum „Die Bedeutungeines Wortes ist sein Gebrauch in derSprache“. Fundamentalismus ist imdeutschsprachigen Kontext vor allem einBewertungsbegriff, der auf die Schatten-seiten und Fehlentwicklungen protestan-tischer Erweckungsfrömmigkeit hinweist;er ist eine zentrale Gefährdung des Evan-gelikalismus. Zwar gibt es unverkennbarÜberschneidungen zwischen Fundamen-talismus und Evangelikalismus, eine Gleich-setzung ist jedoch weder historisch nochphänomenologisch gerechtfertigt. In histo-rischer Perspektive war die fundamentalis-tische Bewegung nicht Fortsetzung desEvangelikalismus, sondern ein neues, mo-dernes Phänomen, das „aus einer Ver-engung des evangelikalen Erbes des 18.Jahrhunderts hervorgegangen“18 ist. Auchdie Gründung (1942) der National Associa-tion of Evangelicals (NAE) ist nicht alsWeiterführung des Fundamentalismus unteranderem Namen zu verstehen. Insofernlässt sich eine Identifikation von Evange-likalismus und Fundamentalismus auchim Blick auf die USA historisch nichtrechtfertigen, obgleich sie sich heutedurch die zunehmende Politisierungevangelikaler Strömungen nahe legt.

Verhältnisbestimmung zur reformatorischen Theologie

Fundamentalistische Bewegungen beant-worten die Frage nach christlicher Iden-tität hauptsächlich und primär durch Ab-

grenzung – antipluralistisch, antiherme-neutisch, antifeministisch, antievolutionis-tisch – bei gleichzeitiger Aufrichtungstarker „patriarchalischer“ Autorität. DerEvangelikalismus will stärker positiv ar-beiten und nicht nur negativ auf die mo-derne Gesellschaft reagieren. In beidenStrömungen kommen Aspekte zum Tra-gen, die den Protestantismus von Anfangan bestimmt haben: die Orientierung amWort Gottes (sola scriptura) und die Kon-zentration auf das Elementare und Funda-mentale – das unbedingte Vertrauen aufden einen Gott, der sich in Christus denMenschen zuwendet. Fundamentalismusund Evangelikalismus rezipieren diese An-liegen in je besonderer Weise. Wie ver-schieden die Rezeption erfolgen kann,zeigt die im deutschsprachigen Raum intensiv geführte Debatte über die Frageder Bibeltreue verschiedener evangelika-ler Ausbildungsstätten. Der Fundamentalismus beantwortet dieoffenen Fragen protestantischer Lebens-und Glaubensgestaltung in einer verzer-renden Weise, indem etwa die wahre Aus-legung der Bibel durch ein Verbalinspira-tionsdogma gesichert werden soll. Fak-tisch wird damit die Unverfügbarkeit desgöttlichen Wortes eingeschränkt. Die Frei-heit im Umgang mit der Bibel und der his-torischen Wissenschaft wird verleugnet.Stilfragen werden mit kanonischen Fragenverwechselt. Beide Bewegungen, der christ-liche Fundamentalismus wie der Evange-likalismus, haben von Anfang an den An-spruch erhoben, das Erbe der Reformationtreu zu bewahren, auch und gerade inihrer Auffassung von der Bibel. Im Mittel-punkt theologischer Auseinandersetzungmit ihnen werden insofern immer auchFragen der Bibelauslegung zu stehenhaben. Eine theologische Kritik funda-mentalistischer Strömungen wird deutlichmachen müssen, warum ihre Denkformenund ihre Praxis zentrale Anliegen des

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christlichen Glaubens verfehlen. Bereitsdie so genannten fünf fundamentals, aufdie sich die anfängliche christlich-funda-mentalistische Bewegung bezieht, artiku-lieren in der Themenauswahl das christ-liche Glaubensverständnis reduktionis-tisch. Sie beziehen sich auf das Bibelver-ständnis und das Verständnis Jesu Christi,bringen jedoch nicht die Fülle deschristlichen Glaubens in seiner trinitari-schen Struktur zur Geltung.In der Frage der Begründung der Glau-bensgewissheit differieren reformatori-sches und fundamentalistisches Bibelver-ständnis an einem entscheidenden Punkt.Die reformatorische Theologie verzichtetedarauf, die Verlässlichkeit des göttlichenWortes durch ein Verbalinspirationsdog-ma zu sichern. Ebenso verneinte sie eineprophetische Unmittelbarkeit, die sichvom Wort der Schrift und den äußerenMitteln göttlicher Gnadenmitteilung los-löst und bestand auf der Wortbezogenheitdes Geistwirkens. Gegenüber einemWortfundamentalismus ist hervorzuheben,dass es Gottes heilvolle Nähe in seinemWort nur in gebrochenen und vorläufigenFormen gibt. Die Bibel ist weder in denzentralen reformatorischen Bekenntnis-texten noch in den altkirchlichen Symbo-len Gegenstand des Heilsglaubens. In derBibel lässt sich Gott durch Menschen be-zeugen und spricht durch die fehlerhafteGrammatik menschlicher Sprache. Des-halb gibt es kein beweisbares, kein sicht-bares Wort Gottes. Im christlichen Zeug-nis wird der Unterschied zur Wahrheit,die es bezeugt, gewahrt. Das göttliche

Wort gibt es nicht pur, es verbirgt sich imunzulänglichen Menschenwort und lässtsich darin zugleich finden. Fundamenta-listische Strömungen leugnen solcheSpannungen, sie ersetzen Gewissheit durchSicherheit und lassen sich von einer Voll-kasko-Mentalität beherrschen, die dieWahrheit des Glaubens an den dreieini-gen Gott der Anfechtung entzieht.

Zwischen Fundamentalismus und Relativismus

Das Erstarken evangelikaler und funda-mentalistischer Strömungen deutet daraufhin, dass der Nachweis von Modernitäts-verträglichkeit als Zentrum christlicherIdentitätsbestimmung nicht ausreicht.Zahlreiche Ausdrucksformen von Moder-ne und Postmoderne und kirchliche wietheologische Arrangements mit ihnen sindin die Krise geraten. Aufgabe für eine aufdie Zukunft gerichtete und an den refor-matorischen Bekenntnissen orientierteTheologie und Kirche kann nur sein, fun-damentalistische Ideologisierungen dereigenen Glaubensbasis ebenso zu ver-meiden wie eine Kapitulation vor denDogmen gesteigerter Säkularität, die jedenreligiösen Wahrheitsanspruch unter dasFundamentalismusverdikt stellt. Die christ-lichen Kirchen und Gemeinden können inTreue zum reformatorischen Erbe nureinen Weg zwischen Relativismus undFundamentalismus gehen und ihre Wahr-heits- und Glaubensgewissheit mit Dia-logbereitschaft und Hörfähigkeit ver-binden.

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Anmerkungen

1 Gilles Kepel, Die Rache Gottes, München 1991,271.

2 Wilfried Plock, Gott ist nicht pragmatisch, Oerling-hausen 2004.

3 A.a.O., 56.4 A.a.O., 128.5 Lukas Vischer, Wachsende Gemeinschaft – die öku-

menische Bewegung zwischen Illusion und Hoff-nung, in: Evangelische Theologie 53 (1993), 186f.

6 Erich Geldbach, Art. Evangelikale Bewegung, in:Lexikon neureligiöser Gruppen, Szenen undWeltanschauungen, Freiburg i.Br. 2005, Sp. 338.

7 Martin Marty / R. Scott Appleby, HerausforderungFundamentalismus. Radikale Christen, Moslemsund Juden im Kampf gegen die Moderne, Frankfurta. M. 1996, 214.

8 Vgl. dazu Martin Riesebroth, Die Rückkehr der Reli-gionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kul-turen“, München 2000, v.a. 97ff.

9 Der Text der Chicago-Erklärung ist abgedruckt in:Reinhard Hempelmann (Hg.), Handbuch der Evan-gelistisch-missionarischen Werke, Einrichtungenund Gemeinden, Stuttgart 1997, 372.

10 Martin Benz, Wenn der Geist fällt, Metzingen 1995,49.

11 Der Text findet sich bei Ernest R. Sandeen, TheRoots of Fundamentalism. British and AmericanMillenarism 1800-1830, Chicago 1970, 273. Imsog. Niagara Creed (einer bekenntnisartigen For-mulierung der Niagara-Konferenz 1878) heißt es:„Wir glauben, ‚daß die gesamte Schrift durch Inspi-ration von Gott eingegeben ist‘ / 2. Tim 3, 16 /. Wirverstehen darunter das ganze Buch, genannt dieBibel. Wir bekennen dieses nicht in dem Sinne, wieman zuweilen törichterweise sagt, daß Werkemenschlichen Geistes inspiriert seien, sondern indem Sinne, daß der Heilige Geist vor alters denheiligen Männern die genauen Wörter der heiligenSchriften eingab, und daß seine heilige Inspiration

nicht in unterschiedlichen Abstufungen erfolgtesondern in völliger Gleichheit und Fülle in allenTeilen dieser Schriften, den historischen, poetischen,lehrhaften und prophetischen, und auch das kleins-te Wort betrifft, selbst die grammatische Flexion desWortes, vorausgesetzt daß dieses Wort in den Ori-ginalmanuskripten enthalten ist.“ Vgl. dazu auchHubert Kirchner, Wort Gottes, Schrift und Tradition,Göttingen 1998, 52.

12 James Barr, Fundamentalismus, München 1981, 77.13 Vgl. zum Folgenden: Erich Geldbach, Art. Evange-

likale Bewegungen, in: EKL Bd. I, Sp. 1186-1191;ders., Art. Evangelikale Bewegung, in: Lexikonneureligiöser Gruppen, Szenen und Weltanschau-ungen, Sp. 338-344 (dort weitere Literatur); Fried-helm Jung, Die deutsche Evangelikale Bewegung –Grundlinien ihrer Geschichte und Theologie, Frank-furt a. M. 1992; Alister McGrath, Evangelicalismand the Future of Christianity, London 1993; DerekTidball, Reizwort Evangelikal. Entwicklung einerFrömmigkeitsbewegung, Stuttgart 1999.

14 Vgl. dazu Fritz Laubach, Der Aufbruch der Evange-likalen, Wuppertal 1972.

15 Erich Geldbach, a.a.O., 338.16 Vgl. die Chicago-Erklärung, abgedruckt in: Rein-

hard Hempelmann (Hg.), Handbuch der Evangelis-tisch-missionarischen Werke, Einrichtungen undGemeinden, 370ff.

17 Einzelne Grundlagentexte finden sich im Anhangdes Handbuches der Evangelistisch-missionarischenWerke, Einrichtungen und Gemeinden, 349-382.Zu dem bekenntnisorientierten Typ des Evange-likalismus siehe: Weg und Zeugnis. Dokumenteund Texte der Bekenntnisgemeinschaften. Kirch-liche Zeitgeschichte 1980-1995 hg. von der Be-kenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“,Lahr 1998.

18 Erich Geldbach, Protestantischer Fundamentalismusin den USA und Deutschland, Münster u.a. 2001, 89.

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Die Katholische Akademie Bayern und dasCouncil on Public Policy, ein Think Tankamerikanischer und deutscher Wissen-schaftler und Politiker, organisierte vom 3. bis 4. November 2005 in München eineKonferenz unter dem Titel „ReligiösesAmerika – Säkulares Deutschland“. DieKonferenz war verknüpft mit einer ähn-lichen Tagung, die in derselben Woche inNew York stattfand und einem vielbe-achteten Vortrag, den die designierte Bun-deskanzlerin Angela Merkel am Abend vorTagungsbeginn vor über 900 ange-meldeten Zuhörern über die Werte Euro-pas gehalten hatte. Was macht die Hauptunterschiede zwi-schen den USA und Europa in SachenReligion aus? Der Bayreuther SoziologeMichael Zöller, einer der Mitorganisato-ren der Tagung, betonte in seinem ein-führenden Vortrag, in den USA sei derProzess der Säkularisierung sehr viellangsamer und nachhaltiger verlaufen alsin Europa. Das habe bewirkt, dass sichdas Verhältnis zwischen der Aufklärungs-philosophie und Religion nicht so konflikt-reich gestaltet habe wie in Europa. Denamerikanischen christlichen Denomina-tionen sei es immer gelungen, politischeund kulturelle Strömungen mit zu beein-flussen, ohne zu deren Opfer zu werden.Die Denominationen schafften es, in allendie amerikanische Gesellschaft prägendenKonflikten – von der Abschaffung derSklaverei bis zur affirmative action, die

Minderheiten gleiche Rechte an Schulenund Universitäten einräumen sollte – einegestaltende Rolle zu spielen.Alan Mittleman (New York) bezweifelteMax Webers These, wonach Modernisie-rungs- und Säkularisierungsprozesse un-löslich miteinander verknüpft seien. So-wohl in Europa als auch in den USAwerde die Modernisierung nicht zu einemUntergang der Religionen führen. Dieseszeige sich an einer intensiven Auseinan-dersetzung über den Islam, die gegenwär-tig die USA präge und die nach dem11. September 2001 mit großer Heftigkeitaufgebrochen sei. Joshua Mitchell (Washington, D.C.) er-klärte die Besonderheiten der amerikani-schen Religionskultur aus ihrer Geschichte:Schon aus den Reflexionen des Amerika-Beobachters Alexis de Tocqueville gehehervor, wie Religion in den USA als kom-munitaristisches Gegengewicht gegen denEinsamkeitsindividualismus der liberalenTradition verstanden werden müsse. Michael Novak (Washington, D.C.) dif-ferenzierte das komplexe Verhältnis zwi-schen Religiosität und Säkularität in denUSA: Er sprach davon, wie sich ein „prak-tischer Säkularismus“ auch in den Reli-gionskulturen der Denominationen breitmacht. Er betonte gleichzeitig den starkenEinfluss der biblischen Religionen auf diepolitische Kultur und entwickelte dies amLeitfaden des Freiheitsbegriffs. Entschei-dend für die amerikanische politische Kul-

Wolfgang Vögele, Berlin

Religiöses Amerika – Säkulares Deutschland? Eine Tagung in der Katholischen Akademie Bayern in Münchenvom 3. – 4. 11. 2005

BERICHTE

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tur sei der in christlich-jüdischer Traditionzu denkende Ruf in die Freiheit – und da-raus folgend die Antwort des Menschen inGehorsam oder Ungehorsam. Damit er-gab sich für Novak eine spannende, auf-einander aufbauende Stufenfolge: Freiheitsetze eine (demokratische) Republik vor-aus. Eine Republik setze bestimmte Habi-tusformen politischer Kultur voraus. UndReligion wiederum sei die Voraussetzungsolcher Habitusformen, Einstellungen undMentalitäten. In der folgenden Diskussionstellte ein amerikanischer Beobachter einenwichtigen Zusammenhang zwischen Reli-gion und Sozialstaat heraus. Wenn esrichtig sei, Religion als den Versuch zudenken, mit den Kontingenzen und demChaos des Lebens umzugehen, dann seivielleicht deshalb in den USA der Reli-gionsbedarf größer als in den europäischenStaaten, weil in den USA der (materielle)Kontingenzen ausgleichende Sozialstaatbei weitem nicht so stark ausgebildet sei. Der Politologe William Galston (Univer-sity of Maryland) konnte dieses Bildweiter differenzieren. Seine entscheiden-den Thesen lauteten: Der Einfluss desamerikanischen Mainstream Protestantis-mus auf die Politik nimmt ab. Nicht dieDifferenzen zwischen Protestantismus, Ju-dentum und katholischer Kirche sind fürdie USA entscheidend, sondern die Kon-troversen zwischen konservativen und li-beralen Kräften innerhalb dieser Religio-nen und Denominationen. Strittig istdabei die Rolle der Religion in der Politik,das Politikverständnis einer liberalenDemokratie und die Pluralität innerhalbder eigenen Religion.Durch diese Vorträge amerikanischer Ex-perten kristallisierte sich langsam undstetig ein deutlicheres Bild der ameri-kanischen religiösen Kultur heraus: Dereuropäische Blick, der in den USA vorallem die Vorherrschaft politisch einfluss-

reicher evangelikaler Fundamentalistenam Werk sieht, reicht zu kurz. Ihm fehlt esan Tiefenschärfe. Was bedeutet das aber im Vergleich zurdeutschen und europäischen Religions-kultur? Der Publizist Otto Kallscheuer(Berlin) stellte die Frage: Stehen die USAals Musterland des religiösen Pluralismusmit den etablierten Instituten von Reli-gionsfreiheit, liberaler Öffentlichkeit undGewaltenteilung gegen die europäischenNationen, die durch Volksparteien, Volks-kirchen, damit verbundene konfessionelleMilieus und das Sozialstaatsprinzip stär-ker auf Konsens und Homogenität aus-gerichtet sind? Kallscheuer sah in seinerDiagnose eine Krise der (relativen) euro-päischen Religionshomogenität herauf-ziehen: In ihr zerbrechen konfessionelleMilieus, sozialstaatliche Strukturen lösensich auf und haben damit langfristig auchauf die Religionsgemeinschaften Auswir-kungen. Er beobachtete eine große Paral-lelität zwischen der Krise des Sozialstaats,der Krise der Volksparteien und der Kriseder Volkskirchen. Wie auch immer mandiese These beurteilen mag: Diese Krise istspezifisch europäisch, dafür lässt sich inder amerikanischen politischen Kulturkeine Parallele finden. Kallscheuers Vortrag leitete zu Frageper-spektiven über, die sich dem Vergleich europäischer und amerikanischer Reli-gionskultur widmeten. Der Schlusstag derTagung war darum von der Diskussionüber das Konzept der Zivilreligion geprägt.Die in Deutschland von Hermann Lübbeund in den USA von Robert Bellah aufge-worfene Frage nach religiösen Beständender politischen Kultur, die jenseits konfes-sioneller Prägungen gelten, fand zwar inden letzten Jahren weniger Aufmerksam-keit als noch in den 70er und 80er Jahrendes letzten Jahrhunderts, aber sie taugtimmer noch als Leitfrage, um die Beson-derheiten des Verhältnisses von politi-

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scher Kultur und Religionen herauszuar-beiten. Lübbe selbst war ja in der deutschsprachi-gen soziologischen Diskussion dadurchhervorgetreten, dass er als einer der erstender These energisch widersprochen hatte,dass mit fortschreitender Säkularisierungalle Religionen zum Untergang verdammtseien. Dagegen gäbe es einen Bestandvon Religion, der trotz Aufklärung undSäkularisierung weiterhin Bestand habe.Diese These hat sich bestätigt, nicht nur, was amerikanische und europäischeVerhältnisse angeht. Damit stellen sich allerdings besondere Fragen nachdem Verhältnis von Religionsfreiheit undpolitischer Kultur, nach dem Verhältnisvon Mehrheits- und Minderheitsreli-gionen, nach der Aufgabe von Kirchenund Religionen und ihrem kritischen wie konstruktiven Beitrag für die Rechts-kultur eines demokratischen Verfassungs-staats.In diesem Kontext ist die Frage nach derZivilreligion angesiedelt. Dabei ist esmöglich, sich positiv und kritisch auf die-ses Konzept zu beziehen. Der Staats-rechtler Christian Hillgruber (Bonn) be-vorzugte gegenüber dem Konzept derZivilreligion die Besonderheiten deut-schen Staatskirchenrechts. Der Staat ver-steht sich danach als weltanschaulich-neutral. Er trifft nur die eine Vorausset-zung, dass jedes menschliche Dasein sinn-voll und würdig ist. Diese Voraussetzungerkennt er im Prinzip der Menschenwürde(Art. 1 Grundgesetz) an. Eine Begründungfür diese Menschenwürde kann der Staatnicht bieten, dafür braucht er die Religio-nen, vorzugsweise das Christentum. Diechristlichen Kirchen stellen für Hillgrubertheologische und darum begründendeAuslegungen der „nicht-interpretiertenThese“ (Theodor Heuss) der Menschen-würde bereit. Insofern leiste das Christen-tum in Gestalt der katholischen und evan-

gelischen Kirche einen Beitrag zu den Vor-aussetzungen des Staates, die dieser nachder bekannten These Ernst WolfgangBöckenfördes selbst nicht garantierenkann. Am Ende bleibt die Frage: Kann dieamerikanische Konstellation aus konsen-sueller Zivilreligion und differenzierenderReligionsfreiheit besser mit Menschen un-terschiedlichen Glaubens zurechtkom-men als die deutsche Option, die sich ausStaatskirchenrecht, Bekenntnis zu Men-schenwürde und Menschenrechten sowieweltanschaulicher Neutralität des Staatesaufbaut? Deutlich wurde bei der Tagung, dass diedeutsche wie die amerikanische politischeKultur dieselben Probleme zu lösenhaben: Wie können Menschen ver-schiedener Religionen möglichst konflikt-frei zusammenleben und unterschiedlichepolitische Interessen in gemeinsamen Kom-promissen lösen? Wie kann das bleibendeVorhandensein religiöser Interessen, Ein-stellungen und Überzeugungen in einerpluralen, liberalen Öffentlichkeit seinenadäquaten Ausdruck finden? Auch das zeigte die Tagung: Eine ganzeReihe wichtiger politischer Fragen, vomEU-Beitritt der Türkei über den Werte-Un-terricht in Berlin bis zur Frage nach einemGottesbezug in der Präambel der euro-päischen Verfassung sind ohne ihre reli-giöse Grundierung und das dabei mit-schwingende komplexe Verhältnis vonReligion, Recht, Politik und Kultur nichtzu lösen.

Nachbemerkung: Die Katholische Aka-demie in Bayern plant, die Vorträge derKonferenz in Auszügen in der nächstenNummer ihrer Hauszeitschrift „zur de-batte“ zu publizieren. Die Zeitschrift kannleicht über die website der Akademie(http://www.kath-akademie-bayern.de) be-stellt werden.

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I. Ihre Besonderheiten

In der Welt der deutschsprachigenBibelübersetzungen ist die Neue-Welt-Übersetzung (NWÜ) – in der englischenAusgabe: New World Bible Translation(NWBT) – ein Sonderfall. Im Folgenden sollherausgearbeitet werden, warum dies so ist.

Ihre erste Besonderheit:Obwohl es darüber keine Statistik gibt,wird die NWÜ in Privathaushalten anzu-treffen sein, egal, ob die Familie evange-lisch oder katholisch oder sonst etwas ist.Bei Zeugen Jehovas (ZJ) aber nimmt sienatürlich den „ersten Platz“ ein, denn sieverdankt ihre Entstehung der persönlichenInitiative des früheren Präsidenten derWachtturm-Gesellschaft, Nathan HomerKnorr (1905-1977). Die starke Verbreitungder NWÜ ist eine der Wirkungen der mis-sionarischen Tätigkeiten der ZJ, vor allemihrer Hausbesuche.

Die zweite Besonderheit:Die NWÜ gibt es nicht nur in Deutsch,sondern auch in anderen Sprachen. Manhat vermutet, dass sie in fast allen Sprachenerschienen sei, in die „Der Wachtturm“und „Erwachet!“, die beiden Periodika derZJ, übersetzt werden. Das ist nicht der Fall.„Der Wachtturm“ erschien im Jahre 2005in 151 Sprachen; „Erwachet!“ in 82Sprachen. Die NWBT aber wurde bis 2002– ganz oder teilweise – in 40 Sprachenübersetzt (lt. Wachtturm vom 15.9.2002,29). Ihr erster Teil, den wir das Neue Testa-ment nennen, erschien im August 1950.Die Zeugen Jehovas sprechen stattdessen

von den „Christlichen GriechischenSchriften“.

Eine dritte Besonderheit der NWÜ, dienicht nur in sprachlicher, sondern für unsals Christen vor allem in theologischerHinsicht fragwürdig erscheint: Die Gottes-bezeichnung „Jehova“, die bekanntlich inGlauben und Verkündigung der ZJ als vor-rangig gilt, wurde nicht nur im Alten Testa-ment, sondern darüber hinaus 237-mal imHaupttext des Neuen Testaments verwen-det. Über diese Eintragung einer dogmati-schen Besonderheit der ZJ ins Neue Testa-ment wird im letzten Teil dieses Beitragsausführlicher zu sprechen sein. Aber, sokönnte jemand sagen, wenn die ZJ denLeuten eine Bibel bringen, dann haben siedoch Anteil an der Bibelverbreitung in derWelt. Die Art und Weise der Übersetzungsei ja wohl Geschmackssache.

Nun ist aber mit der Verbreitung der NWÜein handfestes inhaltliches Problem gege-ben. Wie kann die NWÜ weltweit verbrei-tet sein, wenn doch im Wesentlichen nurin Deutschland und einigen Nachbarlän-dern deutsch gesprochen wird? Hier ist aufeine vierte, eine entscheidende Besonder-heit hinzuweisen: Bei der NWÜ, die die ZJin den verschiedenen Sprachen verbreiten,handelt es sich immer um Tochterüberset-zungen der englischen Vorlage, der NewWorld Bible Translation (NWBT). Ob mannun eine ZJ-Bibel auf Französisch oderSchwedisch, Spanisch oder Portugiesischliest, es ist immer eine Tochterübersetzungder englischen Ausgabe! Schlimmer noch:die aus den Reihen der ZJ stammenden

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Dietrich Hellmund, Hamburg

Die „Neue-Welt-Übersetzung“ – die Bibel der Zeugen Jehovas

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Übersetzer sind verpflichtet, nicht etwaden griechischen bzw. den hebräischenGrundtext der Bibel für ihre Arbeit zu-grunde zu legen, sondern ausschließlichdie NWBT. Dieser englische Text ist für siesozusagen der „Urtext“. Eine Kontrolledieser „Übersetzungen“ erfolgt nur durchdas Kollektiv derer, die zum Überset-zungskomitee gehören und die daraufachten, ob der englische Wortlaut auchrichtig wiedergegeben wurde. Und esmuss in die sektentypische Spezialspracheübersetzt werden. Diese hat sich längst beiden ZJ herausgebildet. Beispiele werden wir noch nennen. Hierschon einmal zwei typische Beispiele: 1.) Wenn durchgehend das griechischeWort „charis“ mit „unverdiente Güte“ stattmit „Gnade“ übersetzt wird, so finde ichdas sehr gelungen. 2.) Wenn aber dasgriechische Wort „kolasis“ (Strafe, Züchti-gung) mit dem Begriff „Abschneidung“wiedergegeben wird, dann ist das nichtnur deswegen seltsam, weil der DUDEN,das maßgebliche deutsche Wörterbuch(Aufl. 1996) diesen Begriff nicht kennt.Wenn aber Matthäus 25,46 „ewige Kola-sis“ nicht mit „ewiger Strafe“, sondern mit„ewiger Abschneidung“ übersetzt wurde,dann hat das dogmatische Gründe: Nachder ZJ-Lehre gibt es keine „ewige Strafe“nach dem Tode, sondern nur totale Ver-nichtung, kein Bewusstsein mehr, nurewigen Tod. „Ewige Strafe“ würde aus ZJ-Sicht einer ewigen Höllenqual gleichkom-men. Die aber gibt es nicht, sagt die ZJ-Lehre. Um also den einfachen ZJ nicht auf„falsche Gedanken“ zu bringen, wird be-wusst falsch und irreführend übersetzt.Hier wird etwas in die Bibel hineingetra-gen mittels einer angeblichen Überset-zung. So entstand eine „frisierte“ Bibel mitdem Ziel der Indoktrination. Natürlichwird den ZJ gesagt: „die Andern“ übersetz-ten nicht richtig; der Einzelne kann es ja inaller Regel nicht nachprüfen.

Weitere Beispiele für solche Eintragungder ZJ-Glaubenslehre in die NWBT gibt esmassenhaft. Wenigstens einige werde ichnoch vorstellen, wenn ich einiges über dieQualifikation dieser fälschlich sogenann-ten Bibelübersetzung sage.Lässt sich jemand auf ein Gespräch mit ZJein, so trifft er früher oder später auch aufdie NWÜ und deren Einschätzung als (1.)die beste – weil „richtige“ – Übersetzung.Und sie sei (2.) verständlich, denn siespreche die Sprache unserer Zeit. Ist dieserdoppelte Anspruch stichhaltig? Um beimLetzten zu beginnen: Handelt es sich wirk-lich um verständliche Sprache, wenn 1.Mose 1,20 nach der NWÜ lautet: „DieWasser sollen ein Gewimmel lebenderSeelen hervorwimmeln und fliegende Ge-schöpfe mögen an der Vorderseite an derAusdehnung der Himmel über der Erdefliegen“? Oder wenn es Joh 1,18 heißt:„Der einziggezeugte Gott, der am Busen-platz des Vaters ist, der hat über ihn Auf-schluss gegeben“? Oder wenn die bekann-ten Worte des auferstandenen Jesus „Ichbin bei euch alle Tage bis ans Ende derWelt“ in der NWÜ lauten: „...bis zum Ab-schluss des Systems der Dinge“ (Matth28,20)? Man fragt sich doch, was daranverständlicher sein soll, als der uns ver-traute Text der Luther-Übersetzung. – Übri-gens: das Wort „System“ kommt aus demGriechischen. Schon die Schreiber desNeuen Testaments hätten es also verwen-den können. Sie taten es nicht! Solltenheutige Übersetzer nicht ihren Willen re-spektieren?Die Urheber der NWÜ aber hatten auchhier ein lehrmäßiges Interesse daran, imNT nicht vom „Ende der Welt“ zu lesen.Nach ZJ-Lehre ist es nicht die Welt, die un-tergeht, sondern nur das ungerechtegegenwärtige System. Darum steht es so inder NWÜ!In der Geschichte der deutschsprachigenBibelübersetzungen hat es in der Germa-

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nenmission schon einmal den Fall ge-geben, dass eine Bibel für Missionszweckebewusst tendenziös übersetzt wurde.Diese Übersetzung ist der „Heliand“.Doch zurück zur NWÜ – 1. Vorzug: kor-rekte Übersetzung: Dazu bedarf es natür-lich genauer Kenntnis der Sprachen.

II. Wie steht es mit der fachlichen Kompetenz der Übersetzerteams?

1. Wurden textkritische Erkenntnisse berücksichtigt?

In einer früheren Besprechung der NWÜ(in Nr. 23/24 der Zeitschrift „Brücke zumMenschen“) habe ich der Verarbeitungtextkritischer Einsichten ein hohes Lobausgestellt. – Die Textkritik geht der Fragenach: Welchen Text haben vermutlich dieVerfasser biblischer Schriften geschrieben?Was sagen die ältesten und deshalb zuver-lässigsten Bibelhandschriften? – Darübersind die Wachtturm-Führer informiert, wieder diesbezügliche Stoff für die „theo-kratische Predigtdienstschule“ der ZJ zeigt.Deshalb bleibe ich bei meinem, vor 30Jahren ausgesprochenen Lob. Allerdingsnahm ich damals an, dass die Übersetzerins Englische wenigstens den hebräischen(bzw. aramäischen) und griechischen Ur-text in der jeweils aktuellen wissen-schaftlichen Urtextausgabe zur Verfügunghatten und auswerten konnten. (Es gibt javor allem im neutestamentlichen Bereichimmer wieder neue Funde von biblischenHandschriften und Papyrusresten.) DieseIllusion über die Urtextkenntnis des Neue-Welt-Übersetzungskomitees habe ichheute nicht mehr.

2. Kannte das Übersetzerteam die biblischen Ursprachen?

In diesem knapp zehn Leute umfassendenGremium war der damalige Vizepräsident

der Wachtturm-Gesellschaft, „Freddy“Franz, der einzige, der überhaupt Kennt-nisse der Urtextsprachen Griechisch undHebräisch für sich in Anspruch nahm, wasihm dann auch bei Diskussionen über Sinnund Wortlaut des Urtextes einen über-ragenden Einfluss verschaffte. Denn dieanderen „Übersetzer“ kannten die altenSprachen nicht. Was jedoch von dem Können des einzigenKenners alter Sprachen zu halten ist –dafür gab sich „Freddy“ Franz aus – wurdein einem Prozess vor dem SchottischenGerichtshof im November 1954 deutlich.Da stand er nämlich in einem Kreuzverhörund musste Fragen des Anwalts derGegenseite beantworten. Hier die Über-setzung des aufschlussreichen Dialogs:„Frage: Sie haben sich also mit Hebräischvertraut gemacht?Antwort: Ja ...Frage: So dass Sie einen wirklichen lin-guistischen Apparat zu Ihrer Verfügunghaben?Antwort: Ja, für den Gebrauch meiner Ar-beit an der Bibel.Frage: Ich denke, Sie sind in der Lage, dieBibel in Hebräisch, Griechisch, Latein,Spanisch, Portugiesisch, Deutsch und Eng-lisch zu lesen und ihrem Gedankengangzu folgen?Antwort: Ja ...Frage: Sie selber lesen und sprechen He-bräisch, nicht wahr?Antwort: Ich spreche nicht Hebräisch.Frage: Nein?Antwort: Nein.Frage: Können Sie dies ins Hebräischeübersetzen?Antwort: Was?Frage: Diesen vierten Vers aus demzweiten Kapitel des Buches Genesis?Antwort: Sie meinen diesen hier?Frage: Ja?Antwort: Nein. Ich möchte nicht ver-suchen, das zu tun.“1

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„Freddy“ Franz scheiterte an einervergleichsweise leichten Aufgabe. Wie aberkann man sich dann an die schwierigeAufgabe der Übersetzung der ganzenBibel heranwagen? Ganz einfach: die„Übersetzer“ nahmen vorhandene Bibel-übersetzungen in englischer Sprache, ver-glichen sie und wählten einen eigenenWortlaut, der ihnen zusagte. War jedochder Sinn einer Stelle unklar, zweideutigoder widersprüchlich schon in der Origi-nalfassung, gab es in der Bibliothek derWachtturm-Gesellschaft wissenschaftlicheoder populäre Kommentare. Die benutzteman als Entscheidungshilfe, natürlichohne den eigenen Anhängern etwas davonzu sagen oder Quellenhinweise in denEinleitungen zur NWBT oder im Wacht-turm zu geben.2

3. Eine Zwischenbilanz

Was nach den bisherigen Ausführungenvon der NWÜ zu halten ist, sei in drei The-sen festgestellt:

• Die NWÜ ist nicht das Ergebnisfachkundiger Übersetzung aus den Ur-sprachen, sondern es wurde ohne nen-nenswerte Urtextkenntnis aus X Bibelüber-setzungen eine neue gemacht.

• Das Bearbeitungsteam hat das auf dieseWeise erzielte Ergebnis mit der zur Zeitvertretenen Glaubenslehre der Wacht-turm-Gesellschaft verglichen und ihr weit-gehend angepasst. Mit anderen Worten:Man hat die eigene Glaubenslehre so starkberücksichtigt, dass der biblische Wortlautund Wortsinn bestenfalls „zweiter Sieger“wurde.

• Die so entstandene englische „Mut-terübersetzung“ wurde in der Folgezeit inviele andere Sprachen übersetzt, auch insDeutsche, und so kamen wir zu „unserer“

NWÜ. (Näheres dazu ist von mir eingangsunter „die vierte, entscheidende Besonder-heit“ bereits ausgeführt.)

Es sei dem Leser und der Leserin über-lassen, darüber zu entscheiden, ob dasganze Verfahren noch als seriös geltenkann. Gleichwohl hat die NWÜ auchkleine Vorteile:

III. Vor- und Nachteile der ZJ-Bibel

Vorteilhaft für den Leser ist es beispiels-weise, dass die NWÜ auf spätere – meistmittelalterliche – Texterweiterungenaufmerksam macht. Die hat das Team auf-grund der Befunde der englischen Bibel-übersetzungen und Kommentare nicht inder NWÜ wiederholt, sondern ausge-merzt. Dafür zwei Beispiele:

• Bei Apostelgeschichte 8,37 handelt essich um eine spätere Hinzufügung zum ur-sprünglichen Text der Apostelgeschichte.Die NWÜ deutet dies an durch einenwaagerechten Strich hinter der 37.

• Markus 16,8 bricht der echte Markustextab. Spätere Abschreiber wollten ergänzen,was als Schluss ihrer Ansicht nach nochfolgen müsste. Die NWÜ hat zwei derar-tige Ergänzungen abgedruckt, einen„kurzen Schluss“ und einen „langenSchluss“. So bleibt erkennbar: Markus16,8 endet der ursprüngliche, der „echte“Markustext. Gut so!

Jedem Übersetzer, jedem Übersetzerteamsei zugestanden, dass man an gewissenStellen der Bibel nicht umhin kann, nacheigenem Bibelverständnis und eigenemGlaubensurteil zu übersetzen. Ein Bei-spiel: Luk 23,43 übersetzt die NWÜ:„Wahrlich, ich sage dir heute: Du wirst mitmir im Paradies sein.“ Aus dem dogma-tisch entgegengesetzten Grund kann je-

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mand genauso richtig das „heute“ in denNachsatz ziehen: „... du wirst heute mitmir im Paradiese sein“. Vom biblischenWortlaut her ist beides möglich und er-laubt. Von der Logik her aber ist in der ZJ-Übersetzung das „heute“ überflüssig. Ichsage ja auch nicht: Heute sage ich dir:„Guten Morgen!“.Empfehlenswert ist, wenn man – wie in derNWÜ geschehen – das Gebot 2. Mose20,13 übersetzt: „Du sollst nicht morden“(statt „nicht töten“). Das ist genauer als deruns vertraute Luthertext. Dies Ermessendes Übersetzers ist jedoch deutlich über-schritten, wenn 1. Joh 5,8 in der NWÜ we-gen der Ablehnung der Dreieinigkeitslehrelautet: „Diese drei sind in Übereinstim-mung“. Das Wort kommt im Urtext garnicht vor. Im Deutschen wäre es ein be-kanntes Fremdwort: „Harmonie“. Wasaber wirklich dasteht, war dem Überset-zerteam sehr lästig. Sprachlich ist es ohneSchwierigkeit, obwohl es aus Zahlwörternbesteht: „Die Drei sind zum einen“ (hoitreis eis to hen eisin). Oder: Die 3 sind 1.Eine weitere Korrektur durch Interpretationerlitt Markus 14,22: „Das ist mein Leib“.Luthers Text, wörtlich und richtig, lässtseinem und dem symbolischen Verständ-nis Raum und fordert das eigene Urteil desLesers heraus. Die NWÜ sagt hier: „Diesbedeutet meinen Leib“. Gespräche mit ZJnur über diese Stelle zeigen mir, dass dieNWÜ-Benutzer zu ganz abenteuerlichenVorstellungen darüber kommen, was tat-sächlich dasteht: Tuto estin to soma mu.Das kann man in der von der Wachtturm-Gesellschaft herausgegebenen Urtextaus-gabe, einer Wort-für-Wort-Übersetzung,auch so nachlesen: „This is the body ofme“! (The Kingdom Interlinear Translationof the Greek Scriptures). In den beidenletztgenannten Fällen ging das ZJ-Teamweit über den Rahmen einer Übersetzunghinaus und auch über die Grenze der in-tellektuellen und christlichen Redlichkeit.

Nach welchen Kriterien haben Bibelüber-setzer zu arbeiten? „So wörtlich wie mög-lich; so frei wie nötig!“ Das muss derMaßstab sein. Das hätte der Maßstab seinmüssen auch bei der NWÜ. Stattdessenwählte man den Weg der Indoktrination.Die Führung brauchte eine eigene Bibel,um die von ihr vertretenen Lehren zustützen und zu rechtfertigen. Dazu erwie-sen alle früheren Übersetzungen sich ver-mutlich als zu „sperrig“.Die so erklärbaren Eintragungen in dieBibel der ZJ lassen sich gar nicht alle auf-listen. Bevor wir uns wenigstens bedeut-same Beispiele anschauen, werfen wireinen Blick auf die in der NWÜ vorge-nommene Änderung der altbekanntenBuchtitel „Neues Testament“ bzw. „AltesTestament“ (vorgegeben durch 2. Kor3,14): Sie wurden ersetzt durch die höchstunklaren Bezeichnungen „ChristlicheGriechische Schriften“ und „Hebräisch-Aramäische Schriften“. Eine deutliche Un-terscheidung dieser beiden Schriften-sammlungen nimmt die NWÜ nur im In-haltsverzeichnis vor, während im Bibeltextselbst es nach dem letzten Buch des AT,nämlich Maleachi, ohne Leerseite wei-tergeht mit „Nach Matthäus“ und der fort-laufenden Seitenzahl. Lediglich eine kurzeBemerkung in Klammern erinnert (in derrevidierten Fassung von 1986 und 1987)am Ende des Prophetenbuchs Maleachiden Leser noch daran, dass unsere Bibelaus zwei Teilen besteht. Dieser kleine Hin-weis in Klammern genügt nicht. DerGrund? Als Christen legen wir Wert aufdeutliche Unterscheidung von AT und NT.Wir haben jedem Versuch und jeder Ver-suchung zur „Einebnung“ der heiligenSchrift zu widerstehen. Diese „Einebnung“bewirkt ja, J e s u s und sein Evangelium alsGottes letztes Wort zu relativieren undallem, was in der Bibel geschrieben steht,gleichen Rang und gleiche Verbindlichkeitzuzuschreiben.3

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Mit dem System der totalen Ersetzung deskirchlichen und biblischen Sprachge-brauchs in der NWÜ wird übrigens unter-stellt, die Kirchen hätten so ziemlich allesfalsch gemacht, und nun rücke die Wacht-turm-Gesellschaft – „Jehova sei Dank!“ –endlich alles zurecht... Es ist aber doch zufragen, ob „Christliche Griechische Schrif-ten“ als neuer Titel des NT wirklich eineVerbesserung darstellt. Sind z.B. christ-liche Märtyrerakten aus der Frühzeit desChristentums etwa keine christlichenSchriften?

IV. Eintragung von ZJ-„Erkenntnissen“ und Bezeichnungen

1. Einige Beispiele

Es fängt an mit der konsequenten Erset-zung des Begriffsfeldes „Kreuz, Kreuzi-gung, kreuzigen“ durch das Wort Pfahlund entsprechende Abwandlungen. (NachZJ-Lehre ist Jesus nicht am Kreuz, sondernan einem Marterpfahl zu Tode gekom-men.) Weiter geht’s mit der Ersetzung derAnkündigung der Wiederkunft oder desKommens Christi durch die NWÜ-Formu-lierung von der „Gegenwart Christi“. Aufdiese Weise hofften die Schöpfer derNWÜ die von den ZJ-Führern konstruierteLehre von der angeblichen „unsichtbarenGegenwart Christi seit 1914“ (nach frü-herer WT-Lehre schon 1874!) „biblisch“belegen zu können. Nun lässt sich dasWort „parousia“, das alle anderen Über-setzer mit „Wiederkunft“ oder „Kommen“(Christi) wiedergegeben haben, tatsächlichauch mit „Gegenwart“ übersetzen. Wasvon Fall zu Fall gemeint ist, lässt sich je-doch aus dem Zusammenhang erkennen,und es ist zu beachten, dass die Rede vonseiner „parousia“ nur vor dem Hinter-grund der Ankündigung seines Weggehenszum Vater zu verstehen ist (z.B. Joh 14,3).Wenn also die Jünger nach den Zeichen

seiner „parousia“ fragten, werden sie da-mit doch die Signale gemeint haben, dieauf sein nahes Wiederkommen hindeuten?Wird nicht auch eine Mutter, wenn ihrSohn auf Reisen geht, ihn fragen: „Wannkommst du wieder?“ Sie wird doch kaumsagen: „Wann bist du gegenwärtig“? Ken-ner der Wachtturm-Bewegung wissen,dass ihre Lehre von der „unsichtbaren Ge-genwart Christi seit 1914“ (bzw. früher:seit 1874) das Endergebnis der geschei-terten Datenberechnungen ihrer Frühge-schichte darstellt. Damit wird vollendsklar, dass es sich bei der NWÜ-For-mulierung von der „Gegenwart“ des Herrnauch um Eintragung einer bibelfremdenZJ-Sonderlehre handelt.Geradezu peinlich wirkt die Eintragungvon Ausdrücken, die dem internen Jargonder „theokratischen Organisation“ ent-stammen: Da ist im NT-Teil der NWÜplötzlich von „Versammlung“ die Redestatt von Gemeinde: Jesus wird als „Unter-weiser“ angeredet (z.B. Luk 5,5; 9,33;9,49). Und natürlich lehrten die Apostel –laut NWÜ – „öffentlich und von Haus zuHaus“ statt „öffentlich und in (Privat-)Häusern“. In Apg 2,46 aber ließ sich dieseEintragung der ZJ-Arbeitsmethode in denbiblischen Text nicht durchhalten. Daheißt es nämlich: Sie „brachen das Brothier und dort in den Häusern“. Das gehtwohl schlecht von Haus zu Haus.Eine Kuriosität leisteten sich die Schöpferder NWÜ im Zusammenhang mit dem En-gelbesuch im Hause der Maria. Die WorteGabriels „sei gegrüßt, du Begnadete“,klangen für sie wohl „zu katholisch“. Alsolautet Luk 1,28 in der NWÜ: „Guten Tag,du Hochbegünstigte“. Von „Guten Tag“aber steht nichts im Grundtext des NT,abgesehen davon, dass der Engelbesuchzu einer ganz anderen Tages- oder Nacht-zeit erfolgt sein könnte. Zu dem heute gän-gigen „Guten Tag“ passt übrigens schonder nächste Satz nicht mehr, wonach

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Maria erschrak und dachte, „Welch einGruß ist das?“ Nach der NWÜ: „Sie aberwurde bei dem Wort tief beunruhigt undbegann zu überlegen, was das für ein Grußsei“ (Vers 29).

2. Ersetzung biblischer Bezeichnungen für Amtsträger durch solche der ZJ

Beginnen wir mit einer Ausnahme:gelassen hat man den Titel „Apostel“ (manhätte sonst ja auch die Apostelgeschichtegleich mit „umtaufen“ müssen). Aber er-setzt wurden Bezeichnungen wie Diakon,Presbyter und Bischof, alles biblische, ausdem Griechischen des NT von der Kircheübernommene Lehnwörter – und Amts-bezeichnungen. Grund genug, sie durch„theokratische“ Titel zu ersetzen. So wurdeaus einer Diakonin (Röm 16,1) eine „Die-nerin der Versammlung“ (entsprechendder Ämterbezeichnung der ZJ um 1950,als die NWÜ ihre ersten Gehversuchemachte). Doch klären wir die Amtsbe-zeichnungen in den neutestamentlichenGemeinden der Reihe nach:

a) Die Diakone. Sie werden in der NWÜzu „Dienstamtsgehilfen“ (wie in der ZJ-Versammlung). Der Diakon – übrigens einLehnwort aus dem neutestamentlichenGriechisch – ist der Helfer für Hilflose, fürAlte, Arme und Kranke. Diesen sozialen,verantwortungsvollen Dienst an denSchwächsten unserer menschlichen Gesell-schaft haben Menschen aus allen christ-lichen Kirchen, seitdem es sie gibt, ingroßer Treue wahrgenommen. „Diakonie“ist ein unverzichtbarer Arbeitszweig allerKirchen und biblisch gefordert. Heutegehören Kindergärten, Waisenheime undKrankenhäuser zur „Diakonie“. Wo unter-halten Jehovas Zeugen solche karitativenEinrichtungen (wenn man von Heimen füraltgewordene „Bethelmitarbeiter“ einmalabsieht)? Soll also die Ersetzung des Dia-

kons durch den „Dienstamtsgehilfen“ die-ses Defizit verdecken? – Offenbar uner-wünscht ist auch

b) der Bischof. Dessen Aufgabenbereichhat sich zwar deutlich erweitert seit denTagen der Apostel, aber die Bezeichnunghat doch eine 2000-jährige Tradition. Inder Antike war der „Episkopos“ im profa-nen Bereich ein Kassenwart. Eingedeutschtals „Bischof“ haben später die jeweiligenkirchlichen Amtsinhaber aus ihrer Grund-aufgabe – der Gemeindeleitung – dieLeitung vieler Gemeinden gemacht. In un-serem Zusammenhang ist das nicht näherauszuführen. Hier ist etwas anderes be-deutsam: Die NWÜ macht aus dem Bi-schof einen „Aufseher“ (z.B. 1. Tim 3,1).Damit wird dem Benutzer suggeriert:Unser Aufseheramt in der „theokratischenOrganisation“ ist biblisch. Die Kirchenaber haben Ämter, die keinen Grund in derBibel haben!

c) Presbyter, Ältester. – Diese biblischeAmtsbezeichnung bedeutete zur Zeit derEntstehung der NWÜ für die Wachtturm-Gesellschaft ein heikles Problem: Derzweite Präsident in ihrer Geschichte, derJurist J. F. Rutherford, hatte nämlich dasAmt des gewählten Ältesten für „untheo-kratisch und unbiblisch“ erklärt, obwohl(oder gerade weil!)es in der demokrati-schen Gemeindestruktur der „Bibel-forscher“ in der Zeit ihres Gründers, C. T.Russell, in hohem Ansehen gestandenhatte. Im Namen der seit Rutherford in derZJ-Organisation angeblich schon verwirk-lichten Theokratie („Gottesherrschaft“)wurden seither die „Wahlältesten“ derRussell-Ära verpönt und verhöhnt. Als1950 der erste Teil der NWÜ erschien, warder Diktator und Wahl-ÄltestenfeindRutherford erst acht Jahre tot; darum wärees für viele ZJ geradezu provozierend ge-wesen, in der NWÜ vom „Ältesten“ zu

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sprechen. Man wich lieber auf den „Älte-ren Mann“ aus (z.B. 2. Joh 1,1). Bei dieserÜbersetzung ist man auch bis heute ge-blieben. In der heutigen ZJ-Organisationaber heißen seit den siebziger Jahren dieleitenden Brüder in den „Versammlungen“wieder „Älteste“ (nun aber werden sie nichtgewählt, wie unter Russell, sondern „vonoben eingesetzt“ wie unter Rutherford).Nun wäre es an sich passend und nützlichnach bewährter Wachtturmlogik, auch inder NWÜ von „Ältesten“ zu sprechen...Doch was nicht ist, kann noch werden! Diewechselvolle Geschichte der Wachtturm-Gesellschaft ist ja noch nicht zu Ende.

3. Die Eintragung der Gottesbezeichnung„Jehova“ in den Wortlaut des NT

Hier handelt es sich um einen weiterenBeleg für die Eintragung von ZJ-Lehren indie heilige Schrift. Die „Übersetzer“ hoff-ten wohl, durch den „Transfer“ des „Jeho-va“-Namens in das Neue Testament dieschmale Basis dieser (falschen) Lesart desalttestamentlichen Gottesnamens zu ver-bessern. Was jedoch – wie seit über 100Jahren bekannt – nachweislich falsch aus-gesprochen ist, wird auch durch dessenÜbernahme ins Neue Testament nichtrichtig. Viel wichtiger als die Frage der korrektenLesart aber ist die Feststellung: Unter denca. 6000 griechischen Handschriften mitdem griechischen Urtext des NT gibt eskeine einzige (!), die den GottesnamenJahwe (oder gar „Jehova“) aufweist. Dasgilt auch für die zahlreichen alttestament-lichen Zitate im NT, in denen aufgrund deshebräischen Wortlauts dieser Stellen das„Tetragramm“ (JHWH) hätte vorkommenkönnen. Es wird jedoch immer nur diedamals geläufige Übersetzung ins Grie-chische zitiert, die sog. Septuaginta. Keineinziges Mal wird der Name Jehova hiergenannt, sondern „kyrios“, der Herr.

Das entspricht seit dem 3. Jh. vor Christusdem jüdischen Verständnis des zweitenGebots und der damit verbundenen Ge-betssitte. – „Du darfst den Namen Gottesnicht unnützlich führen“, bedeutet von daan bis heute: Gottes Name ist heilig zu hal-ten und wird deshalb nicht ausgespro-chen. Kommt er in den heiligen SchriftenIsraels vor, und wird die Stelle im Gottes-dienst der Synagoge verlesen, so wird anseiner Stelle bis auf diesen Tag „Adonai“(mein Herr) gelesen (griech. „Kyrios“) oderauch „Schem“ (Name Gottes). Diese Sitte,den Namen nicht auszusprechen, begeg-net uns auch in der um 200 v. Chr. ent-standenen Septuaginta-Übersetzung undim Neuen Testament. Die Eintragung des„Jehova“-Namens an 237 Stellen desNeuen Testaments verschweigt also gleich-zeitig einen wichtigen Tatbestand, der mitdem biblischen Gebrauch des Gottesna-mens zusammenhängt.Geradezu empörend ist es für gläubigeChristen, dass die „Übersetzer“, wenn imNT bei alttestamentlichen Zitaten „derHerr“ geschrieben steht, auch dann noch„Jehova“ einsetzten, wenn die neutesta-mentlichen Schreiber das Zitat offensicht-lich auf Jesus Christus beziehen (z.B. Röm10,13). Wo das der Fall ist, geht es aus demZusammenhang hervor.Die Urheber der NWÜ wurden aber ihrereigenen Regel4 dann untreu, wenn siedurch Ersetzen des Wortes „Herr“ durch„Jehova“ gleichsam ein „Eigentor ge-schossen“ hätten. So bei dem JesuswortMatth 7,21-23, das bei Anwendung ihrereigenen Regel in der NWÜ hätte lautenmüssen: „Nicht jeder, der zu mir sagt: Je-hova, Jehova, wird in das Königreich derHimmel eingehen.“ Vernichtend für desNamens inflationären Gebrauch, der imZweiten Gebot ausdrücklich untersagtwird! Noch vernichtender wäre es für dieZJ geworden, hätte man auch in Luk 6,46für „ o Herr“ das Wort „Jehova“ eingesetzt:

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„Warum nennt ihr mich ‚Jehova, Jehova’,tut aber die Dinge nicht, die ich sage?“Genau darum geht es bei dieser ihrer Art,die Bibel zu bearbeiten. Die „Übersetzer“ der NWÜ, die sich als„Sklaven Jehovas“ verstehen, haben dieBibel zu ihrem Sklaven gemacht, indemsie diese zur Rechtfertigung ihrer Sonder-lehren in den Dienst nahmen. Ich vermisseden schlichten Gehorsam gegenüber demverbindlichen Bibelwort. So gesehen istdie NWÜ ein kritisch zu lesender Kom-mentar zu den Lehren einer Glaubensge-meinschaft. Mehr nicht. Für mich gilt:„Neue-Welt-Übersetzung“ – nein danke!

Anmerkungen

1 Edmond C. Gruss in: „Wir verließen Jehovas Zeu-gen“ (engl.), zitiert in: Brücke zum MenschenNr.131, 21, in einem Beitrag von Lothar Gassmann,„Die Neue-Welt-Übersetzung“, Auszüge aus seinemBuch „Zeugen Jehovas. Geschichte, Lehre, Be-urteilung“, Neuhausen/Stuttgart 1996.

2 Diese Fakten wurden bekannt durch das frühere Mit-glied der „Leitenden Körperschaft“ der ZJ, RaymondFranz (Neffe des oben erwähnten Fred Franz). Ray-mond Franz schrieb nach seinem Bruch mit den ZJdas Buch „Der Gewissenskonflikt“, auf das wirempfehlend hinweisen, 382 Seiten, München 1996.Beziehbar auch beim Bruderdienst.

3 Die Notwendigkeit der Unterscheidung von AT undNT wurde ausführlich nachgewiesen in: Brücke zumMenschen Nr. 154 „Was trügt, was trägt? Kriegsde-batte stellt unser Schriftverständnis auf den Prüf-stand.“

4 Ihre Regel ist nachzulesen in der „Neuen-Welt-Übersetzung der Christlichen GriechischenSchriften“, Ausg. 1961/63, im Vorwort, 5f.

MORMONEN

Unser Wachstum ist phänomenal. (LetzterBericht: 12/2004, 473f) Zweimal im Jahrlädt die Kirche Jesu Christi der Heiligender Letzten Tage (HLT) zu Generalkon-ferenzen in ihr riesiges Konferenzzentrumnach Salt Lake City ein. Im vergangenenJahr standen die Konferenzen im Zeichendes 200. Geburtstages des „Propheten“Joseph Smith und des 175. Jahrestages derGründung der HLT und sie zeichneten –wie so oft – das Bild einer äußerst erfolg-reichen Religionsgemeinschaft, die daseigene Wachstum als einen Hinweis aufden Segen Gottes deutet. Etwa 12,2 Mil-lionen Mitglieder hat die Gemeinschaftzum 31. Dezember 2004 gezählt, fünfJahre zuvor waren es noch knapp 1,2 Mil-lionen weniger (vgl. die Angaben in MD9/2001, 309f). Das Wachstum der HLT ist also unge-brochen. Präsident Gordon B. Hinckleybezeichnete die Entwicklung der Gemein-schaft als „phänomenal“. Etwa 51.000Missionare hat die Gemeinschaft weltweitim Einsatz, in den Jahren 1999/2000waren es noch knapp 60.000. Dennochwird der Mission nach wie vor höchsterStellenwert eingeräumt (vgl. MD 12/2004,473f). Auf der Frühjahrs-Generalkonferenzzu Ostern 2001 hatte Hinckley noch dieJugend zu missionarischen Höchstleistun-gen beflügeln wollen, indem er sagte: „Essoll Wunsch und Wille eines jeden jungenMannes dieser Kirche sein, als Lehrer desewigen Evangeliums in die Welt hinaus-zuziehen, als Missionar der Kirche JesuChristi der Heiligen der Letzten Tage.“1

Jetzt hat man die Senioren als Missionareentdeckt. Unter der Überschrift „Segnun-gen einer Mission in den besten Jahren“heißt es in Liahona 12/2005: „Ältere Mis-

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sionare bewirken Segnungen für sichselbst und für die Menschen, denen siedienen, ebenso für ihre Kinder undEnkelkinder.“2 Damit eröffnen sich für dieLDS völlig neue missionarische Perspek-tiven, wenn man bedenkt, dass Seniorenoftmals finanziell besser abgesichert sindund vermutlich in manche Konflikte nichtgeraten werden, die jungen Erwachsenenbei der Mission in fremden Ländern drohen. Regelmäßig konnte die Leitung der HLT inden letzten Jahren auch auf ein beacht-liches Bauprogramm verweisen. Weltweitsind derzeit 122 Tempel in Betrieb, Endeder 1990er Jahre waren es lediglich 53;allein in dem symbolträchtigen Jahr 2000konnten weltweit 34 Tempel geweiht werden, so viele wie noch nie in einemJahr. Die Generalkonferenz vom Herbst 2005wurde – wie üblich – mit einer Ansprachevon Präsident Gordon B. Hinckley er-öffnet. Er kam sehr schnell zum Zentrummormonischer Lebensführung und sagte:„Jeder, der für einen Tempelschein würdigist, ist damit auch als treuer Heiliger derLetzten Tage anzusehen. Er wird einenvollen Zehnten zahlen, das Wort derWeisheit halten, ein gutes Verhältnis zuseinen Angehörigen haben und einbesserer Staatsbürger sein.“ Es wäre inter-essant, zu erfahren, was letzteres mit Blickauf einige Aspekte der US-amerikanischenAußen- und Sicherheitspolitik bedeutet.Leider schweigt Hinckley zu solchen kon-kreten Fragen, obwohl Worte des „leben-den Propheten“ zu diesem wichtigen undfür mormonische US-Soldaten mitunterexistenziellen Thema möglicherweisewichtiger wären als die ständig wieder-holten Warnungen vor sexuellen Fehl-tritten. Dessen ungeachtet deutet Hinckley zu-mindest ein Problem an: Die zuneh-mende Zahl von Tempeln führt dazu, dass

stellvertretende Handlungen wie z. B. dieTaufe für bereits Verstorbene mehrfachverrichtet werden, denn „es arbeiten Men-schen in verschiedenen Ländern gleich-zeitig an ein- und demselben Familien-stammbaum und stoßen auf dieselbenNamen“3. Um solche Doppelbearbeitun-gen in Zukunft zu vermeiden, möchteman ein computergestütztes Informations-system aufbauen. Genaueres war jedochnicht zu erfahren. Über ein anderes Problem, das die HLT zubeschäftigen scheint, berichtete Liahonaim Oktober 2005. Bekanntlich bezweifelndie christlichen Kirchen die Christlichkeitder HLT, weil diese in vielen Punkten einanderes Gottes- und Menschenbild ver-treten.4 An genannter Stelle lesen wir unterder Überschrift „Du bist Mormonin?“ einenBeitrag, der davon handelt, dass sich einAußenstehender kritisch gegenüber einerMormonin äußert und in Zweifel zieht,dass die Mormonen an Jesus Christusglauben. Der Text will nun für eine solcheSituation Argumentationshilfen liefern. Obdiese Argumente wirklich überzeugen, darfbezweifelt werden, denn sie sind zum Teilvon erstaunlicher Schlichtheit. So soll manbei Diskussionen darauf verweisen, dassder richtige Name der Gemeinschaft„Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letz-ten Tage“ lautet – „Alles andere sind bloßSpitznamen.“ Und man soll bezeugen,dass man an die Bibel glaubt und auf dieStellen im Buch „Mormon“ verweisen, „dievon Jesus Christus Zeugnis geben“. Letz-tere Begründung ist kaum stichhaltig, denndie (wenigen) Stellen im „Buch Mormon“belegen eher eine Relativierung des Evan-geliums. Wenn zudem nahe gelegt wird,sich nicht auf zermürbende Diskussioneneinzulassen, sondern statt dessen – wennirgend möglich – den Zweifler in die eige-nen Besucherzentren und Kirchen einzu-laden und ihn mit Missionaren ins Ge-spräch zu bringen, dann wird spürbar, dass

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man sich nur allzu gern wieder auf dassichere Terrain der gewohnten Missio-nierungspraxis zurückzieht.5Allein die Existenz dieses Beitrages be-weist aber, dass die Frage nach derChristlichkeit der HLT offenbar auch in-nerhalb der Gemeinschaft virulent ist.Übrigens braucht auch ein Mitglied derHLT die Zeitschrift Liahona nur aufmerk-sam zu lesen, um zu merken, dass die Un-terschiede zur übrigen Christenheit offen-bar doch erheblich sind. Im Februar 2005wurde unter der Überschrift „Was ist ausder Kirche Jesu Christi geworden?“ dieFrage erörtert, wie die Kirche in den erstenJahrhunderten vom wahren Glauben ab-gefallen sei und „kostbare Lehren derBibel“ verloren gingen. Sie wurden „ent-weder absichtlich herausgenommen, umdie Wahrheit zu vertuschen, oder sie ka-men durch Unachtsamkeit oder uninspi-rierte Übersetzungen abhanden“.6 Dieseverloren gegangenen Lehren mussten„wiederhergestellt werden“ – durch den„Propheten“ Joseph Smith und seine Of-fenbarungen. Folgt man dieser Logik, sokann man kaum leugnen, dass die Heili-gen Texte der HLT in zentralen theologi-schen Fragen zwangsläufig ein anderesEvangelium präsentieren als die HeiligeSchrift. Diese gilt bei den HLT ohnehinnur eingeschränkt, nämlich „soweit richtigübersetzt“. Aber welches Buch ist schon„richtig“ übersetzt?

Anmerkungen

1 Worte des lebenden Propheten (Gordon B. Hinck-ley), in: Liahona 2/2001, 28.

2 Liahona 12/2005, 26.3 Liahona November 2005, 5f.4 Vgl. dazu genauer: Werner Thiede, Die „Heiligen

der Letzten Tage“ – Christen neben der Christen-heit, EZW-Text 161, Berlin 2001.

5 Vgl. Liahona 10/2005, 36ff.6 Liahona 2/2005, 15.

Andreas Fincke

POLITISCH-RELIGIÖSE BEWEGUNGEN

Der Mensch denkt? Gott lenkt! – Neuesvon der Partei Bibeltreuer Christen. (Letz-ter Bericht: 7/2004, 272) In der Leitungder „Partei Bibeltreuer Christen“ (PBC) hatsich ein Generationenwechsel vollzogen.Nach 16 Jahren, von der Gründung 1989bis heute, legte der Parteivorsitzende, derpfingstlerische Pastor und Zigeuner-Missio-nar Gerhard Heinzmann, sein Amt nieder.Zum Nachfolger wurde auf dem Bundes-Delegierten-Parteitag am 15. 10. 2005 inKirchheim der Unternehmensberater undLandesvorsitzende von Baden-Württem-berg, Dr. Walter Weiblen, gewählt. Der Bundesvorstand hat mit Rundbrief vom18. Oktober dieses im Rahmen politischerParteiarbeit nicht weiter spektakuläre Ereig-nis mitgeteilt. Auffallend und für denAnspruch der PBC typisch ist aber dieÜberzeugung von unmittelbar göttlicherBeeinflussung dieser Entscheidungen.Schon zur Gründung heißt es im Rundbriefwörtlich: „Zu Beginn des Sommers 1989vernahm Gerhard ein deutliches RedenGottes, eine Partei zu gründen (…) EndeSeptember 1989 gab Gott grünes Licht, umdarüber öffentlich zu sprechen.“ GöttlichesWirken geht aber noch weiter; selbst partei-interne Abstimmungen werden dadurchvon menschlicher Fehlkalkulation befreit.So heißt es zur Wahl des neuen Bundesvor-stands, er sei umringt von Betern eingesetztund gesegnet worden. Dass er der richtigesei, ist gewiss: „Jesus lenkt auch parteiinterndie Wahlen, und deshalb ist das Ergebnis(…) genau richtig.“Angesichts der bislang geringen Wahler-folge der PBC (bei der letzten Bundestags-wahl insgesamt 108.000 Zweitstimmen)muss man wohl folgern, dass die Wähle-rinnen und Wähler sich gegenüber gött-lichem Ratschluss reichlich verstockt er-weisen.

Lutz Lemhöfer, Frankfurt

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ESOTERIK

Im Zweifel für Alexas „Engel“: MartinKriele über sich und andere. (LetzterBericht: 7/2005, 255ff) Der Ehemann der„Engel-Dolmetscherin“ Alexa Kriele, eme-ritierter Professor und ehemaliger Richteram Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen sowie „Fragesteller und Redak-teur“ der Engel-Bücher, Prof. em. Dr. Mar-tin Kriele (Jg. 1931), tritt seit kurzem miteiner eigenen Internetseite an die Öffent-lichkeit. Unter www.martinkriele.info ge-währt er Interessierten mit allerhand Fak-ten, Daten und einer Veröffentlichungslistenicht nur Einblick in seinen wissen-schaftlichen Werdegang und in seine reli-giöse Biografie. Der in zweiter Ehe mitAlexa Kriele (geb. Michalsen) verheirateteJurist und scharfe Kritiker kirchlicher Welt-anschauungsarbeit („Die faschistischenZüge der Sektenjagd“) möchte darin rück-blickend über die Hintergründe des Streitsum die Weltanschauungsfreiheit informie-ren. Es tut dies freilich aus seiner Sicht. Während seiner Zeit als Professor in Kölnim Jahr 1993 seien Medizinstudenten, diedem umstrittenen „Verein zur Förderungder psychologischen Menschenkenntnis“nahe standen und unter öffentlichenDruck geraten waren, an ihn mit der Bitteum juristischen Beistand herangetreten.Damit begann Krieles Engagement gegendie angebliche Verletzung der Weltan-schauungsfreiheit: „Ich wurde daraufhinöfter von verzweifelten Betroffenen kon-sultiert, darunter öfters von gläubigenevangelischen Pfarrern, und fand Einblickin den in Deutschland damals tobendenWeltanschauungskampf, seine Strukturenund Methoden. Die rational-säkularisierteWelt beanspruchte Alleinherrschaft undwollte keine Form von eigenständigen re-ligiösen, spirituellen Erfahrungen inner-halb oder außerhalb der Kirchen mehr to-lerieren. Ungläubig gewordene ehemalige

Theologiestudenten, aber auch kämpfe-rische Atheisten, Materialisten und Kom-munisten verbanden sich mit politischenOpportunisten und cleveren Geschäfte-machern und dichteten gläubigen Men-schen Rechtswidrigkeiten an, die gar nichtvorlagen. Da der Rechtsstaat diese Men-schen folglich in Frieden ließ, meinte man:es bedürfe eines nebenstaatlichen Heeresvon Weltanschauungskontrolleuren, diesie gesellschaftlich zu ächten und wirt-schaftlich zu ruinieren hätten.“ In der Fol-gezeit hätten ihn immer mehr „Opfer vonRufmordkampagnen“ um Rechtshilfe er-sucht. So entschloss er sich, kurz nachseiner Emeritierung 1996, nunmehr alsniedergelassener Rechtsanwalt, den imRaum Nürnberg/Neumarkt in der Ober-pfalz niedergelassenen „Psychotherapeu-ten Sepp Schleicher“ zu vertreten, der voneinem katholischen kirchlichen Weltan-schauungsbeauftragten öffentlich kritisiertworden war. Die längere juristische Aus-einandersetzung endete, nachdem der Bun-desgerichtshof (BGH) das Verfahren an dasOberlandesgericht zurückverwiesen hatte,im Jahr 2004 mit einem Vergleich zwischendem Beklagten und der Erzdiözese Bam-berg. Der BGH nahm, ohne festzustellen,ob in dem konkreten Fall die Sorgfaltspflichttatsächlich verletzt wurde, den Fall zum An-lass, auf „die Sorgfaltspflicht eines kirch-lichen Weltanschauungsbeauftragten beiseiner Öffentlichkeitsarbeit“ hinzuweisen.In einer Pressemitteilung des BGH (Nr.26/2003) hieß es: „Der u.a. für Schadenser-satzansprüche wegen Amtspflichtverletzun-gen zuständige III. Zivilsenat des Bundes-gerichtshofs hat entschieden, daß die mitSekten- und Weltanschauungsfragen be-faßten Bediensteten der Kirchen, soweitdiese öffentlich-rechtliche Körperschaftensind, gesteigerte Sorgfaltspflichten treffen,bevor sie in der Öffentlichkeit abwertendeUrteile über andere Personen und Einrich-tungen abgeben.“

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Kriele zieht daraus freilich vorschnelle undteilweise unzutreffende Schlüsse, um dentatsächlich geschlossenen Vergleich vordem Oberlandesgericht als Erfolg gegendie kirchliche Weltanschauungsarbeit ins-gesamt zu verbuchen. So erweckt der Juristden Eindruck, es seien aus diesem Grundgleich mehrere Büros von kirchlichen Welt-anschauungsbeauftragten geschlossen wor-den. Bei martinkriele.info heißt eswörtlich: „Im Netzwerk der Weltanschau-ungseiferer verbreitete sich die Sorge, dasalles sei eine ‚Katastrophe für die Weltan-schauungsarbeit‘, d.h.: diese sei auf derGrundlage von Sorgfalt, Sachlichkeit undWahrhaftigkeit nicht machbar. Tatsächlichwurden die Büros der im Fall Schleicherbeteiligt gewesenen Sektenbeauftragten bei-der Konfessionen geschlossen. Gleichesgeschah an mehreren anderen Orten. DieVerbliebenen werden von ihren Vorgesetz-ten jetzt zur Beachtung ihrer Amtspflichtenangehalten.“ Tatsache jedoch ist, dass dieErzdiözese Bamberg das Büro des Weltan-schauungsbeauftragten aus finanziellenGründen geschlossen hat. Gegenwärtig istsie dabei, diesen Arbeitszweig in vermin-dertem Umfang wieder einzurichten.An anderer Stelle schildert Martin Krieleseinen „religiösen Weg“. Ursprünglichdem liberalen Protestantismus entstam-mend, trat er 1968 zur katholischen Kircheüber und war von 1960 bis 1995 auch Mit-glied der Anthroposophischen Gesell-schaft. Die Gründe für seinen Austritt hater auch publizistisch in einem Buch „An-throposophie und Kirche“ dargelegt. Seit1994 tritt er intensiv für die Drucklegungund publizistische Verbreitung der Engels-botschaften seiner Ehefrau Alexa ein.Kriele betrachtet sich als „kritischen Katho-liken“: „Ich besuche regelmäßig die Messe,an den großen Festtagen übernehme ichmit Freude das Orgelspiel. Viele Men-schen, denen ich in der Kirche begegnetbin – an der Basis, in Klöstern und Orden

und auch in leitenden Ämtern – haben mirgroße Hochachtung abgenötigt.“ Gleich-wohl ist er ein spiritueller Außenseitergeblieben. Die Engelsbotschaften, ihrDuktus und Inhalt, deuten darauf hin, dasser sein anthroposophisches – oder besser:esoterisches Gewand – nie ganz abge-streift hat. War er zunächst ein spirituellerEinzelgänger, so hat sich dies durch dieBeziehung zu seiner zweiten EhefrauAlexa verändert. So wird er nicht müde,die gemeinsam publizierten Engel-Büchergegen Kritiker in Schutz zu nehmen: „An-hängern der materialistischen Weltan-schauung erscheint ‚so etwas’ unmöglich,weil es Engel gar nicht gebe. Manche Tra-ditionschristen meinen: Es gebe sie zwar,sie hätten aber seit den biblischen Zeitenihren Verkehr mit Menschen aufgegeben,um den Theologen und kirchlichen Amts-trägern das Feld zu überlassen. Anderemeinen: sie sprechen zwar zu uns, abernur in kurzen, aufrüttelnden Botschaften,sie seien mit der Menschenwelt nicht ver-traut und zu zusammenhängenden Darle-gungen nicht in der Lage. Das alles wider-spricht meiner Erfahrung.“ Die Engel-Eso-terik seiner Ehefrau betrachtet er als„christliche Mystik“. So sollen die Krie-leschen Engel-Bücher „die christliche Tra-dition nicht revolutionieren, sie aber Men-schen leichter begreiflich machen, diemeinen, sie sei mit den Erkenntnissen dermodernen Wissenschaft nicht vereinbar“.Sieht man sich jedoch die Inhalte der bis-her vorgelegten Bücher des EhepaaresKriele über Engel und neuerdings überNaturgeister genauer an (vgl. MD 5/2000,157ff; 7/2005, 255ff), so ist darin mehrEsoterisches denn dezidiert Christliches zufinden. Die Internetseite Martin Krieles führt einedurchaus schillernde Persönlichkeit vorAugen. Sie dokumentiert zum einen diesachlichen Fakten einer juristischen Kar-riere. Zum andern präsentiert sie Krieles

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angeblichen Kampf um die Weltanschau-ungsfreiheit mit einseitigen und bisweilenverzerrenden Zügen. Und schließlich gibtsich die spirituelle Suchbewegung einesMannes zu erkennen, der den Weg vonder evangelischen zur katholischen Kircheüber die Anthroposophie beschritt, umschließlich gemeinsam mit Ehefrau Alexaselbst zum Anbieter in der Esoterik-Szenezu werden. Gerade dieses Neben- und In-einander unterschiedlichster Motive cha-rakterisiert die merkwürdige Befangenheitdes vermeintlich so objektiven Juristen.Manche sehr persönlichen Interessen imKampf gegen die kirchliche Weltanschau-ungsarbeit treten nun deutlicher hervor.Was nicht übersehen werden sollte: DasAngebot der Engel-Dolmetscherin Alexaund ihres Ehemannes Martin Kriele passtsich vorzüglich in die Esoterik-Szene ein,in der übersinnliche Botschaften nach wievor Konjunktur haben und wohl auch künftig ihr Publikum finden.

Matthias Pöhlmann

Der Kongress tanzt – die Basler Psi-Tageauf neuen Wegen. (Letzter Bericht:3/2003, 104ff) Auf den ersten Blick schiendie 23. Ausgabe der Basler Psi-Tage nichtviel Neues zu bieten; die Leitthemendieses internationalen Esoterik- und Grenz-wissenschaften-Kongresses waren in denvergangenen Jahren immer beliebiger unddaher bedeutungsloser geworden, dennviele Referenten hielten sich ohnehinnicht an die vorgegebene Fragestellung.Und so schien es, als drohe auch diesmaldie ewige Wiederkehr des Gleichen, alsodie immer gleichen Themen und Referen-ten. Außerdem war in den letzten Jahrenzu beobachten, dass die Veranstalter aneinem aufrichtigen Dialog mit den Kriti-kern der Esoterik überhaupt nicht (mehr)interessiert sind. Selbstreferenziell habensich die vermeintlich Erleuchteten immer

wieder selber gefeiert und dabei den an-geblichen Dogmatismus der etabliertenWissenschaft und natürlich auch der Kir-chen in einer an Arroganz grenzendenWeise angeprangert, die selber längst denUngeist des Dogmatismus atmet. Den-noch – oder vielleicht sogar gerade des-halb – war es nicht selbstironisch gemeint,als der Esoteriker und FilmemacherClemens Kuby die Institution der Psi-Tage zur „Friedensarbeit“ emporstili-sierte. Die Fähigkeit und den Willen, das eigeneAngebot, aber auch die aktuellen Tenden-zen in der Esoterik-Szene selbstkritisch zuhinterfragen, lassen die Organisatoren lei-der immer noch vermissen. Zwar wurdein der Pressekonferenz betont, dass die„esoterischen Glaubensbekenntnisse“, diean den Psi-Tagen sicher überwiegen wür-den, kritisch geprüft werden sollten, doch war davon einmal mehr nichts zuspüren. Auch auf die oft fragwürdigenAngebote und Anbieter der Begleitmesse„Aura“ scheinen die Veranstalter keinerleiEinfluss nehmen zu wollen. Und so kannes kaum verwundern, dass im Programmzwar darauf hingewiesen wurde, dass essich bei Bert Hellinger um einen der„meistbewunderten, aber auch umstritten-sten Psychotherapeuten unserer Zeit“handle, ansonsten durfte der Guru des„Familienstellens“ aber völlig ungestörtseine dubiosen Thesen verbreiten, ohnedass kritische Einwände vorgesehen ge-wesen wären. Natürlich hing das Pub-likum wie bei solchen Anlässen üblich instummer Bewunderung an den Lippen desMeisters, der sich als „Philosophen“ undseine therapeutischen Aktivitäten als„angewandte Philosophie“ bezeichnete.Im Übrigen vertrat Hellinger – nota beneehemaliger katholischer Missionar – dieThese, dass „das Göttliche, wie wir es er-fahren, (…) unvollkommen ist. Irren istnicht nur menschlich, sondern auch gött-

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lich.“ Für das Organisationsteam der Psi-Tag war Hellinger ganz explizit eines derZugpferde des Kongresses; offenbar wollteman seine Attraktivität nutzen, solange esnoch geht, denn wie betont wurde, sei andiesen Psi-Tagen eine der letzten Gele-genheiten, Hellinger, immerhin schonMitte 70, beim Familienstellen zuschauenzu können.Als weitere Attraktion wurde der Brasi-lianer Thomaz Green Morton präsentiert,„das vielleicht bedeutendste Psi-Talentunserer Zeit“, dem „herausragende Leis-tungen in Telepathie, Apportation, Mate-rialisation, Transmutation und Transforma-tion nachgesagt“ würden. 300 Teilnehmerder Psi-Tage hätten sich alleine zu seinemTagesseminar angemeldet. Im Rampenlichtstand außerdem der inzwischen fast 100Jahre alte Chemiker Prof. Dr. Albert Hof-mann, Entdecker des LSD. Im Januar 2006wird Hofmann und dem LSD – „Sorgen-kind und Wunderdroge“ – ein eigenesSymposium gewidmet (www.LSD.info).Sieht man sich die Liste der übrigen Refe-renten an, fällt auf, dass die Psi-Tage wei-terhin einer Globalisierung der EsoterikRechnung tragen, indem außereuropäi-sche Redner und spirituelle Traditionenwie der Sufismus, das Qi Gong oderschamanistische Rituale aus Hawaii inden Mittelpunkt des Kongressprogrammsrücken. Daneben achten die Organi-satoren auf eine Verjüngung der Vortra-genden und lassen eine neue Esoteriker-Generation zum Zuge kommen, so etwaden deutschen Kornkreis-Forscher AndreasMüller (Jg. 1976) oder den SchweizerUfologen Luc Bürgin (Jg. 1970).Dahingestellt sei, ob dies Ursache oderFolge eines sich anbahnenden Generatio-nenwechsels ist, der sich im Publikum derPsi-Tage immer deutlicher abzeichnet. Inden letzten Jahren ist der Anteil der 20-bis30-jährigen Kongressbesucher konstantgestiegen. Dies mag dazu beigetragen

haben, dass die Veranstalter diesmal neueWege bei der Gestaltung des Abendpro-gramms beschritten. Statt altbekanntenBlendern wie Uri Geller eine Bühne zubieten, wagten sie das Experiment einerPsi-Tanznacht. Der mit dieser Aufgabe be-traute Basler DJ und PerformancekünstlerClaude Karfiol hatte zuvor auf eine er-frischend freche Art das ernste Gehabeder Psi-Tage in Frage gestellt. Wo denn andiesem Kongress die Lust am Blöd- undUnsinn bleibe, wollte er wissen undstellte die These auf, dass das heutzutageweit verbreitete Gefühl der Sinnlosigkeitauch aufkommen könne, wenn man sichdem Un- und Blödsinn verweigere.Ob diese augenzwinkernde Mahnung dieVeranstalter erreichte, muss offen bleiben.Sie glauben jedenfalls unbeirrt an die Zu-kunft der Psi-Tage, und das Publikums-interesse, das sich auch angesichts der hor-renden Eintrittspreise offenbar nicht ab-schwächt, gibt ihnen zweifellos Recht.Und so wagen sie noch etwas Neues: DiePsi-Tage sollen sozusagen „Junge“ be-kommen und künftig in kleinerer Formauch im Sommer stattfinden. Die ersten„Psi-Tage im Sommer“ sind bereits für den23. bis 25. Juni 2006 in Rheinfelden, 15 km rheinaufwärts von Basel, geplantund werden sich dem Thema „Medialität –Das Tor zu geistigen Welt“ widmen. Mandarf gespannt sein, ob der Erleuchtungs-hunger nun tatsächlich schon so groß ist,dass man die Psi-Tage zweimal im Jahrbraucht…

Christian Ruch, Baden/Schweiz

PERSONALIA

Gordon Freeman Fraser ist tot. Am 18.Oktober 2005 starb der Esoteriker undGesundheitslehrer Gordon FreemanFraser im Alter von 91 Jahren in München.Fraser war fast bis ans Ende seines Lebens

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aktiv am Seminarbetrieb des von ihm ge-gründeten „Studienkreises für Gesundheitund Persönlichkeitsentfaltung e.V.“ be-teiligt. Nach einer Namensänderung fir-miert der Verein heute unter der Bezeich-nung „Verein für Gesundheit und Persön-lichkeitsentfaltung e.V.“, da es rechtlicheAuseinandersetzungen mit dem „Studien-kreis“ gab, einem großen Unternehmender Schulnachhilfe.Über viele Jahre lebte Gordon FreemanFraser hauptsächlich in Italien auf Ischia,hielt sich aber häufig für seine Lehr-tätigkeit in den deutschsprachigen Län-dern auf. In den letzten Jahren wurde ergebrechlicher und lebte hauptsächlich inMünchen und Rottach-Egern. In Münchenerlag er nach kurzer Krankheit einerAtemwegsinfektion.Obwohl Gordon Freeman Fraser derGründer und die zentrale Gestalt des Ver-eins war, war er nicht dessen Vorsitzender.Der gegenwärtige Vorsitzende ChristianPesendorfer wird vermutlich die Nach-folge Frasers antreten und die Verwaltungdes geistigen Erbes übernehmen. Er be-findet sich im mittleren Lebensalter undgehört seit Jahren zum engsten Kreis umGordon Freeman Fraser. Der zweite Vor-sitzende, Heribert Klauke, ist dagegen be-reits hoch in den Siebzigern und gehörtzur Anhängerschaft der ersten Stunde. Ergibt in Meschede, das auch Vereinssitz ist,die Schriften Gordon Freeman Frasers her-aus.

Hansjörg Hemminger, Stuttgart

IN EIGENER SACHE

Neue Hexen: Zwischen Kommerz, Kultund Verzauberung. Rückblick auf einEZW-Seminar in Hamburg. Hexen – einschillerndes Thema, das starke Emotionenweckt. Was der Begriff jeweils meint,kann sehr verschieden sein. Die Frauen,

die unter dem Vorwurf der Hexerei in derfrühen Neuzeit verbrannt wurden, habenaußer der Bezeichnung so gut wie nichtsmit den Frauen gemeinsam, die sich heutebewusst Hexe nennen. Dennoch sindIdentifizierungen und Projektionen an derTagesordnung. Aber auch zwischen denHexen der Gegenwart gibt es deutlicheUnterschiede. Da gibt es zum einen diegroße Zahl derer, die quasi „freischaffend“ihre Dienste in Tarotkartenlegen, Astrolo-gie und Lebensberatung auf dem Esoterik-markt anbieten, und zum anderen die or-ganisierten Hexen des Wicca-Zweiges,die in kleinen Gruppen (Coven) gemein-sam magische Rituale zelebrieren undEinweihungen in drei Grade erteilen.Wiederum eine eigene Charakteristik undSozialstruktur weisen die neuen Girlie-Hexen unter den Teenagern auf, die dasHexe-Sein als einen Mode-Trend auf-greifen und in Fernsehserien wie „Sabrina– total verhext“ oder „Charmed“ bzw. inesoterischer Anleitungsliteratur ihre Iden-tifikationsmuster finden. Mit dieser Vielfalt beschäftigte sich derAufbaukurs der EZW, der zum Thema„Neue Hexen. Zwischen Kommerz, Kultund Verzauberung“ vom 7. bis 9. 11. 2005in Hamburg stattfand. Nach einführendenReferaten von Matthias Pöhlmann undGabriele Lademann-Priemer lag ein ersterSchwerpunkt auf den neueren historischenForschungen zu den Hexenprozessen inder frühen Neuzeit. Thomas Becker, Leiterdes Bonner Universitätsarchives, räumte inseinem beeindruckenden Referat mit vie-len Klischees und falschen Vorstellungenzu den Hexenverfolgungen auf: So fandendie Verfolgungen weder im sog. „finsterenMittelalter“ statt noch war die kirchlicheInquisition deren treibende Kraft – imGegenteil: im Herrschaftsbereich der In-quisition (Spanien, Italien) gab es fastkeinen dieser Prozesse. Die Hexen-prozesse sind vielmehr ein Zeichen der

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anbrechenden Moderne, in der heftigelokale Auseinandersetzungen mit Hilfe desHexereivorwurfes vor weltlichen Gerich-ten ausgefochten wurden. Auch die häufigbemühte Mär von den verfolgten „weisenFrauen“ oder Hebammen lässt sich ausden Akten nicht belegen. Diese gut doku-mentierten Ergebnisse der neueren Hexen-forschung werden jedoch sowohl von derneuen Hexen-Szene wie von weiten Teilender Öffentlichkeit immer noch hartnäckigignoriert. Einen Einblick in Geschichte und Inhaltdes Wicca-Kultes gab der EthnologeOliver Ohanecian. Basierend auf natur-romantischen Vorstellungen und neuheid-nischen Ideen des erwachenden Nationa-lismus im 19. Jahrhundert begründeteGerald Brosseau Gardner (1884-1964) inden 1950er Jahren den modernen Wicca-Kult. Von England ausgehend verbreitetesich Wicca in den USA stark und brachtedort stärker feministische (Dianic Wicca,Szusanna Budapest) oder politisch-eman-zipatorische Richtungen (Miriam Simonsalias Starhawk) hervor. Inhaltlich gibt eswenig Verbindliches. In der Regel findenEinweihungen in drei Grade, gemeinsameFeiern der acht Jahreszeitenfeste und ma-gisch-rituelle Handlungen statt. Der imWicca verbreitete Hexenbegriff verbindetdie Aspekte einer Personifikation derNatur, der Hexe als Opfer, der Hexe alsSymbolfigur von (magischer) Macht undder Hexe als der stets ganz Anderen, dieindividualistisch, nonkonformistisch undunberechenbar bleibt. Praktische Erfahrungen gab es zum einenbeim abendlichen Gespräch mit der Ham-burgerin Silke Beyn, die als Hexe „Attis“ihren Lebensunterhalt verdient, und beieinem Besuch im Hexenarchiv des Völ-kerkundemuseums Hamburg. DiesesArchiv verdankt seinen Grundstock demengagierten Kampf von Johann Kruse(1889-1983) gegen den aktuellen Hexen-

wahn seiner Zeit im ländlichen Raum undgegen das Unwesen sog. „Hexenbanner“.Hexenbanner sind Personen, die behaup-teten, mit magischen Mitteln dem Scha-denszauber angeblicher Hexen aus derNachbarschaft oder gar Verwandtschaftihrer Kunden entgegenwirken zu können.Dass der Vorwurf der Hexerei das sozialeAus für die betroffenen und in der Regelvöllig unschuldigen Personen bedeutenkonnte, motivierte Kruse zu seinemLebenswerk.Aus praktisch-theologischer Perspektiveformulierte zum Abschluss der TagungSabine Bobert (Kiel) einige Anfragen anWicca wie an die christlichen Kirchen. ImVergleich zu den zahlreichen lebensbe-gleitenden Riten der Wicca-Religiositätwirkt das kirchliche Set an Kasualien ein-seitig an weithin vergangenen Lebens-phasen der bürgerlichen Kleinfamilie orientiert. Die Wicca-Rituale konzentrie-ren sich auf Selbstreflexion und Verän-derungsbereitschaft und tragen damit denstets geforderten Veränderungen der Le-benssituationen in der Postmoderne Rech-nung. Kritisch ist anzumerken, dass hinterder scheinbar sozial abgefederten Hexen-regel „Tue was du willst, aber schade nie-mandem, denn es wird alles dreifach zudir zurückkehren“ letztlich ein atavisti-sches Lohn- und Strafe-Denken steht.Demgegenüber hat das Christentum einehoch entwickelte Liebesethik, in der so-ziales Handeln nicht durch Lohn oderStrafe motiviert wird, sondern durch denWunsch zur Weitergabe empfangenerLiebe. Insgesamt bot die Tagung für die 36Fachteilnehmer aus Weltanschauungs-arbeit, Schule, Polizei und Wissenschafteine Fülle von Klärungen, Erkenntnissenund Impulsen. Mit den neuen Hexen wer-den sich wohl die meisten weiter be-schäftigen (müssen).

Harald Lamprecht, Dresden

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Manfred Hutter, Die Weltreligionen, Ver-lag C. H. Beck, München 2005, 144Seiten, 7,90 Euro.

Die Tendenz des Buchmarktes, über kom-plexe Themen immer kürzer und kompak-ter zu informieren, ist nicht aufzuhalten.Auch die großen Religionen sind von die-sem Sog nicht verschont geblieben. Nach-dem der Beck-Verlag in seiner Reihe„Wissen“ einigen Religionen einzelnekurze Taschenbücher gewidmet hatte, legtnun der Bonner ReligionswissenschaftlerHutter eine Gesamtübersicht über die re-ligiösen Traditionen vor, die nach allge-meiner Konvention als „Weltreligionen“bezeichnet werden. Bemerkenswert ist,dass in diesen Reigen erstmalig auch dieBaha’i aufgenommen werden, derer sichHutter vorher in Einzelstudien gründlichangenommen hatte. In jeweils aufsatz-langen Abschnitten werden Buddhismus,Judentum, Christentum, Daoismus, Islam,Baha’i und Hinduismus behandelt. Diesgeschieht mit bemerkenswerter Sorgfaltund Prägnanz, unter Berücksichtigung derneuesten Forschungslage und zugleich gutlesbar. Jeder Einzeldarstellung sind je drei„Tafeln“ beigegeben, d.h. eine gerahmteÜbersicht von einer Seite mit aus-gewählten Texten, einer Zeittafel und derKurzdarstellung der betreffenden Religionin einem bestimmten Kontext (Buddhis-mus in Myanmar, Christentum in Arme-nien u.a.). In seiner Einleitung bemüht sich Hutterum eine Klärung des Begriffs „Weltreli-gion“, der keineswegs religionswissen-schaftlich eindeutig, geschweige dennüberhaupt „wissenschaftlich“ ist. Die vonihm genannten Kriterien – universellerAnspruch, Mitgliederzahl und geographi-sche Ausbreitung, Alter – hält er nur für

begrenzt brauchbar. Es bleibt dabei, dasses sich bei „Weltreligion“ um einen Be-griff des „alltäglichen Sprachgebrauchs“handelt, mit einer Anwendungsbreite, dieimmer wieder die Einbeziehung oder Aus-schließung der einen oder anderen Reli-gion erlaubt hat. Wer nach einem prägnanten erstenÜberblick über die Religionen sucht,sollte in Anbetracht der vielfältigen popu-lärwissenschaftlichen Anfechtungen aufmittelmäßigem Niveau zunächst zudiesem gelungenen Buch greifen.

Ulrich Dehn

José Antonio Marina, Das Gottes-gutachten. Religion für Atheisten, Zweif-ler und Gläubige, aus dem Spanischenübersetzt von Wilfried Hof, Wissen-schaftliche Buchgesellschaft / Primus-Ver-lag, Darmstadt 2005, 222 Seiten, 24,90Euro.

Einen Blick „von außen“ auf Religion bie-tet der renommierte spanische PhilosophMarina und breitet (im ersten Teil: „Ab-lehnung der Theologie“) vor seinem Lesereine breite Palette von halb philosophi-schen, halb religionswissenschaftlichenEinsichten zu Religionen, religionspsy-chologischen Erkenntnissen und religions-phänomenologischen Vergleichen aus.„Die Religion ist eine Erfindung, die vonder sichtbaren Welt ausgehend die vorgeb-liche Hälfte des Symbols, der zerbroche-nen Münze, zu finden sucht“ (26). DenReligionen sei gemeinsam die Suche nachdem Glück, dem erfüllten Leben, nachder Unsterblichkeit (Gilgamesch). Außer-dem haben sie ordnende Funktion undrufen nach Gerechtigkeit und nach einerEthik, müssen sich dann aber selbst derEthik unterwerfen und mit ihr kollidieren,obwohl sie sie selbst auf den Plan gerufenhaben: sie werden zum „muttermörde-

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BÜCHER

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rischen Abkömmling“ (39). Mit dieser For-mulierung will Marina die DurkheimscheThese von der Integrationsfunktion der Re-ligion fortschreiben und attestiert der Reli-gion das große Projekt der drei Funktio-nen Erklären, Erretten, Ordnen. Weitergeht es mit grundlegenden Einsichten: dieReligion sei affektiv veranlagt, der reli-giöse Mensch „macht alle Dinge zuSpuren und Sinnbildern und erschafft sichaus grandiosen Allegorien eine zweiteWelt“ (44). Entsprechend der Offenba-rungsgeschichte der Religionen unter-scheidet Marina nach Offenbarungen ausder Natur, aus dem Inneren des Menschenund von Offenbarungsmittlern. Bei allenVersuchen des Systematisierens bieten Re-ligionen sich als Kunstwerke aus den unterschiedlichsten Elementen dar. Mit einer gewissen Beharrlichkeit stehtMarinas Buch unter der skeptizistischenVorgabe der Dichotomie von Glaube undVernunft, Religion und Wissenschaft,Übernatürlichem und Natürlichem, (me-taphysischer) Spekulation und Empirie. Esexistierten zwei Kreise: „ein sinnlich ori-entierter, allgemeiner, logischer, natür-licher, wissenschaftlicher Kreis und eingeistig orientierter, privater, überlogischer,übernatürlicher, theologischer. Und bisherist noch kein Psychiater aufgetaucht, deruns von solcher Schizophrenie befreienkönnte“ (70f). Oder auch: der „faktische“,„profane“ und der „heilige Kreis“. Diesesnicht völlig unintelligente, aber doch et-was in die Jahre gekommene Klischeewird an Zitaten von Thomas von Aquin,Papst Paul VI., Rudolf Otto, William Jamesetc. entwickelt. Das Wort „Wissenschaft“wird, offenbar auf dem Hintergrund des englischen Sprachgebrauchs von „science“, grundsätzlich als Erfahrungs-wissenschaft ohne die seriöse Möglichkeitder Überschreitung von Sinneswahr-nehmung (und ihrer Analyse) benutzt unddamit an immer neuen Facetten eines

Gegensatzpaares Wissenschaft – Religiongearbeitet. „Wissenschaftler, die über Re-ligion reden, sind lediglich Personen, dieüber Religion reden und außerdem zufäl-lig Wissenschaftler sind“ (97). Im zweiten Teil („Bestätigende Theologie“,107ff) entwickelt Marina einen Begriff vonRealität und der sich darauf beziehendenWissenschaft, um nachträglich das in Teil Ibenutzte Gegensatzpaar zu erläutern.Seine Denkexperimente führen ihn weiterüber das Korrespondenzpaar Existenz-Es-senz zur ästhetischen Wahrnehmungsweltder japanischen Haiku-Dichtung und derihr verbundenen Zen-Kultur, allerdingsauch in ihrer Stilisierung und Brechungdurch den Missionar D. T. Suzuki. Undschließlich gelangt er zur These „Gott istAktion“ (148). Schöpferische Intelligenz,das „erfinderische Bewusstsein des Exis-tierens“ sind die Stichworte, von denenaus Marina zur zentralen Stellung desHandelns in seinem Denkweg kommt.Ethik ist es, die auch die Religionen do-mestizieren kann. Marina bindet diese Ar-gumentation mit seiner Wertschätzungder kreativen Intelligenz zusammen, „diemit Werten, Gefühlen, Lebensprojektenzu tun hat“ (174). Als eine willkommeneBestätigung des Projekts Weltethos kannsein Unterfangen interpretiert werden, imBlitzverfahren das Vorkommen der Golde-nen Regel in den diversen religiösen Ur-kunden nachzuweisen (170), auch wenndies nicht unbedingt zum Stützpfeilerseiner Argumentation wird. Religionenhaben die Chance, sich als „ethische Reli-gionen“ in ein Stadium der zweiten Gene-ration zu begeben, in welchem sie, ob-wohl dem Bereich der Vernunft-Intelli-genz nicht zugänglich, für die Realitätrelevant werden – so lautet die ab-schließende Empfehlung des zusammen-fassenden „Gutachtens“. Marinas Essay ist mit Temperamentgeschrieben, lässt mitunter jedoch den

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Leser, der geordnete Gedankengängeschätzt, am Wegesrand liegen. Das Buchwechselt zwischen der Verfolgung philo-sophischer Gedanken, der Aufnahme vonEinsichten aus der Religionswissenschaftund der faszinierten Zitation von Litera-turen, die zu beidem nicht so ganz zugehören scheinen, so etwa der längereExkurs zur Wirklichkeitswahrnehmungdes Zen. Der Ideenreichtum und die er-frischend leichte Feder haben ihrenCharme, auch wenn die Hauptidee – et-was lapidar gesagt: Ethik statt Dogmatik –nicht so völlig neu ist.

Ulrich Dehn

Klaus Farin, Freaks für Jesus. Die etwasanderen Christen, Hg. Archiv der Jugend-kulturen e.V. Berlin, Verlag Tilser, Bad Tölz2005, 117 Seiten, 12,00 Euro.

Seit etwa 15 Jahren gibt es die JesusFreaks. War es anfangs nur ein kleinerHaufen, so markiert die Jahreswende1994/95 mit der Gründung der JesusFreaks International e.V. den Übergangvon einer eher unorganisierten Bewegunghin zu festeren Strukturen. Auch wenn bisheute örtliche Freakgemeinden je nachMitgliedern und Leitung sehr unter-schiedlich sein können, so zeigt doch dasalljährlich am ersten Wochenende im Au-gust stattfindende „Freakstock“, zu demca. 5000 vorwiegend junge Menschenkommen, dass da eine Bewegung ent-standen ist, die eine gewisse Konstanz hatund in der Lage ist, ein großes mehr-tägiges Festival organisatorisch zu meis-tern. Grund genug für das Berliner „Archivder Jugendkulturen“ den „Freaks für Jesus“einen eigenen Band zu widmen. EinenBand, der in mir zwiespältige Gefühlehervorruft.Dies liegt vor allem am Konzept derBücher, die vom „Archiv der Jugendkul-

turen“ herausgegeben werden. EinKonzept, das m. E. prinzipiell nicht genuggewürdigt werden kann, bekommt mandoch einen authentischen Einblick in eineJugendkultur, die sich sonst gegenüberErwachsenen eher reserviert und zurück-haltend, bisweilen sogar ablehnend ver-hält.Auch „Freaks für Jesus“ will nicht über dieJesus Freaks reden, sondern sie selbst zuWort kommen lassen. Insgesamt 28 kurzeBeiträge – zum Teil sympathisch direkt inSprache und Inhalt, zum Teil aber auchrecht wirr und eher uninteressant – sollenein authentisches Bild der Bewegung ver-mitteln. Auch bei mehrmaligem Durch-blättern interessant wird das Buch abererst durch die Fotos, Flyer, Plakate undAuszüge von Homepages und aus Foren,die die Selbstdarstellung abrunden.Dieses Material ist auch als „Steinbruch“z. B. für Unterrichtsstunden sehr gut zuverwenden. Der abschließende Artikelüber „Christliche Jugendmusik inDeutschland“ (94-108) verdient sogarallerhöchstes Lob. Auch wenn er daseigentliche Thema nur am Rande streift,so ist diese Zusammenstellung doch aus-gesprochen erhellend und so aufbereitet,dass sie vielen Erwachsenen, die ratlos vorchristlicher Jugendkultur der Gegenwartstehen, einen Orientierungsrahmen gebenkann. Dies sind die positiven Seiten unddiese Seiten rechtfertigen den Kauf alle-mal.Leider gibt es auch negative Seiten: Dereinleitende Artikel beginnt – wenig naheliegend – mit dem amerikanischen Präsi-denten George Bush und dem Irak-Krieg,der mit erlogenen Argumenten vom Zaumgebrochen worden sei und mehr als180.000 Menschen das Leben gekostethabe. Dass Bush trotz dieses Krieges im-mer noch Präsident sei, wird auf diewahlentscheidende Basis der „Evangelika-len“ zurückgeführt. Auch auf die frühere

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Alkoholabhängigkeit von George W. Bushwird verwiesen, um dann einen jähen Bo-gen zu der Hamburger Punkszene zuschlagen, in deren Kontext die JesusFreaks-Bewegung ihren Anfang nahm.Auch wenn es am Ende der Einleitungheißt: „Die Jesus Freaks heute pauschaldiesem Netzwerk rechtskonservativerchristlicher Fundamentalisten zuzurech-nen, wäre jedoch falsch und polemisch“(13), so geht doch der gesamte Duktus derEinleitung genau in diese Richtung. Selbst wenn dies nach meiner Beobach-tung zum Teil zutrifft, so wäre die Frage zustellen, ob sich die Jesus Freaks damitwirklich von anderen Jugendkulturen un-terscheiden. Dass Jugend nicht mehr inder Weise politisch links und engagiert ist,wie es vielleicht vor einem Vierteljahrhun-dert im Kontext der Friedensbewegung derFall war, kann man den Jesus Freaks wirk-lich nicht vorwerfen. Und die allermeistenJesus Freaks, mit denen ich zu tun habe,sind vor allem eines: unpolitisch. Auchdarin stimmen sie mit anderen Jugendkul-turen überein. Insofern ist das Urteil in derEinleitung in seiner Engführung auf die Jesus Freaks undifferenziert und von un-fairer Einseitigkeit.Und noch ein zweiter Umstand stört, jelänger man das Buch in der Hand hat. DieInterviews sind leider so angelegt, dassimmer wieder nach Drogen und nachSexualität (speziell Homosexualität undSex vor der Ehe) gefragt wird. Als Lesernervt mich dies auf Dauer – ich hättegerne mehr über Theologie, Musik undLebensgefühl und weniger über Drogenund Sex erfahren. So entsteht der Ein-druck, als hätten die Jesus Freaks keineanderen Themen. Insgesamt, wie gesagt, ein zwiespältigerEindruck: Zum einen ein Buch, das vielzum Verständnis der Jesus Freaks beiträgtund deswegen zu empfehlen ist. Und zumanderen der Eindruck, dass hier Erwach-

sene – entgegen der erklärten Absicht –zuviel an eigener (und einseitiger) Deu-tung hinzugefügt haben.

Heiko Ehrhardt, Hochelheim/Hörnsheim

Prof. Dr. theol. Ulrich Dehn, geb. 1954, Pfarrer,Religionswissenschaftler, EZW-Referent fürnichtchristliche Religionen.

Heiko Ehrhardt, geb. 1962, Pfarrer in Hochel-heim/Hörnsheim (Kirchenkreis Wetzlar).

Dr. theol. Andreas Fincke, geb. 1959, Pfarrer,EZW-Referent für christliche Sondergemein-schaften.

Dr. theol. Dietrich Hellmund, geb. 1934, Pastori.R., Autor zahlreicher Veröffentlichungen, u.a.zu den Zeugen Jehovas, zuletzt Pastor in Ham-burg (1986-1997).

Dr. rer. nat. habil. Hansjörg Hemminger, geb.1948, Weltanschauungsbeauftragter der Ev.Landeskirche in Württemberg, Stuttgart.

Dr. theol. Reinhard Hempelmann, geb. 1953,Pfarrer, Leiter der EZW, zuständig für Grund-satzfragen, Strömungen des säkularen und reli-giösen Zeitgeistes, pfingstlerische und charisma-tische Gruppen.

Dr. theol. Harald Lamprecht, geb. 1970, Beauf-tragter für Weltanschauungs- und Sektenfragender Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens undGeschäftsführer des Evangelischen Bundes, Lan-desverband Sachsen.

Lutz Lemhöfer, geb. 1948, kath. Theologe undPolitologe, Referent für Weltanschauungsfragenim Bistum Limburg.

Dr. theol. Matthias Pöhlmann, geb. 1963, Pfar-rer, EZW-Referent für Esoterik, Okkultismus,Spiritismus.

Dr. phil. Christian Ruch, geb. 1968, Historiker,Mitglied der Katholische Arbeitsgruppe „Neuereligiöse Bewegungen“, Baden/Schweiz.

PD Dr. theol. Wolfgang Vögele, geb. 1962, Pfar-rer, Privatdozent an der Humboldt-Universitätzu Berlin, z.Z. projektbezogene Mitarbeit in derEZW.

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AUTOREN

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Herausgegeben von der Evangelischen Zentralstellefür Weltanschauungsfragen (EZW), einer Einrichtungder Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD),im EKD Verlag Hannover.

Anschrift: Auguststraße 80, 10117 Berlin Telefon (0 30) 2 83 95-2 11, Fax (0 30) 2 83 95-2 12Internet: www.ezw-berlin.deE-Mail: [email protected]

Redaktion: Andreas Fincke, Carmen Schäfer. E-Mail: [email protected]

Für den Inhalt der abgedruckten Artikel tragen die jeweiligen Autoren die Verantwortung. Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausge-ber wieder.

Verlag: EKD Verlag, Herrenhäuser Straße 12,30419 Hannover, Telefon (0511) 2796-0,EKK, Konto 660000, BLZ 25060701.

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Bezugspreis: jährlich € 30,– einschl. Zustellgebühr.Erscheint monatlich. Einzelnummer € 2,50 zuzügl.Bearbeitungsgebühr für Einzelversand. Abbestellungensind nur mit einer Frist von 6 Wochen zum Jahresendemöglich. – Alle Rechte vorbehalten.

Bei Abonnementwunsch, Adressenänderungen, Abbe-stellungen wenden Sie sich bitte an die EZW.

Druck: Maisch & Queck, Gerlingen/Stuttgart.

IMPRESSUM

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MAT

ERIA

LDIEN

ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen

69. Jahrgang 1/06

ISSN

072

1-24

02 H

542

26

Schachzüge in der Weltanschauungsarbeit

Sind Evangelikalismus undFundamentalismus identisch?

Die „Neue-Welt-Übersetzung“ Zur Bibel der Zeugen Jehovas

Im Zweifel für Alexas „Engel“ Martin Kriele über sich und andere

Der Kongress tanzt Die Basler Psi-Tage auf neuen Wegen

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226

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