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AB HAN D LU NO EN DER PREUSSISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN JAHRGANG 1932 PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE KLASSE NR. 1 DIE KANZLEI LUDWIGS DES DEUTSCHEN VON P. KEHR MIT 2 TAFELN bou24-W?'3 BERLIN 1932 VERLAG DER AKADEM1E DER W1SSENSCHAFTEN IN KOMMISSION BEI WALTER DE ORUYTER U.CO.

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AB HAN D LU NO ENDER PREUSSISCHEN AKADEMIE

DER WISSENSCHAFTEN

JAHRGANG 1932

PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE KLASSE

NR. 1

DIE KANZLEILUDWIGS DES DEUTSCHEN

VON

P. KEHR

MIT 2 TAFELN

bou24-W?'3

BERLIN 1932

VERLAG DER AKADEM1E DER W1SSENSCHAFTEN

IN KOMMISSION BEI WALTER DE ORUYTER U.CO.

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LEIHFRISTZETTEL V0/1 07.09.89 , 1 1 : :

Zu Beginn des vorigen Jahres habe ich der Akademie den von H. Bresslau begonnenenund von mir vollendeten 5. Band der Diplomata der Monumenta Germaniae mit den Ur-kunden des Kaisers H e in r i ch s III. vorgelegt1. Jetzt kann ich das baldige Erscheinen desi . Bandes der Urkunden der deutschen Karolinger mit den Diplomen L ud wigs desD eutschen ankiindigen. Wie ich damals den Versuch einer sozusagen diplomatisch-historischen Paraphrase der Urkunden Heinrichs III. gemacht habe, indem ich, was vonoeschichtlichen Beziehungen aus ihnen herausgelesen werden konnte, zusammenstellteund so ein unser bisheriges Wissen von Heinrich und seiner inneren und uBeren Politikergnzendes Bild zu zeichnen versuchte 2, so will ich jetzt einen gmlichen Versuch an denUrkunden Ludwigs des Deutschen wagen. Sind sie doch besonders denkwiirdig als diedes ersten Kònigs iiber die deutschen Lande, die wThrend seiner Regierung sich aus demgroBen Frankenreich absonderten und allmahlich ein deutsches Reich bildeten, dessenSchicksale durch die damals gezogenen Grenzen bis auf den heutigen Tag bestimmt wordensind. Wir tragen noch heute an dem, was damals vor elf Jahrhunderten geschah, und auchunsere Zukunft wird dadurch bedingt sein. Die Urkunden des ersten deutschen Kónigssind aber auch darum bemerkenswert, weil an ihnen der Begriinder der neueren Diplo-matik, Th. Sicke l, den ersten Versuch seiner neuen Methode erprobte. Dies war geradevor 70 Jahren, und so kiinnen wir riickschauend die Fortschritte ermessen, die die Wissen-schaft von den Urkunden seitdem gemacht hat. Sick els erste und zweite >>Beitrúge zurDiplomatik«3 zeigen bereits den Meister scharfer Kritik und streng logischen Verfahrens,aber sie lehren auch, wie der Erneuerer der Diplomatik damals noch ganz im Banne deralten Lehre stand; er suchte, hierin ganz ein Schiiler Ma b ill o ns, vor allem nach festen

egeln fUr die Beurteilung der Diplome; er spricht einmal (Beitr. 2 , 145) von der »Strengeder Regeln, welche die Diplomatik fùr die Originalausfertigungen aufzustellen bestrebtsein muf3«. So ist er zur Formulierung gewisser Postulate gelangt, an denen er lange mitmagistraler ahigkeit festgehalten hat, wie zu der Behauptung, daB Kapelle und Kanzleials zwei durchaus verschiedene Behórden anzusehen seien, deren Vorsteher und Mitgliederstrenge auseinander gehalten werden miiBten, oder zu der These, daB bis 876 die Reko-gnition immer eigenhndig gewesen sei; den ihr widersprechenden Urkunden sprach er dieOriginalitU oder auch gar die Echtheit ab. An dem ersten Satze hat er bis zuletzt fest-gehalten und mit ihm seme Nachfolger; erst M. T a ng l hat diesen Bann zu brechen ver-

' Monumenta Germaniae Historica. Diplomata t.V : Die Urkunden Heinrichs III., herausgegeben von H. Bres s-I a u und P. K e hr (Berlin 1931).

»Vier Kapitel aus der Geschichte Kaiser Heinrichs III.« in diesen Abhandlungen. Phil.-hist. Klasse 1931

3 In den Sitzungsberichten der phil.-hist. Klasse der Wiener Akademie Bd. 36 (Mirzheft 1861), 329ff. undBd- 39 (Januarheft 1862), xoff. Dazu noch Beitr. zur Dip1.7 ebenda Bd. 93 (Aprilheft 1879), 641ff. Sickel selbsthat sich iiber die Bedingtheit seiner Forschungen keinen Illusionen hingegeben : er bezeichnet sie (Beitr. I 331)alS teme umfassende Vorarbeit fiir eine Urkundenlehre». Vgl. auch seme Vorbemerkung zu Kaiserurk. in Abbild.,Lief. 7.

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4 Kehr:

sucht I; den zweiten hat er zwar nicht aufgegeben, aber schlieBlich doch Ausnahmen zuge-lassen2. Nichts charakterisiert den systematischen Geist Sickels mehr als diese Thesevon der Eigenhandigkeit der Rekognition, von der er lehrte, sie sei erst nach dem TodeLudwigs des Deutschen von den cirei Kanzleien seiner S6hne gleichzeitig aufgegebenworden. Aber solche Dinge pflegen sich allmahlich zu entwickeln und vollends im AlieniMittelalter, wo alles in langsamem Flusse sich vollzieht. Was ware das auch ftir ein sonder-bares Zusammentreffen, daB die drei sonst so uneinigen Brilder gerade in dieser fiir sieund ihre Under ziemlich gleichgaltigen Sache pliitzlich einmal einig gewesen waren undsich wie auf Verabredung zur Beseitigung einer ehrwilrdigen Gewohnheit entschlossenhatten. So unwahrscheinlich das ist, so hat doch kein Diplomatiker und kein Historikeran diesem seltsamen historischen Phanomen AnstoB genommen3. Auch in der Bestimmungder Schriften und in der Scheidung der Schreiber ist S i ckel keineswegs so sicher gewesen,wie man von dem Erfuider des »Gesetzes der bekannten Hand« erwarten sollte, was aller-dings auch dadurch sich erklkt, daB er nicht alle Originale prtifen und nicht wie wir ihrephotographischen Abbilder neben einander legen und bis ins kleinste vergleichen konnte.Auch ist das eine Sache individueller Begabung, weniger des Intellekts als des Nachfiihlens,die selbst erfahrenen Diplomatikem nicht immer gegeben ist; von den Schillem Sickelshat eigentlich nur T a ngl diese seltene Gabe in besonderem Mafie besessen.

Es ist nicht meine Absicht, hier alle Beziehungen, clic sich aus den Urkunden Ludwigsdes Deutschen far die Geschichte ermitteln und erlautern lieBen, zu er6rtern, ich beschrankemich mit Absicht auf diejenigen Punkte, die nicht nur den Diplomatiker angehen, sondern

auch den Historiker interessieren4.Da ist einer der wichtigsten der Anteil, den der K Ci nig in der Austibung eines seiner

vornehmsten souveranen Rechte an dem Urkundengeschaft genommen hat. Denn da dieUrkunden Sonderakte des Herrschers auBerhalb des gemeinen Rechtes waren, so kommtdurch sie sein persiinliches Regiment und kommen die Tendenzen seiner Regierung mehroder minder deutlich zum Ausdruck. Ludwig dem Fronunen, der sich lieber den Freudender Jagd und ldrchlicher Betatigung hingab, wurde vorgeworfen, daB er in der Wahrnehmungder Regierungsgeschafte nachlassig gewesen sei, und in der Tat sind besonders in seinerspateren Zeit vide Urkunden zustande gekommen, ohne daB er sich daran beteiligt hat.Sein Solm Ludwig der Deutsche ist darin das genaue Gegenstiick; wie schon T angl inseiner Abhandlung tiber clic tironischen Noten in den Urkunden der Karolinger (imArchiv ftir Urkundenforschung i, 147) bemerkt hat, tritt in den Diplomen des jlingeren

In seiner Abhandlung ,Die tironischen Noten in den Urkunden der Karolinger. 6.Kap.: Kapelle und Kanzleiunter den ersten Karolingerm im Archiv fiir Urkundenforschung I (1908), 162ff. - Auch Bresslau, Urktmden-lehre. 1,373 Arun.8 wollte unter dem Eindruck der Abhandlung Tangls die starre These Sickels nur mit Ein-schrankungen gelten lassen. Dal?, Tangl hier iiber das Ziel hinausgeschossen ist, hat G. Seeliger in der Hist.Vierteljahrsschrift xx (1908), 76ff. riberzeugend gezeigt.

• Beitr.7, 670 Artm.2 smd Kaiserurkunden in Abbild., Text S.164.Bre ss la u , 413 hat diese These Sickels festgehalten; nur eine Ausnahme (D.96 = M' 1438) Int

er zu und widerspricht sogar Sickels richtiger Erkenntrirs in bezug auf D.92 (M. 1434).* Eine eingehende Behandlung nur fiir Diplornatiker und fiir die Benutzer der Ausgabe wird im 1.Heft des

5o.Bandes des Neuen Archivs erscheinen. Hier beschriinke ich mich mehr auf die Themata von allgemeiner Be-deutung und nehme vorweg, was fiir die Historiker eine gewisse Bedeutung hat.

****************** **************LEIHFRISTZETTEL VOM 07.09.89 , 11:

n m n . m n o n n n , r a m ,

Die Kanzki Ludwigs des Deutschen 5

Ludwig ein starkes pers6nliches Regiment kraftiger und sichtbarer entgegen als in jederanderen Urkundengruppe. Nicht nur daB er che ihm vorgelegten Originalausfertigungenselbst durch den fast immer deutlich erkennbaren Vollziehungsstrich in dem vorgezeich-neten Monogramm genelunigt hat - nur fur bestimmte Gruppen von Urkunden mindererBedeutung, wie Bestatigungen von Tausch- und Prekarievettragen, Zollbefreiungen undeinfache Schutzbriefe bedurfte es herk6mmlicherweise der kaniglichen Firmati° nicht -;er hat bei wichtigeren Sachen, wie Ratpert in seinen Casus S. Galli erzahlt, nicht nur denBefehl zur Ausstellung einer Urkunde gegeben, sondem sich auch das Konzept vorlegenlassen und erst nach dessen Priffung dem Kanzler die Herstellung der Originalausfertigungbefohlen i. In der Regel wird das Verfahren weniger umstAndlich gewesen sein; aber daBder Kiinig fast immer den Beurkundungsbefehl selbst gegeben hat, lehren die tironischenNoten, die che Notare Adalleod und Comeatus am Ende des Kontextes und im Rekognitions-zeichen anzubringen pflegten. Doch war dies nicht Vorschrift und Kanzleiregel - der NotarDominicus z. B. tut es nicht regelmaBig, und statt des Vermerkesdonmus rex fierioder scribereiussitz lesen wir auch einmal, daB nicht der Kònig, sondem der Vorsteher der Kanzleidiesen Befehl gegeben habe3. Der Notar Comeatus liebt es beides, sowohl den Beurkun-dungsbefehl des Konigs wie den Befehl des Kanzlers zur Reinsc.hrift, miteinander zu ver-binden(clomnusLudouicus serenissimus rex fieri iussit et Radeicus magister scribere precepit o.à.) 4.Einige Male erscheint auch noch der Ambasciatorenvermerk 3. DaB diese Noten mit demJahre 854 (zuletzt in D. 69 = M' i o ) aufh6ren, bedeutet nicht etwa, daB der K6nigsich nicht mehr damit befaBt habe, sondem es geschah, weil clic neuen Notare sich nichtmehr auf die Notenschrift verstanden. Es ist wohl sicher, daB Ludwig sich auch weiterhinin der bisherigen Weise an der Beurkundung beteiligt hat und daB auch die meisten seinerNachfolger es so gehalten haben, auch wenn seirdem das auBerlich sich meist nicht mehrerkennen laf3t6. Blieb doch die Verleihung von Urkunden immer eines der vomehmstenRechte des Kiinigs, bis es durch clic Umgestaltung der Verfassung eingeschrankt oder dochan die Zustinunung und Mitwirkung der Fiirsten gebunden wurde7.

Ich wende mich zunachst zu den Vorstehern der kbniglichen Kapelle und der Kanzlei.Die Stellung des E rz k a p ell a ns, des summus capellatu4s, des Vorstehers der kdniglichen

' Mon. Germ. Scr. 2, 69 und Meyer von K nona u in St. Galler Mitt. 13 (NF. 3), 41. Vgl. Bresslau, a. a.0.. 2,134.

Siehe die Noten in DD.6. 7. 8. 11. 15. 18. 2o. 21. 35. 36. 39. 67. 69 (M' 1345.46. 47. 52. 55.58.6o. 61.76.77. 80. 5407. o9). Vgl. auch Bresslau, a.a.0.. 2, 96f.

' In DD. 17. 26 (M. 1357. 66) idem magister ira fieri und Ratleicus aa,smus cancellarius scribere iussit.In DD. 32. 33. 41. 42. 58- 60• (M' 1373- 74. 82. 83. 97. 99. 1404). Femer in D.69 (M' 1409) Griwaldus abba

scribere precepie. In DD. 4 .5 (M' 1343. 44) Gausbaldus ad me ambasciavit; in 0 .7 (M. 1346) Adalramnus archiepiscopus et Ar-

nustus et Uvernarius ambasciaverunt; in DO. 53. 35 (M' 1353. 76) Baturicus episcopus ambasciavit. Ober die Bedeu-tung des Ambasciatorenvermerks vgl. Bre sslau im Archiv fur Urkundenforschung 1, 167fi. Aber unter Ludwigdem Deutschen scheint doch die alte Bedeutung verlorengegangen zu sein, wenigstens lassen das die Vermerke in0 0 . 7 . 3 5 ( M. 1346. 76) vermuten.

Sogar noch auf einem Diplom Karls III. n4.1743 findet sich im Rekognitionszeichen die Bemerkung in tiro-nischen Noten domnus imperator fieri imesit hoc praeceptum; s. J u ssel i n in Moyen Age 33 (2. Ser. 24), 3 und Tang Iim Archiv far Urkundenforschung 2,171. Aber der dica schrieb, war ein Franzose.

' AuBer acht geblieben sind in diesen Er6rterungen die v011ig unechten Stiicke, namlich 0.172 (M.1339) fiirMondsee, D.173 (M. 1341) fiir Passau, 0.I74 (M'1349) fin Regensburg, D.I75 (M. 1372) frir Hamburg, 0.176(zu M. 1392) frir Kfingenmiinster, 0.177 (M' 1402) ftir Rheinau, D.178 (M. 406) fin Korvei, D.179 (M'1419)fur WOISTIS, D. x8o (M. 1420) fiir St. Stephan zu Strafiburg, D.18 x (M. 1468) fiir Mettell, D.182 (zu M. 1472)far Herford, 11583 0.1.1478) fùr Rheinau, 0•184 (M. 1498) fiir Korvei, D. s8 (M. 1504) fiir Fulda. M. 1469ist Falschung Schotts.

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6 Kehr:

Kapelle und wohl auch des Vorgesetzten der iibrigen Geistlichen arn Hofe', ist alles andereals deutfich, und B re s s lau s Definition, daB dieser Mann un gewissem Sinne die Funktioneneines modemen Oberhofpredigers mit denen eines Ministeri der geistlichen Angelegen-heiten in seiner Person vereinigt« habe2, ist doch nur ein aus unserer Zeit heraus in ieneZ,eiten projiziertes Zerrbild. Das bayerische Reich Ludwigs - denn um dieses handeites sich zunAchst - war damals noch ein abhlingiges Unterkónigtum, der Hof noch ldein,die Hofgeistlichkeit, zu der die Kanzleibeamten gehÓrten, gewiB noch nicht zahh-eich unddie Zahl der KapellAne des Kónigs beschrtnkt: wir kennen aus seiner langen RegierungszeitauBer den Erzkapelltinen nur wenige KapellAne mit Namen, wie den Diakon Erchanfred, derspAter Bischof von Regensburg wurde (D. 6 = M' 1345), den Diakon Wigbert, den Griinderdes Klosters Wildeshausen (D.142 -= M' 1413) und spAteren Bischof von Verden, den KlerikerBaldinc (D. 165 = M' 1513), den Diakon Guntram, einen Neffen des Bischofsabtes Samuelvon Worms-Lorsch3, und ebenso war wohl auch der Getreue Liupramm, der spAtere Erz-bischof von Salzburg, kòniglicher Kapellan4. Auch Reginbert, Walto und Liutbrands, clicgelegentlich als Schreiber und Rekognoszenten von Diploinen Ludwigs tAtig waren, sudwohl Kapellilne gewesen. DaB der Notar Dominicus, wie Bresslau meint, von dem Erz-kapellan Baturich in clic Kanzlei eingefiihrt sei und auch der Kapelle angehórte, ist sicherein Irrtum, der auf einer falsrhen Schriftbestimmung Chrousts beruht6. Er heiBt auchimmer notarius. Ob man freilich auf die geistlichen Titel Gewicht legen darf, lasse ichdahingestellt, doch ist auffallend, daB unter Ludwig dem Deutschen Adalleod, Reginbertund Hadebert sich hruner nur als Diakone oder Subdiakone bezeichnen, Dominicus,Comeatus und Hebarhard aber sich Notare nennen. Jedenfalls aber kann S ic k e 1s Thesenicht aufrechterhalten werden. Auch spAter finden wir konigliche KapellAne in der KanzleitAtig, wie jenen von Bresslau als Udalrich B bezeichneten Kapellan Gezeman, der einevorwaltende Stellung in der Kanzlei Konrads II. und Heinrichs III. innegehabt hat undschlieBlich Bischof von Wiirzburg wurde7.

Also kann es nicht weiter wundemelunen, wenn dem Erzkapellan daneben auch dieLeitung der Kanzlei iibertragen wurde, obwohl solches unter Ludwig dem Frommen undseinen anderen &Amen nicht nachzuweisen ist. Ali erster Erzkapellan Ludwigs des Deut-schen ist der Abt Gauzbald von Altaich bezeugt, der in den Jahren 831 bis 833 auch derKanzlei vorstand; er wird in D. 2 (M' 1340) sacri palatii nostri summus capellanus und in dentironischen Noten der DD. 4. 5 (M' 1343. 44) als Ambasciator, d. h. als tiberbringer deskòniglichen Beurkundungsbefehls, genannt; die von S i ckel seiner These zu Liebe vor-geschlagene und allgemein angenommene Emendation in summus cancellarius glaube ich

Vgl. Bresslau, Urkundenlehre . 1,4o6ff. und die fleiBige, aber allzu stark systematisierende Abhandlung vonW. Liiders +Omelia. im Archiv fiir Urkundenforschung z, aff. 66ff. tler die Kapeli8ne Ludwigs des Deutschenvgl. auch Diimmler, OstfMnk. Reich. 2, 8ff.

Bresslau, 1, 407.Vgl.Diimmler, a.a.0.. I. 318f.Vgl. D.7 (M.1346). Vielleicht war auch dir in D.12 (M .1348) genannte Diakon Gauzbert, von dem

wir sonst nichts wissen, ktiniglicher Kapellan. Ebcnso wohl auch Ermenrich, der spiitcre Bischof von Passau (vgl.Diimmler, a. a. 0.. 2, 191).

Von Liutbrand ist das wohl ganz sicher. Die DD.163. 164 (M.1511. 12) verraten deutlich seme nahen Br-ziehungen zum Kianig; er ist spater als Kapellan Arnolfs bezeugt.

' Bresslau, a.a.0.' I, 408 und 431 Anm.i. Ich komme darauf noch zurtick.Vgl. meine Abhandlung Nier Kapitel aus der Geschichte Kaiser Heinrichs III.« S.11. Dati Gezeman Bischof

von Wiirzburg wurde, hat P. E. S c hra m m bemerkt, der eine umfassende Geschichte der ktiniglichen Kapelle plant.

I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I- - - - - -77- , . "

Die Kanzlei Ludwigs dea Deutschen 7

nicht rechtfertigen zu DaB Gauzbald seme Amter im Jahre 833 aufgab, geschahoffensichtlich aus politischen Griinden2; als Ludwig nach der Katastrophe des Vaters aufdem Liigenfeld zu seinem bayerischen Reich Alemannien und vorabergehend auch dasElsaB und Franken, Thiiringen und Sachsen erhielt, entsprach es der neuen Lage, daB andie Spitze der Kanzlei ein Rheinfranke, der Abt Grimald von WeiBenburg, berufen wurde,und wahrscheinfich gleichzeitig wurde der Bischof Ba tu ri ch von Regensburg, der Residenzdes Kdnigs, Erzkapellan3. Nach seinem im Jahre 847 erfolgten Tod folgte ihm der ebengenannte Abt Grimald von WeiBenburg, der seit 841 auch Abt von St. Gallen war, einstKapellan Ludwigs des Frommen und seit 833 Oberkanzler Ludwigs des Deutschen. Erstand bis zum Jahre 870 der Kapelle vor, von 856 bis 857 und vvieder seit 86o, wie wir nochsehen werden, auch der Kanzlei. Sein Nachfolger in beiden Amtern wurde nach seinemRiicktritt im Jahre 870 der Erzbischof Liutbert von Mainz, und damit setzt die nurschen unterbrochene tausendjAhrige Verbindung dieser hóchsten HofAmter mit der Metropoledes Reiches ein.

Komplizierter ist che Kontroverse iiber clic Stellung und die Funktionen des Vorstehersder Kanzle i, in dessen Namen die Urkunden rekognosziert wurden. Unter Ludwig demFrommen waren das zuletzt vornehme und hochgestellte MAnner gewesen, der AngelsachseFridugis, Alkuins Nachfolger in der Abtei St. Martin in Tours, Theoto, Abt von Marmou-tiers, und Hugo, des Kaisers Halbbruder und Abt von Sithiu und St. Quentin, die sich nurdie oberste Leitung vorbehielten, aber niemals selbst rekognoszierten, sondem an ihrerStelle (ad vkem) durch die Notare rekognoszieren lieBen. Das blieb auch unter Ludwigdem Deutschen die Regel. Seinen ersten Kanzleichef, den bayerischen Abt Gauzbaldvon Altaich, zugleich Erzkapellan des Kónigs, kennen wir bereits; er amtierte bis 8334. E rhat, wie bemerkt, in den DD. 4. 5 (M' 1343. 44) als Ambasciator fungiert; daB er, obwohlals vir per omnia doctissimus gertihmt, sonst irgendwie an den KanzleigeschAften beteiligtgewesen sei, ist an den Urkunden nirgends ersichtlich. Dies GeschAft lag vielmehr ganz inden HAnden des Diakons Adafieod, von dem ich gleich handeln werde. Mit GauzbaldsNachfolger, dem schon erwAlunen Abt Grimald von WeiBenburg, liegt es schon anders;auf ihn geht wohl das neue Urkundenformular zuriick, das clic SouverAnitAt des Kónigs indern neuen ostfrAnkischen Reich zum Ausdruck brachte; er scheint auch neue Leute indie Kanzlei gebracht zu haben, und einmal lesen wir in den tironischen Noten am Schlussedes Kontextes wie es sonst nur vom Konig heiBt: idem magister ita fieri iussit. Der Titelmagister ist nicht Amtsbezeichnung, sondem wird wie schon unter Ludwig dem Frommenim Sinne von Vorgesetztem gebraucht6. Dieses D. 17 (M' 1357) ist ftir Grimald selbst aus-

' Beitr. zur Dip1.2, 151; Liiders, a.a.0. S.67 Arun.3; Erben, Urkundenlehre S.52 Anma; Bresslau,1,405 Anm.6.

Nicht daB er in Ungnade gefallen ware. Gauzbald ging noch Ende 833 als Gesandter Ludwigs an Lothar I.nach Aachen, ~trend die melte Gesandtschaft an Lothar im Jahre 834 Grimald farm; Cr erhielt noch im Jahre841 ein Privileg (D.30 = M .137o) und wurde spater auch Bischof von Wiirzburg.

Ich schlieBe das aus dem in Frarikfurt ausgestellten D.I3 (M.1353) filr St. Gallen vom 19. Oktober 833, indem Crals Ambasciator genannt wird. In den Urkunden wird er aber zuerst in D.35 (M.1376) vom 4. Aprii 844,wo Cr auch als Ambasciator erscheint, summus capellrmusgenannt.

' Ober Gauzbald s. D iimmler, a.a.0..2, 428ff.Das ist auch Sickels Meinung (Beitr.2, 156f.), doch miichte er dem Oberkanzler, wie ich glaube mit Unrecht,

auch noch die Anderungen in den Elementen der Datierungen zuschreiben.Unter Ludwig dem Frommen heiBen so die Oberkanzler Theoto und Hugo, aber auch die Notare Durandus und

Hirminmaris; vgl. Sickel, Beitr. 2, 152; Bresslau,a.a.0.'r, 379f. und J ussel in in Moyen Age 33(2. Ser.24), 5f.

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8 Kehr:

gestellt ; im Text erhAlt er den Titel SUMMUScancellarius (Oberkanzler), offenbar eine Analogiezu dem summus capellartus (Oberkapellan). Wann Grimald von diesem Amt zurtickgetretenist, ist ungewit3; die letzte Urktmde, clic in seinem Namen rekognosziert wird, stammt ausdem September 837 (D. 25 = W 1365); aus der folgenden Zeit bis zum Dezember 840 istkein Diplom auf uns gekommen, offenbar in Folge der Wirren des Bfirgerkrieges. DatiGrimald im Jahre 838 zuffickgetreten sei, weil er mit der Erhebung Ludwigs gegen seinenVater nicht einverstanden gewesen, ist eine bloBe Vermutung D ti mm l ersi; zu beweisenist sie nicht, und gegen sie spricht, daf3 ilun der K6nig 841 das Kloster St. Gallen, das geradedamals der wichtigste Sditzpunkt ftir seme noch sehr unsichere Herrschaft in Alemannienwar, iibertrug. Jedenfalls erfolgte nach dem Tode Ludwigs des Frommen eine vollstAndigeNeuordnung der Kanzlei Ludwigs des Deutschen. Zum Oberkanzler berief der K6nig denAbt Ratleik von Seligenstadt2. Einst Notar des bertihmten Einhard, der ihn im Jahre 826nach Rom zum Erwerb von Reliquien sandte, seit 840 Einhards Nachfolger als Abt vonSeligenstadt, ein gelehrter Mann und beriihmter Lehrer, darf er wie sein Vorg5ngerGrimald sozusagen als Exponent der inneren Politik Ludwigs des Deutschen gelten, derschon 833 Ober sein bayerisches K6nigttun hinausgewachsen, nutunehr alle Lande rechtsdes Rheins in Anspruch nahm. Ratleik hat sich, wie uns die tironischen Noten am Endeder Kontexte belehrens, der hóheren Obliegenheiten seines Amtes mit Eifer angenommen;er berief neue Notare in die Kanzlei an Stelle des alten Adalleod (zuletzt in D. 25 = M'1365)4, zuerst den Dominicus, dann den Comeatus, zu dem sich der Subdiakon Regin-bert gesellte, auf die ich gleich zu sprechen komme. Damit aber ist Ratleiks T5tigkeit inder Kanzlei abgesteckt; irgendeine weitere Einwirkung etwa auf die Dictamina ist nichtzu erkennen. Es war wohl so, daB der Oberkanzler nur die oberste Leitung batte, dieBerufimg der Notare und den Vortrag beim Ktinig iiber clic zu beurkundenden Sachen,vielleicht auch die Bewahrung des Siegels; sobald der Kónig die Genehmigung erteilthatte, gab der Oberkanzler den Befehl zur Beurkundung. Doch bfieb es dem Beliebender Notare tib erlassen, diese Notenvermerke anzubringen; einmal setzt sie Dominicus(in D. 26 = M' 1366), ein andermal nicht (D. 30 = M' 1370). Comeatus aber, der sie fastregelm53ig an den KontextschluB setzt, verwendet dar& eine stereotype Forme! (domnusrex fieri iussit et Ratleicus magister scribere preapit o. 5.)5. Aber schon bei Reginbert, derclic tironische Notenschrift nicht mehr beherrschte, finden sich diese Vermerke nicht

mehr.Ratleik starb am 14. Juni 854 noch in jungen Jahren. Uber die Neubesetzung des Amtes

ist eine Kontroverse im Gange, clic bis heute noch nicht entschieden ist. S ickel (Beitr. 2 ,

151 ff. und 7, 656ff.) hat die These aufgestellt, daf3 im Jahre 854 die beiden Amter desErzkapellans und des Oberkanzlers in der Person Grimalds vereinigt worden seien; Gri-mald sei von 854 bis 870 zugleich Erzkapellan und Oberkanzler gewesen, und die nun in

Ober Grimald vgl. D iimm ler a.a.0.' 1, 92ff. 2 , 430ff. und Meyer von K nona u in der Allg. DeutschenBiographie 9, 701f.

Zuerst in D. 26 (M' r366) vom io. Dezember 840. D iimmler, a.a.0.' 2, 431f. folgt Sickel in der irrigen Da-tierung dieses D. zum Jahr 839 und setzt danach Ratleiks Annsantritt ein Jahr zu

DD. 26. 32. 33. 41. 42. 58. 6o. 64 (M' 1366. 75. 74.82. 83. 97. 99. 1404).Adalleod erscheint nur noch einmal in D.29 (M' 1369). Vber die irregulare Rekognition in D.31 (M'13.71)

handele ich besonders im Exkurs iiber die irreguldren Rekognitionen.Der Reurkundungsbefehl des Oberkanzlers fehlt jedoch in DD. 35. 36 (W1376. 77). 39 (M' 1380). 67 (W1407).

Die iiblichen Noten am Kontextschlu13 fehien nur in D.37 (W1378) und in DD.61 (M' 1403). 65 (W1405).

Dia Kanzlei Ludwigs des Deutschen 9

den folgenden Jahren vorkommenden Kanzleichefs Baldrich und Witgar seien wie spAterHebarhard ihm untergeordnet oder seme Vertreter gewesen. Dagegen will Mfihlbacher(Reg.' p. XCIX) dieses VerhAltnis erst mit dem Jahre 856 eintreten lassen; sieht also indem Abt Baldrich einen richtigen Oberkanzler far das Jahr 855, worauf dann wieder Gri-mald von 856 bis 857 amtiert habe, dem in den Jahren 858-860 der ICanzler Witgar gefolgtsei; also habe der Erzkapellan Grimald im Jahre 854 nur den noch nicht emannten Ober-kanzler vertreten und sei somit oberster Kanzleichef nur in den Jahren 856-857 und 863-870gewesen. Almlich faBt S ee l iger, Erzkanzler und Reichskanzleien S.7 Amn. 4 und S.225 undin Wa i t z' Verfassungsgeschichte 6, 347 Arun.2 das VeriBlmis auf. Auch Er ben, Ur-kundenlehre S.i, sieht in der frilheren Rekognition advicem GrUnaMi nur provisorische Not-behelfe wAhrend der Valtanz des Kanzleramts und l513t Grimald erst 860 defmitiv die obersteLeitung der Kanzlei tibernehmen; ja er meint, es sei eigentlich zu verwundem, daB mannicht schon lange vor 854 darauf gekommen sei, die beiden Amter des Erzkapellans unddes Oberkanzlers miteinander zu vereinigen. Nur B r e ssla u, Urkundenlehre' 409 ff(besonders S.410 Anm. I), halt an S ickels Auffassung »mit Entschiedenheit« fest undsieht in den neuen Kanzlem nicht Oberkanzler in dem friiheren Sinn, sondem Kanzler ineinem neuen Sinn als Kanzleichefs zwar, aber in Unterordnung unter dem Erzkapellan,wobei noch mit dem Argtunent operiert wird, da13 der Erzkapellan Grimald als Abt vonSt. Gallen und WeiBenburg nicht immer am Hofe weilen konnte, woraus sich die Not-wendigkeit ergeben habe, wieder einen Oberkanzler zu emennen. Aber diese ErklArungenbefriedigen nicht'.

Die Schwierigkeit, diese Vorg5nge richtig zu erkennen und zu deuten, liegen, wie ichmeine, in unseren, spAteren Zeiten entlehnten Vorstellungen von biirokratischer Ordnungund in unserer Neigung, alles scheinbar Irrationelle in der Entwickelung gerade der Kanz-leiverhAltnisse des friiheren Mittelalters durch komplizierte Erld5rungen zu beseitigen.Eben in jenen Jahren vollzieht sich unter harten K5mpfen die Absonderung der Teil-reiche aus dem zerfallenden grof3en Frankenreich, und darnit gehen auch die alten Kanzlei-traditionen in clic Briiche. Nicht mehr im Bann der Tradition der ludovicianischen Kanz-lei, ist die ostfr5nkische bald àhnliche Wege gegangen wie clic italienische. Auch das per-sónfiche Moment, das Gewicht einer so bedeutenden Persiinlichkeit wie clic Grimalds, denman in den beiden Jahrzehnten von 854 bis 870 wohl als den leitenden Minister des ost-anldschen Reichs betrachten darf, kann man, &rulla mich, nicht hoch genug einsch5tzen,auch wenn uns nichts davon tiberliefert ist. Dem friiheren Oberkanzler und ntmmehrigenErzkapellan w5re wohl zuzutrauen, dai3 er nach dem Tode des ihm ebenbtirtigen Ratleik,vielleicht mit Berufung auf den gleichen Zustand unter dem Abt Gauzbald, den Versuchgemacht habe, die seinem Ehrgeiz im Wege stehende Organisation zu beseitigen und sichder Verfilgung iiber clic Kanzlei zu bemAchtigen. Nun trifft es sich leider, dall die neuenM5nner, die damals in die Kanzlei kamen, sich nicht mehr auf die Notenschrift, die unsdie Intima der Kanzleipraxis bisher iiberlieferte, verstanden2. Das ist sehr Argerfich, aber

Auch berichtet Ratpert zwennal, dafl Grimald, um sich dem k6niglichen Dienst widmen zu idinnen, dirKlostergeschrifte dem (sp6teren Abt) Hartrnut 13bergeben habe (Mon. Germ. Scr.2, 68. 69; Cuius rei curam, quiag ine sepius regalibus fuerat occuparla officiis, Hartmoto iniunxit usw. und His ira deo disponente peractis Grimaldusabbas omnia monasterii negotia Hartmoto commendatu ipse securus regali se frequentabat exhibere praesenriae).Wahrend sie sich in der westfrilnkischen Kanzlei erhielt. 'Ober die tironischen Noten in den DiplomenKarls des Kahlen s. M. Jusselin, »Liste chronologique et lecture des mentions en notes tironiennes dans les di-plomes de Charles le Cluauve. in Moyen Age 39 (z. Ser. 30), 216ff.

Phil.-hast. Abh. 1932. Ne. e. 2

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l o Kehr:

es ergibt sich daraus die historisch nicht unwichtige Tatsache, daB damals die idtere Ge-neration der mit den friinkischen Traditionen vertrauten Notare verschwindet und cineneue aufkommt, die die alten Brauche nicht kennt. Das zeigt sich auch in der Wandlungder Bedeutung der Rekognition. Die eigenhAndige Rekognition hatte eigentlich nurSinn und Bedeutung, wenn sie von einem hiSheren Kanzleibeamten, einem wirkfichen Re-kognoszenten, geschrieben wurde. So verfuhren in der Kanzlei Ludwigs des FrommenDurandus und Hirminmaris und, wie wir noch sehen werden, in der Kanzlei Ludwigs desDeutschen Adalleod. Seitdem aber wird sie von den Urkundenschreibern zusammen mitdem Kontext eingetragen, und so sinkt sie allnÚhlich zu einer bloBen Formel herab. Wahr-scheinlich trug dazu bei, daB die eigentliche Beglaubigung der Urkunden neben der Fir-mati° des Kanigs in der Besiegelung lag: das Siegel wird auch in den Diplomen der Ktinigemehr und mehr das entscheidende Moment der Beglaubigung. Gerade jetzt stoBen wirauf den ersten Fall unter Ludwig dem Deutschen, daB die Rekognition nicht einmal mehrautograph ist, also nicht von dem Manne geschrieben ist, dessen Namen sie nennt I. In-dem diese FAlle sich mehren, wird die Rekognition ein bloBes Referat, welches nur besagt,wer darnals Notar und wer oberster Kanzleichef war. Vergebfich hat S i ckel (Kaiserurkun-den in Abbildungen, Text S. 165f.) sich abgemiiht, diese VorOnge mit Analogien im Ur-kundenwesen der Angelsachsen und durch den Hinweis auf die bayerische und alemannischePrivaturkunde zu erkbren; die Dinge fiegen, meine ich, viel einfacher.

Zurtichst aber hat die Rekognition Comeatus advicem Grimaldi in den beiden SanktGaller Diplomen vom Juli 854 DD. 69. 70 (M' 1409. 1410) ftir clic Geschichte der KanzleiLudwigs des Deutschen nicht die Bedeutung, clic man ihr beigelegt hat. Ratleik wareinen Monat zuvor verstorben, ein neuer Oberkanzler noch nicht ernannt. Wer l'Atteda diese Funktion anders iibernehmen sollen als der fruhere Oberkanzler und jetzige Erz-kapellan Grimald? Auch war er als Abt von St. Gallen selber der Empfìnger; es ktinntealso auch ein Akt der Courtoisie gewesen sein, dal3 man ihn bat, die beiden Diplome unterseinem Namen rekognoszieren zu 1assen2. Diese Sankt Galler Urkunden besagen alsonichts fiir unsere Frage. Andere Urkunden aus dieser Zeit haben wir nicht. Die achsteist erst vom 20. Mkz 855 und ist wie die folgenden Diplome von dem neuen Notar Hade-bert advicem des Abtes Ba ldric h rekognosziert (DD. 73. 74 = W 1412. 1414 und 1415).Jetzt wird zum erstenmal von der Gewohnheit, nur den Namen des Oberkanzlers inder Rekognition, nicht aber seme Amtsbezeichnung (summus cancellarius oder magister)anzugeben, abgewichen; es heiBt jetzt advicem Baldrici abbatis. Aber das wenigstensentspricht dem alten Brauch, daB der Oberkanzler immer ein Abt war, so Gauzbald vonAlraich, Grimald von WeiBenburg, Ratleik von Seligenstadt, also diirfen wir annelunen,

Vereinzelte Falle scheinen iibrigens auch schon in der Kanzlei Ludwigs des Frommen vorgekommen zu sein.Doch bedarf das noch niiherer Nachpriifung.

. In ihnen konunt zum ersteninale in den Urkunden Ludwigs des Deutschen der Titel archicapcllanus vor. Dazugehtirt der oft zitierte Bericht Ratperts in den Casus S. Galli, der aber den Vorgang etwas anders darsteLlt, als dictironischen Noten in D.69 (M.429) besagen. Jener berichtet, der K/Mig habe zuerst che Herstellung eines Kon-zepts angeordnet und sich dieses vorlegcn lassen und erst dann dem cancellarius befohlen, clic Reinschrift anzu-fertigen. Mit diesern Kanzler kann nur der Notar Comeatus gemeint sein und cancellarius heiBt er a auch im Reiche-nauer Verbriiderungsbuch (Mon. Germ. Lib. confrat. p. 290 S11- 455 Z. 45). Comeatus selbst aber vermerkt inseinen Noten aia Kontextschlu13 dornnus Ludouicus rex fieri iussit et Grimaldus abba scri bere precepit. Bemerkenswertist, daB er clic von ihm sonst dem Ratleik beigelegte Bezeichnung des Chefs als summus cancellarius oder magistervermeidet, wie er Grimald auch im Tela archicapellanus nennt. Auch daraus krinnte man herauslesen, daB Gri-mald im Jahre 854 sich nicht als Oberkanzler gerierte.

Die Kanzlei Ludwigs des Deutschen 11

daB auch der Abt Baldrich wie iene die Stellung eines Oberkanzlers innegehabt hat. Werer war, wissen wir freilich nicht; wahrscheinlich ist er jener Baldrih abbas, dessen Todman in Fulda unter dem 6. Februar verzeichnet hat'. Nach unsem Urkunden ergibt sichdaftir das Jahr 856.

Da13 nach Baldrichs Tod der Erzkapellan Grimald nun wirkfich die oberate Leitungder !Camici iibemommen hat, lehren die Diplome 77 (M' 1418) vom r6. Juni 856* bisD. 87 (M' 1429) vom 26. August 857. Denn der rekognoszierende Notar, der SubdiakonHadebert, gibt, anders als 854 Comeatus, dem Grimald in der Rekognition jetzt standigden Titel archicapellanus. GewiB darf man diese Details nicht iiberschkzen, und wir miissenauch mit den Gewohnheiten der einzelnen Notare rechnen. Aber diese Titulatur und dieseFormel bleibt nun bis ans Ende der Regierung Ludwigs des Deutschen und dariiber hin-aus, und das scheint mir doch von Bedeutung zu sein. Die Rekognition advicem Grimaldiarchicapellani ist meines Erachtens ein entscheidender Beweis daftir, dafa der Erzkapellanvon jetzt ab, mit einer einzigen kurzen Unterbrechung, der wirkfiche und einzige Kanzlei-chef gewesen ist, und sie lehrt, daB das alte Oberkanzleramt jetzt im Erzkapellanat auf-gegangen ist.

Weshalb es nun zu Anfang des Jahres 858 noch einmal zu einer voMbergehenden Wieder-herstellung des Oberkanzlerarnts unter dem Abt Witgar gekommen und wie dieserWechsel zu erlaren ist, ist noch immer streitig. In dem Mettener D. 88 (M' 1430) vom2 . Februar 858 rekognosziert der nur dieses eine Mal auftretende Liutbrand - er kommterst 17 Jahre spker wieder vor - advicem Witgarii cancellarii, und diese Rekognitionkehrt wieder in fast allen Diplomen bis zum 8. Mai 86o (D. ror = M' 443), allerdings miteiner scheinbar unbedeutenden, in Wahrheit wesentlichen Variante. WAhrend der Sub-diakon Hadebert, der damals fiihrende Notar, dem Witgar immer den der Kanzlei bis-her fremden Amtstitel cancellarius beilegt, 1W3t sein Nachfolger, der Notar Hebarhard,jede Amtsbezeichnung fort, so wie es alter Brauch sowohl in der Kanzlei Ludwigs desFrommen wie in der des Sohnes gewesen war3. Nun bedeutet cancellarius in jener Zeitnoch eine niedere Stellung; nicht allein clic von M hlbacher herangezogene Analogie mitder itafienischen Kanzlei Ludwigs II. beweist das; wir finden auch, allerdings nicht inUrkunden, wohl aber in Ratperts Casus S. Galli und im Reichenauer Verbriiderungsbuchden Notar Comeatus mit diesem Tite14. Notarius und cancellarius bedeuteten damals nochdasselbe, oder es bestand zwischen den beiden Titeln nur ein geringer Unterschied5. Daswiirde dann bedeuten, daB Witgar kein wirklicher Oberkanzler gewesen wke, sondemnur ein besserer Notar wie Comeatus und sOter Hebarhard. Aber Hadeberts Zeugnis

Mon. Germ. Scr. 13, 166.Das StraBburger 0.75 (M.1516) vom 30.Marz 856 (wohl von Comeatus) ist ohne Rekognitionszeile tiberliefert;

dia Grandidiersche Formel ildukodus diaconus advkem Grimaldi ist seme Erfindung. Das WeiBenburger D. 76(M' 1417) vom 18. Mai 856 hat eine gefalschte Rekognition, geh6rt auch rnòglicherweise gar nicht zu 856, sondemzu 854 (vgl. clic Arunerkung 9 zu S. r8).

' Der Subdiakon Walto, der die DD. 94. 97 (M. 1436. 39) rekognoszierte, legt itun wie Hadebert in dem Originaides D. 97 den Amtstitel cancellarius bei, wahrend in dem nur abschriftlich iiberlieferten 0.94 der Titel fehlt,vielleicht aus einem bloBen Versehen des Kopisten im Lorscher Chartular (vgl. Miihl b acher, *Die UrkundenKarls III.* in den Wiener SB. 92, 347 Anm. 2).

Siche oben S. Io Anm. 2.Man darf die Verhaltnisse in den andem Kanzleien nur mit Vorsicht als Analogien heranziehen und noch

weniger die spatere Entwicklung sue Erliiuterung friiherer Vorgange verwerten, wie das M ii h I bache r in der obenAnm. 3 angezogenen Abhandlung tut.

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12 Kehr:

bedeutet nicht so vid; er war ein Mann ohne Tradition, wahrend Hebarhard, der, wiebemerkt, den Witgar me Kanzler nennt, zwar zuerst auch keine gr6Bere KanzleiprasisbesaB, aber sie sich bald aneignete. Entscheidend ist schlieBlich doch die Tatsache, daf3Witgar me selbst rekognosziert, geschweige gar Urkunden mundiert, dafl vielmehr inunerin seinem Namen (advicem) rekognosziert wird. Femer, daB auch er wie alle seme Vor-ganger im Oberkanzlerann Abt war, namlich von Ottobeuren, dem man doch eine nieclereStellung in dir Kanzlei nicht wohl zumuten konnte. Er war wie jene ein groBer Herr,der im Jahre 861 zum Bischof von Augsburg erhoben und spater unter Karl III. dessenErzkapellan wurde. Ich stirrune also unter dem Gewicht dieser Argumente der AuffassungMiihlbachers und Erbens gegen Bresslau zu, dall Witgar ebenso wie Baldrichals Oberkanzler im alten Sinne zu betrachten ist. Daran machen rnich auch die beidenRekognitionen in D. 89 (M' 1431) vom 18..NLarz 858 Conteatus advicem Crrintaldi archi-capellani, wo damals bereits Witgar Kanzleichef war, und in D. 504 (M' 1446) vom8. Juli 861 Webarhardus] advicem Witgarii, zu einer Zeit also, da Grimald wieder an derSpitze der Kanzlei stand, nicht irre. Eine Vertretung wird man weder hier noch dortannehmen k6nnen; sehr wahrscheinlich handelt es sich in beiden Fallen um spitere

BeurkundungEs bleibt noch ubrig, den Rticktritt Grimalds von der Leitung der Kanzlei Ende 857 oder

Anfang 858 zu erldaren. DaB er, wie Ma 111 ba cher zeigt, in jener Zeit meist in seinemKloster St. Gallen geweilt 2, woraus sich die Notwendigkeit einer standigen Vertretung er-geben hkte, mit der der Abt Witgar betraut worden ware, scheint mir kein iiberzeu-gendes Argtunent zu sein; es kann ebensogut bedeuten, dall er sich damals vom Hofezurtickgezogen hat, vermutlich wegen Unstimmigkeiten in der hohen Politik. D iimmler

(Ostfrank. Reich' 2 )437) meinte, vielleicht wegen der von Ludwig dem Deutschen gegen

seinen Bruder, den westfrankischen Karl, eingeschlagenen Politik, die im Jahre 858 zudem ruchlosen Einbruch in das westfrankische Reich und im folgenden Jahre zu schimpf-licher Flucht fahrte, einem Unternelunen, hinter dem man den Mainzer Erzbischof Karl,einen aquitanischen Prinzen, vermutete, mit dem Grimald nicht gut stand. Wir wissen esnicht'. Daftir scheint zu sprechen, dall bei dem FriedensschluB in Koblenz am 7. Juni 860der Abt Witgar zum letzterunal erscheint — bald darauf wurde er Bischof von Augsburgund dall der Erzkapellan Grimald wieder die Leitung der Kanzlei gerade nach Wieder-herstellung des Friedens iibernahm, zuerst in dem Salzburger D. roz (M' 1444) vom zo. No-vember 860. Bis zum Jahre 870, zuletzt in D. 131 (M' 1479) vom 52. April 870, wird er,mit der einzigen Ausnalune des bereits besprochenen D. 104 (M' 1446), in den Rekogni-tionen immer als oberster Kanzleichef, in dessen Namen rekognosziert wird, genannt.Aber in die Kanzleigeschafte scheint er sowenig wie seme Vorganger eingegriffen zuhaben. Er iiberlieB sie ganz dem bereits unter Witgar eingetretenen Notar Hebarhard(zuerst in D. 96 =-- M* 1438), einem Manne, der in der Geschichte der deutschen Kanzlei

Siehe den Exkurs am Schlusse.Reg.' p. XCIX Anm.Man Idrante wohl sich auf den von Flodoard Hist. Rem. lib. 3 c. 24 (Mon. Germ. Scr.13, 535) im Auszug

rnitgeteilten Brief Hinkmars von Reims an Grimald stiitzen, in dem es heiBt, er habe diesen ersucht, o regi Ludo-vico suadeat, ne perversorum credens consihis in talia se ulterius immittat, qualia contro fratrem suum Karam turo

egerat, unde tale dedecus ipsi accideret, quale non accidisset, si exortationibus huius dornni Hincmari adquiescere voluisset.Der Schluf3 ist Flodoards Kommentar. Ob Grimald dem Rate Hinkmars gefolgt ist, wissen wir freilich nicht.

Die Kanzlei Ludwigt des Deutschen 13

einen groBen Namen hat, sowohl wegen seiner Neuerungen in Schrift und Diktat wiewegen seines FleiBes: er hat fast alle Diplome von 859 ab selbst geschrieben und advicemGrimaldi (zuerst mit, dann meist ohne archicapellani) rekognosziert. Daf3 dieser Hebarhardseit 868, zuerst in demMettener D.125 (M' 1467) seinen bisherigen Amtstitel notarius durchden voller klingenden cancellarius ersetztel, bedeutet nach meiner Ansicht keine wesent-liche Veranderung in seiner Stellung, und ich wiirde ihn deshalb auch nicht mit Sickelals Titularkanzler oder mit Miihl ba cher als Kanzleileiter oder gar mit Bresslau alswirklichen Kanzler bezeichnen; er hat keine andere Stellung gehabt wie Adalleod, Comea-tus und Hadebert, denn nie wird in seinem Namen rekognosziert. Er hat auch keine Unter-gebenen gehabt, denen er als magister vorgestanden hatte, denn er besorgte clic ICanzlei-geschafte wie vorher so auch spater allein; erst gegen das Ende seiner Wirksamkeit wohlwegen zunehmender Jahre bediente er sich der Hilfe untergeordneter Schreiber. DaBim Jahre 868 das neue deutsche Kanzleramt entstanden sei, wie Erben (UrlcundenlehreS. 66) meint, daftir fehlt jeder Anhalt, und auch Bresslau (Urkundenlehre 1, 412),der in Hebarhards neuem Titel eine Art von Befórderung, »Ernennung zum Kanzler« sieht,vielleicht wieder in Analogie zu unserer Zeit, wo ein Kanzleirat nach 25jahriger Dienst-zeit Geheimer Kanzleirat wurde, iiberzeugt mich nicht. Ich kornme darauf nodi zuriick.

Grimald trat im Jahre 870 von seinen Amtem zuriick, in demselben Jahre als Ludwigder Deutsche durch den Vertrag von Meersen Lothringen mit Aachen und Metz erhielt.Ratpert von St. Gallen ftihrt diesen Entschluf3 Grimalds auf sein hohes Alter (vgl. Mon.Germ. Scr. 2, 71, er starb am 13. Juni 872 in seinem Kloster St.Gallen) zuriick, aber viel-leicht haben die politischen Veranderungen durch den groBen Gebietszuwachs, die einenneuen Mann und ein anderes System forderten, seinen EntschluB bestarkt 2. D i e Wiirdedes Erzkapellans und damit auch die Oberleitung der Kanzlei wurde dem ErzbischofLiutbert von Mainz tibertragen, dem ersten Bischof im ostfraMdschen und lothringischenReich und einem Staatsmann von hohem Rang. Dall auch dieser sich nicht um clic eigent-lichen Kanzleigeschafte kiimmerte und auch nicht kilmmem konnte, braucht kaum be-sonders hervorgehoben zu werden; er uber1ie13 sie wie sein Vorganger dem erprobtenHebarhard und dessen Gehilfen 3.

Die so aus den Urkunden rekonstruierte Geschichte der Kanzlei ist zwar fiir den Di-plomatiker nicht sonderlich ergiebìg, da ihre Vorsteher an der Herstellung der Diplomenur mittelbar beteiligt waren. Um so wichtiger aber ist sie fiir die innere und fiir die Ver-fassungsgeschichte des werdenden Reiches. Denn sie lehrt, dall in dem Malle, als derUmfang des Reiches wuchs, die Macht des Herrschers in gewisser Weise sich minderte,indem die Verfligung aber die einzige Zentralbehiarde ihm aus den Handen glitt. Sie wurdeaus einem Hofamt eine Institution des Reichs. Es wurde ein Artikel der ungeschriebenenVerfassung des Deutschen Reiches, dall das htichste Amt dauernd mit dem vomehmstenBischofsitz verbunden sein solite.

Von den drei von M ù h bac he r Reg. p. C III angefiihrten Urkunden, in denen Hebarhard wieder notariusgenannt wird, ist M'1469 eine Falschung Schotts; die beiden andern DD.134. 141 (M'1484.90) stehen im Liberaureus von Priim und sind deshalb schon von Sickel, Beitr.2, 131 Anm.r beanstandet worden; Miihlbacherin Wiener SB. 92, 349 Anni. 4 beurteilt das Chartular zu giinstig. Vgl. auch Bresslau, a. a.0.' 1, 412 Anm. 2.

' So auch Sicke l, Beitr . 2, 153.S icke l, Beitr. 2 , 1 2 2 , scheint geneigt, die angeblich neue Berechnung der Regierungsjahre seit 870 unmittelbar

oder mittelbar auf Liutbert zurrickzufrihren, withrend ich vielmehr glaube, dall es sich nicht um eine neue Art derBerechnung, sondem um eine Konfusion Hebarhards handelt.

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14 Kehr :

Indem ich mich nun zu den ~nem wende, denen die eigentlichen Biirogeschifteder Kanzlei oblagen, denke ich auch hier nachweisen zu kénnen, daB zvvischen den poli-tischen VerMtnissen und der Geschichte der Kanzlei eine engere Wechselwirkung be-standen hat, als man bisher wuBte. Schon bei ihrer ersten Einrichtung zeigte sich das.

Weder Lothar, Ludwigs des Frommen 9Itester Solm, der erste bayerische Kiinig inden Jahren 814 bis 817, noch der junge Ludwig in den Jahren 817 bis 830 haben Ur-kunden ausgestellt; sie hatten dieses Recht auch nicht. Sie waren noch keine wahren Kénige,sondern nur Titularkénige, und es ist kein Zufall der eberlieferung, clafl vor 830 keineDiplome des jungen Ludwig auf uns gekommen sind, sondern das entsprach dem da-maligen staatsrechtlichen VerhMtnisl. Ihr Kénigreich war zuiúchst eine Art Apanage.Erst durch seme erste Empérung gegen den kaiserlichen Vater im Jahre 830 erlangte derBayernkénig das Recht, selbsandig Urkunden auszustellen2. Aber es war nicht so, daBer sich seme bayerische Kanzlei nach seinem Belieben Lute einrichten kiinnen; das be-sorgte man arti Kaiserhof, indem ilun von dort die ersten Beamten mit dem erforderlichenRiistzeug von Formeln zugesandt und ein bestimmtes Formular, in dem das staatsrec.ht-liche Verhilltnis zum Frankenreich und zum grof3en Hof genau pAzisiert war, vorgeschrie-ben wurde. Man verfuhr dabei ebenso wie friiher bei der Einrichtung des aquitanischenKénigreichs des élteren Pipin3, und man legte sogar Wert darauf, selbst in der Invokationund im Beiwerk des Titels den Unterschied zwischen den kaiserlichen und den kénig-lichen Nebenkanzleien zu betonen4. So durften diese kleinen Kénige sich bloB des Bei-wortes gloriosissimus bedienen, whrend dem Augustus das Pffidikat serenissimus als Aus-druck der hiSchsten Souveanat vorbehalten blieb. Am deutlichsten kamen diese staats-rechtlichen Verhgtnisse in der Datierung zum Ausdruck, indem die Kaiserjahre Ludwigsdes Frommen an erster Stelle stehen, die des Bayernkénigs Ludwig und des Aquitanier-kiinigs Pipin an zweiter, und zwar in der charakteristischen Abstufung anno x imperiidomni Hludowici imperatoris augusti et anno x regni nostri.

Schon Sickel (Beitr. 7, 656) hat bemerkt und Mii hlb ac h e r (Reg.' p. XCVIII) hatdies bestdtigt, daB die Kanzleien des jungen Ludwig und seiner Bréder nach dem Vor-bild der groBen Kanzlei eingerichtet worden sind. Aber ein eingehenderes Studium derUrkunden selbst lehrt uns diese Abliéngigkeit doch noch genauer erkennen. Da ist die wich-tigste Feststellung, daf3 der Mann, der als der erste rekognoszierende Beamte in der Kanz-lei des Bayernkénigs auftritt, der Diakon Adalleod, ein Schiiler des Durandus, der da-mais in der kaiserlichen Kanzlei den Ton angab, gewesen ist5. Der hat den Adalleod

' Vgl. Eiten, Dai UnterkOnigtum im Reiche der Merowinger und Karolinger (Heidelberger Abhandlungen 18)S. 119. Die Diplome fiir bayerische Empfanger vor 830 sind vom Kaiserhof ausgestellt, so M.85o vom 22.M6rz828fur Kremsmiinster auf Fiirbitte des Bayernktinigs Ludwig und des Grafen Gerold und das nur im Regest erhalterieM'853 VOM 20. Allgt1St 828 fiir Eichstatt.

Vgl. Eiten, a .a .0. S. 122f.Vgl. L. Levi Ilain , Recueil des arte, de Pépin Icr et de Pépin II rois d'Aquitanie (Paris 1926), der die

Eitensche Darstellung S. 96ff. wesentlich erganzt.Die Invokation lautet bei Ludwig dem Frommen /n nomine domini dei et salvazoris nostri yesu Christi, bei Ludwig

dem Deutschen In nomine domini nostri jesu Christi dei omnipotentis; die Intitulatio bei Ludwig dem Vater divinaordinante providentia irnperator augustus, bei Ludwig dem Sohne divina largiente gratia rex Baioariorum.

Sickel, Kaiserurkunden in der Schweiz S. 4 identifiziert ihn mit dem Adilleodus, der in dem Verbriiderungs-buch von St. Gallen als Mench in St. Martin zu Tours genannt wird (Mon. Germ. Lib. confrat. p.13), was, da ervom kaiserlichen Hof und sua der Schule des Durandus kam, nicht unmiiglich ist. Wenn Heu m a nn, Comment. de redipl. imperatorum 2, 195 ihn mit dem in spateren St. Galler Traditionsurkunden vorkommenden Diakon Edilleozidentifizieren wollte, so irrte er griiblich. Sie haben nichts miteinander zu tun,

Die Kanzlei Ludwigs des Deulschen 15

und dem ihm mitgegebenen Hilfsschreiber' ausgebildet. Das zeigt auf den ersten Blickneben der Ahnlichkeit der Handschrift die fast genaue Gleichheit der Schriftzeichen, desChrismon und des Rekognitions7Pichens, clic sonst am meisten einen individuellen Cha-rakter aufweisen, und deshalb, wenn sie so wie hier einander gleichen, nur durch ein ganzbesonders enges Verbitnis von Lebrer und Schiller erlart werden Idinnen. Sie sindbis in die kleinsten Details so §bnlich, daB es manclunal nicht leicht ist, das Rekognitions-zeichen des Adalleod von dem des Durandus zu unterscheiden2. Von Durandus hat Adal-leod auch die Notenschrift gelemt; seine tironischen Noten zeigen denselben Duktus.Auch ihre Stellung in der Kanzlei war ungetihr die gleiche. Wie Durandus als leitenderBeamter inc die Urkunden selbst mundiert, sondern nur das Eschatokoll oder Teile des-selben, immer aber die Rekognitionszeile eingetragen hat3, so hat auch Adalleod zuerstregelmMlig das ganze Eschatokoll geschrieben und erst nach dem Ausscheiden seinesersten Hilfsschreibers einige Diplome ganz mundiert4, spAter aber, als Grimald clicLeitung der Kanzlei iibernahm, wieder Hilfsschreiber (Adalleod A und B) zur Mun-dierung der Kontexte herangezogen, die aber schon einer anderen Schreibschule an-gehiiren und vielleicht mit Grimald aus WeiBenburg gekommen sind5. So zeigt also dieKanzlei Ludwigs des Deutschen in der ersten und zweiten Periode (83o-33 und 833-37)genau clic Einrichtung und die Gewolmheiten der kaiserlichen. Ebenso verlialt es sichmit den Diktaten. Die Nebenkanzleien wurden von der groBen Kanzlei mit den erforder-lichen Formeln ausgestattet; es sind dieselben, die schon in der alteren ludovicianischenKanzlei seit Helisachar in Gebrauch waren und in den von Durandus diktierten DiplomenMufig begegnen; wir finden sie auch in einigen aquitanischen Diplomen Pipins wieder5.DaB Adalleod bald in Bayern heimisch wurde und wahrscheinlich im Kloster St. Emmeramin Regensburg sich sein »Miro« einrichtete, lehrt die bisher unbeachtet gebliebene Tat-sache, daB sein Formular in einigen Traditionsurkunden dieses Klosters wiederkehrt,

' Der die DD.4. 6 (M'1343. 45) mundiert hat und vielleicht auch die nicht mehr im Originai erhaltenen DD. 2.3.5 (1,4' 1340. 42.44).

' Die Ahnlichkeit ist so groff, dati nur durch Feststellung ganz unbedeutender Abweichungen im Rekognitions-zeichen festgestellt werden kann, dat3 die Rheinauer Falschting M51402, urspriinglich ein reslcribiertes Originai,von dem nur das vom Siegel bedeckte Snickchen des Rekognitionszeichens iibrigblieb, wirldich ein Originai Ludwigsdes Frommen und nicht ein solches Ludwigs des Deutschen gewesen ist.

' Sickel, Acta Karolinonun i, 88, laBt den Durandus k a .lioraceise auch als Ingrossator ganzer Urkunden fun-gieren, wie schon Tangl festgestellt hat (vgl. Bresslau, rrkundenlehre. t, 375 Anni. 5). Ebenso hat Sickel dieverschiedenen Hande unter Adalleod nicht zu unterscheiden verstanden; indem er alle Diplome dieser Periodo trotzganz offensichtlicher Differenz dem Adalleod zuschrieb (Beitr. 2, hat er die wirkliche Stellung dieses Mannesin der Kanzlei Ludwigs dea Deutschen verkaruu. Erst Tangl hat die Verschiedenheit der Schreiber unico Adalleoderkannt, wenn er auch nicht zu gesicherten Ergebnissen gekommen ist, weshalb M ii hlba cher in den Regesten sichiedes Ausspruchs daffiber enthalten hat.

Namlich die DD. 7.8. 17 (W1346. 47. 57).D. u (M'1352) ist nicht von Adalleod A, sondern wie ich nachtraglich festgestellt habe und R. v. Heck el

bestatigt hat, von einem Schreiber mundiert, der spater als Schreiber des von Chroust, Mon. pal. Sec. Lief. 6Tal-. 4 und 5 reproduzierten St. Einmeramer Tauschvertrags zwischen dem Bischofsabt Baturich und demMaurentius wiederkehrt. C hroust, dem Bresslau, a.a.0. t, 431 Anm.r, folgt, hat zwar den Zusanunenhang mitder kimiglichen Kanzlei richtig erkarmt, den Schreiber aber irrig mit dem Notar Dorninicus identifiziert, mit desse.,!schrift aber die sente gar keine Ahnlichkeit, nicht CiMMII Schulverwandtschaft hat. — Die neuen Hilfsschreiberbezeichne ich mit Adalleod A (DD.13. 15 = M.1353. 55) und Adalleod B (DD.18. 20. 22. 23 = M'1358. 60. 62.63).D. 21 IM' 1361) ist von unbekannter Hand. Aber iiberall behalt Adalleod sich die Eintragung des Eschatokolls vor;nur Adalleod 13 durfte auch die Datierung schreiben (DD. 20. 22. 23).

• Besonders charakteristisch ist die Pertinenzformel mit perviis exitibus et regressibus, die sich so auch in denalterni Urkunden Pipins findet (L ev illain no. 4. 5) und duna in die St. Emmeramer Tauschurkunden nberging.lch handele darfiber ausfiihrlicher im N. Archiv Od. 50.

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16 Kehr:

dessen Miinche fik diese Bereichenmg ihres Formelschatzes wohl dankbar waren. Auchwurde ihr Abt, der Bischof Baturich bald Erzkapellan; bei dem engen Verhalmis vonKanzlei und Kapelle begreift sich dieses bisher nicht beachtete oder falsch gedeutete in-time Verhaltnis, und es ist nicht zu verwundem, daB einmal ein Hilfsschreiber des Adalleodeine Regensburger Tauschurkunde geschrieben hat'.

Die Ereignisse des Jahres 833, die, wie wir sahen, mit einem Wechsel in derLeitung der Kanzlei verbunden waren und grolle Neuerungen im Urkundenformularbrachten2, indem die Abhangigkeit von der Oberhoheit des Kaisers abgestreift, der bis-herige Titel rex Baioariorum durch den bloBen KoSnigstitel rex ersetzt, aus der Datierungdie Regierungsjahre des Kaisers beseitigt und statt dessen allein nach den Regierungs-jahren Ludwigs in orientali Francia gerechnet, auch ein neues Siegel, eine antike Gemme,nach dem Beispiel des Kaisers eingefiihrt, und schlieBlich auch das Beiwort serenissimaals Ausdruck der vollen Souveranitat verwendet wurde', anderten indessen nichts an derStellung des Adalleod, der in derselben Weise wie bisher auch unter dem neuen Ober-kanzler Grimald bis in die schlimmen Zeiten des Biirgerkriegs, in denen die Kanzlei-

geschafte ganz aufhiirten, arbeitete°.Erst mit dem Riicktritt Grimalds von der Leittmg der Kanzlei scheint auch Adalleod

ausgeschieden zu sein; er begegnet uns zwar noch einmal5 — vielleicht hat er eine Stellein der Kapelle gefunden —; aber die Geschafte besorgt unter dem neuen Kanzler Ratkikein neuer Notar namens Dominicus, den jener wohl rnitgebracht hat°. Der Schrift nachgeh6rt Dominicus in die gleiche Schriftprovinz, wie Adalleods letzter Gehilfe (Ad. B), alsowohl um den Mittelrhein herum in Mainz oder WeiBenburg oder Seligenstadt miissenwir wahrscheinlich die Heimat dieser neuen Schreiber suchen. Mit der Art des Adalleodhat er nichts gemein, obwohl er mit dem Urkundengeschaft vertraut war und auch dieNotenschrift zu handhaben wuBte. Aber er nennt sich wie sein Nachfolger Comeatusimmer notarius, wohl in Nachahmung der damals in der Kanzlei des Kaisers iiblich ge-wordenen Amtsbezeichnung, wie auch sonst die Diplome dieses neuen Notars eine gewissegraphische Verwandtschaft mit denen Ludwigs des Frommen aus der Periode des Hinnin-maris und des Meginarius zeigen; auch die Diktate begirmen freier gestaltet zu werden.Noch deutlicher aber zeigt sich trotz der politischen Gegensatze der Zusammenhang mitder Kanzlei des alten Kaisers darin, daf3 Dominicus und sein Nachfolger, anders als Du-randus, Hinninmaris und Adalleod, vielmehr wie die letzten Notare Ludwigs des From-men die Urkunden ganz schreiben, eingeschlossen die Signum- und Rekognitionszeile,

Siche oben S. 15 Anni. 5.In der Invocano wurde die bisherige Formel (s. S. 14 Anni. 4) durch die neue In nomine sanctae a indivicluaetrinitatis, die spiiter die allgemein angenommene Anrufungsformel Gottes wurde, ersetzt und in der Intitulatiodie neue Fassung divina favente gratia oder clementia (das spkter zur Nomi wird) eingefiihrt.

Doch blieb das noch lange der Willkiir der Notare iiberlassen, die wieder der wandelnden Mode folgten.• Von 838 bis Ende 840 sind keine Diplome Ludwigs des Deutschen erhalten.• In dem aus Rèsebeck datierten Korveier D.29 (M• 1369) vom 14. Dezember 840. Er hat also mit dem damals

bereits amtkrenden neuen Notar Dominicus den Kdnig nach Sachsen begieitet, vielleicht als dessen Kapellan. MitD. 31 (M 1371) hat es eine besondere Bewandtnis (vgl. den Exkurs am Ende).

• Da13 dieser Dominicus im Dienste des Bischofsabts Baturich von Regensburg gestanden—einDominicus elericusschreibt eine Tauschurkunde des Bischofs Baturich mit Ucciandus aus dem Jahre 837 (Pez, Thes. le, 252 no. 80),die starke Anklinge an das Formular der Diplome aufweist, wie wir sie aber schon aus friiherer 7,eit feststellenIdirmen — hai Bre sslau, Urkundenlehre•1,431 Anm.i im Anschlui3 an C h rous t (s. oben S. 15 Anni. 5) ookIv-nommen. S i ckel, Kaiserurk. in Abb., Text S.47 liflt auch den Dominicus in Si. Martin zu Tours herangebildet sein.

Die Kanzlei Ludwigs des Deutschen 17

deren Eintragung friiher einem hdheren Kanzleibeamten vorbehalten war. Der ProzeBder Entwertung der Rekognition geht in beiden Kanzkien parane' vor sich.

Dominicus, iiber dessen Persdnlichkeit wir sonst nichts wissen und den mit anderenZeitgenossen dieses Namens zu identifizieren uns ebenso gut auf eine falsche wie auf einerichtige Fahrte fiihren wiircle', ist kaum langer als ein Jahr im Dienste gewesen2. Ererhielt in dem Notar C om ea tus° einen Nachfolger, der fast 15 Jahre eine bedeutendeStellung in der Kanzlei Ludwigs des Deutschen eingenonunen hat. Dem Namen nachRomane, gehdrt er zu der mittelrheinischen Schreibschule, also wohl zu dem ICreise umRatleik; auch an Fulda k6nnte man denken4, und unverkennbar ist eine gewisse Ahnlich-keit seiner Schrift und seiner Schriftzeichen mit denen der Diplome Lothars I. Er fiebtSchndrkel, Verzierungen und Abwechselung, z. B. in der Gestaltung der Chrismen; er hatSchwung und Eleganz; er ist der Kalligraph unter den Schreibem Ludwigs des Deutschen.Sehr gut verstand er sich auf die Notenschrift, und wir verdanken ihm zahlreiche Eintra-gungen in tironischen Noten am Ende der Kontexte, die uns tiber clic 13eteiligung desKdnigs und des magister, des Oberkanzlers, unterrichten. DaB er, wie das alter Brauch war,die Rekognition noch einmal in Noten im Rekognitionszeichen wiederholte, ist freilich nureine gedankenlose iibung5. Densi er ist wie sein Vorganger Dominicus immer Schreiberund Rekognoszent in einer Person. Als Diktator ist er unbedeutend; Verschreibungen,Konstruktionsfehler und irrige Zahlen in der Datierung lassen seme Fltichtigkeit deutficherkennen. Als clic Geschafte sich mehrten und der stattfiche Gewinn von Land und Leutenseit 843 den Kdnig zu haufigen Reisen nótigte — mit der alten Residenz Regensburg beginntFrankfurt zu rivalisieren wurde noch ein anderer Schreiber beschaftigt namens R e gi n-b e r t, der sich aber niernals Notar nennt, sondern zuerst subdiaconus, dann den Titel fort-laBt, schlieBlich sich als diaconus bezeichnet. Spricht dies daftir, daB er aus der Kapellekam, so wird das um so wahrscheinlicher als er der erste in dieser Reihe von Kanzlisten ist,der in die Kanzlei eintrat ohne Kenntnis der Kanzleischrift und der Kanzkibrauche und dessenmiihsame Anpassung an die Kanzleinormen wir Schritt fiir Schritt verfolgen und sogarzur zeitfichen Bestizrunung seiner Urkunden verwenden hinnen°. Denn noch wenigerhatte er eine Ahnung von der Berechnung der Jahreselemente in den Datierungen; semeZahlen sind entweder falsch oder wil1ki1r1ich7. Ebensowenig kannte er die Notenschrift;die beiden Male, wo er sie anzuwenden versucht, hat er sie sich von seinem Kollegen

' AuBer diesem Notar Dominicus gab es damals in Regensburg einen Dominicus clericus (s. oben S. 16 Anni. 6),cinen vom KOnig beschenkten presbiter Dominicus (D.38 M' 1379 aus Salzburg) und den in der Conversi° Caran-tanorum C. 11.12 genannten Priester (vgl. D iimmler, Ostfrknk. Reich' 2,177). Alle die mtiglichen Kombinationenhai H u 61, Studien tiber Formelbenfftzung S. 34ff., ereirtert, ohnc zu einem sicheren Ergebnis zu kommen. Amplausibelsten ist noch die Annahme, daB Dominicus nach seinem Ausscheiden aus der Kanzlei mit dem D. 38 be-lohnt worden sei.

' Zuerst in D. 26 (M'1310) vom io. Dezember 840, zona letztenmal in 0.30 (M•1370) vom 18. August 841.' Zuerst in dem Hersfelder D. 32 (W1373) vom 31. Oktober 843, zuletzt in den St. Galler DD. 69.70 (W 1409.

lo) vom 22. Jul, 854. Dann noch auBer der Reihe in dem Lorscher D. 89 (M' 1431) vom 18. Mkrz 858 und in demvon Walto geschriebenen Speyrer 0.92 (W/434) vom 29. Aprii 858.

' Demi die Schrift des Fuldaer Diakons Hermann in 0.43 b (zu M' 1384) zeigt ganz den gleichen Duktus wiedie. des Comeatus, wenn auch ohne das Schneirkelwesen der kllniglichen Kanzlei, und so krinnte man wohl an diegleiche Schreibschule denken

' Ohne Noten ist nur D. 65. (M' 1405), aber deshalb lcann man doch nicht mit S i c ke I , Kaiserurkunden in Abbild.,reit S.I53,sagen,daB er in derNotenschriftnachgelassen habe. D 92 (M'1434) ist nicht, wie M ii hibacher und T ang Iinel.ote31, von Comeatus geschrieben, sondem, wie schon Sickei (s. unten S. 19 Anni. 3) festgestellt hat, von Walto.

Siehe die Vorbemerkung zu D. 38 (M' 1379).Vgl. Sickel, Beitr . i , 368f.

11111-hlat 1932. Nn

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18 Kehr:Comeatus vorschreiben lassen und ganz ungeschickt nachgezeichnee. Trotz dieser Miingelscheint er sich besser als sein Kollege auf das Konzipieren der Urkunden verstanden zuhaben; wohl auf ihn gehen einige neue Diktate zuriick, und mit ihm ldngt auch jene Samm-lung von Formeln zusammen, die unter der irrigen Bezeichnung der Collectio Pataviensisbekannt ist2. Reginbert ist in den Jahren 844 bis 848 neben Comeatus nur aushilfsweisetatig gewesen3; in den Jahren 849 und 850 hat er den abwesenden Notar allein vertreten4; inden Jahren 851 und 852, nunmehr Diakon, hilft er diesem wieder auss. Des ComeatusregehriaBige Tkigkeit in der Kanzlei endet im Sommer 854 (DD. 69. 70 = M' 1409. io),

doch kommt er spiter ira Jahre 858 noch zweimal VOI'(DD. 89. 92 = W 1431. 34),vielleicht

trota seiner Amtsbezeichnung notarius in anderer Stellung, wie er auch schon friiher inSt. Gallen und Reichenau als cancellarius bezeichnet wird°. Jedenfalls war er in seiner Arteine Perslinfichkeit und, wie es scheint, ein Vertrauensmann des Erzkapellans Grinuld.

Nicht weniger wichtig fiir die Ginchichte der Kanzlei Ludwigs des Deutschen ist seinNachfolger Hadebert gewesen, dem S i ckel in den Kaiserurkunden in Abbild., TextS. 152ff. eine eigene kleine Monographie gewidmet hat; aber er irrte, wenn er alle 13 seinenNamen tragenden Originale ihm zuscluieb und wenn er meinte, ihn nach der Schriftund nach den tironischen Noten in D. 8o (M' 1423) der beriihmten Schule von St. Martinin Tours zuweisen zu kiinnen7. Das ist schon wegen des damafigen politischen Gegen-satzes zwischen Ost- und Westfranken ganz unwahrscheinlich, und nichts in der Schriftund im Dikta t des Hadebert weist auf Frankreich hin. In Wahrhei t wissen wirilber seme Herkunft nichts; er kommt zuerst in D. 68 (M' 1408) vom 18. Mai 854 vor,als Ratleik noch Oberkanzler war; also gehórte er wohl zu dessen Kreis. Dagegen besdtigtsich zumeist, was S i c kel iiber seme Diktate bemerkt, die jetzt ein individuelleres Geprgeannehmen und von dem bisherigen Schema, das sich an die alten ludovicianischen FormelnanschloB, abzuweichen beginnen. DaB er der Urheber der von Si ckel ihm zugeschriebenen

neuen Gleichung in der Datierung annua regni - 20 = indictio war8, ist mfiglich, aber nichtsicher; zuerst (in D. 68 = M' 1408) folgte er noch der Gleichung des Comeatus; clic neuefindet sich erst in dem ersten unter der Oberkanzlerschaft des Abtes Baldrich geschriebenen

D. 73 (M' 1412) vom 20.Mkz 855, wgirend die neue Hadebertsche Fassung anno x sere-

nissimi regis Hludouuici in orientali Francia regnante bereits in D. 68 begegnet, ein Formular,das sich bemerkenswerterweise auch einmal in einer WeiBenburger Tradition vom 27. Mai854 oder 855 findet, oime daB wir mit Sicherheit feststellen kkinnen, ob es von dori ber-kommt oder sich dorthin verirrt bar'. Voi allem aber irrte Sickel, wenn er meinte, die

7 In D.38 (M. 1379) und in D.59 (M. 1398). Ta ng I im Archiv fiir Urkundenforschung i, 156 urteilt iiber diese

Noten Reginberts noch immer viel zu giinstig.Vgl.H u131, Studien iiber Forrnelbeniitzung S. 221f. Am deutlichsten ist dieser Zusammenhang in D. cto (M" 138t).

In DD. 38. 4o. 48. so (M. 1379. 81. 91. 86).In DD. 53- 57 CM' 1395. 96. 92. 93. 94). ich habe die von Reginbert geschriebenen Diplome anders als

Mithlbacher eingereiht.In DD. 59. 63 (M. 1398. 1401)._Siehe oberi S. to Anni. 2. • nall.r T ini. der Briider von Tours (Mini. Germ.S ic ke I fand die Namen Adilleodus una nacwoertw it.Lib. confrat. p. 13) und identifizierte sie vorellig mit unsem Kanzleimlinnern. Aber diese Namen kommen auch sonst

vor, und oh iene mit den gleichnamigenNotaren Ludwigs identisch sind, ist doch unsicher, bei Hadebert geradezu aus-veschlossen. DaB die Noten in D. 8o und D. 95 von Hadebert herriihren, bezweifle ich (s. unten S. 19 Anni. 2).

S ickel, Beitr.t, 388f. und Kalseruricunaen .ZeuB, Trad. Wizenburg. P.145 no. 156. Diese Datierwig ist in WeiBenburg ganz vereinzelt und weicht VOnvon St. Gallen fuldet sich nichts Ahnliches.

dern dortigen Datierungsschema vottig ao. ,t. _

bie Kanzlei Ludwigs des Deutschen 19

groBe Usur in der Geschichte der Kanzlei Ludwigs des Deutschen 'lige beim Auftretenseines Nachfolgers Hebarhard im Jahre 859; sie liegt schon vorher beim Eintritt des Hadebert.Seine Schrift, eine eigenartige und sogar elegante Diplomschrift, hat nichts gemein mitdem Duktus des Adalleod, Dominicus und Comeatus, die bei aller individuellen Verschie-denheit an der Tradition der alten ludovicianischen Kanzlei festhielten. Hadebert warein neuer Mann ohne diese Tradition; er scheint den alten Sinn der Rekognition schonnicht mehr gekannt zu haben, denn das Rekognitionszeichen ist bei itim nur noch einebloBe Verzierung und daB er sich auf che tironischen Noten verstanden habe, woraufS i ckel Gewicht legt, glaube ich nicht 2. Zwar blieb Comeatus, wie wir sahen, noch imDienste, wenn auch, wie es scheint, in anderer Stellung, aber seit 856 ist Hadebert, der auchanders als Dominicus und Comeatus wie Adalleod und Reginbert immer nur sein geist-liches Prficlikat subdiaconus fillut, clic maBgebende Persfinlichkeit in der Kanzlei, auchdarin, dal3 er sich anders als seme tuunittelbaren VorgAnger mehrerer Hilfssc.hreiber be-diente, so flir das gleich zu besprechende D. 73 (M' 1412), eines andem fiir das AltaicherD. 86 (M' 1428), eines dritten ftir clic Zliricher Originale DD. 90. 91 (M* 1432. 33), derebenso wie der in D. 88 (M' 1430) rekognoszierende L i u tb r and die Schrift des Hadeberttauschend naclunacht. Dieser Liutbrand, der erst nach 17 Jahren im Jahre 875 wiederals Schreiber und Rekognoszent auftaucht, war sicher ein Kapellan des Kfinigs, der ihm,seinem lieben Diakon, zum Lohn fiir seine Dienste das Kkisterlein Faumdau schenkte(DD. 163. 164 = M' 1511. 12). Kaiser Amolf, der im Jahre 888 diese Schenkung bestkigte(M' 1718), bezeichnet ihn unter wiederholter Anerkennung seiner seinem GroBvater Ludwigund der kiiniglichen Familie geleisteten Dienste als seinen Kapellan. Ist Liutbrand einSchiiler Hadeberts, so steht der Subdiakon W alt o, der in D. 94 (M' 1436) als Rekognoszentgenannt wird und spater noch zweimal in der ersten Zeit des Hebarhard begegnet (DD. 97.103 = M' 1439. 45) doch dem Comeatus nher. Er hat den Kiinig 858 auf dessen ungltick-lichem Feldzug nach Frankreich begleitet, und wenn es sich bestkigen solite, daB er iden-tisch ist mit dem in den Diplomen Karls III. hfiufig rekognoszierenden Notar und KanzlerWalto, der 884 Bischof von Freising wurde, dann wke kein Zweifel, daB auch er ein nurvornbergehend Hilfsdienste in der Kanzlei Ludwigs leistender Kapellan gewesen ist'.

Also hat sie wohl nichts mit Grimald zu tuo. Sie kiinnte aber vielleicht mit dem greulich verunstalteten WeiBenburger11. 76 (M' 1417) zusammenhangen, dessen Eschatokoll arg verderbt und verstiimmelt ist. D. 68 (M. 1408) fùr Utrecht1si vom 18. Mai 854 aus Frankfurt datiert; D. 76 hat dieselbe Tages- ttnd Ortsangabe und lolinnte, wenn wir an demiiherlieferten a. regni XXIII (die Indiktion fehlt) keinen Ansto13 nehmen, gleichzeitig mit jenem ausgestellt salii, wo-durch die tYbereinstimmung der Datierungsformel in der WeiBenburger Traditionsurkunde eine Erklarung finde.

l Hadebert wuilte so wenig von den Brauchen der altro Kanzlei, daB er das bisher immer zusammengeschriebeneCr und SR. der Rekognitionszeile trennte und das Rekognitionszeichen lediglich als ein fiir sich stehendes Sclunuck-zeichen behandelte.

Tironische Noten in der alten Weise finden sich nur noch in dem Rekognitionszeichen des von Hadebert ge-whriebenen D. 8o (M. 1423), timer zwei ganz vom Kanzleibrauch abweichende und z. T. zerstkirte Noten ffirliadeberrus notarius vor dem SR. in D. 95 (M. i437), die S i c ke I gar nicht beriicksichtigt und T a ngl im Archiv fiirUrkundenforschung t, 158 nur zur Mille entziffert hat. Aber sie zeigen einen sehr feinen Duktus, withrend Hadeberteine krafrige Feder Mute, sind also wohl von einer anderen Hand. Auch pilegt, wer sich auf eine so seltene Kunstversteht, seni Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Auch Tan g I im Archiv fiir Urkundenforschung i, 137 legtiene dem Hadebert bei und bezeichnet sie als korrekt; ebenso S i ck e l, Kaiserurkunden in Abbild., Text S. 153.uit sind nicht gerade iniBgliickt, aber korrekt sind sie doch nicht.

Walto hat schon das Speyrer D. 92 (M' 1434) gesehrieben, aber nicht mit seiner oder der Rekognition desi i .drbcrt, sondern der des Comeatus versehen. Miihlbacher und T a ng I hielten freilich diesen ffir den Schreiber

1)92, wahrend S i c ke l , Kaiserurkunden in Abbild., Text 5.164, denwahren Sachverhalt richtig erlcannt hat. Obero umer Karl III. amrierenden Walto oder Waldo vgl. S ic ke l, Beitr. 2, 108 f. und Kaiserurkunden in Abbild., Text151; auch Miihlbacher in Wiener SB. 92, 359fr-

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20Er ist iibrigens der letzte, der wenigstens noch die tironischen Noten ftir et subscripsi und

amen nachzuzeichnen imstande warWie jetzt Schrift und Diktat andere werden, so geht unter Hadebert auch in der Ge-

schfftsfiihrung ein Wandel vor sich. Vahrend diese in der Periode bis Hadebert durchauskonstant und einheitlich ist - mit Ausnahme des D. 31 (M 1371)2 zeigen die DiplomeLudwigs bis zum Jahre 854 nicht eine einzige wesentliche Abweichung von der Rege13;nirgends ist ein Wechsel der IUnde, mit Ausnahme der von Adalleod blof3 rekognosziertenUrkunden, zu erkennen und nirgends eine sichere Nachtragung in den Datierungen nach-zuweisen4 kidert sich das unter Hadebert, der sehr oft fur die Tagesangabe eine Ltickelief3, um sie spker bei der Vollziehung der Diplome auszufiillen5. Da das auch unterHebarhard, seinem Nachfolger, iifter vorkommt, so muB das in einer Anderung der Kanzlei-praxis seinen Grund haben; ich vermute, dal3 es mit der gleich zu besprechenden Ent-wertung der Rekognition zusammenhtingt, so dafl nur die Firmatio und das Siegel die einzigenFaktoren der Beglaubigung wurden; es wurde Brauch, das Tagesdatum erst einzutragen,sobald es zur Vollziehung kam3. In dem Korveier D. 73 (M' 5412) vom zo. Mkz 855 stoBenwir zum erstenmal auf eine in der Kanzlei Ludwigs des Deutschen unbekannte Teilungder Schreibarbeit unter drei verschiedene 1~ner, von denen der erste das Chrismon, dieverangerte Schrift der ersten Zeile und wohl vorausfertigend die Signum- und Reko-gnitionszeile schrieb, der zweite (ich nehme an Hadebert) die drei ersten Kontextzeilen undvielleicht auch die zum gréditen Teil jetzt zerstórte Datierung, der dritte von id est ab denRest des Kontextes'. Erinnern wir uns, daB Adalleod in der Weise der ludovicianischenKanzlei in der Regel nur das Eschatokoll schrieb, jedenfalls immer Signum- und Reko-gnitionszeile, die beiden Fonneln also, in denen von altersher neben dem Siegel das ent-scheidende Moment der Beglaubigung lag, daB dann Dominicus, Comeatus und Reginbertimmer die Urkunden ganz mundierten, das kdnigliche Handrnal und die Rekognition ein-geschlossen, so da)) Schreiber und Rekognoszenten immer die gleichen Personen waren.Jetzt kommt es zum erstenmal in der Kanzlei Ludwigs des Deutschen vor, daB die Re-

In DD. 92.97 ;M 1434. 39) hat Walto das Rekognitionszeichen mit den Noten fur et und subscripsi aus-geschmiickt und an s Ende der Urkunden ein bzw. zwei tironische amen gesetzt. Es ist seltsam, daB ein so guterKenner wic Tanei intArhiv fiir Urkundenforschung I, 156 die Schrift und die Noten in D. 92 dem Comeatuszugesprochen und ihn wegen der letzteren getadelt hat. Auch Sickel, Kaiserurkunden in Abbild., Text 5.153, be-merkt, daB Comeatm n der Anwendung der Noten nachgelassen habe, aber das beruht wohl auf dem gleichen Irrtum.

Vgl. den Exkurs uher die irregularen Rekognitionen.. In gewisser I1iisicht gilt dies aber von D. 37 (M.1378), dessen Kontext in Biicherschrift geschrieben, alsowohl als Mandat he.gonnen war, dann aber von Comeatus mit dem Eschatokoll der Diplome in Kanzleiminuskelausgestattet ist. In D. 36 (M'1377) in aus irgendwelchen Griinden die Datierung nicht eingetragen, was dann ein

Spaterer willkiirlich nachgeholt hat.• Ganz unsicher sud etwaige Nachtragungen des Tagesdatums in DD. 6. ti. 17. 18. 23. 50. 61.65 (M.1345. 52.57. 58. 63. 86. 1403. 05), und sie kOnnen deshalb hier nicht ernstlich in Rechnung gestellt werden.

So in DD. 77. 80. 81. 83. 87. 88.9o. 91. 93. 96 (M21418. 23. 24. 26. 20. 30. 32• 33. 35. 38). Oft war der dafiir

gelassene Raum zu klein.• Einmal in D. 92 (M' 1434)

hat der Schreiber Walto den Text zuniichst bloB bis firrnavimus geschrieben, wahrendein anderer dieWorte ci nudi ~in' impressione iussimus sigillari erst hinzufrigte, als es zur Besiegelung kam. Ebensoist in D. 159 (M. 1507) diese Formel von dem zweiten Schreiber hinzugefiigt. Ober ahnliche Falle s. Sickel inKaiscrurkunden in Abbild., Text S. 43. 66. 191 und F ick e r, Beitr. 2, 198.

Miihlba cher nahin zuerst zwei verschiedene Hande an, aber Tangl erklarte das D. 73 (M. 1412) als ganzvon einer Hand geschrieben. In den Regesten unter no. 1412 hat deshalb Mii h lba cher , der auch sonst wohlempfand, daB die Schriftbestimmung nicht seme Starke war, einen Ausspruch dariiber vermieden. Der Bedeutungdieses Stiickes fiir die damalige Kanzleipraxis wegen gebe ich im Anhang eM verkleinertes Faksimile (Taf. I); im

ribrigen verweise ich auf die Vorbemerkung zu D. 73.

K e h r : Die Kanzlei Ludwigs des Deutschen 21

kognition nicht von dem amtierenden Notar eingetragen wurde, sondem von einem namen-losen Hilfsschreiber. Denn in D. 73 (M' 5452) hat nicht Hadebert, sondern eine andereunbekannte Hand die Rekognitionsformel Hadebertus subdiacoma advicem Baldrici abbatisrecognovi et SR. eingetragen, und ebenso schreibt Walto in D. 92 (M' 1434), ObWOM ersonst in eigenem Namen rekognosziert, clic Formel Comeatus notarius advicem Utsitgariirecognovi et SR., wiihrend Comeatus an der Niederschrift der Urkunde gar nicht beteiligtwar. Ebenso haben die unbekannten Hilfsschreiber des Hadebert in DD. 86. 90. 91 (M'5428. 32. 33) clic Rekognitionsformel des Hadebert eingetragen, obwohl sie von diesemweder geschrieben noch rekognosziert sind. Wir werden noch mehreren solchen Fallenbegegnen. DaB damit die Rekognitionsformel den alten Sinai der Beglaubigung verlorenhat, ist eine Tatsache, mit der clic Diplomatiker sich abfmden miissen, so sehr auch Sickelund Bresslau sich dagegen strAubten.

So ist clic friihere Straffheit in der Organisation der Kanzlei Ludwigs des Deutschenunter Hadebert verlorengegangen. Aber sie wurde durch seinen Nachfolger Hebarhardin gewisser Weise wiederhergestellt. Dieser ist unter den Notaren der Wteren Jahrhunderteder bekannteste und am meisten behandelte Mann; Sickel hat tifter und ausfiihrlich vonihm gehandelt und ihn als den Erfinder der neuen diplomatischen Minuskelschrift be-zeichnet (Beitr. 2, to7 f. 114 und Kaiserurkunden in Abbild., Text S. t6off.); auch Bresslauhat ihn gebtihrend gewiirdigt (Urkundenlehre r, 412f .; 2 , 524) und Sickels alte Ver-mutung angenommen, daB er mit Grimald aus Wei13enburg an den Hof gekommen sei'.Allein Hebarhard tritt zuerst unter dem Kanzler Witgar auf, und sonst ist kein Momentzu entdecken, das nach WeiBenburg wiese. Auch mit seiner »Erfmdung« der neuen Ur-kundenschrift hat es eine andere Bewandtnis. Wir kiinnen nrnlich an seinen ersten Ur-kunden sehr gut verfolgen, wie sie sich entwickelt hat. Hebarhard stammte offenbar auseiner Schreibschule, in der man die alte merowingisch-karolingische Kursive nicht mehrkannte oder konnte. Die Bficherschrift, die er dort gelemt batte, beruhte auf einem anderenPrinzip, nicht nur daB iene bestimmte Ligaturen und diesen angepaBte Buchstabenformenanwandte, clic der Bikhenninuskel fremd waren, sondem sie unterschied sich von dieserdarin, daB whrend die Kursive die Buchstaben enge zusamrnenchingte mit der Tendenzin die Hiihe, die Minuskel clic Buchstaben in gleichen Proportionen nebeneinandersetzteund mehr die Tendenz in die Breite hatte. Der neue Notar schrieb diese Biicherminuskel,aber um sie als feierliche Urkundenschrif-t erscheinen zu lassen, brachte er im Anfang nochso viek Ligaturen und Buchstabenformen der Kursive an, daB dadurch die Wirkung un-einheitlich und MBlich wurde. Und so verminderte er iene immer mehr, bis seme Ur-kundenschrift, indem sie nur noch wenige Elemente der alten Schrift, wie die verlangertenBuchstaben der ersten und der Unterschriftszeilen und die verangerten Oberschafte,ferner das neugestaltete Chrismon und das alte Rekognitionszeichen mit willkiirlich er-fundenen notenhnlichen Zeichen ohne Sinai - denti auf clic echten Noten verstand erer sich nicht mehr beibehielt, einen kalligraphischen Charakter bekam2. Er verfuhr

' Kaiserurkunden in der Schweiz, S. und Kaiserurkunden in Abbild., Text S.16off. Danach auch Br essla u,aia. Meyer von K nonau in der Allg. Deutschen Biographie 9, 703 behauptet, Grimald habe anfangs

WeiBenburger, spater alemannische und besonders St. Galler ~che in die kònigiiche Kanzlei gebracht, aber ichwiiBte nicht, wer das gewesen sein soli.

Die Hebarhardsche Urkundenminuskel ist also mehr ein Produkt der Not, und so kann ich in ihr nicht mitS ic k e I, Beitr. I, 339, groBen Fortschritt« schen. Vgl. auch Tangl im Archiv fùr Urkundenforschung t, 158.

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ebenso in seinen Diktaten; er verwendete wie schon sein Vorginger Hadebert immerseltener Arengen, und wenn er sich auch noch an die alten Formeln hielt, so vereinfachteer sie. So ist der Eindruck des Mannes der eines fleiBigen und korrekten, aber niichternenund langweiligen Kanzlisten. Da seme Schrift leicht zu Lerma und bequem zu handhabenwar, so machte er Schuk, und er hat in der Tat eine grol3e Stellung in der Geschichte derKanzleischrift und der Urktmdendictarnina. Das aber war ein weiterer Schritt in demProzell der Auflósung des alten frAnkischen Reiches und der Absonderung. In der lotha-ringischen Kanzlei erhielten die Traditionen der groflen Kanzlei sich am lAngsten; diewestfrAnkische und die ostfrAnIdsche gingen jetzt ihre eigenen Wege und die italienischeverfiel mehr und mehr der Barbarisierung. Der Bruch mit den alten Traditionen, der umdas Jahr 855 unter Hadebert zuerst offenbar wird, vollendete sich um das Jahr 860. Eswar gewiB kein absichtlich gewollter Bruch mit der Vergangenheit, sondem clic natiirlicheFolge der Aufkisung des grollen Reiches Karls des GroBen und der Absonderung dereinzelnen Teile; in der Geschichte der deutschen Kanzlei spiegelt sich dieser grofk histo-

risate ProzeB am deutlichsten wider.Hebarhard, der sich bis zum Jahre 868 notarius nannte, hat, von wenigen Ausnalunen im

Anfang seiner Thigkeit abgesehenl, bis zum Jahre 874 alle Diplome verfallt und geschrie-ben. Auch seme Rangerhiihung zum cancellarius, wenn es iiberhaupt eine solche war,Anderte daran nichts, ebensowenig der Wechsel im Erzkapellanat im Jahre 8703. Dal3 er,wie Sickel zu begriinden versucht hat, damals eine neue Berechnung der Regierungsjahreeingefiihrt habe3, bestreite ich; er war wie seme VorgAnger ein miBiger Komputist. Erstim Jahre 875 bediente er sich der Hilfe eines tibrigens wenig geschickten Schreibers auseiner anderen Schule (Hebarhard A), den er meist den Kontext und che Datierung schreibenlieB; die Eintragung des Eschatokolls oder doch der Signum- und Rekognitionszeile behielter sich vor, verfuhr hier also wie einst Adalleod4. In D. 157 (M' 1505) erscheint ein zweiterHilfsschreiber (Hebarhard B), der ganz wie sein Meister schreibt; er durfte auch clic Re-kognitionszeile schreiben, wAhrend Hebarhard sich die Eintragung der Signumzeile vor-behielt, der so eine gróBere Bedeutung beigelegt wird als jener. Sehr hAufig ist unterHebarhard wie schon unter Hadebert die Nachtragung der Tagesangabe in den Datie-rungen3, was die friihere Beobachtung bestkigt, daB der letzte und entscheidende Aktdie Vollziehung durch den Kdnig und die Besiegelung war, der gegeniiber clic Rekognitionihre Bedeutung verloren batte. Im Jahre 875 verlieren wir Hebarhard aus den Augen6;den Zug des Kònigs im Oktober nach Bayern und im November nach Metz machte ernicht mit; statt seiner begleitete den Keinig jener Diakon L iutbran d, der schon einmal

Nur die 00. 97 und 203 (M1439. 45) sind von Walto geschrieben. Ober 0.96 (M.1438) s. den Exkurs iiber

die irregulkren Rekognitionen am Schlufl.Doch knderte er seit 868 im Rekognitionszeichen in etwas seme noteniihnlichen Zeichen.

Beitr. 2, I2 f.' D. x51 (W1499)• 153 (1500). 155 (1502). 161 (1509). 0.257 (1505) ist von Hebarhard A begonnen, aber vonHebarhard B vollendet worden. In 158 (M.1506) ist der Kontext und die Datierung von A geschrieben, Signurn-

und Rekognitionzeile von B. In 0.259 (M'i507) ist der Text von A, der Rest von B, die Signumzeile wahrscheinlidi -von Hebarhard. 0.160 (M'1508) hat B geschrieben, die Signumzeile Hebarhard. In 0.162 (M.1510) haben

Hebarhard und B sich in die Arbeit geteilt.Nachtragung der Tagesangabe (ganz oder teilweise) ist sicher oder wahrscheinlich in DD.to8. 121. 122. 123.124. 125. 144. 146. 151. 158. 261. 163. 164. 165. 171 (M' rei. 62. 64. 65. 66. 67. 91. 93. 99. 2506.9. 12. 12. 13. 18).

_ _ _ N.rturanune sonar unterblieben.In den DD.155. 159. 160 tivr150z. 7.0). _Die letzte von ihm geschriebene Urkunde ist 0.164 (M.1512) vom II. August 875 aus Trebur.

Die Kanzlei Ludwigs des Deutschen 23

im Jahre 858 ein Diplom verfaBt und geschrieben hatte (s. oben S. 19) und der jetzt mehrereDiplome schrieb oder schreiben Ha', eines sogar von einem Lothringer, der auch dieRekognition Liuthprandus advicem Liutberti eingetragen hat. Also war auch hier clic Re-kognition nicht mehr autograph. Das gilt auch von der letzten Urkunde Ludwigs vom 19. Juli876, D. 171 (M' 1518) ftir die Kaiserin Angilberga, clic zwar in der Rekognition HebarhardsNamen trAgt, aber von einem neuen, sonst nicht wiederkehrenden Manu ganz in der ArtHebarhards geschrieben ist. Von diesem selbst wissen wir noch, dall er im MArz 877 inTrebur bei Kiinig Ludwig dem jiingeren weilte und, wie es scheint, in alter Weise ein Diplomdieses Kònigs fiir das Kloster Inden M' 1553 geschrieben' und wahrscheinlich damals indas zur Bestitigung vorgelegte Diplom Ludwigs des Deutschen vom 20. MArz 855 fúrKorvei (D. 73 = M' 1412) das Signtun Ludwigs des Júngeren eingetragen hat'. In demDiplom ftir Inden heil3t er wie unter Ludwig dem Deutschen cancellarius, aber darauswird man schwerlich folgem dilrfen, dal3 er eine dauemde Amtsstellung in der Kanzleides jtingeren Ludwig bekleidet habe, auch wenn die Diktate der Urkunden dieses Kfinigsstark von ilun beeinfluBt erscheinen. Denn damit wAre kaum in Einklang zu bringen, risaer im Mai 881 in Pavia bei Karl III. war und dort, aber ohne Amtstite14, ein Diplom inzwei Exemplaren filr den Kustos der kiiniglichen Kapelle, den Priester Ruotpert, schrieb(M' 1619), was einerseits auf nAhere Beziehungen Hebarhards zur Kapelle hinweist, and erer-seits bez,eugt, da13 er keine hdhere Stellung in der Kanzlei innegehabt hat. Er erscheinthier doch cher wie ein fahrender Schreiber. Auch Sickel (Beitr. 7, 660) hat schon bemerkt,wie auffallend es sei, dal3 wir aufkr in den Urkunden nirgendswo einer ErwAhnung dieserso wichtigen Persfinlichkeit begegnen; jedenfalls ist ihm eine hóhere Karriere, wie sie dieNotare Lothars I. Dructemirus und Remigius unter dem Kaiser Ludwig II. machten,versagt geblieben. Und das ist am Ende kein Wunder, da von einer Kanzlerschaft Hebar-hards im spAteren Sinne keine Rede sein kann; nur dadurch unterscheidet er sich von denandern niedem Kanzleibeamten Ludwigs des Deutschen, daB er lAnger als sie im Amtegeblieben und tAtig gewesen ist.

Darin sind sich aber alle, Hebarhard eingeschlossen, gleich, in dem Bestreben, schongeschriebene Kanzleistiicke zu liefem. Das Bemiihen um Eleganz und guten Eindruckist so unverkennbar, daB man annehmen muli, daB ebenso wie die Kanzlei, so auch clicEmpfAnger groBen Wert darauf legten, solche kalligraphischen Stiicke mit einem schfinenSiegel gesclunikkt herzustellen oder zu besitzen. Um so weniger wurde auf Richtigkeit undGenauigkeit des Wortlautes, was man heute als wichtiger ansieht als Schfinheit, geachtet;nicht nur an Schreib- und Fltichtigkeitsfehlem fehlt es nicht, zahkeich sind auch gram-matische VerstfiBe und gelegentlich finden sich sogar falsche Konstruktionen, hAufig sindRechenfehler in den Datierungen, so daB man von der Schulbildung dieser Kanzlisten

' Die DD.166. 169 (M"1514. 1517) sind nur in Kopien erhalten, doch gibt das Chartular von Gorze (D 169)das Rckognitionszeichen des Liutbrand mit seinen notenkhnlichen Zeichen wieder, wie in D.I65 (M.I5t3)," alsolett er es wohl auch geschrieben. D.168 (M.1516) ist stark verfklscht. Nur 0.I67 (M.1515) liegt isa Originai vor

elner der westfrknkischen Kanzleischrift iihnlichen Kursivminuskel.Das Originai, ningst in Paris wieder aufgetaucht, ist leider verschollen, so dal wir iiber die Schrift nichts Be-

summtes aussagen kOnnen; vgl die Vorbemerkung zu 0.31 (M.1371).Vgl. die Vorbemerkung zu D.73 (M.1412).Was sich wohl aus der Rekognition advicem Liutuuardi cancellarli erkbArt Dal Hebarhard, vele Sickel, Kaiser-

in Abb ild ., TeXt S. t78, meint, der Kanzlei Karls III. angehtirt habe, ist ganz unwahrscheinlich. Vielleichtwar er als Bote in irgendeiner Mission, etwa im Interesse seines Kollegen in der Kapelle, an den Kaiserhof nach

gegangen. Ober M.1656 mul ich mir noch das Urteil vorbehalten.

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—a. mccurirnr. Sie scheinen sich oft nicht einmal der Miihe unterzogenzu haben, die Urkunden vor der Aushlindigung noch einmal durchzulesen', und auch dieKanzleivorsteher haben sich nicht darum gekiimmert; so lvavorragende Gelehrte wieRatleik und Grimald atten sie sonst gewiB nicht passieren lassen. Aber das ist in denKanzleien des iilteren Mittelalters wohl allgemein so gewesen; hat doch selbst ein Latinistwie Gerbert als Papst Silvester II. die ihm vorgelegten Originale seiner Regionarnotareunterzeichnet, ohne an ihrem barbarischen Latein den mindesten Ansta zu nehmen.Aber es mul3 so etwas wie eine Schule fiir zukiinftige Notare gegeben haben, in denen dieseUrkundenkalligraphie gelehrt wurde2. Wie w'ke auch sonst zu erklren, daB Minner wieAdalleod, Dorninicus, Comeat und Hadebert schon bei ihrem ersten Auftreten mit solcherSidierheit diese Prunkschrift zu handhaben verstehen; der erste und der letzte haben selbstSchiller und Gehilfen herangezogen. Andererseits kann man bei Reginbert und bei Hebar-hard verfolgen, wie sie als ungeschulte ninner in die Kanzlei kamen und erst nach undnach Fortschritte in der Schreibkunst machten. Diese stand in jenen Zeiten hoch im Kurs,wie jene Regensburger Tauschurkunde lehrt, durch die Konig Ludwig den Kleriker Gund-pert von St.Peter gegen einen anderen Kleriker eintauschte, weil jener sich besonders auf

Schreiben und Lesen verstand3.Es scheint hier aber doch eine Liicke zu klaffen. Durch die Verbindung der Oberleitung

der Kanzlei mit dem oft vom Hofe abwesenden Er-zkapellan und vollends seit dem tYber-gang dieser Aniter an den Erzbischof von Mainz fehlt zwischen diesem und den subalternenKanzleibeamten, die wohl formelhafte Urkunden verfassen und ins Reine schreiben, aberschwerlich den Krinig in den mit der Bewilligung der Urkunden verbundenen politischen

heraten konnten. ein dazu kompetenter Mittelsmann4. Und weiter,wenn dies vielleicht der Siegelbewahrer gewesen ist, wer war dieses in jener Zeit? Aus dentironischen Noten Ludwigs des Frommen und Lothars I. erfahren wir gelegentlich, wergesiegelt hat; es war imrner ein als magister bezeichneter hdherer Beamter5. Unte rLudwig dem Deutschen waren das zunkhst wohl die Oberkanzler, also Gauzbald, Grimald,

Schon deshalb ist an Sickels Prinzip, Schreib- und Fliichtigkeitsfehler nicht zu verbessern und alle Rasurenund Korrekturen anzumerken, trotz mancher Gegenbernerkungen, wie von Bresslau so auch von rnir streng fest-gehalten worden, um diese fiir die Beurteilung dieser Kanzleiindividuen oft sehr charakteristischen Fehler nicht zu

verwischen.Aber schwerlich bezieht sich darauf das Lob des Ratleik in seinem Epitaph (Mon. Germ. Poetae lat. 2,241):pheres nam docuit verbi: et scribere feci: quae fuerant apta plurima ad officia.

0.152 (Pez, Thes. C, I99 c. r):quia urilior et maioris iugcniifuit scribendi nec non e: legendi; vgl . auch D dmmler,

Ostfrank. Reich:1, 434 Arno. 2 .' Einen solchen hat Tangl (Archiv fiir Urkundenforschung 1, 140f.) in der Kanzlei Lothars I., den magisterRemigius, nachgewiesen. Vgl. auch M. Jusseiin, »L'invocation monogrammatique dans quelques diplémes deLothaire et de Lothaire Il' in Moyen Age 20 (2.Ser. 3 r9ff. und »Garde et l'usage du sceau dans le: chancelleriesCarolingiennes» in Mélanges Umile Chatelain (19:0) S. 35ff. und »La chancellerie de Charles le Chauve. in MoyenAge 33 (2. Ser. 24), 7ff.. Zur Sache selbst àuBert sich ilmlich S ickel, Kaiserurkunden in Abbild., Text S.I66.

Vgl. auch Bresslau, Urkundenlehre 1,376 Anm. a und 2, 164 Anm. 4. S ickel, Kaiserurkunden in Abbild.,Text S.192, der ausfahrlich von der Besiegelung unter Arnolf handelt, bekennt, daB ihm nicht bekannt sei, wie esmit der Besiegelung unte: Ludwig dem Deutschen und seinen Snhnen gehalten worden sei. Oh vielleicht die nitsel-haften notenahnlichen Zeichen in Hebarhards Rekognitionszeichen damit zusammenhangen? Auch Jusselin inMélanges offerts à M. umile Chatelain (r910) S. 39 bekennt resigniert eAucune mention interessante concemantl'usage du sceau ne se rencontre dans le: diplómes de Louis le Gertnanique». Ubrigens ist sicher nicht an eM be-sonderes Amt zu denken; daB vielmehr bald dieser, bald jener Vertrauensmann des Ktinigs oder des Kanzleichefsals sigillator fungierte, beweisen die friiheren Erwàhnungen in den tironischen Noten und zuletzt noch die des Re-migius, der, wie J u s seli n festgestellt hat, gelegentlich im Chrismon die Noten Rernigius habebar signun: angebracht

hat. Vgl. auch Tangl a. a. 0. 2, 176 und Hein in N. Archiv 39, 308 f.

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Ratleik, Baldrich und Witgar, aber fiir die Folgezeit fehlt uns jede Kunde. Vielleicht istdas hernach Comeatus gewesen und sp.Iter Angehdrige der koniglichen Kapelle, wieLiutbrand und Walto, die zuweilen auch bei dem Urkundengeschttft ausgeholfen haben.Aber wir ki5nnen dariiber kaum eine Vermutung wagen. Unsere Kenntnis von diesenDingen ist leider auf clic Originalausfertigungen beschAnkt; weder Konzepte noch andereNachrichten, die uns dariiber AufschluB geben lotinnten, sind uns aus jener Zeit erhalten.Und ebensowenig wissen wir etwas von den Atrannern am Hofe, die die gewiB nicht un-bedeutende politische Korrespondenz des Herrschers besorgten, die Briefe an den Papstund an die anderen Kdnige. DaB irgendeiner der oben behandelten Kanzlisten dazu im-stande gewesen ~e, bestreite ich auf das bestinunteste; aber da so gut wie nichts davonerhalten ist, so miissen wir uns bescheiden und uns mit den Elaboraten subalterner Kanz-listen zufrieden geben. Aber ist es nicht eine Ironie der geschichtlichen Oberlieferungen,daB wir diese Manner so gut kennen, als wenn wir ihnen ilber clic Schulter Oben, wahrendwir von den Personen, die damals clic Geschichte machten, oft kaum die Namen wissen?Und dennoch ist es nicht ohne Reiz, an einer Stelle wenigstens bis in clic letzten erkenn-baren Spuren menschlicher Arbeit in der Vergangenheit einzudringen.

Exkurs iiber die irregulà.ren Rekognitionen in den DiplomenLudwigs des Deutschen.

i. In der bayerischen Periode Ludwigs und auch noch in der folgenden Zeit bis 837 unterder Kanzlerschaft Gauzbalds und Grimalds herrscht in der kesniglichen Kanzlei eine exempla-rische Regelm13igkeit. Die Diplome 2-25 sind alle von dem Diakon Adalleod an StelleGauzbalds bzw. Grimalds rekognosziert. Auch als im jahre 840 an Stelle Grimaldsder neue Kanzler Ratleik eintrat und mit ilun ein neuer Notar Dominicus (DD. 26-30),ist keine Anderung eingetreten. Densi wenn wir in dem Korveier D. 29 (M' 1369) vom14. Dezember 840 noch einmal dem Adalleod in der Rekognitionsformel Adalleodus diac.advicem Ratleici begegnen, so besagt das nur, daB Adalleod, obwohl bereits durch Dominicusersetzt, die Fahrt nach Sachsen im Gefolge des Konigs, vielleicht als dessen Kapellan, mit-gemacht und dem amtierenden Notar einmal ausgeholfen hat. Um so grriBere Schwierig-keiten macht uns aber D. 31 (M' 1371) vom 26. Mkz 842 aus Aachen fiir Kloster Inden(Kornelimiinster bei Aachen). Mit diesem Stiick hat es eine merkwiirdige Bewandtnis.Man kannte den Text, der clic Schenkung der Villa Gressenich entalt, bisher nur ausspteren Transsumpten, aber um die jahrhundertwende tauchte in Paris das verscholleneOriginal auf; nach einer kleinen Photographie davon, die H. Om o n t in die Hnde bekam,hat er die Urkunde in den »Mélanges Pani Fabre« noch einmal herausgegeben. Leider ohnegenaue Beschreibung. Indessen ist doch so viel sicher, daB es kein Produkt der kitiniglichenKanzlei ist; dem widerstreitet der Titel gratia dei, ferner che Fassung des Kontextes, dienichts mit ihren Formularen gemein hat, und auch die Datierung, die statt nach Ludwigsa. Villi regni in orientali Francia bloB dessen zweites KOnigsjahr ohne nÀhere Bezeichnungangibt. Am meisten aber macht clic Rekognition Adalleodus diaconus advicem GrimaldiSchwierigkeit. Denn diese Rekognition ist nur móglich in den Jahren 833 bis 837 oder viel-leicht auch bis 840, wo wir bereits dem Oberkanzler Ratleik und dessen Notar Dominicus

Abh. x93a. Ne. t. 4

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begegnen. DaB die Urkunde, worauf man frúlter zunachst verfiel (vgl. Sickel, Beitr. I, 365),eine Falschung sei, ist ganz unwahrscheinlich, ja ausgeschlossen, denn es fehlt jede ver-nlinftige Erldarung daftir. Die gertigten Anomalien, statt als Argumente gegen die Authen-tizitat zu dienen, milssen vielmehr hier wie in anderen Fallen eridart werden. Das hat sdionMiihlba cher klar ausgesprochen; er meinte, daB Ludwig auf seinem Zug nach dem Rheinund Lothringen im ~842, der zur Flucht Lothars I. und zur vortibergehenden Teilungseines lotharingischen Reiches zwischen Ludwig und Karl ftihrte, seme Kanzlei nicht beisich gehabt habe; vielleicht habe sein friiherer Kanzleichef Grimald als Abt Heerfolgegeleistet und nun aushilfsweise seines friiheren Arntes gewaltet. Auch der friihere NotarAdalleod hatte wohl den K6nig begleitet. Da dieser Ende 840 im Gefolge des Kiinigs andem Zuge nach Sachsen (D. 29) teilgenommen hat, so ware es so unwahrscheirdich nicht,daf3 er ihm auch zu Anfang 842 nach Aachen gefolgt ist, besonders wenn meine Vermutung,daf3 er nach seinem Ausscheiden aus der Kanzlei in der kiiniglichen Kapelle Verwendunggefunden habe, richtig ist. SchlieBlich kfinnte wohl auch Grúnald den abwesenden Ober-kanzler Ratleik vertreten haben. Indessen, diese Vermutungen stellen doch sehr starkeAnforderungen an uns, und wenn man sie auch nicht als ganz unintiglich ablehnen kann, sostimme ich doch Bresslaus (Urkundenlehre i, 430 Anm. 4) Bedenken zu. An eine friihereHandlung, auf die die Rekognition sich beziige, ist nach Lage der Dinge nicht zu denken.Ludwig war bis dahin gar nicht in der Lage, eine solche Urkunde fcir ein lotharingischesKloster zu verleihen. Auch die Annahme, daB man damals in Aachen ein Blankett mit dervorausgeschriebenen Rekognition aus einem der friiheren Jahre benutzt habe, hat keineWahrscheinfichkeit far sich; solche Falle kornmen in spaterer Zeit wohl vor, aber wir habenkein Recht, sie schon ftir die altere karolingische Periode anzuneiunen. Vollends der Einfallvon W. P ei t z (Hamburger Falschungen S. 143), daB es sich um Neuausfertigung einer ver-lorenen Urkunde Ludwigs des Deutschen durch die Kanzlei Ludwigs des Kindes ausdem Jahre 901 handele, ist nicht ernst zu nelunen. Aber vielleicht weist die Datierung unseinen Weg zu einer befriedigenden Erldarung. Sie zahlt, wie bemerkt, nicht nach denJahren Ludwigs des Deutschen in seinem ostfrankischen Reich, sondern nach seinemzweiten Regierungsjahr, offenbar gerechnet nach des alten Kaisers Tod. Das kann kaumeinen anderen Sinn haben, als daB clic Aachener und Rheinlander nach ihres legitimenHerrschers Kaiser Lothars I. Flucht nach Italien und der Besitznahme ihres Landes durchdessen Briider Ludwig von Ostfranken und Karl von Westfranken, die sich bereits iiber dieTeilung verstandigt hatten, zwar den zweiten Sobri Ludwigs des Frommen jetzt als Landes-herrn annalunen, aber nicht in dessen ostfranldschem Reich aufgehen wollten. Dann wiirdesich auch erldaren, daB sie von einer Rekognition durch die ostfrankische Kanzlei und derenKanzler Ratleik nichts wissen wollten, sondern eine Formel verlangten, in der ihreNichtzugehiirigkeit zum ostfrankischen Reich zum Ausdruck kam. Adalleod war wahr-scheinlich Westfranke, Grimald, als Abt vonWeiBenburg im ElsaB und als geborener Rhein-oder Moselfranke, ihnen vertrauter als der Ostfranke Ratleik oder der Bayer Baturich.Sie brauchten nicht eirunal anwesend zu sein, wenn es sich, wie ich meine, um eine politischeund vielleicht gar fiktive Rekognition gehandelt hat. Dann ware die Rekognition in D. 35ein charakteristischer Ausdruck des lotharingischen Sondergeistes, der, wie man weiB, sichnoch lange gegen eine Versclunelzung mit dem eigentlichen deutschen Reich gewehrt hat.Nach dem Vertrag von Meersen im Jahre 870, durch den Lothringen und das ElsaB an

Die Kanzlei Luslcuigs des Deutschen 27

Ludwig den Deutschen fielen, hat man darauf allerdings keine Rticksichten genommen;damals wurde ihnen weder eine besondere Datierung noch eine eigene Rekognitionsformelbewilligt.

Dieser merkwiirdige Fall veranlaBt mich, hier eine kurze Effirterung tiber Ludwigs desDeutschen Diplome fúr Utrecht und StraBburg einzuschalten, gegen deren AuthentizitAtman geltend gemacht hat, daB, als sie ausgestellt wurden, Ludwig der Deutsche dort garnicht Landesherr gewesen sei. Das gilt unzweifelhaft ftir das Bistum Utrecht, dem Ludwigasti 18. Mai 854 eine Immunitatsbestatigung (D. 68= M' 1408) verliehen haben soli. Diesesnicht im Originai, sondern nur in Kopialbtichern erhalténe Diplom lelmte einst Sickel(Beitr. 1,387) mit der oben angegebenen Begriindung ab, obwohl man einen zureichendenGrund zur Armalune einer Falschung hier sowenig wie bei D. 31 erkennen kann. Dentider Text ist eine wortwtirtliche Wiederholung der Immunitaten Ludwigs des Frommenund Lothars I. (W 1119) ohne irgendeinen Zusarz. Was also soli die Utrechter veranlaBthaben, danach noch eine weitere Bestatigung durch den landfremden ostfrankischen Keinigzu falschen ? Und woher soll der Falscher die richtige Rekognition Hadebertus subdiaconusadvicem Radleici und die Datierung mit der charakteristischen Formel des Hadebert inorientali Francia regnante entlehnt haben, wenn nicht aus einer echten Urkunde Ludwigsdes Deutschen? Man sieht an diesem Beispiel, zu welchen Absurditaten die Systematikder diplomatischen Formenlehre ftihren kann. Ma hl ba che r nahm deshalb an, daB efiesejiingere Ludwigsimmunitat sich nur auf die im ostfrankischen Reich belegenen Besitzungendes Utrechter Bischofs bezogen habe. In der Tat ist an zwei Stellen das Wort imperii derVorurkunde durch regni erserzt. Indessen liegt eine andere Annahme nAher. Geradedamals traf Ludwig der Deutsche mit seinem Bruder Lothar I. am Rhein zusammen; eskam zu einem Bandnis zwischen beiden, und nichts steht der Vermutung im Wege, daBetwa als ein Ala der Courtoisie, vielleicht auch weil trotz der Teilungen ein gewisses Ge-meingeftihl noch vorhanden war, der ostfrankische Kònig der Bitte des Bischofs Unger vonUtrecht um I3estatigung seiner Inununitatsprivilegien willfahrte.

Den gleichen Einwand hat Sickel (Beitr. i, 364) gegen das Immtmitatsprivileg Ludwigsdes Deutschen D. 75 (M' 1416) far das Bistum S traf3 b urg vom 30. Marz 856 erhoben,daB der ostfrankische KEInig im Jahre 856 nicht Herr des Elsasses gewesen sei, das ihmerst 86o Lothar II. abtrat (M' 1293a), und das dauernd erst 870 durch den Vertrag vonMeersen an ihn kam. Allein auch hier ist kein Motiv zu erkennen, das eine solche Falschungerklaren keinnte, und ebensowenig eine Erklarung dafúr zu finden, wie der Falscher ohneeine echte Vorlage auf die dem Comeatus entsprechende Datierung hatte verfallen kiannenAllein an der Echtheit kann, nachdem E. Steng el (Immunitatsprivilegien S. 659ff.) nach-gewiesen hat, daB der Text auf ein verlorenes Diplom Ludwigs des Frommen zurtickgeht,und dal3 das gleiche Formular in der Altaicher Immunitat D. 8o (M' 1423) vom

21. April857 begegnet, nicht gezweifelt werden, und das Argument, daB es sich hier lediglich umImmunitat fúr die im ostfrankischen Reich gelegenen Besitzungen der StraBburger Kirchehandele, erweist sich vollends als ein verzweifelter Ausweg, da Stengel weiter festgestellthat, daB damals auch das lotharingische Kloster P r ti m, in dem kurz vorher der Kaiser

' Die Urkunde ist nur in Kopien des 16. und 17. Jahrhunderts erhalten, die der Rekognition entbehren. Diehat danzi Gra nd i d te r in seiner Weise ergiinzt, aber eine falsche Formel (Achdeodus diaconus advicem Grimaldi recog-novi) eingeserzt, mit der er sich in bezug auf seme diplornatischen Kenntnisse eine argo Blijlte gegeben hat.

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Lothar I. am 29. September 855 gestorben war, eine nach demselben Formular stilisierteUrkunde Ludwigs des Deutschen empfangen haben muB, deren Wortlaut Karl III. am22. Mai 884 (M' 1684) wiederholt hat'. Das bedeutet aber, daB Ludwig der Deutscheunmittelbar nach dem Tode seines Bruders Lothars I. in dem lotharingischen Teil desverwaisten Reiches anfanglich eine gewisse Oberhoheit ausgetibt hat. In der Tat berichtetRudolf von Fulda, dall die GroBen des lotharingischen Reiches in Frankfurt, also aufdeutschem Boden, den jungen Lothar II. mit Ludwigs Zustimmung zum Kiinig erhobenhatten2. So geben das angefeindete StraBburger Diplom und che verlorene Priimer Immu-nitk, die wohl in che gleiche Zeit fila, einen besseren AufschluB iiber diese Vorgange imlotharingischen Reiche und tiber Ludwig des Deutschen Politik als che dtirftigen Nach-richten der Historiker.

2. Wie oben (S. i7f.) dargelegt ist, ist in der folgenden Periode, als Ratkik Oberkanzlerwar (84o bis 854), alles in schiinster Ordnung; die Rekognitionen des Comeatus und Regin-bert sind nicht nur durchweg regular, sondern auch wie die des Adalleod und des Dominicusimmer eigenhandig; man hat den Eindruck, daB Ratleik auf Ordnung gehalten habe.

Die Rekognition in den beiden St. Galler Diplomen 69 und 70 vom 22. jUli 854 Comeatusnotarius advicem Grimaldi ist bereits oben (S. io) besprochen worden; es kann sich danur um eine Stellvertretung Grimalds in einer Zeit handeln, als nach dem Tode Ratleiksdas Oberkanzleramt noch nicht besetzt war. Die nachsten Urkunden aus der Amtszeitseines Nachfolgers, des Abtes Baldrich (DD. 73. 74 = M' 1412. 14. 15), mit der RekognitionHadebertus subdiaconus advicem Baldrici abbatis geben hier zu keinen Bemerkungen Anla13,dagegen ist uns die Rekognition des nur in jiingeren Abschriften iiberlieferten StraBburgerD. 75 (M' 1416) vom 30. Marz 856 nicht erhalten. Aus dem Texte, der ganz nach der Vor-urkunde Ludwigs des Frommen geht, ist fùr das Diktat nichts zu gewinnen, aber dieDatierung zeigt die Formel des Comeatus, und aller Wahrscheinlichkeit lautete danachdie Rekognition Comeatus notarius advicem Grimaldi archicapellani. Die von Grandidiererganzte Formel Aduleodus (statt Adalleodus) diaconus advicem Grimaldi ist, wie oben be-merkt, eine willkiirliche Erfindung des langst iiberftihrten Falschers. Ebenso verrat dieRekognition in dem stark verfalschten WeiBenburger D. 76 (M' 1417) vom 18. Mai 856(oder richtiger 854?) Wickarius cancellarius advicem Karolí archiepiscopi das Machwerkdes Falschers. Die folgenden DD. 77 (M' 1418) bis 87 (M' 1429) zeigen wieder eine er-freuliche RegelmaBigkeit; sie tragen alle die Rekognition Hadebertus subdiaconus advicemGrimoldi3 archicapellani. Aber nun, seit Witgar als Oberkanzler amtiert, stoBen wir aufiene miteinander streitenden Rekognitionen, die ich bereits oben S. ii f. bei der Kontro-verse iiber die damalige Organisation der Kanzlei erwahnt habe. Denn auf das ersteD. 88 (M' 1430) aus der Kanzlerschaft des Witgar vom 2. Februar 858 mit der Hadebert-schen Formel Liutbrandus advicem Witgarii cancellarii folgt gleichfalls aus Frankfurt vom18. Marz 858 das Lorscher D. 89 (M' 1431) mit Comeatus notarius advicem Grimaldi archi-capellani. Weder an der einen noch an der anderen Rekognition ist zu deuteln; eine Emen-

Aus diesem verlorenen Priimer Diplom statarne iibrigens die Korroborationsformel in D.134 (be 1484).Vgl. auch D iimmler, Ostfrink. Reich. t, 398, der aber von dem Straflburger Diplom Ludwigs keinen Gebrauch

gemacht hat.' So schreibt Hadebert immer, wie Cr auch seinen Namen nie ausschreibt, sondern in Hadebtus kiirzt. Die davon

abweichenden DD. 73. 86 (M.1412. 28) sind nicht von seiner Hand (s. oben S. 19). Das Fulder D. 78 (M.1421) hatEberhard von Fulda in seiner Weise verftilscht und entstellt.

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dation der Daten ist ausgeschlossen, und ebenso ergibt eine Priifimg des Diktats, daB daserste von Liutbrand herruhrt, das zweite von Comeatus verfaBt und wohl auch geschriebenwar. DaB etwa Witgar, als D. 89 in Frankfurt ausgestellt wurde, nicht anwesend gewesenund deshalb von dem Erzkapellan Grimald vertreten worden sei, ist ganz unwahrscheinlich,nicht nur weil Witgar kaurn 4 Wochen darauf in dem in Frankfurt gegebenen D. 90 (M11432)vom 12. Aprii als Kanzleichef genannt wird, sondern auch weil jede Analogie dazu fehlt.Die Anwesenheit des Kanzleichefs bei der Reinschrift und dem SchluBakt der Beurkundungist wahrscheinlich gar nicht immer erforderlich gewesen. So hat Miihl b a chers An-nalune (Reg.' p. CXII), daB es sich lediglich um eine spatere Ausfertigung eines noch inder ersten Arntsperiode Grimalds hergestellten Diploms aus dem Jahre 857 handelt,sich also die Rekognition auf diese Zeit beziehe, die Datierung aber erst bei der Aushandi-gung im Jahre 858 hinzugeftigt worden sei, alles ftir sich. Die Handlung und che Her-stellung des Konzepts und die Ausfertigung mit der Rekognition kèinnte in der Tat imMarz 857 in Worms, wo der Kónig in der Fastenzeit eine Reichsversammlung abgehaltenhat, stattgefimden haben, und in dem Lorscher Privileg handelt es sich ja auch tun dasRecht des Anlaufens des Lorscher Schiffes im Hafen von Worms. Eine genaue Analogiedazu besitzen wir in dem gleichfalls von Comeatus herriihrenden Kemptener Privileg D. 36(M' 1377), das ebenfalls dem Empfanger ohne Datierung ausgehandigt worden ist. Mankiinnte zur Not auch auf die eigentihnliche Stellung hinweisen, die Comeatus nach seinemAusscheiden aus der Kanzlei im Jahre 854 eingenorrunen zu haben scheint; seitdem ver-sieht Hadebert die regelmaBigen Kanzleigeschafte, und jener tritt nur noch gelegentlichauf, wie in D. 75 (M' 1416) vom 30. Marz 856 und in unserm Lorscher Diplom vom18. Marz 858. Man kónrite vielleicht daraus schlieBen, daB er wahrend dieser Jahre imbesonderen Dienste des Erzkapellans Grimald gestanden sei.

Ein analoger Fall scheint in dem ebenfalls mit unregelmaBiger Rekognition versehenenD. 104 (M' 1446) fiir den Grafen Christian vorzuliegen, das im Aschaffenburger Char-tular iiberliefert und am Ende verstihrunelt ist und die Rekognition [Hebarhardus] notariusadvicem Witgarii' tragt. Die Daten a. r. X X V/ / / / und md. V i l l i ergeben mit aller Sicher-heit das Jahr 861, wahrend die Rekognition nur in den jahren 859 und 86o miiglich ist,da seit Ende 86o der Erzkapellan Grimald der Kanzlei vorstand (s. oben S. 12). Tag undOrt (8. Juli Biirstadt zwischen Worms und Lorsch) wiirden sowohl zu 859 wie zu 86onoch besser passen als zu 861. Es steht also nichts im Wege, anzunehmen, daB auch dieseUrkunde friiher (859 oder 860), als Witgar noch die Kanzlei leitete, fertiggestellt, aber erst861 mit den diescm Jahre entsprechenden jahresangaben dem Grafen Christian ausgehan-digt worden ist, als Grimald bereits der Kanzlei vorstand.

3. Anders liegen die Dinge bei den DD. 92 (M' 1434) vom 29. Aprii 859 und 96 (M' 1438)vom i . Mai 859, nicht wegen einander widersprechender Rekognition und Datierung,wie in den beiden eben eriirterten Fallen, sondern weil ihnen gemeinsam ist, daB sie einean sich richtige Rekognition tragen, die aber nicht von den als Rekognoszenten genannten

Diplom D. 92Notaren geschrieben ist, sondern dort von Walto und hier von Hadebert. Das Speyrer

(M' 1434) hat che Rekognition Comeatus notarius advicem Witgarii cancellarii,ist aber bis auf die letzten Worte des Kontextes und die Signumzeile ganz von dem Sub-

' Die Erganzung des Namens Hebarhardus ist ganz sicher, da das D. sein Diktat deutlich zeigt. Auch gibt dasAschaffenburger Chartular das SR. mit Hebarhards notentihnlichen Zeichen wieder.

Abh. Nr.

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diakon Walto geschrieben, der sonst die von ibm hergestellten Diplome auch immer re-kognosziert hat. DaB etwa das Konzept von Comeatus herriihre, ist wenig wahrscheinlich;der Text steht der Art des Hadebert túlier; nur die Korroborationsformel und die Datie-rung erinnert an das Formular des Comeatus. Aus diesem graphisch vòllig gesichertenBefund (s. auch oben S. 19 Anm. 3) geht hervor, daB hier die Rekognition etwas anderesbedeuten muB, als wir gelernt haben. Weder war Comeatus 859 der eígentliche Notar— dies war damals noch Hadebert noch ist sonst seme Beteiligung irgendwie deutlicherkennbar. Bedeutet das vielleicht, daB er das Stiick besiegelt hat und soll dieses dieRekognition besagen ?

Wir wiirden kaum zu einer befriedigenden Erklkung dieses Falles gelangen, wennwir nicht eine gewisse Analogie dazu in dem St. Emmeramer D.96 (M' 1438)vom i. Mai859besOen. Der Kontext dieses sicheren Originaldiploms ist aller Wahrscheinlichkeit nachvon Hebarhard, der sich hier zum ersten Male versuchte, geschrieben, das Eschatokollaber lieB er von dem bisherigen Notar Hadebert eintragen. Dabei ist ein unscheinbaresDetail von Bedeutung. Hadebert schrieb zunkhst die Signumzeile und wollte, so wie ergewohnt war, auf der gleichen Zeile und mit denselben verIngerten Buchstaben in gleicherGrae die Rekognitionszeile anschlieBen, allein er wurde veranlaBt, das schon geschrie-bene E (in Euerhardus) sogleich auszuradieren und die Rekognition, so wie es die Artdes Hebarhard war, rechts neben die Signumzeile, aber etwas tiefer und mit kleinererSchrift einzutragen. Der das veranlaBte, kann nach Lage der Dinge nur Hebarhard selbstgewesen sein, so daB daraus nicht nur auf seme Gegenwart, sondern auch auf eine gewissehóhere Autoritk zu schlieBen wke. Vielleicht traute er als Ananger sich nicht zu, die ilunungewohnte Arbeit selbst zu vollenden, oder vielleicht bereitete er die Besiegelung vor.Wie dem auch sei, jedenfalls ist den beiden DD. 92 und 96 gemeinsam, daB der in derRekognition genannte Rekognoszent sie nicht selbst geschrieben hat, woraus doch zufolgern ist , daB sie die ihr von Sickel beigelegte Bedeutung verloren haben muB.Mit Riicksicht auf die Eigenart des D. 96, das uns wie kaum ein anderes in die Arbeits-teilung in der Kanzlei blicken bBt, und wegen der Bedeutung, die dieses Stiick fiir dieGeschichte der Rekognition hat, ist diesen Ausfiihrungen ein verkleinertes Faksimile alsTafel II beigegeben.

Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei

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Originai: Miinster, Staatsarehiv.

Kehr: Die Kanzlei Ludwigs des Deutschen. — Taf. 1.

Abh. 1932. Nr. 1 .

D. 73 (Miihlbacher Nr. 412).

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gs des Deutschen. — Taf. 1.

Ab/z. 1932. Nr. I.

1.1W.

D. 73 (Muh1bacher 2 Nr. 1412).

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Preti/i. Akad. d. Wissensch.

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OrlOnal: Miinster, Staatsarchiv.

Kehr: Die Kanzlei Ludwigs des Deutscher

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