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Insel Verlag Leseprobe Mytting, Lars Die Glocke im See Roman Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel © Insel Verlag 978-3-458-17763-0

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Insel VerlagLeseprobe

Mytting, LarsDie Glocke im See

RomanAus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel

© Insel Verlag978-3-458-17763-0

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Lars MyttingDie Glocke im See

Roman

Aus dem Norwegischenvon Hinrich Schmidt-Henkel

Insel Verlag

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Die norwegische Originalausgabe erschien unter demTitel Søsterklokkene bei Gyldendal, Oslo. © Lars Mytting .

Published by agreement with Agentur Literatur Gudrun Hebel, Germany.

Der Verlag dankt NORLA – Norwegian Literature Abroad fürdie Förderung der Übersetzung.

Erste Auflage © Insel Verlag Berlin

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere dasdes öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch

Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,WaldbüttelbrunnDruck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in GermanyISBN ----

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Für meine Mutter

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»And this also«, said Marlow suddenly,»has been one of the dark places of the Earth«.

Joseph Conrad

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Die Handlung dieses Romans spielt zu großen Teilen imnorwegischen Gudbrandsdal.Viele Namen sind von dortentlehnt, vor allem die alter Höfe im Gebiet von Fåvang.Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit sind zufälligund nicht beabsichtigt.

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Die innerste Landschaft

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Zwei Mädchen in einer Haut

Es war eine sehr schwere Geburt. Vielleicht die schwersteseit Menschengedenken, und das in einem Dorf, in demein Kindbett gefährlicher war als das andere. Der Bauchder werdenden Mutter war riesig, doch erst am drittenTag der Wehen wurde allen klar, dass es Zwillinge seinmussten.Wie genau die eigentliche Geburt dann vonstat-tenging, wie lange die Schreie der Mutter in der Stubedes Holzhauses gellten und wie die Frauensleute, die ihrhalfen, die beiden Kinder am Ende herausbrachten – alldas geriet in Vergessenheit. Es war so fürchterlich, dassniemand darüber reden mochte. Die Mutter zerriss es,sie starb am Blutverlust, und ihr Name versank in der Ge-schichte.Was aber für immer in Erinnerung bleiben sollte,das waren die Zwillinge selbst, und zwar wegen ihrer Ei-genheit. Sie waren an der Hüfte zusammengewachsen.Aber das war es auch schon, ansonsten waren sie ge-

sund, sie atmeten, sie schrien, und im Kopf waren siehelle.Die Eltern stammten von dem Hof Hekne, und so wur-

den die Mädchen auf die Namen Halfrid und GunhildHekne getauft. Sie wuchsen stetig heran und lachten viel.Sie waren niemandem zur Last, sondern gereichten einan-der, ihrem Vater und den Geschwistern zur Freude, ja,dem ganzen Dorf. Schon früh wurden die Hekne-Schwes-tern mit der Bildweberei vertraut gemacht. Von früh bis

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spät saßen sie auf der Bank des Webstuhls, ihre vier Ar-me flogen vereint über Kette und Schuss, so schnell, dasskaum zu verfolgen war, welche von beiden gerade dasGarn einwirkte. Ihre Motive waren häufig rätselhaft, im-mer von berührender Schönheit, und ihre Arbeiten wur-den gegen Silber oder Haustiere eingetauscht. In jener Zeitkam niemand auf die Idee, Handarbeiten irgendwie per-sönlich zu kennzeichnen, und später zahlte manch einereinen hohen Preis für eine Arbeit der Hekne-Schwestern,obwohl unklar war, ob sie wirklich von den Zwillingenstammte.Der bekannteste Hekne-Wandteppich war eine Dar-

stellung der Skråpånatta, der Kratzenacht, wie die loka-le Version des Jüngsten Gerichtes im Dialekt hieß, losean die altnordischen Prophezeiungen des Ragnarøk an-gelehnt. Demnach wird dereinst ein Flammenmeer dieNacht zum Tage machen, und wenn alles verbrannt unddie Nacht wieder zur Dunkelheit geworden ist, wird dieOberfläche der Erde bis auf den blanken Fels hinunterabgekratzt, Lebende und Tote werden zum Gericht genSonnenaufgang geschoben. Diesen Wandteppich stifteteder Vater der Zwillinge der örtlichen Kirche, wo das Bildviele Generationen lang hing, bis es eines Nachts ver-schwand, obwohl alle Türen abgeschlossen waren.Die Schwestern ließen sich selten außerhalb des Hof-

geländes blicken, obwohl sie sich leichter fortbewegenkonnten, als die Leute gedacht hätten. Sie schaukeltenin einer Art Dreivierteltakt einher, als trügen sie einenrandvollen Wassereimer vor sich. Das Einzige, was sienicht bewältigten, waren die Abhänge unterhalb ihresHauses. Der Hekne-Hof lag in steilem Gelände, und diewinterliche Glätte war für die beiden lebensgefährlich.

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Allerdings lag das Haus selbst an einer nur schwach ge-neigten, sonnigen Stelle, wo es früh taute, oft schon imMärz, und die Zwillinge ließen sich mit der ersten Früh-lingssonne draußen blicken.Hekne war als einer der ersten Höfe der Gegend errich-

tet worden und damit einer der besten. Zwei Sommer-almen gehörten dazu, und auf der Hekne-Großalm futter-te eine stattliche Herde von Kühen sich am dunkelgrünenGras dick und rund. Ein kurzer, leicht zu begehenderWeg führte zu einem fischreichen See, dem Nedre Glu-pen, mit einem Bootshaus, das aus neun Zoll starkenBlockbohlen bestand. Der wirkliche Maßstab für denReichtum eines Bauern im Gudbrandsdal jedoch hingvom Silber ab, das er besaß. Silber war ein Sparbuch, einemit der Hand zu greifende, benutzbare Reserve. Kein Hofwar seinen Namen wert, solange er nicht Silberbesteck fürmindestens achtzehn Kopf besaß, und dank des Verkaufsder Bildwirkereien hatten sie auf Hekne genug Silber fürdreißig in den Truhen.

Die Hekne-Schwestern hatten es nicht mehr lange bis zurVolljährigkeit, da wurde die eine todkrank. Ihrem Vater,Eirik Hekne, war die Vorstellung, dass die Überlebendedie Leiche ihrer Schwester würde mit sich herumtragenmüssen, derart unerträglich, dass er sich in die Kirche be-gab und darum betete, dass sie gemeinsam starben.Der Pfarrer belauschte sein Gebet, und offenbar wurde

es von Gott erhört.Vater und Geschwister hatten sich vorder Tür zur Schlafstube der Schwestern versammelt, vondrinnen hörten sie, wie die Mädchen über etwas Wichti-ges sprachen, das noch geregelt werden müsse. Es gingum ebenden Bildteppich über die Kratzenacht, den sie ge-

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meinsam begonnen hatten, jetzt sollte Gunhild ihn fer-tigstellen, wenn Halfrid gestorben war und ihre Händenicht mehr mithelfen konnten. Der Vater ließ Gunhildin Ruhe arbeiten, denn die Schwestern hatten seit jeher et-was Größeres an sich gehabt, etwas, das er und die ande-ren, deren Witz nicht weit über Steine und die Fläche desSees hinausreichte, nie hatten begreifen können. Spät amAbend war ein Husten zu vernehmen, dann hörten sie,wie der Anschlagkamm zu Boden fiel.Die Hekne-Leute gingen hinein und sahen, dass Gun-

hild sich zum Sterben hingelegt hatte. Sie schien die an-deren nicht wahrzunehmen, sie lag da, das Gesicht demihrer toten Schwester zugewandt, und sagte im breitenDialekt der Gegend:»Solls du treittn weit und soll ich treittn kort, und wann

das Stück is fertich, solln wir beide wiederkehrn.«Sie ergriff Halfrids Hände, rückte sich zurecht, und so

lagen sie beide da, die Hände ineinandergefaltet wie zueinem zweistimmigen Gebet.Spätere Generationen waren sich nicht recht einig, was

Gunhild gemeint hatte, denn imDialekt war der Satz dop-peldeutig. Treittn konnte sowohl bedeuten, die Tritte ei-nes Webstuhls zu bedienen, als auch, sich schnell fortzu-bewegen. Als Eirik Hekne den Wandbehang der Kirchestiftete, schrieb der Pfarrer Gunhilds letzte Worte auf dieRückseite der Holzplatte, mit der der Teppich befestigtwurde. Doch die Hochsprache konnte die Fülle des Dia-lekts nicht wiedergeben, der Spruch wirkte nun etwasärmlich: Du wirst weit gehen und ich werde kurz gehen,und wenn das Stück gewebt ist, werden wir beide wieder-kehren.Die Zwillinge wurden unter dem Boden des Kirchen-

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raums bestattet, und zum Dank dafür, dass sie hatten ge-meinsam sterben können, ließ Eirik zwei Glocken gießen.Sie wurden die Schwesterglocken genannt, ihr makelloserTon klang voll und tief aus der Stabkirche hinaus, er füll-te das ganze Tal, rollte weiter hinauf zu den Bergen undhallte von ihren Hängen wider. Wenn blankes Eis dasLøsnesvatn bedeckte, den See unterhalb der Kirche, wa-ren die Glocken drei Nachbardörfer weit zu hören, wieeine ferne Harmonie zu deren eigenen Kirchenglocken,und manche behaupteten sogar, wenn der Wind in derrichtigen Richtung stand, könnten sie sie noch oben aufden Almen vernehmen.Der erste Glöckner war nach drei Gottesdiensten taub.

Also ließ der Pfarrer unten im Turm ein Podest aufstellen,auf dem der neue stehen konnte, der sich überdies Pfrop-fen aus Bienenwachs in die Ohren stopfte und sich einenledernen Riemen um den Kopf wand.Die Schwesterglocken klangen weder schwermütig,

noch lärmten sie scheppernd. Jeder Ton hatte einen leben-digen Kern, er enthielt etwas wie die Verheißung einesbesseren Frühlings, ihr lang anhaltender Nachhall vib-rierte farbig und schön. Der Klang war ergreifend, er riefschillernde Bilder in den Gedanken hervor und erreichtedie Herzen verhärteter Männer. Ein Glöckner, der sichauf seine Kunst verstand, konnte mit ihnen Zweifler zuKirchgängern verwandeln. Die Erklärung für den macht-vollen Ton der Schwesterglocken bestand daran, dass sieerzreich waren. Mit diesem Begriff wurde seinerzeit derteure Brauch bezeichnet, beim Guss der Glocke Silber indie Glockenspeise zu werfen. Je mehr Silber, desto schö-ner der Klang.Die reich verzierten Gussformen und all die Bronze hat-

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ten Eirik Hekne bereits ein Vermögen gekostet, viel mehr,als sämtliche Wandteppiche seiner Töchter eingebrachthatten. In der Gedankenverlorenheit der Trauer trat eran den weiten Kessel, in dem die Glockenspeise geschmol-zen wurde, und warf das gesamte Silberbesteck hinein.Dann griff er außerdem noch in die Taschen und zog zweigroße Bauernhände voller Silbertaler heraus, die seltsamlange auf der brodelnden Legierung trieben, bis sie end-lich schmolzen und blubbernd versanken.

Zur Warnung vor Gefahr erhoben die Schwesterglockenerst viele Jahre später erstmals ihre Stimme, und zwarbei einem schweren Hochwasser. Die Schneeschmelzehatte plötzlich und heftig eingesetzt, unter dem wolken-schwarzen Sommerhimmel gingen die Leute mit Kopfweheinher, und in der Nacht, als der Fluss über die Ufer trat,erwachten die Dorfbewohner vom Läuten ihrer Kirchen-glocken.Wuchtige Blockhäuser wurden vomWasser überden Haufen geworfen, wie Reisig schossen die Stämmedurch das schmale, tiefe neue Bett, das der Fluss sichdurch die Landschaft schnitt. Unten im Løsnesvatn trie-ben große weiße Bündel, das waren die Schafe. Erst, alshinterher alle im Regen zusammenstanden und beimDurchzählen feststellten, dass auch die Familie des Glöck-ners vollzählig war, erwies sich, dass der Glöckner garnicht in der Kirche gewesen war und geläutet hatte, undals der Pfarrer nachschauen ging, war er überrascht, denndas Portal war fest abgeschlossen.Als das geschah, war Eirik schon seit vielen Jahren tot,

und es ist nichts darüber bekannt, ob er es jemals bereuthatte, sein gesamtes Silber in die Glocken eingeschmol-zen zu haben. In der Folge hatte der Hof jedenfalls mehr-

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mals kurz vor der Zwangsversteigerung gestanden.Wärees möglich gewesen, Hekne in einen Oberhof und einenUnterhof aufzuteilen, so hätte man es gemacht, aber derBesitz war zu schmal und zu steil. In den folgenden Jah-ren holte der Gerichtsvollzieher den zum Hof gehörigenSee, zwei Häuslerstellen und die Großalm, und die nach-kommenden Generationen hatten schwer unter dem Preis,den Eirik Hekne gezahlt hatte, zu leiden. Immerhin ge-lang es ihnen, den Rest des Hofes in der Familie zu halten,auf Erben folgten neue Erben, und alle Nachgeborenenhatten so ihre Ansichten zum Handeln des Vorfahren.Nur wenige von ihnen fanden, Silber sei für Kirchenglo-cken besser verwendet als für Äcker und Ställe, doch nah-men sie es alsMahnung hin, dass Not offenbar leichter zutragen war als Trauer. Allsonntäglich gelangte ein tröst-licher Klang zum Hof herauf, das waren die Glocken,die Eirik die Tochterglocken genannt hatte, doch solltendieser Sprachgebrauch und dies Vorrecht mit ihm sterben.

Die Stabkirche

Seit Ewigkeiten läuteten die Schwesterglocken über demDorf, für die Lebenden, die Sterbenden und die Toten,zu Hochzeit und Weihnachtsgottesdienst, zu Taufe undKonfirmation und manchmal auch als Alarm bei Wald-bränden, Überschwemmungen und Erdrutschen. Kaumjemals zog einer der Dorfbewohner fort oder gab es Zu-gezogene, wer verreiste, kam nie wieder zurück, und diemeisten Kinder glaubten, alle Glocken dieser Erde klän-gen wie die Schwesterglocken, so, wie Leute, die mit einer

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prachtvollen Aussicht vor Augen leben, das für ganz nor-mal und gewöhnlich halten.Hekne gehörte zum Kirchspiel Butangen, einem Seiten-

tal zwischen Fåvang und Tretten. Seinerzeit zählte derOrt rund Seelen, verteilt auf einige vierzig Höfe mitden dazugehörigen Häuslerstellen. Für den Ortsnamenselbst gab es eine weit in die Vergangenheit reichende,verwickelte Erklärung, die nur selten zur Sprache kam,weil kaum jemand sich für dergleichen interessierte. DerSee, das Løsnesvatn, trennte den Ort von dem weiter hin-aufführenden Karrenweg, er war lang und schmal undtief, umgeben von steilemWald und Felskuppen, und Bu-tangen, das »Hüttenufer«, trug seinen Namen, weil dieseUferstelle als einzige am ganzen See flach genug war, umdort ein paar Hütten hinzustellen. Niemand wohnte dadrunten fest, aber da sich hier sowohl ein Bootshaus alsauch Anlegestellen befanden und der winterliche Trans-port über das Eis hier abging, übernahm der ganze Ortden Namen. Die Kirche selbst lag weiter oben am Hang,teils um der Aussicht willen, aber auch, weil die Leute ausFåvang wussten, was ein Hochwasser mit einem Friedhofanzustellen vermochte.An den Hängen klammerten sich die Höfe an den Stel-

len fest, die einst von den Vorfahren erobert worden wa-ren. Manche hatten ein derartiges Gefälle und waren sosteinig, dass drei Generationen nicht mehr als drei kleineÄcker hatten gewinnen können. Andererseits wurden dieSteinmauern dadurch so hoch, dass in Butangen nie einSchaf vom Wolf geholt wurde.Wenn es hier Veränderungen gab, dann kamen sie lang-

sam. Der Ort hing zwanzig Jahre hinter den Nachbarge-meinden her, diese dreißig Jahre hinter den norwegischen

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Städten und die wiederum fünfzig hinter dem kontinenta-len Europa. Einer der Gründe dafür war die Unzugäng-lichkeit. Falls es einmal einen Neugierigen gab, mussteer zunächst dem großen Fluss, dem Lågen, auf der richti-gen Seite nach Norden folgen und bei der Kirche vonFåvang abbiegen, falls er sie denn entdeckte und immernoch nach Butangen wollte, dann das Tal hinauf und beieinem Hof namens Okshol zwischen zwei Gipfeln hin-durch einen Hohlweg entlang. Etwas weiter lief der Hohl-weg auf eine Geröllhalde aus und verlor sich. Hier bogendie meisten nach links ab und landeten im unbewohntenOksholdal. Nur wenn man an der richtigen Stelle nachrechts ging, bot sich irgendwann die schöne Aussicht aufButangen mit der Kirche am Hang und den Höfen rings-um. Zuerst aber blickten dieWanderer auf das steil untenliegende Løsnesvatn und die tückischen Løsnesmooreringsum. Spätestens dann kehrten so gut wie alle um,wenn sie den Steig durch die Moore verfehlten und beiEinbruch der Nacht bis zu den Knien imMatsch standen,derart von den Mücken belagert, dass ihre Haut aussahwie mit Pelz bedeckt.Nur sehr selten einmal fand jemand den Weg um das

Løsnesvatn herum oder genoss den glücklichen Zufall,von einem wortkargen Ortsbewohner, der gerade seineNetze setzte, mit dem Boot hinübergebracht zu werden.Einmal am Ziel angelangt, wurde er entweder eingeheira-tet oder kam bei einer Messerstecherei ums Leben. Nein,eigentlich lebte es sich gut in Butangen. Der Fluss des Ta-les, die Breia, erhielt von zahlreichen kleinen BächenNahrung, die die Höfe mit Wasser versorgten. Die Land-schaft strahlte eine Art stille Anmut aus, weil der Flussund all die Bäche mit ihren vielen kleinen Bögen eine ste-

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tige Abwechslung zwischen fruchtbaren sonnigen Stellenund rätselhaften Schattenseiten schufen, bis der Fluss miteiner jähen Biegung in das Løsnesvatn hinabschäumte.Trotz der steilen Hanglage war das kleine Tal mild undsonnig, und wer weiter vordrang, konnte gelegentlich aufMenschen aus Brekkom und Imsdal treffen, auf Brekko-minger und Imsdøler, wobei der Kontakt meist in einemNicken oder einem Gruß aus gebührendem Abstand be-stand.Zudem gab es imWinter leichte und geschwinde Trans-

portmöglichkeiten. Wenn Eis das Løsnesvatn bedeckte,fuhr man rasch geradewegs über den See und die Moore,bis zur Stelle, wo es steil nach Fåvang hinunterging. Dar-um bewegte sich das Leben der Leute im Halbjahrestakt.Der Winter war die Zeit für Besuche, um Ehen anzubah-nen, um Pflugscharen und Schießpulver zu kaufen.Manch-mal bekam jemand Sehnsucht nach anderswo, aber werin diesem Anderswo gewesen war, berichtete, dass dieLeute dort dasselbe trieben wie hier, vielleicht ein kleinwenig anders, aber nicht so, dass es unbedingt mehr taug-te. Auch im Anderswo gab es keine Aussichten auf ande-res als harte Arbeit, und mit harter Arbeit konnte mansich auch zu Hause und umgeben von Verwandten undBekannten abplagen.So war es überall, keine Fremden mischten ihre fröh-

lichen Gene in den eigenbrötlerischen Charakter derGud-brandsdølinger, ganz anders als an der Küste, wo das be-dächtige Temperament von schiffbrüchigen Seeleuten ausdem Mittelmeerraum aufgefrischt wurde, die, wenn siesich aus ihrem Nothafen verabschiedeten, kleine Geschen-ke in den Bäuchen der jungenMädchen zurückließen, Ge-schenke, die später in Form lebhafter Kinder mit raben-