A. Strafbarkeit des T - uni-regensburg.de · 3 A. Strafbarkeit des T I. Strafbarkeit des T gemäß...
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T hat herausgefunden, dass seine Freundin ihn seit einiger Zeit mit O betrügt. Daher ent-
schließt er sich, O eine Abreibung mit seinem Baseballschläger zu verpassen. T will sein
Vorhaben an einem Sonntagmorgen gegen 10.00 Uhr in die Tat umsetzen, da O – wie T
weiß – jede Woche zu dieser Zeit durch den Stadtpark joggt. Die Bäume und Büsche im
Stadtpark eignen sich zudem als Versteck.
Als T seinem zuvor gefassten Plan entsprechend am Sonntagmorgen im Stadtpark mit seinem
Baseballschläger hinter einem Busch lauert, hört er plötzlich, wie sich jemand schnellen
Schrittes nähert. T springt hinter dem Busch hervor, erkennt O vor sich und holt mit dem
Baseballschläger zum Schlag aus. Just in diesem Moment nimmt O ein Pfefferspray aus der
Hosentasche und sprüht damit in Richtung des T. Umhüllt von einer Wolke aus Pfefferspray
erleidet T eine Reizung seiner Haut, seiner Augen und seiner Atemwege. Er schließt seine
Augen und sein Schlag geht ins Leere. Als T seine Augen wieder öffnet und O noch vor sich
sieht, erkennt er, dass er O mit einem weiteren Schlag treffen und auch verletzen könnte. Ge-
schockt und aus Angst vor weiterer Gegenwehr des O kann sich T jedoch nicht überwinden,
ein weiteres Mal anzugreifen, und sucht stattdessen das Weite.
O wollte sich lediglich gegen den Angreifer T wehren. Er erkannte jedoch, dass sein Pfeffer-
spray auch die gerade des Weges kommende 90-jährige J treffen würde, da sie nur wenige
Meter hinter T ging und so ebenfalls in die Wolke aus Pfefferspray geriet. Tatsächlich be-
kommt J Pfefferspray in ihre Atemwege. Sie geht zu Boden und fängt an, laut zu röcheln. O
erkennt sofort, dass J aufgrund ihres hohen Alters und ihres gesundheitlichen Zustands ersti-
cken wird. Er will jedoch mit dem ganzen Geschehen nichts mehr zu tun haben und joggt
weiter. J bleibt liegen und stirbt wenige Zeit später. Hätte O einen Krankenwagen gerufen,
wäre J gerettet worden. Dies war O auch bewusst.
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Wie haben sich T und O nach dem StGB strafbar gemacht? Strafanträge sind gestellt. Nicht
zu prüfen sind §§ 211, 221 und 227 StGB.
1. Das Landgericht Berlin hatte 1992 darüber zu befinden, ob der Angeklagte Erich Honecker
wegen Totschlags in mehreren Fällen zu verurteilen sei. Honecker war als Generalsekretär des
Zentralkomitees der SED einer der mächtigsten Politiker der DDR gewesen. Die Anklage
warf Honecker vor, gemeinsam mit mehreren Mitangeklagten in der Zeit von 1961 bis 1989
am Totschlag von insgesamt 68 Menschen beteiligt gewesen zu sein, indem er angeordnet
habe, die Grenzanlagen um West-Berlin und die Sperranlagen zur Bundesrepublik Deutsch-
land auszubauen, um ein Passieren für sogenannte Republikflüchtlinge unmöglich zu machen.
Insbesondere zwischen 1962 und 1980 habe er mehrfach Maßnahmen und Festlegungen zum
weiteren pioniertechnischen Ausbau der Grenze durch Errichtung von Streckmetallzäunen zur
Anbringung der Selbstschussanlagen und der Schaffung von Sicht- und Schussfeld entlang
der Grenzsicherungsanlagen getroffen, um Grenzdurchbrüche zu verhindern. Honecker war
zum Zeitpunkt des Prozesses bereits schwer krank, und seine Lebenserwartung war medizini-
schen Untersuchungen zufolge geringer als zwei Jahre. Welche Straf(zweck)theorien könnten
eine Verurteilung rechtfertigen?
2. Am 1. Mai 1990 führte T im Straßenverkehr seinen Pkw mit einer Blutalkoholkonzentrati-
on (BAK) von 1,2 Promille. Zum Tatzeitpunkt lag nach der Rechtsprechung der absolute
Fahruntüchtigkeit im Sinne des § 316 StGB begründende Grenzwert bei 1,3 Promille. Mit
Urteil vom 28. Juni 1990 setzte der Bundesgerichtshof den Grenzwert auf 1,1 Promille herab.
Eine Norm, welche die Fahruntüchtigkeit regelt, gab und gibt es nicht. Im September 1990
wird T bezüglich seiner Tat vom 1. Mai 1990 vor dem Amtsgericht Regensburg wegen Trun-
kenheit im Verkehr gemäß § 316 StGB angeklagt. In der Hauptverhandlung macht T geltend,
dass eine auf die absolute Fahruntüchtigkeit gestützte Verurteilung Artikel 103 Absatz 2 GG
verletzen würde. Wie ist dieses Vorbringen rechtlich zu würdigen?
Zu Teil 1:
Nehmen Sie in einem Gutachten zur Fallfrage Stellung. Nicht zu prüfen sind §§ 211, 221 und
227 StGB.
Zu Teil 2:
Beantworten Sie die Fragen.
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A. Strafbarkeit des T
I. Strafbarkeit des T gemäß § 223 Absätze 1 und 2, § 224 Absatz 1 Nummer 2 Alternati-
ve 2, Nummer 3, Nummer 5, Absatz 2, § 22 StGB durch Ausholen mit dem Baseball-
schläger (+)
T könnte sich gemäß § 223 Absätze 1 und 2, § 224 Absatz 1 Nummer 2 Alternative 2, Num-
mer 3, Nummer 5, Absatz 2, § 22 StGB strafbar gemacht haben, indem er mit dem Baseball-
schläger zum Schlag ausholte.
1. Vorprüfung (+)
Die Tat ist nicht vollendet. Die versuchte gefährliche Körperverletzung ist strafbar,
§ 23 Absatz 1 Alternative 2, § 12 Absatz 2, § 223 Absatz 2, § 224 Absatz 2 StGB.
2. Tatentschluss (+)
T müsste Vorsatz bezüglich aller objektiven Tatbestandsmerkmale einer gefährlichen
Körperverletzung gehabt haben. Zusätzlich müssten alle weiteren subjektiven Tatbe-
standsmerkmale vorliegen, die das Gesetz verlangt.1
a) Tatentschluss hinsichtlich § 223 Absatz 1 StGB (+)
T müsste vorsätzlich, das heißt mit dem Willen zur Verwirklichung eines Straftat-
bestands in Kenntnis aller seiner Tatumstände,2 hinsichtlich der körperlichen
Misshandlung und der Gesundheitsschädigung im Sinne des § 223 Absatz 1 StGB
1 WALTER, Tonio, Vorlesung Strafrecht Allgemeiner Teil II, 2. Auflage 2013, Rn. 91. 2 WALTER, Tonio, Vorlesung Strafrecht Allgemeiner Teil I, 3. Auflage 2017, Rn. 304.
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gehandelt haben. Unter einer körperlichen Misshandlung versteht man eine üble,
unangemessene Behandlung, durch die das körperliche Wohlbefinden oder die
körperliche Unversehrtheit nicht nur unerheblich beeinträchtigt wird.3 Unter einer
Gesundheitsschädigung versteht man das Hervorrufen oder Steigern eines – nicht
nur unerheblichen – krankhaften (= pathologischen) Zustandes.4 T wollte O mit
seinem Baseballschläger eine Abreibung verpassen und somit sowohl körperlich
misshandeln als auch an der Gesundheit schädigen. Insoweit handelte er mit Vor-
satz (Dolus directus 1. Grades).
b) Tatentschluss hinsichtlich § 224 Absatz 1 Nummer 2 Alternative 2 StGB (+)
T handelte zudem vorsätzlich hinsichtlich der Begehung der Körperverletzung
mittels eines gefährlichen Werkzeugs § 224 Absatz 1 Nummer 2 Alternative 2
StGB. Ein Baseballschläger ist ein gefährliches Werkzeug, da er nach seiner ob-
jektiven Beschaffenheit und der Art der Verwendung im konkreten Fall – Einsatz
zum Schlagen eines anderen Menschen – geeignet ist, erhebliche Verletzungen zu-
zufügen.5
c) Tatentschluss hinsichtlich § 224 Absatz 1 Nummer 3 StGB (+)
Fraglich ist, ob T Vorsatz hinsichtlich der Begehung der Körperverletzung mittels
eines hinterlistigen Überfalls im Sinne des § 224 Absatz 1 Nummer 3 StGB hatte.
Ein Überfall ist ein überraschender oder unerwarteter Angriff. Die Hinterlist setzt
voraus, dass der Täter planmäßig in einer auf Verdeckung seiner wahren Absicht
berechneten Weise vorgeht, um die Abwehr des nicht erwarteten Angriffs zu er-
schweren.6 Auch ein Angriff nach einem Auflauern ist ein hinterlistiger Überfall.7
T lauerte hinter einem Busch und sprang aus seinem Versteck hervor, um O zu
schlagen. Er handelte somit mit Vorsatz hinsichtlich der Begehung der Körperver-
letzung mittels eines hinterlistigen Überfalls.
3 RENGIER, Rudolf, Strafrecht Besonderer Teil II, 18. Auflage 2017, § 13 Rn. 7. 4 RENGIER (Fn. 3) § 13 Rn. 11. 5 RENGIER (Fn. 3) § 14 Rn. 27. 6 RENGIER (Fn. 3) § 14 Rn. 44. 7 BGH, Beschluß vom 17. Juni 2004 – 1 StR 62/04.
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d) Tatentschluss hinsichtlich § 224 Absatz 1 Nummer 5 StGB (+)
Fraglich ist, ob T auch Vorsatz hinsichtlich der Begehung der Körperverletzung
mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung im Sinne des § 224 Absatz 1
Nummer 5 StGB hatte. Eine Minderheit verlangt hierfür eine Verletzungshand-
lung, die das Opfer in konkrete Lebensgefahr bringt. T wollte dem O lediglich eine
Abreibung verpassen und ihn nicht in eine konkrete Lebensgefahr bringen. Eine
konkrete Lebensgefährdung war daher nicht vom Vorsatz des T erfasst. Die herr-
schende Meinung lässt eine Verletzungshandlung ausreichen, die nach den Um-
ständen des Falles generell zur Lebensgefährdung geeignet ist.8 Bei einem Schlag
mit dem Baseballschläger kann es durchaus zu Verletzungen kommen, die zum
Tod des Opfers führen (zum Beispiel bei einem Schlag gegen den Kopf). Der
Schlag des T wäre generell zur Lebensgefährdung geeignet gewesen. Subjektiv
genügt nach der Rechtsprechung die Kenntnis derjenigen konkreten Umstände, aus
denen sich die allgemeine Lebensgefährlichkeit ergibt.9 Diese Kenntnis hatte T
vorliegend. Er wollte O zwar lediglich eine Abreibung verpassen. Ihm war jedoch
der Umstand bewusst, dass eine Körperverletzung mittels eines Baseballschlägers
durchaus auch schlimmere Folgen hervorrufen kann. Somit handelte er mit Vor-
satz hinsichtlich einer abstrakten Lebensgefahr. Da die beiden Ansichten zu unter-
schiedlichen Ergebnissen kommen, bedarf es eines Streitentscheides: Gegen das
Erfordernis einer konkreten Lebensgefahr spricht, dass sich der Unrechtsgehalt
von § 224 Absatz 1 Nummer 5 StGB zu weit von den anderen Varianten des § 224
Absatz 1 StGB entfernt; die gefährliche Körperverletzung rückt dann schon zu na-
he an den versuchten Totschlag. T hatte also Vorsatz hinsichtlich der Begehung
der Körperverletzung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung.
[Andere Ansicht vertretbar]
8 Für die herrschende Meinung STREE/STERNBERG-LIEBEN in Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 29. Auflage
2014, § 224 Rn. 12 ff. 9 BGH, Urteil vom 29. April 2004 – 4 StR 43/04.
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3. Unmittelbares Ansetzen (+)
Der Täter setzt im Sinne des § 22 StGB unmittelbar an, wenn zur Vollendung keine
wesentlichen Zwischenschritte mehr von ihm erforderlich sind oder wenn es in enger
zeitlicher Nähe zur Vollendung kommen soll und das Angriffsobjekt jeweils bereits
unmittelbar gefährdet erscheint.10 T hat unmittelbar zur Tat angesetzt, indem er zum
Schlag ausholte.
4. Rechtswidrigkeit und Schuld (+)
T handelte rechtswidrig und schuldhaft.
5. Rücktritt (–)
T könnte jedoch strafbefreiend zurückgetreten sein.
a) Fehlgeschlagener Versuch (–/+)
Fraglich ist, ob ein fehlgeschlagener und damit nicht mehr rücktrittsfähiger Ver-
such vorliegt. Hierbei kommt es darauf an, ob man der Einzelakttheorie oder der
Gesamtbetrachtungslehre folgt.11
aa) Einzelakttheorie (+)
Die Einzelakttheorie erfasst jede einzelne Handlung, die der Täter für erfolgsge-
eignet gehalten hat, gesondert; scheitert eine Handlung, sei der Versuch fehlge-
schlagen. Da T aufgrund der Wirkungen des Pfeffersprays seine Augen schloss,
ging sein Schlag ins Leere. Die Handlung war daher gescheitert und der Versuch
fehlgeschlagen.
bb) Gesamtbetrachtungslehre (–)
Nach der herrschenden Gesamtbetrachtungslehre ist ein Versuch fehlgeschlagen,
wenn der Täter davon ausgeht, dass er die Tat mit den ihm zur Verfügung stehen-
den Mitteln jedenfalls nur mit zeitlich relevanter Zäsur vollenden kann. Zwar ging
10 WALTER (Fn. 1) Rn. 115. 11 Siehe zur gesamten Problematik WALTER (Fn. 1) Rn. 136 f.
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der erste Schlag des T ins Leere. Als T seine Augen wieder öffnete und O noch
vor ihm stand, erkannte T jedoch, dass er O mit einem weiteren Schlag treffen und
auch verletzen könnte. T ging daher davon aus, dass er die Tat mit den ihm zur
Verfügung stehenden Mitteln ohne zeitlich relevante Zäsur vollenden könnte.
Nach der Gesamtbetrachtungslehre lag also kein fehlgeschlagener Versuch vor,
weshalb ein Rücktritt möglich war.
cc) Stellungnahme (–)
Für die Einzelakttheorie wird ins Feld geführt, dass es ansonsten von Zufällen ab-
hängig sei, ob der Täter zurücktreten könne. Der Gesamtbetrachtungslehre wird
aber gefolgt. Der Täter kehrt „auf den Boden des Rechts“ zurück, wenn er die Tat
nicht fortsetzt, obwohl er den Erfolg noch herbeiführen könnte. Die Einzelakttheo-
rie zerreißt ein einheitliches Tatgeschehen. Der Gesamtbetrachtungslehre ist au-
ßerdem unter dem Gesichtspunkt des Opferschutzes zu folgen: Dem Täter muss
ein Anreiz geschaffen werden, von der weiteren Tatausführung abzulassen, weil er
dann Straffreiheit erlangen kann. Der Versuch war also nicht fehlgeschlagen.
[Andere Ansicht vertretbar]
b) Unbeendeter Versuch (+)
Es lag ein unbeendeter Versuch vor, da T meint, noch nicht alles Erforderliche ge-
tan zu haben, um den Erfolg herbeizuführen.
c) Aufgeben der weiteren Ausführung der Tat (+)
Beim unbeendeten Versuch reicht es gemäß § 24 Absatz 1 Satz 1 Alternative 1
StGB aus, wenn der Täter die weitere Ausführung der Tat freiwillig aufgibt. Auf-
geben ist das Unterlassen der weiteren Ausführung nach dem Entschluss, auf die
Tat zu verzichten.12 T hat seine Verletzungsabsicht aufgegeben und von O abge-
lassen. Somit hat er die weitere Ausführung der Tat aufgegeben.
12 WALTER (Fn. 1) Rn. 140.
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d) Freiwilligkeit (–)
T müsste die weitere Ausführung der Tat schließlich freiwillig aufgegeben haben.
Umstritten ist der Maßstab der Freiwilligkeit:13
aa) Psychologisierende Auffassung (–)
Die herrschende psychologisierende Auffassung fragt, ob der Täter selbstbestimmt
(autonom) zurücktritt – dann freiwillig – oder fremdbestimmt (heteronom), das
heißt unter einem psychischen Druck, dem er nicht widerstehen kann. Entschei-
dend für die Freiwilligkeit sei, ob der Täter „Herr seiner Entschlüsse“ bleibe. T
war geschockt von der Gegenwehr des O und wollte keinesfalls ein weiteres Mal
angreifen. T stand somit unter psychischem Druck; er war nicht mehr Herr seiner
Entschlüsse. Nach dieser Ansicht war der Rücktritt des T unfreiwillig.
bb) Normative Auffassung (–)
Das Schrifttum befürwortet zum Teil normative Kriterien. Freiwillig tritt zurück,
wer aus Achtung vor dem rechtlichen Verbot handle. Ein griffiges normatives Kri-
terium ist die Testfrage von ROXIN, ob der Täter lediglich tue, was die „Verbre-
chervernunft“ gebiete – dann unfreiwilliger Rücktritt –, oder ob er dieser Vernunft
zuwiderhandle. Sein Ziel, O zu verletzen, hätte er noch erreichen können. Jedoch
entsprach sein Handeln der „Verbrechervernunft“. Das aus der Verteidigungsbe-
reitschaft resultierende Verletzungsrisiko wollte T nicht in Kauf nehmen. Jeden-
falls handelt T nicht aus Achtung vor dem rechtlichen Verbot. Auch nach dieser
Ansicht handelte T nicht freiwillig. Somit ist T nicht strafbefreiend zurückgetreten.
6. Ergebnis
A hat sich schuldig gemacht einer versuchten gefährlichen Körperverletzung (§ 223
Absätze 1 und 2, § 224 Absatz 1 Nummer 2 Alternative 2, Nummer 3, Nummer 5, Ab-
satz 2, § 22 StGB).
13 Siehe zur gesamten Problematik WALTER (Fn. 1) Rn. 141.
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II. Strafbarkeit des T gemäß § 222 StGB durch Ausholen mit dem Baseballschläger zum
Nachteil der J (–)
T könnte sich gemäß § 222 StGB strafbar gemacht haben, indem er mit dem Baseballschläger
zum Schlag ausholte.
1. Tatbestand (–)
a) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung (+)
T müsste eine objektive Sorgfaltspflicht verletzt haben. Das ist der Fall, wenn T
ein unerlaubtes Risiko geschaffen hat.14 In dem Ausholen mit dem Baseballschlä-
ger liegt ein unerlaubtes Risiko. T hat daher eine objektive Sorgfaltspflicht ver-
letzt.
b) Erfolg (+)
Der tatbestandliche Erfolg ist mit dem Tod der J eingetreten.
c) Kausalität (+)
Eine Handlung ist für einen Erfolg kausal, wenn sie nicht hinweggedacht werden
kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt (Ort/Zeit/Modus) entfiele.15
Das Ausholen mit dem Baseballschläger kann nicht hinweggedacht werden, ohne
dass der Tod der J entfiele. Somit ist die Handlung des T auch kausal für den Er-
folg.
d) Objektive Zurechnung (–)
Fraglich ist, ob T der Tod der J auch objektiv zurechenbar ist. Dies ist der Fall,
wenn T ein unerlaubtes Risiko geschaffen hat und sich das geschaffene Risiko in
dem konkreten Erfolg verwirklicht.16 T hat ein unerlaubtes Risiko geschaffen (sie-
he oben 1 a). Fraglich ist jedoch, ob sich dieses Risiko auch im tatbestandlichen
14 WALTER (Fn. 1) Rn. 5. 15 WALTER (Fn. 2) Rn. 323. 16 WALTER (Fn. 2) Rn. 251.
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Erfolg verwirklicht hat. Das ist problematisch, da ein atypischer Kausalverlauf
vorliegen könnte, der die Zurechnung ausschließt. Ein atypischer Kausalverlauf
liegt vor, wenn der Erfolgseintritt außerhalb der Lebenserfahrung liegt, so dass mit
ihm vernünftigerweise nicht gerechnet werden musste.17 T wollte lediglich dem O
mit seinem Baseballschläger eine Abreibung verpassen. Dass dieser sich mit ei-
nem Pfefferspray zur Wehr setzt und dabei Dritte in einem öffentlich zugänglichen
Park in die Wolke aus Pfefferspray geraten und somit zu Schaden kommen, liegt
wohl noch innerhalb der Lebenserfahrung. Dass es sich bei der betroffenen J um
eine 90-jährige Frau handelt, die aufgrund des Angriffs keine Luft mehr bekommt
und O die J nach der Flucht des T einfach zurücklässt und dies dann zum Tod der J
führt, liegt jedoch völlig außerhalb jeder Lebenserfahrung. Damit hätte J nicht
mehr zu rechnen brauchen. Somit scheitert die objektive Zurechnung aufgrund
dieses atypischen Kausalverlaufs.
[Ebenso vertretbar ist es, die objektive Vorhersehbarkeit zu verneinen. Problema-
tisch, aber mit guter Begründung noch vertretbar ist es, einen Zurechnungsaus-
schluss aufgrund fehlenden Pflichtwidrigkeitszusammenhangs anzunehmen, weil
der Erfolg außerhalb des Schutzbereichs der Norm liege. Hiernach scheitert eine
Zurechnung, wenn die verletzte Verhaltensnorm nicht der Verhinderung von Er-
folgen der Art des eingetretenen dient.18 Die verletzte Verhaltensnorm „Schlage
andere nicht mit einem Baseballschläger“ dient dem Schutz von Leib und Leben
derjenigen, die sich im Wirkungsbereich des Schlages befinden. Das umfasst keine
Kollateralschäden bei Notwehrhandlungen. Allerdings ist es vertretbar, auch sol-
che Schäden noch vom Schutzbereich der Verhaltensnorm umfasst sein zu lassen.
Dafür spricht auch die Lösung hier unter III zu § 229 StGB. Kaum vertretbar ist
ein Zurechnungsausschluss aufgrund eines vorsätzlichen Dazwischentretens eines
Dritten, da nur ein deliktisches (= vollverantwortliches) Eingreifen Dritter die Zu-
rechnung unterbricht.19 O handelte jedoch gerechtfertigt/entschuldigt (siehe unten
17 WALTER (Fn. 2) Rn. 262. 18 WALTER (Fn. 2) Rn. 266. 19 WALTER (Fn. 2) Rn. 278.
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B II 2, 3) und somit nicht deliktisch. Hieran würde ein Zurechnungsausschluss
scheitern.]
2. Ergebnis
T hat sich nicht gemäß § 222 StGB strafbar gemacht.
III. Strafbarkeit des T gemäß § 229 StGB durch Ausholen mit dem Baseballschläger
zum Nachteil der J (+)
T hat sich jedoch gemäß § 229 StGB zum Nachteil der J strafbar gemacht, indem er mit dem
Baseballschläger zum Schlag ausholte. Eine Zurechnung scheitert auch nicht aufgrund eines
atypischen Kausalverlaufs, beziehungsweise wegen mangelnder objektiver Vorhersehbarkeit,
da es noch innerhalb der Lebenserfahrung liegt, dass sich O mit einem Pfefferspray zur Wehr
setzt und dabei Dritte in einem öffentlich zugänglichen Park in die Wolke aus Pfefferspray
geraten und somit körperlich misshandelt oder an der Gesundheit geschädigt werden (siehe
oben II 1 d).
[Andere Ansicht vertretbar]
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B. Strafbarkeit des O
I. Strafbarkeit des O gemäß § 223 Absatz 1, § 224 Absatz 1 Nummer 1 Alternative 1,
Nummer 2 Alternative 2, Nummer 5 StGB durch Sprühen mit dem Pfefferspray zum
Nachteil des T (–)
T könnte sich gemäß § 223 Absatz 1, § 224 Absatz 1 Nummer 1 Alternative 1, Nummer 2
Alternative 2, Nummer 5 StGB strafbar gemacht haben, indem er mit dem Pfefferspray sprüh-
te.
1. Tatbestand (+)
a) Objektiver Tatbestand hinsichtlich § 223 StGB (+)
Indem O dem T mit seinem Pfefferspray ins Gesicht sprühte, hat er diesen sowohl
körperlich misshandelt als auch an der Gesundheit geschädigt.
b) Objektiver Tatbestand hinsichtlich § 224 Absatz 1 Nummer 1 Alternative 1 StGB
(+)
Das Pfefferspray könnte ein Gift im Sinne des § 224 Absatz 1 Nummer 1 Alterna-
tive 1 StGB sein. Gift ist jeder organische oder anorganische Stoff, der durch che-
mische oder chemisch-physikalische Wirkung die Gesundheit schädigen kann.20
Das Pfefferspray ist ein Gift, da es als (an-)organischer Stoff chemisch wirkt.21
c) Objektiver Tatbestand hinsichtlich § 224 Absatz 1 Nummer 2 Alternative 2 StGB
(+)
Fraglich ist, ob das Pfefferspray eine Waffe oder ein gefährliches Werkzeug im
Sinne des § 224 Absatz 1 Nummer 2 StGB ist. Bestimmt man das Merkmal „Waf-
fe” anhand des Waffengesetzes (WaffenG), so handelt es sich bei dem handelsüb-
lichen Pfefferspray nicht um eine Waffe im technischen Sinn, wenngleich es zwar
20 RENGIER (Fn. 3) § 14 Rn. 9. 21 JESSE, Björn, Das Pfefferspray als alltägliches gefährliches Werkzeug, NStZ 2009, 364 (365).
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geeignet, aber nicht – entsprechend der üblichen Definition – dazu bestimmt ist,
Menschen auf mechanischem oder chemischem Wege Verletzungen beizubringen.
Wegen dieser Geeignetheit ist das Pfefferspray, dessen Einsatz zu einer Körperver-
letzung führt („mittels”), aber ein gefährliches Werkzeug, also ein Gegenstand, der
nach seiner objektiven Beschaffenheit und Art seiner Benutzung im konkreten Fall
(nämlich sprühen des Reizstoffes auf einen Menschen) erhebliche Verletzungen
hervorrufen kann.22
d) Objektiver Tatbestand hinsichtlich § 224 Absatz 1 Nummer 5 StGB (+)
Da das hochwirksame Pfefferspray typischerweise in die empfindliche Gesichtsre-
gion gesprüht wird, ist es möglich – wenngleich nicht wahrscheinlich – , dass ganz
erhebliche Wirkungen – beispielsweise deutliche Atemnot oder Erstickungsanfälle
– eintreten. Somit ist eine von der herrschende Meinung verlangte abstrakte Le-
bensgefahr gegeben.23
[Andere Ansicht vertretbar]
e) Subjektiver Tatbestand (+)
O handelte auch vorsätzlich.
2. Rechtswidrigkeit (–)
O könnte jedoch nach § 32 StGB gerechtfertigt sein. Eine Notwehrlage, das heißt ein
gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff liegt in dem Ausholen mit dem Baseballschlä-
ger durch T. Auch ist das Sprühen mit dem Pfefferspray geeignet, den Angriff des T
abzuwehren, und erforderlich, da dem O kein milderes, gleich geeignetes Mittel zur
Seite steht. Die Abwehrhandlung ist zudem geboten. Somit ist O gemäß § 32 StGB ge-
rechtfertigt. Auch hatte O die Absicht sich zu verteidigen.
22 BGH, Beschluss vom 12. Juni 2012 – 3 StR 186/12; JESSE (Fn. 21) S. 366. 23 JESSE (ebd.).
14
3. Ergebnis
O hat sich daher keiner gefährlichen Körperverletzung (§ 223 Absatz 1, § 224 Absatz
1 Nummer 1 Alternative 1, Nummer 2 Alternative 2, Nummer 5 StGB) schuldig ge-
macht.
II. Strafbarkeit des O gemäß § 223 Absatz 1, § 224 Absatz 1 Nummer 1 Alternative 1,
Nummer 2 Alternative 2, Nummer 5 StGB durch Sprühen mit dem Pfefferspray zum
Nachteil der J (–)
O könnte sich gemäß § 223 Absatz 1, § 224 Absatz 1 Nummer 1 Alternative 1, Nummer 2
Alternative 2, Nummer 5 StGB strafbar gemacht haben, indem er mit dem Pfefferspray sprüh-
te.
1. Tatbestand (+)
Indem O der J mit seinem Pfefferspray ins Gesicht sprühte, hat er diese sowohl kör-
perlich misshandelt als auch an der Gesundheit geschädigt. Das Pfefferspray ist so-
wohl ein Gift, als auch ein gefährliches Werkzeug (siehe oben I 1 b, c). Auch ist der
Qualifikationstatbestand des § 224 Absatz 1 Nummer 5 StGB erfüllt. Vorliegend ist
sogar eine konkrete Lebensgefahr gegeben, da J keine Luft mehr bekommt und zu er-
sticken droht. O handelte zudem wissentlich (Dolus directus 2. Grades).
2. Rechtswidrigkeit (+)
Fraglich ist, ob O gerechtfertigt ist. Notwehr als Rechtfertigungsgrund scheidet aus.
§ 32 StGB rechtfertigt nach ganz herrschender Meinung nur Notwehhandlungen, die
Rechtsgüter des Angreifers in Mitleidenschaft ziehen.24 J indes ist unbeteiligte Dritte.
[Andere Ansicht vertretbar]
O könnte jedoch nach § 34 StGB (rechtfertigender Notstand) gerechtfertigt sein.
24 WALTER (Fn. 2) Rn. 378.
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a) Notstandslage (+)
Hierzu bedarf es zunächst einer Notstandslage, das heißt einer gegenwärtigen Ge-
fahr für ein nach § 34 Satz 1 StGB geschütztes Rechtsgut. Eine Gefahr ist ein Zu-
stand, der bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens als-
bald zu einem Schaden führen wird.25 Gegenwärtig ist die Gefahr im Grundsatz,
wenn der Schaden alsbald eintreten kann.26 Da T mit seinem Baseballschläger zum
Schlag ausholte, lag eine gegenwärtige Gefahr für Leib und Leben des O vor.
b) Notstandshandlung (–)
Fraglich ist jedoch, ob eine Notstandshandlung gegeben ist. Zwar war das Sprühen
mit dem Pfefferspray erforderlich, da O kein milderes, gleich geeignetes Mittel zur
Verfügung stand. Jedoch fällt die nach § 34 Satz 1 StGB erforderlichen Interes-
senabwägung zulasten des O aus. Da die gegenwärtige Gefahr für Leib und Leben
des O nicht von J, sondern von T ausging, liegt ein Fall des Aggressivnotstands
vor. Das geschützte Interesse muss das beeinträchtigte daher wesentlich überwie-
gen. Das ist der Abwägungsmaßstab für den Aggressivnotstand.27 Die betroffenen
Rechtsgüter sind Leib und Leben des O auf der einen, Leib und Leben der J auf
der anderen Seite. Der Rang der Rechtsgüter ist daher derselbe. Der Schaden des
O, der zum Zeitpunkt der Notstandshandlung des O einzutreten droht, überwiegt
auch sonst nicht den drohenden Schaden der J. Somit scheitert die Notwehrhand-
lung an der Interessenabwägung.
[Andere Ansicht gut vertretbar. Dann ist jedoch bei der weiteren Prüfung der
Meinungsstreit zu beachten, ob sich eine Garantenstellung auch aus einem voran-
gegangenen gerechtfertigten Tun ergeben kann. Die herrschende Literatur bejaht
dies beim aggressiven Notstand.28]
25 WALTER (Fn. 2) Rn. 395. 26 WALTER (Fn. 2) Rn. 396. 27 WALTER (Fn. 2) Rn. 398. 28 WALTER (Fn. 1) Rn. 80.
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3. Schuld (–)
Jedoch könnte O nach § 35 StGB entschuldigt sein. Die Notstandslage bestand in einer
gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben des O. Die Notstandshandlung war zur Ge-
fahrenabwehr geeignet und erforderlich (siehe oben 2). Auch sind die Unzumutbarkeit
und der subjektive Entschuldigungstatbestand gegeben. O handelte daher entschuldigt.
4. Ergebnis
O hat sich daher keiner gefährlichen Körperverletzung (§ 223 Absatz 1, § 224 Absatz
1 Nummer 1 Alternative 1, Nummer 2 Alternative 2, Nummer 5 StGB) schuldig ge-
macht.
III. Strafbarkeit des O gemäß § 212 Absatz 1, § 13 StGB durch Liegenlassen der J (+)
Fraglich ist, ob sich O gemäß § 212 Absatz 1, § 13 StGB strafbar gemacht hat, indem er J
liegen ließ.
1. Tatbestand (+)
a) Objektiver Tatbestand (+)
aa) Tatbestandsmäßiger Erfolg (+)
Mit dem Tod der J ist der tatbestandsmäßige Erfolg eingetreten.
bb) Unterlassen einer zur Erfolgsabwendung (ex ante) geeigneten und erforderli-
chen Handlung bei physisch-realer Handlungsmöglichkeit (+)
cc) Hypothetische Kausalität (+)
Das Unterlassen müsste für den Erfolg auch hypothetisch kausal geworden sein.
Hypothetisch kausal sind solche Unterlassungen, bei denen die unterlassene Hand-
lung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele.29 Hätte O ei-
29 WALTER (Fn. 1) Rn. 59.
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nen Krankenwagen gerufen, wäre J gerettet worden. Das Unterlassen dieser Hand-
lung ist für den Erfolg hypothetisch kausal.
dd) Garantenstellung (+)
O ist Beschützergarant kraft Ingerenz. In dem Sprühen mit dem Pfefferspray liegt
ein vorangegangenes gefährdendes Tun. Dass die Körperverletzung des O zum
Nachteil der J entschuldigt ist, tut der Garantenstellung aus Ingerenz keinen Ab-
bruch.
ee) Entsprechungsklausel, § 13 Absatz 1 Halbsatz 2 StGB (+)
Das Unterlassen weist den Sinngehalt eines positiven Tuns auf.
ff) Objektive Zurechnung (+)
Es liegt kein die Zurechnung ausschließender atypischer Kausalverlauf vor, da es
nicht völlig außerhalb jeglicher Lebenserfahrung liegt, dass die 90-jährige J auf-
grund des Angriffs mit dem Pfefferspray keine Luft mehr bekommt und stirbt.
b) Subjektiver Tatbestand (+)
O erkannte, dass J aufgrund ihres hohen Alters und ihres gesundheitlichen Zu-
stands keine Luft mehr bekommt und ersticken könnte. Hätte O den Krankenwa-
gen gerufen, wäre T gerettet worden. Dies war O bewusst. Er handelt somit vor-
sätzlich.
2. Rechtswidrigkeit und Schuld (+)
O handelte rechtswidrig und schuldhaft.
3. Ergebnis
O hat sich schuldig gemacht einer Tötung durch Unterlassen (§ 212 Absatz 1, § 13
StGB).
18
IV. Strafbarkeit des O gemäß § 323c Absatz 1 StGB durch Liegenlassen der J (+)
Zudem könnte sich O gemäß § 323c StGB strafbar gemacht haben, indem er die J liegen ließ.
Hierzu müsste zunächst ein Unglücksfall vorliegen. Ein Unglücksfall ist ein plötzlich eintre-
tendes Ereignis, das erhebliche Gefahren für Personen oder bedeutende Sachwerte mit sich
bringt.30 Ein solches Ereignis liegt vor, da J röchelnd am Boden liegt und zu ersticken droht.
Eine Hilfeleistung wäre erforderlich und dem O auch möglich und zumutbar gewesen. Sub-
jektiver Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld begegnen keinen Bedenken. Somit hat sich
O auch einer unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c Absatz 1 StGB) schuldig gemacht.
C. Konkurrenzen und Ergebnis
A hat sich schuldig gemacht einer versuchten gefährlichen Körperverletzung (§ 223 Absätze 1
und 2, § 224 Absatz 1 Nummer 2 Alternative 2, Nummer 3, Nummer 5, Absatz 2, § 22 StGB)
in Tateinheit (§ 52 StGB) mit fahrlässiger Körperverletzung (§ 229 StGB). O hat sich schul-
dig gemacht einer Tötung durch Unterlassen (§ 212 Absatz 1, § 13 StGB). § 323c StGB tritt
gegenüber dem vorsätzlichen unechten Unterlassungsdelikt des § 212 Absatz 1, § 13 StGB im
Wege der Gesetzeskonkurrenz (Subsidiarität) zurück.
30 RENGIER (Fn. 3) § 42 Rn. 3.
19
Frage 1:
„Absolute“ Straftheorie: Strafe hat allein den Zweck, Unrecht zu vergelten („Auge um Auge,
Zahn um Zahn“). Diese Strafzwecktheorie würde eine Verurteilung rechtfertigen. Dass die
DDR zum Zeitpunkt des Verfahrens nicht mehr existierte, und die schwere Erkrankung und
die daraus resultierende geringe Lebenserwartung Honeckers spielen insoweit keine Rolle.
Mit Kants Inselbeispiel gesprochen soll jedem das widerfahren, was seine Taten wert sind, sei
und komme was wolle.
Spezialprävention: „Prävention“ heißt Vorbeugung, und im Zusammenhang der Straftheorien
geht es stets um die Vorbeugung bezüglich neuer Straftaten. Dabei steht der Begriff der Spe-
zialprävention für Vorbeugemaßnahmen gegenüber dem Täter, der eine Straftat begangen hat.
Gemäß der Straftheorie der Spezialprävention ist es folglich der Sinn der Strafen, diesen Täter
von weiteren Taten abzuhalten. Gelegenheitstäter sind abzuschrecken, Besserungsfähige sind
zu bessern und die Verbleibenden sind unschädlich zu machen. Diese Strafzwecktheorie wür-
de eine Verurteilung nicht rechtfertigen. Die DDR existiert zum Zeitpunkt des Verfahrens
nicht mehr und die Berliner Mauer war gefallen. Somit stand nicht zu befürchten, dass Ho-
necker erneut ähnliche Verbrechen begehen könnte. Zudem hat Honecker nur noch eine sehr
kurze Lebenserwartung, was gegen einen „Denkzettel“ spricht, um den individuellen Täter
von weiteren Taten abzuschrecken.
Negative Generalprävention: Negative Generalprävention heißt abschrecken der Allgemein-
heit. Es geht darum, Menschen von Straftaten abzuhalten. Diese Strafzwecktheorie würde
eine Verurteilung nicht rechtfertigen. Vor Taten, wie sie in der DDR begangen wurden, war
nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung nicht mehr abzuschrecken, weil es diese
Sondersituation nicht mehr gibt. Man könnte aber auch auf den Totschlag an sich abstellen
und deshalb eine Bestrafung zur Abschreckung der Bevölkerung verlangen.
Positive Generalprävention: Positive Generalprävention meint, Strafe diene dazu, das Rechts-
bewusstsein der Bürger zu stabilisieren. Angesichts eines Verbrechens habe man zwei Mög-
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lichkeiten zu reagieren: kognitiv, das heißt erkennend und lernend, indem man nämlich seine
Erwartung aufgebe, dergleichen werde aufgrund wirksamen Verbotes nicht geschehen. Oder
normativ, indem man an dieser Erwartung festhalte. Um diese zweite, erwünschte Reaktion
zu ermöglichen, müsse das verletzte Verbot bekräftigt werden. Diese Strafzwecktheorie wür-
de eine Verurteilung nicht rechtfertigen. Man könnte zwar argumentieren, dass es immer
sinnvoll sei, das Tötungsverbot zu bekräftigen. Allerdings bedarf das Tötungsverbot keiner
Bekräftigung. Es gibt weltweit einen festen Kern moralischer Grundnormen, die in allen
Hochkulturen und großen Religionen gelten. Dazu gehört das Tötungsverbot – sofern die Tö-
tung nicht in Notwehr geschieht oder um eine gesetzeskonforme Strafe zu vollstrecken (wenn
ein Land die Todesstrafe praktiziert). Jene Grundnormen bedürfen keiner Bekräftigung, wenn
jemand sie verletzt. Auch bei Massenverbrechen der Weltgeschichte wie dem Völkermord des
NS-Regimes existierten diese Normen weiter; die Täter schlossen die Opfergruppen allenfalls
aus der Gemeinschaft der Menschen aus, zu deren Gunsten die Normen gelten. Davor kann
das Strafrecht aber nicht schützen.
Retributive Generalprävention: Um ein Konzept der Generalprävention handelt es sich bei
dieser Strafzwecktheorie, weil sie ebenfalls die Wirkungen der Strafe auf die Allgemeinheit
im Blick hat und weil es ihr darum geht, diese Allgemeinheit von gesellschaftsschädlichen
Handlungen abzuhalten. Allerdings nicht von einer Wiederholung des Delikts, das der Be-
strafte begangen hat. Sondern davon, die Zusammenarbeit mit dem Staat und seiner Justiz
aufzukündigen – wozu es käme, wenn die Bürger sähen, dass Staat und Justiz etwas unbe-
straft ließen, was nach dem Gerechtigkeitsgefühl der Bürger Vergeltung verlangte. Diese
Strafzwecktheorie würde eine Verurteilung rechtfertigen, da das Gerechtigkeitsgefühl der
Bürger eine Vergeltung verlangte. Dass die DDR zum Zeitpunkt des Verfahrens nicht mehr
existierte, spielt keine Rolle. Natürlich kann mit Blick auf die schwere Erkrankung Honeckers
und dem daraus resultierenden Gerechtigkeitsgefühl der Bürger auch anders argumentiert
werden.
21
Frage 2:
T rügt, dass eine Verurteilung wegen Trunkenheit im Verkehr gemäß § 316 StGB sein Grund-
recht aus Artikel 103 Absatz 2 GG verletzen würde. In Art. 103 Absatz 2 GG (den § 1 StGB
wortgleich wiederholt) ist das Gesetzlichkeitsprinzip verankert. Ausfluss dieses Gesetzlich-
keitsprinzips ist das Rückwirkungsverbot. Dieses besagt, dass ein Verhalten nicht erst im
nachhinein zur Straftat erklärt werden darf, wenn der Sich-Verhaltende doch keine Wahl mehr
hat, sich anders zu verhalten. Die Strafe muss ihm schon drohen, wenn er die Tat begeht.
Wann eine Tat „begangen“ ist, sagt § 8 StGB: zu dem Zeitpunkt, an welchem der Täter ge-
handelt hat oder hätte handeln müssen. Da sich die Garantie des Artikel 103 Absatz 2 GG
nach herrschender Meinung nur auf die gesetzliche Bestimmung der Strafbarkeit erstreckt, ist
der Straftäter nicht davor geschützt, dass die Rechtsprechung ihre Meinung zu seinen Un-
gunsten ändert und ihn insoweit rückwirkend belastet. Eine Verurteilung des T würde daher
Artikel 103 Absatz 2 GG nicht verletzen. Das Gesetz, nämlich § 316 StGB, ist zwischen der
Tat des T und der Anklage des T unverändert geblieben. Für T nachteilig geändert hat sich
nur die Auslegung des gesetzlichen Tatbestandsmerkmals „nicht in der Lage ist, das Fahrzeug
sicher zu führen“. Somit würde eine Verurteilung das Grundrecht des T aus Artikel 103 Ab-
satz 2 GG nicht verletzen.
[Andere Ansicht vertretbar]