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Beispielklausur – Abitur – Brecht (Exillyrik) Abituraufgabe II (Brecht Der Dienstzug – Textauszug Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen) In der Abiturklausur soll • das Gedicht Der Dienstzug (1939) von Bertolt Brecht interpretiert und überprüft werden, inwiefern das Gedicht den Kernaussagen des vorliegenden Textauszugs von Bertolt Brecht Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen gerecht wird, • die politische Wirksamkeit von Lyrik erörtert werden. Das Gedicht „Der Dienstzug“ von Bertolt Brecht wurde zusammen mit anderen in der Reihe der Svendborger Gedichte 1939 veröffentlicht. Der Dichter befindet sich zu dieser Zeit im dänischen Exil, da er, um den politischen Gegnern drohenden Repressalien – bis hin zu Verhaftung und Ermordung – zu entgehen, nach dem Reichstagsbrand (27./28. Februar 1933) aus dem Dritten Reich geflohen war. Im Ausland führte Brecht den aktiven Kampf gegen das nationalsozialistische Regime fort, indem er dem Widerstand gewidmete Literatur verfasste. Dazu zählten neben der Lyrik, in der er die persönliche Exilerfahrung verarbeitete, auch ausdrücklich politische Gedichte, die er zu dieser Zeit unter der Überschrift Deutsche Satiren zusammenfasste. Das Gedicht Der Dienstzug ist in diese Reihe von Schriften einzuordnen. „Der Dienstzug“, ein Zug, der anlässlich des Nürnberger Parteitages gebaut wurde, wird hier in seiner luxuriösen Bauweise beschrieben. Dabei hebt Brecht die geruhsame Untätigkeit der Zuggäste hervor und nimmt das Schwelgen im Komfort zum Anlass, die Führungselite des NSRegimes zu kritisieren, welche „auf Deutschland scheiße“ (vgl. I, Z. 25/26). Der Text wird im Folgenden zunächst anhand ausgewählter Kriterien analysiert und interpretiert. Anschließend soll überprüft werden, inwieweit das Gedicht den Ansprüchen, welche Brecht in dem in Auszügen vorliegenden Text „Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen“ formuliert, gerecht wird. Dazu gehören unter anderem „knappste Form“ (II, Z. 3), Alltagssprache, Unregelmäßigkeit des Rhythmus’ sowie Anregung der Gedanken des Lesers als Wirkung und Intention. Schließlich wird die Frage nach der politischen Wirksamkeit von Lyrik erörtert. „Auf ausdrücklichen Befehl des Führers“ (I, Z. 1), so steigt Brecht ein, sei ein höchst komfortabler Zug gebaut und mit dem „schlichten Namen DIENSTZUG“ (I, Z. 3) betitelt worden. Durch diesen ersten Vers verdeutlicht Brecht gleich zu Beginn, dass es sich bei den folgenden Versen um eine politische Stellungnahme handelt. Mit eben dieser Aussage werden auch Anordnungen Hitlers gekennzeichnet. Da dieser seit 1933 gezielt seine Position im Staat ausgebaut hatte und zu alleiniger Macht gelangt war, duldete solch ein Befehl keinen Widerspruch. So erlangt Brecht durch den unerwarteten Einstieg nicht nur die Aufmerksamkeit des Zuhörers – seine Gedichte wurden als Agitationsmaterial, also zur intensiven Aufklärung der Bevölkerung eingesetzt und bei Deutschland feindlichen Sendern wie der BBC als vertonte Version ausgestrahlt oder verlesen, es gelingt dem Dichter ebenfalls zu verdeutlichen, dass Hitler als Zeuge dessen die Schuld für das geschehene Unrecht, das Leid und die Morde zuzuschreiben ist. Doch auch die anderen Parteifunktionäre in z.T. gehobenen Positionen entgehen Brechts Kritik nicht. Sie werden mit der Bemerkung „für den Nürnberger Parteitag“ (I, Z. 2) in ihrer Gesamtheit bezichtigt. Der sich bietende Widerspruch zwischen „schlichte[m] Namen“ (I, Z. 3) und dem Begriff „Salonzug“ (I, Z. 2) sowie den folgenden, nahezu detailverliebten Beschreibungen der Anhäufung von luxuriösen Accessoires „Meisterstück der Wagenbaukunst“ (I, Z. 7), „Appartements“ (I, Z. 8), „breite Fenster“ (I, Z. 8), „gekachelt[e] Kabinett[e]“ (I, Z. 11), „raffinierte[s] Beleuchtungssyste[m]“ (I, Z. 13), „mit Marmor“ (I, Z. 24) etc. – ist der Einstieg und einer der Leitfäden für Brechts harsche Kritik. Am Schluss der ersten Strophe, welche durch die Nummerierung „1.“ deutlich gekennzeichnet und von der folgenden abgegrenzt ist, setzt Brecht einen weiteren Widerspruch – ein Paradox, so scheint es – hinzu: die Zuggäste würden „indem sie fahren, dem deutschen Volk / Einen Dienst erweisen“ (I, Z. 4/5). Die Diskrepanz zwischen aktiver und passiver Wortbedeutung ist nicht zu übersehen: jemandem zu dienen, ist ein mit Mühe und Arbeit bzw. Aufwand verbundener Vorgang, während das Fahren in einem Zug von ausschließlich passiver Qualität ist. Brecht reduziert seine Aussage auf zwei zentrale Punkte: Der „Dienst“ (I, Z. 5) der Parteielite besteht aus dem Nichtstun. Dieser wird durch den äußeren Schein der schlichten Notwendigkeit in seiner wahren Identität als gro.zügig ausgestalteter Luxus und Komfort verschleiert. Wie in einer Art (politischem) Aufsatz bildet die erste Strophe die Einleitung des Gedichtes, welche einen knapp umrissenen abstract des Inhalts bietet. Die erste Zeile der zweiten Strophe wirkt dabei wie die Überschrift des folgenden, zu erörternden Unterpunktes: „Der Dienstzug“ (I, Z. 6). Die daran angeschlossene, objektive Beschreibung der Qualitäten des Zuges kann höchstens anfänglich die Emotionalität Brechts verbergen, mit welcher er das Unrechtsregime der Nazis kritisiert. Innerhalb von neunzehn Zeilen entwirft Brecht das Bild eines mit allem Komfort ausgestatteten Zuges. Zuweilen scheint es, als handele es sich um den Text eines Immobilienverkäufers: der Leser wird wie ein Interessent umworben (vgl. I, Z. 10f.) und mit dem „sie“, welches sich eigentlich auf die Zuggäste bezieht, angesprochen. „Die einzelnen Appartements“ (I, Z. 16) verfügen über jegliche noble Einrichtung und machen den „Dienstzug“ (I, Z. 6) zu einem „Meisterstück der Wagenbaukunst“ (I, Z. 7). Dazu gehören, wie bereits erwähnt, „breite Fenster“ (I, Z. 8), durch die „deutsch[e] Bauern auf den Feldern schuften[d]“ (I, Z. 9) beobachtet werden können, „gekachelt[e] Kabinett[e]“ (I, Z. 11) für „Expreßbäder“ (I, Z. 12), „raffiniert[e] Beleuchtungssystem[e]“ (I, Z. 13) zum Lesen der Zeitung im Sitzen, Liegen und Stehen (vgl. I, Z. 14) sowie „Telefonleitungen“ (I, Z. 17), welche den Gästen, wie der Zimmerservice (vgl. I, Z. 22f.), die wenigen Schritte von der einen zu der anderen Räumlichkeit ersparen, und „mit Marmor ausgelegt[e] [Klosetts]“ (I, Z. 24). Es bieten sich also alle erdenklichen Annehmlichkeiten, die die Notwendigkeit für Bewegung auf ein Minimum beschränken. Die dabei eingesparte Energie, so kritisiert Brecht, wird allerdings nicht zum beruflichen Engagement genutzt, welches auch nur aus weiteren schriftlichen Taten bestehen würde. Vielmehr stagnieren die „Zuggäste“ (Z. 7) in einer allumfassenden Passivität, um nicht zu sagen Faulheit: die Zeitungslektüre erbringe als Entschädigung für den Aufwand „groß[e] Bericht[e] über die Segnungen / Des Regimes“ (I, Z. 15/16), welche zugleich als Rechtfertigung für die eigene Inaktivität herangezogen werden können. Einer Auseinandersetzung mit anderen Staaten, das heißt, eine aktive Außenpolitik, erfolgt nur durch die passive Beschallung mit „großen Berichten / Über die Nachteile anderer Regimes“ (I, Z. 21/22) über das „Radio“ (I, Z. 21), „[o]hne sich von den Betten zu erheben“ (I, Z. 20). Immer weiter spitzt Brecht das Bild der Diskrepanz zwischen Aktivität und Passivität, Arbeit und Faulheit zu.

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  Beispielklausur  –  Abitur  –  Brecht  (Exillyrik)    

Abituraufgabe  II  (Brecht  Der  Dienstzug  –  Textauszug  Über  reimlose  Lyrik  mit  unregelmäßigen  Rhythmen)  In  der  Abiturklausur  soll  

•  das  Gedicht  Der  Dienstzug  (1939)  von  Bertolt  Brecht  interpretiert  und  •   überprüft   werden,   inwiefern   das   Gedicht   den   Kernaussagen   des   vorliegenden   Textauszugs   von   Bertolt  Brecht  Über  reimlose  Lyrik  mit  unregelmäßigen  Rhythmen  gerecht  wird,  •  die  politische  Wirksamkeit  von  Lyrik  erörtert  werden.  

 Das   Gedicht   „Der   Dienstzug“   von   Bertolt   Brecht   wurde   zusammen   mit   anderen   in   der   Reihe   der   Svendborger   Gedichte   1939  veröffentlicht.   Der   Dichter   befindet   sich   zu   dieser   Zeit   im   dänischen   Exil,   da   er,   um   den   politischen   Gegnern   drohenden  Repressalien  –  bis  hin  zu  Verhaftung  und  Ermordung  –  zu  entgehen,  nach  dem  Reichstagsbrand   (27./28.  Februar  1933)  aus  dem  Dritten  Reich  geflohen  war.   Im  Ausland   führte  Brecht  den   aktiven  Kampf  gegen  das  nationalsozialistische  Regime   fort,   indem  er  dem  Widerstand  gewidmete  Literatur  verfasste.  Dazu  zählten  neben  der  Lyrik,  in  der  er  die  persönliche  Exilerfahrung  verarbeitete,  auch  ausdrücklich  politische  Gedichte,  die  er  zu  dieser  Zeit  unter  der  Überschrift  Deutsche  Satiren  zusammenfasste.  Das  Gedicht  Der  Dienstzug   ist   in  diese  Reihe  von  Schriften  einzuordnen.  „Der  Dienstzug“,  ein  Zug,  der  anlässlich  des  Nürnberger  Parteitages  gebaut  wurde,  wird  hier  in  seiner  luxuriösen  Bauweise  beschrieben.  Dabei  hebt  Brecht  die  geruhsame  Untätigkeit  der  Zuggäste  hervor  und  nimmt  das  Schwelgen   im  Komfort  zum  Anlass,  die  Führungselite  des  NS-­‐Regimes  zu  kritisieren,  welche  „auf  Deutschland  scheiße“  (vgl.  I,  Z.  25/26).    Der   Text   wird   im   Folgenden   zunächst   anhand   ausgewählter   Kriterien   analysiert   und   interpretiert.   Anschließend   soll   überprüft  werden,   inwieweit  das  Gedicht  den  Ansprüchen,  welche  Brecht   in  dem   in  Auszügen   vorliegenden  Text  „Über   reimlose   Lyrik  mit  unregelmäßigen   Rhythmen“   formuliert,   gerecht   wird.   Dazu   gehören   unter   anderem   „knappste   Form“   (II,   Z.   3),   Alltagssprache,  Unregelmäßigkeit  des  Rhythmus’  sowie  Anregung  der  Gedanken  des  Lesers  als  Wirkung  und  Intention.  Schließlich  wird  die  Frage  nach  der  politischen  Wirksamkeit  von  Lyrik  erörtert.  „Auf   ausdrücklichen   Befehl   des   Führers“   (I,   Z.   1),   so   steigt   Brecht   ein,   sei   ein   höchst   komfortabler   Zug   gebaut   und   mit   dem  „schlichten  Namen  DIENSTZUG“  (I,  Z.  3)  betitelt  worden.  Durch  diesen  ersten  Vers  verdeutlicht  Brecht  gleich  zu  Beginn,  dass  es  sich  bei  den  folgenden  Versen  um  eine  politische  Stellungnahme  handelt.  Mit  eben  dieser  Aussage  werden  auch  Anordnungen  Hitlers  gekennzeichnet.  Da  dieser  seit  1933  gezielt  seine  Position  im  Staat  ausgebaut  hatte  und  zu  alleiniger  Macht  gelangt  war,  duldete  solch   ein   Befehl   keinen   Widerspruch.   So   erlangt   Brecht   durch   den   unerwarteten   Einstieg   nicht   nur   die   Aufmerksamkeit   des  Zuhörers   –   seine   Gedichte   wurden   als   Agitationsmaterial,   also   zur   intensiven   Aufklärung   der   Bevölkerung   eingesetzt   und   bei  Deutschland  feindlichen  Sendern  wie  der  BBC  als  vertonte  Version  ausgestrahlt  oder  verlesen,  es  gelingt  dem  Dichter  ebenfalls  zu  verdeutlichen,  dass  Hitler  als  Zeuge  dessen  die  Schuld  für  das  geschehene  Unrecht,  das  Leid  und  die  Morde  zuzuschreiben  ist.  Doch  auch  die  anderen  Parteifunktionäre  in  z.T.  gehobenen  Positionen  entgehen  Brechts  Kritik  nicht.  Sie  werden  mit  der  Bemerkung  „für  den  Nürnberger  Parteitag“  (I,  Z.  2)  in  ihrer  Gesamtheit  bezichtigt.  Der  sich  bietende  Widerspruch  zwischen  „schlichte[m]  Namen“  (I,  Z.   3)   und   dem   Begriff   „Salonzug“   (I,   Z.   2)   sowie   den   folgenden,   nahezu   detailverliebten   Beschreibungen   der   Anhäufung   von  luxuriösen   Accessoires   –   „Meisterstück   der   Wagenbaukunst“   (I,   Z.   7),   „Appartements“   (I,   Z.   8),   „breite   Fenster“   (I,   Z.   8),  „gekachelt[e]  Kabinett[e]“  (I,  Z.  11),  „raffinierte[s]  Beleuchtungssyste[m]“  (I,  Z.  13),  „mit  Marmor“  (I,  Z.  24)  etc.  –  ist  der  Einstieg  und  einer   der   Leitfäden   für   Brechts   harsche   Kritik.   Am   Schluss   der   ersten   Strophe,   welche   durch   die   Nummerierung   „1.“   deutlich  gekennzeichnet   und   von   der   folgenden   abgegrenzt   ist,   setzt   Brecht   einen  weiteren  Widerspruch   –   ein   Paradox,   so   scheint   es   –  hinzu:  die  Zuggäste  würden  „indem  sie  fahren,  dem  deutschen  Volk  /  Einen  Dienst  erweisen“   (I,  Z.  4/5).  Die  Diskrepanz  zwischen  aktiver   und   passiver  Wortbedeutung   ist   nicht   zu   übersehen:   jemandem   zu   dienen,   ist   ein  mit  Mühe   und   Arbeit   bzw.   Aufwand  verbundener  Vorgang,  während  das  Fahren  in  einem  Zug  von  ausschließlich  passiver  Qualität  ist.  Brecht  reduziert  seine  Aussage  auf  zwei  zentrale  Punkte:  Der  „Dienst“  (I,  Z.  5)  der  Parteielite  besteht  aus  dem  Nichtstun.  Dieser  wird  durch  den  äußeren  Schein  der  schlichten  Notwendigkeit  in  seiner  wahren  Identität  als  gro.zügig  ausgestalteter  Luxus  und  Komfort  verschleiert.  Wie   in   einer   Art   (politischem)   Aufsatz   bildet   die   erste   Strophe   die   Einleitung   des   Gedichtes,   welche   einen   knapp   umrissenen  abstract   des   Inhalts   bietet.   Die   erste   Zeile   der   zweiten   Strophe   wirkt   dabei   wie   die   Überschrift   des   folgenden,   zu   erörternden  Unterpunktes:   „Der   Dienstzug“   (I,   Z.   6).   Die   daran   angeschlossene,   objektive   Beschreibung   der   Qualitäten   des   Zuges   kann  höchstens  anfänglich  die  Emotionalität  Brechts  verbergen,  mit  welcher  er  das  Unrechtsregime  der  Nazis  kritisiert.   Innerhalb  von  neunzehn  Zeilen  entwirft  Brecht  das  Bild  eines  mit  allem  Komfort  ausgestatteten  Zuges.  Zuweilen  scheint  es,  als  handele  es  sich  um  den  Text  eines  Immobilienverkäufers:  der  Leser  wird  wie  ein  Interessent  umworben  (vgl.  I,  Z.  10f.)  und  mit  dem  „sie“,  welches  sich  eigentlich  auf  die  Zuggäste  bezieht,  angesprochen.  „Die  einzelnen  Appartements“   (I,  Z.  16)  verfügen  über   jegliche  noble  Einrichtung  und  machen  den  „Dienstzug“   (I,  Z.  6)   zu  einem  „Meisterstück  der  Wagenbaukunst“   (I,   Z.  7).  Dazu  gehören,  wie  bereits   erwähnt,   „breite  Fenster“   (I,   Z.  8),  durch  die  „deutsch[e]  Bauern  auf  den  Feldern  schuften[d]“  (I,  Z.  9)  beobachtet  werden  können,  „gekachelt[e]  Kabinett[e]“  (I,  Z.  11)  für  „Expreßbäder“  (I,  Z.   12),   „raffiniert[e]   Beleuchtungssystem[e]“   (I,   Z.   13)   zum   Lesen   der   Zeitung   im   Sitzen,   Liegen   und   Stehen   (vgl.   I,   Z.   14)   sowie  „Telefonleitungen“  (I,  Z.  17),  welche  den  Gästen,  wie  der  Zimmerservice  (vgl.  I,  Z.  22f.),  die  wenigen  Schritte  von  der  einen  zu  der  anderen   Räumlichkeit   ersparen,   und   „mit   Marmor   ausgelegt[e]   [Klosetts]“   (I,   Z.   24).   Es   bieten   sich   also   alle   erdenklichen  Annehmlichkeiten,  die  die  Notwendigkeit  für  Bewegung  auf  ein  Minimum  beschränken.    Die  dabei  eingesparte  Energie,  so  kritisiert  Brecht,  wird  allerdings  nicht  zum  beruflichen  Engagement  genutzt,  welches  auch  nur  aus  weiteren  schriftlichen  Taten  bestehen  würde.  Vielmehr  stagnieren  die  „Zuggäste“  (Z.  7)  in  einer  allumfassenden  Passivität,  um  nicht  zu  sagen  Faulheit:  die  Zeitungslektüre  erbringe  als  Entschädigung  für  den  Aufwand  „groß[e]  Bericht[e]  über  die  Segnungen  /  Des  Regimes“  (I,  Z.  15/16),  welche  zugleich  als  Rechtfertigung  für  die  eigene  Inaktivität  herangezogen  werden  können.  Einer  Auseinandersetzung  mit  anderen  Staaten,  das  heißt,  eine  aktive  Außenpolitik,  erfolgt  nur  durch  die  passive  Beschallung  mit  „großen  Berichten  /  Über  die  Nachteile  anderer  Regimes“  (I,  Z.  21/22)  über  das  „Radio“  (I,  Z.  21),  „[o]hne  sich  von  den  Betten  zu  erheben“   (I,   Z.  20).   Immer  weiter   spitzt  Brecht  das  Bild  der  Diskrepanz  zwischen  Aktivität  und  Passivität,  Arbeit  und  Faulheit   zu.  

  Beispielklausur  –  Abitur  –  Brecht  (Exillyrik)    

Während  die  „deutschen  Bauern  auf  den  Feldern  schuften“  (I,  Z.  9),  geraten  die  „Zuggäste“  (I,  Z.  7)  –  die  bezeichnenderweise  als  solche  deklariert  werden,  ähnlich  den  Urlaubsgästen  in  einem  Luxus-­‐Hotel  –  schon  „bei  diesem  Anblick  [in  Schweiß]“  (I,  Z.  10).  Dem  Bild  eines  Urlaubs  im  exklusiven  Hotel  folgend,  vergleicht  Brecht  die  NS-­‐Politiker  im  Zug  mit  „[Herren]  in  gewissen  Tanzpalästen“  (I,  Z.  18),  denen  es  an  Antrieb  zum  Tanzen  mangelt  und  die  an  Tischen  (vgl.  I,  Z.  18)  sitzend  „[t]elefonisch“  (I,  Z.  19)  Auskunft  von  den  „Damen  an  den  Nachbartischen“  (I,  Z.  19)  erfragen.  Die  Frage  „nach  dem  Preis“  (I,  Z.  19)  impliziert  sofort  Prostitution  und  lässt  den  heutigen  Leser  an  die  Veruntreuung  von  Geldern  durch  ‚Sexreisen’  von  Managern  und  Politikern  denken.  Der  förmliche  Dienstzug  erfährt  also  eine  Verkehrung  seiner  Bedeutung  ins  Gegenteil:   er   wird   missbraucht   als   Luxus-­‐Bordell,   als   ‚Prostitutionszug’.   Zum   Ende   der   Beschreibung   entwirft   Brecht   in   seinem  Gedicht  ein   finales  Bild:  nachdem  die  Fahrgäste  „ihre  Dinners   /  Auf  Wunsch   im  Appartement  serviert   [bekommen]“   (I,   Z.  22/23)  haben,  werden  sie  durch  die  natürliche  Notwendigkeit  der  „Notdurft“  (I,  Z.  23)  dazu  gezwungen,  sich  „in  [ihre]  eigenen  Klosetts“  (I,  Z.  24)  zu  begeben.  Der  auch  diesem  Ort  innewohnende  Luxus  versucht  für  diese  Bewegung  bzw.  einzige  Tätigkeit  zu  entschädigen:  Mehr-­‐Gänge-­‐Menu  und  Stuhlgang  sind  so  in  gleicher  Weise  elegant  gestaltet.  Diese  pointierte,  zugespitzte  Darstellung   ist  eine  für  Brecht  typische  Form  der  Kritik,  welche  sehr  zynisch  wirken  kann  oder  wirkt.  Mittels  der  Stellung  am  Versende  werden  „ihre  Dinners“   (I,  Z.  22)  und  „ihre  Notdurft“   (I,  Z.  23)   in  direkte  Beziehung  zueinander  gesetzt  und  gegenübergestellt.  „Notdurft“  (I,  Z.  23)  erfährt  in  dieser  Epipher  eine  besondere  Betonung,  zumal  das  Wort  durch  den  folgenden   Vers   ergänzt   wird.   An   dieser   Stelle   treibt   Brecht   seine   Ausführungen   ‚auf   die   Spitze’.   Nach   den   kunstvollen  Umschreibungen  für  schier  unvorstellbare,  irrational  wirkende  Zustände  –  die  Parteimitglieder  schwelgen  im  Luxus,  während  in  und  rings  um  Deutschland  Verfolgung,  Willkür,  Unrecht  und  Krieg  herrschen  –  konkretisiert  Brecht  seine  Anklage  zu  scharfer,  deutlich  gesprochener  Kritik:  „Sie  scheißen  /  Auf  Deutschland“  (I,  Z.  25/26).  In  der  vorletzten  Zeile  erzeugt  Brecht  das  konkrete  Bild  der  ihre  Notdurft  verrichtenden  Zuggäste.  Der  letzte  Vers  erweitert  es  zu  einer  Metapher:  „Sie  scheißen  /  Auf  Deutschland“  bedeutet  hier,  dass  eine  vollständige  Ignoranz  gegenüber  Deutschland  und  dem  dort   Geschehenen   vorherrscht.   Weder   die   Identität   Deutschlands   –   der   deutsche   Geist   der   Dichter   und   Denker   –   noch   seine  Zukunft  oder  sein  Wohlergehen  scheinen  ihnen  am  Herzen  zu   liegen,  solange  sie  es  zu   ihrem  eigenen  Vorteil  ausbeuten  können.  Die  Nazis  prostituieren  Deutschland,   sie  missbrauchen  es,  um  es   ihrem  eigenen  Nutzen   zu  unterwerfen.   Selbstgefällig   lassen   sie  andere  „schuften“  (I,  Z.  9)  und  bereichern  sich  an  der  Arbeit  anderer.  Diese  Kritik  ist  gekennzeichnet  durch  Brechts  kommunistische  Denkweise.  Er  will  die  „deutschen  Bauern“  (I,  Z.  9)  in  Schutz  nehmen.  An  zwei  Stellen  wiederholt  Brecht  eine  sehr  zynische  Aussage,  die   antithetisch   aufgebaut   ist:   die   Zeitungen   sind   gefüllt   „Mit   den   großen   Berichten   über   die   Segnungen   /   Des   Regimes“   (I,   Z.  21/22).  Brecht  verkehrt  die  Tatsachen  –  Krieg,  Verfolgung,  Mord  und  Unrecht  können  zweifelsohne  nicht  als  „Segnungen“  (I,  Z.  15)  betrachtet  werden  -­‐,  um  auf  die  gleichgeschaltete,  propagandistische  Presse  im  Dritten  Reich  zu  verweisen,  die  die  Lügen  der  Nazis  verbreitete  und  ihre  Ideologie  in  den  Köpfen  der  Menschen  festsetzen  sollte.  Mit   seinen   Gedichten,   die   ebenfalls   über   Rundfunk   und   Presse,   etwa   BBC   und   Exilverlage,   wie   z.B.   die   „Neue[n]   Deutsche[n]  Blätter“,   eine   antifaschistische   Zeitung,   verbreitet  wurden,  will   Brecht   Ähnliches   erreichen.   Nicht   die   Verblendung,   sondern   die  Aufklärung  der  Bevölkerung   ist   sein   Ziel.   Zudem   sollen  Menschen   im   In-­‐   und  Ausland   zum  Engagement  und   aktiven,   politischen  Kampf  gegen  Nazi-­‐Deutschland  aufgerufen  werden.  Brechts  Lyrik  sollte  aufrütteln.  Aus  diesem  Grund  setzt  der  Dichter  hier  die  für  seine   Literatur   typischen  Gestaltungsformen  ein.  Der  Begründer  des   epischen  Theaters  wählt   erneut  den  narrativen   Stil119.   Bei  auditiver   Wahrnehmung   ist   sein   Gedicht   deshalb   kaum   von   einem   Prosatext   zu   unterscheiden.   Die   Gliederung   in   Verse   und  Strophen  jedoch  lässt  auf  einen  Blick  erkennen,  dass  es  sich  um  Lyrik  handelt.  Die   traditionelle,   harmonisch  wirkende  Gedichtform120   kann  dem   Inhalt   des  Gedichtes  nicht   entsprechen  und  wird   aus  diesem  Grunde  abgelehnt.  Die  Verbrechen  der  Nazis,  Heimatverlust  aufgrund  von  Vertreibung,  Willkür  und  Unrecht  können  in  keine  starre  Form  gepresst  werden.  In  verschiedenen  Gedichten  erwähnt  Brecht  unter  anderem,  dass  ein  Reim  ihm  wie  Übermut  vorkäme.  In  An  die  Nachgeborenen  führt  er  derartige  Überlegungen  wie  folgt  aus:  „Was  sind  das  für  Zeiten,  wo  /  Ein  Gespräch  über  Bäume  fast  ein  Verbrechen  ist  /  Weil  es  ein  Schweigen  über  so  viele  Untaten  einschließt!“  (Z.  6-­‐8).  Daraus  wird  ersichtlich,  dass  nicht  nur  die  Form,  sondern  auch  der  Inhalt  klassischer  Gedichte  nicht  der  Zeit  entspricht.  Es  finden  sich  weder  Reime  noch  ein  einheitliches  Metrum.  Vielmehr  ahmt  Brecht  mit  Wortstellung  und  Rhythmus  den  natürlichen  Sprachfluss   der  Menschen   nach.   Zusammen  mit   der   Alltagssprache   ergibt   sich   das   ‚gestische   Sprechen’121.   Dies   klingt  wie   der  Ausruf  der  streikenden  Arbeiter,  welche  ihr  „Wir  haben  Hunger“  auch  nicht  in  Versform  pressten.  Ihrem  Beispiel   gleich   gibt  Brecht   dem  Leser   prägnante   Sätze   an  die  Hand,   Parolen,   die   harsche  Kritik   am  Regime   zum  Ausdruck  bringen  und  den  Menschen  zum  Gebrauch  im  sozialen  sowie  politischen  Engagement  dienen  sollen.  Enjambements  (vgl.  I,  Z.  1/2,  3/4,  4/5  usw.)  und  veränderte  Wortstellung  (z.B.  I,  Z.  21/22)  erzeugen  stark  verkürzte  Zeilen  (I,  Z.  5,  6,  25f.   usw.),   die   folglich   eine   besondere   Betonung   erfahren.   Mit   konsequent   großgeschriebenen   Versanfängen   sowie   zum   Teil  fehlender  Interpunktion  –  vor  allem  Kommata  werden  ausgelassen  (z.B.  I,  Z.  2/3)  –  wird  die  Leserirritation  gefördert,  welche  dazu  führt,  dass  die  Verse  aufmerksamer  gelesen  werden,  vielleicht  sogar  zweifach.  Dies   führt  dazu,  dass  der   Inhalt  vom  Leser  besser  aufgenommen  wird.  Eine  klare  Strukturierung  des  Gedichts  begünstigt  dies  weiter.  Abgeschlossene  Gedankengänge,  verschiedene  Perspektiven  und  anderes  mehr  werden   in  Brechts  Lyrik  durch  Strophen  begrenzt,  welche  meist  zusätzlich  durch  Nummerierung  gekennzeichnet  sind.  Mithilfe   bestimmter   bzw.   dem   jeweiligen   Thema   angepasster   Metaphern   und   dem   Gebrauch   von   Wortfeldern   erzeugt   Brecht  komplexe  Bilder,  welche  er  dann  als  Schein  auflöst;  darauf  folgend  verdeutlicht  er  seine  eigene  Aussage.  In  dem  hier  vorliegenden  Gedicht   ist  dies  das  stimmige  Bild  eines   luxuriös  ausgestatteten  Zuges,  der  zum  komfortablen  Nichtstun  einlädt.  Eben  dieses  Bild  wird  zum  Gegenstand  von  Brechts  Kritik,  welche  er  in  den  letzten  beiden  Zeilen  deutlich  formuliert.  Parallelismen,  Antithesen  sowie  andere   Stilmittel   helfen   Brecht   dabei,   Dinge   gegenüberzustellen   oder   in   Verbindung   zueinander   zu   setzen,   hier   beispielsweise  „Dinners“  und  „Notdurft“  (I,  Z.  22/23).  In  anderen  Gedichten  des  Dichters  sind  häufig  weitere  Stilmittel  zu  finden.  Brecht  verfügte  über  eine  unglaubliche  Bandbreite  an  Gestaltungsformen  –  auf  inhaltlicher  wie  sprachlicher  und  formaler  Ebene.  Diese  reichen  von  der  Abänderung  von  oder  Anlehnung  an   Legenden   (z.B.   Der   gute  Mensch   von   Sezuan)   über   ‚Gebetssprache’   (z.B.   Finnland),   scheinbar   objektive   Begriffsdefinitionen  (Über   die   Bezeichnung   Emigranten),   Sonette,   Liedform   etc.   Alliteration   und   Assonanz   sind   ebenso   zu   finden   wie   Konsonanz,  

  Beispielklausur  –  Abitur  –  Brecht  (Exillyrik)    

Parallelismus  und  Anaphern.  Wie  in  der  vorangegangenen  Interpretation  bereits  erwähnt,  setzt  Brecht  seine  Schreibkunst  auf  viele  verschiedene  Weisen  ein.  Die  Thematik  ändert  sich  hintergründig  nicht:  stets  bezieht  sich  das  Geschriebene  auf  die  Herrschaft  des  NS-­‐Regimes  und  die  Auswirkungen  seiner  Tätigkeiten.  Brecht   selbst   hat   in   seinem   hier   in   Auszügen   vorliegenden   Text   Über   reimlose   Lyrik   mit   unregelmäßigen   Rhythmen   gewisse  Ansprüche  an  seine  Lyrik  und  die  anderer  Autoren  gestellt.  Diese   lassen  sich   in  verschiedene  Kategorien  einteilen:  Texte  müssen  durch  ihre  Kürze  überzeugen,  sie  folgen  eher  dem  natürlichen  Sprachfluss  als  regelmäßigen  Rhythmen;  sie  haben  eine  neue  Form  der  Ästhetik  inne  und  beschreiben  „neue  Wege“  (II,  Z.  27)  in  „der  sozialen  Funktio[n]“  (II,  Z.  26).  Für  Brecht  muss  jedes  Gedicht  vor  allem  eine  politische  Funktion  erfüllen.  Lyrik  ist  für  ihn  nicht  der  bloße  Ausdruck,  sondern  ist  gleichbedeutend  mit  einer  Handlung.  So   dient   das   Schreiben   nicht   nur   dem   Ausdruck  wirrer   Gedanken,   sondern   es   soll   sie   ordnen.   Die   Feststellung   von   Unrecht   ist  gleichzeitig  eine  Aufforderung,  dieses  zu  beseitigen.  Dies  ist  mit  der  Funktionalität  von  Lyrik  gemeint.  Sie  soll  aufklären,  aufrütteln,  zu  Engagement  anhalten  und  anklagen.    Dieser   Vorgabe   wird   Der   Dienstzug   gerecht.   Mit   der   Intention,   die   Gedichte   über   die   BBC   auszustrahlen,   schreibt   Brecht   die  Deutschen   Satiren.   Obwohl   der   ‚Feindsender’   verboten   war,   trafen   sich   viele   Deutsche   heimlich,   um   unverfälschte,   von   der  Propaganda  der  Nazis  unberührte  Informationen  zu  erhalten.  Hörten  sie  das  Gedicht  Der  Dienstzug,  wäre  Empörung  eine  logische  Konsequenz.  Diese  könnte  zum  Gesprächsthema  werden  und  die  Menschen  zum  Handeln  motivieren.  Der  eigene  Hunger  ließ  die  Ungerechtigkeit   umso   schwerer   wiegen.   Brecht   ist   der   Überzeugung,   dass   „regelmäßige   Rhythmen   [...]   eine  mir   unangenehme  einlullende,  einschläfernde  Wirkung“  (II,  Z.  6f.)  haben.  Auch  wenn  diese  „einmal  hatte  erregend  wirken  können“  (II,  Z.  9),  „tat  sie  das   nicht   mehr“   (II,   Z.   10,   12).   Eher   seien   „die   Sprechweise   des   Alltags   [...]   [und]   der   nüchterne   Ausdruck“   (II,   Z.   10,   12)  einzubringen,  da  sie  die  „Gedanken“  (II,  Z.  20)  anregten  und  darstellten.  „Sie  scheißen  /  Auf  Deutschland“  (I,  Z.  25/26)  entspricht  diesem  Kriterium.  Die  Aussage  empört,  rüttelt  wach,  zeigt  mit  dem  Finger  auf  die  Untaten  und  vermag  es,  Menschen  in  Bewegung  zu  versetzen.  Das   erstgenannte   Kriterium,   das   der   Knappheit   bzw.   Kürze,   findet   seine   Berechtigung   darin,   dass   beispielsweise   „durch   die  Störsender“  (II,  Z.  4)  die  Sendungen  im  Radio  unterbrochen  wurden,  sodass  es  gilt,   in  kurzer  Zeit  prägnante  Sätze  „in  [die]  ferne,  künstlich  zerstreute  Hörerschaft  zu  werfen“  (II,  Z.  2/3):  „Unterbrechungen  [...]  durften  nicht  allzu  viel  ausmachen“  (II,  Z.  4/5).  Die  erste  Strophe  in  ihrer  Kürze  stellt,  wie  bereits  erläutert,  einen  Abstract  des  Inhaltes  dar,  der  durch  die  zweite  Strophe  ausgeführt  und  weiter  konkretisiert  wird.  Wurde  die  Übertragung  nach  wenigen  Minuten  abgebrochen,   so  konnte  dennoch  der  größte  Teil,  wenn  nicht  das  gesamte  Gedicht,  vorgetragen  werden.  Brechts   vorliegendes  Gedicht  wird  demnach  allen  gestellten  Ansprüchen  gerecht.  Es  ist  kurz  und  regt  die  Gedanken  des  Lesers  an.  Damit   ist  bereits  eine  Voraussetzung  für  die  politische  Wirksamkeit  von  Lyrik  erfüllt.  Ob  diese  tatsächlich  entfaltet  werden  kann,  soll   in   dem   folgenden   Teil   der   Arbeit   geprüft   werden.   Brechts   Flucht   aus   Deutschland   und   der   Gang   ins   Exil   waren   ein   erstes  Zeichen  seines  politischen  und  moralischen  Protests  gegen  das  Hitler-­‐Regime.  Frühzeitig  hat  der  vom  Kommunismus  überzeugte  Dichter  die  Gefahr  erkannt,  die  vom  Nationalsozialismus  ausgeht.  Wie  etwa  400.000  andere  Deutsche,  viele  davon  Angehörige  der  intellektuellen  Elite,  suchte  er  Schutz  vor  Verfolgung,  Inhaftierung  und  Ermordung  im  europäischen  Ausland.  Diese   erste   große   Auswanderungswelle   geschah   nach   der   Bücherverbrennung   im   Mai   1933.   Die   Nazis   vernichteten   dabei   in  öffentlichen   Veranstaltungen   die   Schriften   von   weit   über   250   Autoren   und   Autorinnen,   die   dem   Regime   gegenüber   kritisch  eingestellt  waren,  es  ablehnten  oder  bekämpften.  Während  Brecht  schon  vor  dem  nationalsozialistischen  Machtantritt  auf  einer  Liste   zu   verhaftender,   politischer   Gegner   zu   finden  war,   wurde   Oskar  Maria   Graf   zunächst   der   ‚weißen   Liste’   zu   empfehlender  Bücher   hinzugefügt.   Dieser   protestierte   heftig,   da   er   ebenfalls   zu   den   entschiedenen   Antifaschisten   gehörte.   Seinen   Satz  „Verbrennt  mich!“  griff  Brecht  in  dem  Gedicht  Die  Bücherverbrennung  auf,  welches  diesem  Ereignis  gewidmet  ist.  Würde  von  der  Literatur  keine  politische  Wirkung,  d.h.  auch  keine  Gefahr,  ausgehen,  wären  die  Nazis  nicht  so  entschieden  gegen  die  geistige  Elite  des   Landes   vorgegangen.  Demnach  muss   das  Geschriebene   eine  Wirkung   auf   den   Leser   haben.  Heutzutage   ist   kaum  mehr   eine  Politisierung  der  Lyrik  zu  beobachten.  Moderne  Romane  wie  Wessis  in  Weimar  von  Rolf  Hochhuth  oder  Nox  von  Thomas  Hettche  versuchen   noch   immer,   die   Folgen   der   Wende   zu   analysieren   und   zu   verarbeiten.   Aktuellere   Themen,   wie   beispielsweise   der  Irakkrieg,   finden   in   den   Schriften   vieler   Exilanten  Ausdruck.  Diese   haben   jedoch   ein   sehr   beschränktes   Publikum.  Vertonte   Lyrik  hingegen  findet  das  Gehör  vieler.  Ein  Projekt  namens  Rock  against  Bush,  das  sich  gegen  die  amerikanische  Außenpolitik  wendet,  fand  weltweit  Anerkennung  und  Anhänger.  Eine  moderne  Form  der  Lyrik  ist  Slam  Poetry.  Diese  orale  Form  der  Poesie  ist  in  den  80er-­‐Jahren  in  Chicago  entstanden  und  hat  sich  zunächst  im  Untergrund  ausgebreitet.  Bas  Böttcher  ist  einer  der  ‚Slammer’.  Er  kritisiert  u.a.  die  Machenschaften  der  U.S.-­‐Regierung  im   Gefangenenlager   Guantánamo   Bay   und   übt   Gesellschaftskritik.   Ebenso   ‚zieht’   Timo   Brunke   über   den   Schönheitswahn   und  ähnliche   Themen   her.   Der   Rapper   Samy   Deluxe   prangert   ebenso   wie   der   bereits   verstorbene   Tupac   Shakur   die  Rassendiskriminierung  an   („Weck  mich  auf“  und  „Changes“).  Doch  auch   in  der  Geschichte  Deutschlands  und  Europas  bieten  sich  viele   Beispiele   dafür,   dass   Lyrik   eine   politische   Wirkung   entfaltet.   Der   Dichter   Heinrich   Heine122   lebte   bis   zu   seinem   Tod   im  französischen   Exil.   Elemente   der   Romantik   aufgreifend,   wandte   er   sie   an,   um   Kritik   an   dem   Spie.bürgertum   seiner   Zeit   sowie  religiösen,   gesellschaftlichen   und   politischen   Instanzen   zu   üben.   Die   Herrscher   seiner   Zeit   reagierten   mit   harter   Zensur   und  schließlich  mit   einem   Schreibverbot,   um   seinen   Einfluss   auf   die   Intellektuellen   des   Landes   zu   begrenzen.   Folglich  wurden   seine  Schriften,  wie  viele  andere  auch,  unter  der  Hand  weitergereicht  und  gelesen.  Später  widmete  Hilde  Domin123,  eine  weitere  Exilantin  zur  Zeit  des  Dritten  Reiches,  ihr  Werk  der  Darstellung  der  Exilsituation  (z.B.  Aufbruch  ohne  Gewicht,  Mit  leichtem  Gepäck).  Im  Rahmen  des  „New  York  Progressive  Literary  Club“  entstand  eine  Vielzahl  solcher  Schriften.  Die  Zeitgenossen  Domins  wie  Mascha  Kaléko  und  Paul  Celan  standen  durch  ihre  Lyrik  in  Verbindung.  Sie  erreichten  eine  Solidarisierung  vieler  Exilanten  und  einten  weitgehend  die  Reihen  der  Regimegegner  –  auch  über  verschiedene  politische  Ansichten  hinweg.  Die  antifaschistische  Zeitschrift  Neue  Deutsche  Blätter  veröffentlichte  ihre  Gedichte  im  Ausland  und  schmuggelte  sie  nach  Deutschland   ein.   Zwar   war   die   Leserschaft   durch   die   strikten   Verbote   und   Kontrollen   gering,   dennoch   gelang   zumindest   die  Aufklärung   der   Bevölkerung   über   die   eigentlichen   Machenschaften   Hitlers.   Brecht   z.B.   warnte   schon   1938   in   seinem   Gedicht  Frühling   1938  vor  der  eminenten  Kriegsgefahr.  Klaus  Mann  stellte   fest,  dass   Lyrik  aber  auch  an  die  Regierungen  anderer   Länder  gerichtet  sein  konnte,  als  eine  Art  Bittbrief  oder  Hilferuf  mit  dem  Ersuchen,  dass  sie  sich  gegen  das  NS-­‐Regime  wenden  sollten.  

  Beispielklausur  –  Abitur  –  Brecht  (Exillyrik)    

Das  Maß  an  Unterdrückung,  welches  Literatur  widerfährt,  kann  oftmals  zur  Messung  ihrer  Wirksamkeit  herangezogen  werden.  Die  Bücherverbrennung  hat  eine  lange  Tradition.  Die  Schriften  Luthers  wurden  ebenso  verbrannt  wie  die  von  Brecht,  Graf,  Celan,  Zweig  oder  der  Familie  Mann.  Die   Zeit   der  Aufklärung   ist  wohl   eines   der   eindrucksvollsten  Beispiele   für   die  Wirkung   von   Literatur.   Immanuel   Kant   prägte  den  Spruch,   dass   Aufklärung   der   Ausgang   des  Menschen   aus   seiner   selbstverschuldeten  Unmündigkeit   sei.  Mit   dem  Vormarsch   des  rationalen  Denkens,  der  logischen  Schlussfolgerungen  und  des  kritischen  Hinterfragens  begannen  die  bisherigen  Institutionen,  vor  allem  die  Kirche  und  die  Monarchen,  an  Macht  und  Einfluss  zu  verlieren.  Auch  wenn  die  daraus  folgende  Französische  Revolution  zunächst  in  einem  ‚Blutbad’  endete  und  nicht  den  erwünschten  Umsturz  herbeiführte,   so   bereitete   sie   doch   den  Weg   für   die   kommenden   Epochen.   So  wurde   beispielsweise   in   der   Klassik   das   Ideal,   in  Schillers  gleichnamigem  Werk  durch  die  Figur  Maria  Stuart  verkörpert,  aufgestellt,  welches  den  Menschen  als  Orientierung  dienen  sollte.  Die  Besserung  des  Menschen  war  das  Ziel,  welches  sich  zum  Teil  auch  auf  die  Politik  auswirkte.  Im  Gegenzug  versuchte  die  Politik  ebenso  häufig,  auf  die  Literatur  einzuwirken.  So  wurde  für  die  DDR  auf  der  Bitterfelder  Konferenz  eine  ‚Parteilinie’  für  die  Literatur  (und  Kunst)  festgelegt.  Im  Dritten  Reich  war  die  Reichskultur-­‐  und  Schriftkammer  mit  Ähnlichem  beauftragt.  Von  der  Literatur,  einschließlich  der  Lyrik,  ging  schon  immer  eine  ‚Gefahr’  für  etablierte  Machtstrukturen  aus,  da  sich  in  ihr   die   Ausdrucksform   der   Opposition   und   der   umstürzlerischen   Kräfte   fand.   Dies   kann   vor   allem   am   Beispiel   der   Aufklärung  nachgewiesen   werden,   ist   jedoch   auch   heute   von   Bedeutung,   wenn   man   gesellschaftskritische   Lieder   bekannter   Künstler  betrachtet.   –   Zudem  wird   Literatur   heute   verfilmt   und   über  moderne  Medien   ausgestrahlt.   Eine   erneute   Politisierung   der   Lyrik  könnte   im  21.   Jahrhundert  von  der  Slam-­‐Poetry-­‐Bewegung  ausgehen.  Welchen  Erfolg  diese  haben  wird,  bleibt   festzustellen.  Das  Wichtigste   ist   und   bleibt,   das   Publikum,   ganz   in   Brechts   Sinne,   ‚aufzuwecken’,   wachzurütteln   und   zum   eigenen   Engagement   zu  bewegen,  sodass  es  nicht  alle  ihm  als  ‚Wahrheiten’  präsentierte  Fakten  hinnimmt,  sondern  es  als  selbstverständlich  ansieht,  diese  kritisch  zu  hinterfragen.    (3479  Wörter)