agora 03/2014 Das Unsichtbare

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AGORA 42 Das philosophische Wirtschaftsmagazin AUSGABE 03/2014 DAS UNSICHTBARE Ausgabe 03/2014 | Deutschland 8,90 EUR Österreich 8,90 EUR | Schweiz 13,90 CHF 4 191717 308902 03 WERTE GERECHTIGKEIT DER MARKT ERWARTUNGEN STRUKTUREN FREIHEIT Visionen Sinn Vertrauen Wahrscheinlichkeit Gesellschaft

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Vertrauen, Werte, Sinn, Erwartungen, Freiheit, der Markt oder die gesellschaftlichen Strukturen: all das kann man nicht sehen. Dennoch, oder gerade deswegen, ist dieses Unsichtbare bestimmend für unser Leben.

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Das philosophische Wirtschaftsmagazin

AUSGABE 03/2014

DAS UNSICHTBARE

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WERTEGERECHTIGKEIT

DER MARKT ERWARTUNGENSTRUKTUREN

FREIHEIT

Visionen

Sinn

Vertrauen

Wahrscheinlichkeit

Gesellschaft

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T E R R A I N

THier werden Begriffe,

Theorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellschaftliches

Selbstverständnis grundlegend sind.

— 8DIE AUTOREN

— 9Birger P. PriddatDer unsichtbare Markt

— 14Gerhard Ernst Werte sieht man nicht

— 18Harald WelzerViel Grund zur Beruhi- gung — Transparenz & Totalitarismus

— 24Wolfram BernhardtErwartungen — Die Zukunft im Heute

— 30Karl-Heinz BrodbeckGeld – was die Gesell- schaft im Verborgenen zusammenhält

— 35Martin AltmeyerSich zeigen, um gesehen zu werden — Ein exzen- trisches Selbst als moderner Sozialcharakter

— 40PORTRAITGestatten, Müll(von Christian Unverzagt)

— 48EXTRABLATT

— 3 EDITORIAL

— 4 INHALT

— 96AUS DER REDAKTION

— 98IMPRESSUM

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INHALT

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H O R I Z O N TI N T E R V I E W

HIAuf zu neuen Ufern! Wie lässt sich

eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete

Veränderungen herbeiführen?

— 50Die unsichtbaren FesselnInterview mit Gerald Hörhan

— 78FRISCHLUFTCapital is back(von Thomas Piketty & Gabriel Zucman)

— 88LAND IN SICHTAggressiver HumanismusFleisch ohne TiereWollen wir Wachstum wirklich?

— 94GEDANKENSPIELEvon Kai Jannek

— 62 Slavoj ŽižekJust do it! — Das Schicksal verändern

— 68 Dirk ElsnerFrisbee mit den Märkten

— 72WEITWINKELMichael W. Driesch

agora 42 Inhalt

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GerhardErnstGerhard Ernst ist Professor für Philosophie an der Friedrich-Alexander-Universi-tät Erlangen-Nürnberg. Er arbeitet vor allem zu Grund-fragen der Ethik und Erkennt-nistheorie. Letzte Buchpubli-kation: Denken wie ein Philosoph. Eine Anleitung in sieben Tagen (Pantheon Verlag, München 2012).— Seite 14

HaraldWelzerHarald Welzer ist Professor für Transformationsdesign an der Universität Flensburg, lehrt Sozialpsychologie an der Uni- versität Sankt Gallen und ist Direktor von „FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit“.— Seite 18

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Karl-Heinz BrodbeckKarl-Heinz Brodbeck war bis zum Wintersemester 2013/14 Professor für VWL, Betriebs-statistik und Kreativitätstech-niken an der Hochschule für angewandte Wissenschaften/Würzburg-Schweinfurt. Zuletzt von ihm erschienen: Faust und die Sprache des Geldes. Denkformen der Öko- nomie – Impulse aus der Goethe- zeit (Verlag Karl Alber, 2014)— Seite 30

WolframBernhardtWolfram Bernhardt studierte BWL mit dem Schwerpunkt Finanz- und Kapitalmärkte. Er ist Mitherausgeber der agora42.— Seite 24

Martin AltmeyerDr. Martin Altmeyer ist Privat-dozent für psychoanalytische Psychologie.— Seite 35

Birger P. PriddatBirger P. Priddat ist Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirt-schaftslehre und Philosophie an der Universität Witten/Herdecke und Mitherausgeber der agora42.— Seite 9

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DIE AUTOREN

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So wie wir den Kosmos in der Gesamtheit aller damit bezeich-neten Phänomene oder die Natur in ihrer ökologischen Kom-plexität nicht „sehen“, so auch nicht die „Gesellschaft“ oder den

„Markt“. Komplexe Gebilde liegen außerhalb jeder Wahrneh-mung (wie auch das Gehirn, das uns, indem wir es gebrauchen, „unsichtbar“ bleibt).

Text: Birger P. Priddat

Der unsichtbare

Markt—

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Text: Gerhard Ernst

Werte sieht

man nicht—

Im Zweifelsfall, so sagt der Schriftsteller Karl Kraus, entscheide man sich für das Richtige. Aber wie können wir herausfinden, was das Richtige ist? Diese Frage stellen wir uns sowohl wenn wir als Einzelne als auch wenn wir gemeinschaftlich handeln müssen – und das müssen wir ständig.

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Das Rätsel ethischer ErkenntnisDie Frage, was zu tun grundlegend richtig ist, wird in der Ethik behandelt. Aber noch bevor wir sie überhaupt angehen können, muss eine andere Frage beantwortet wer-den, nämlich die, wie wir denn herausfin-den sollen, was zu tun richtig ist. Können wir das überhaupt? Es ist die Aufgabe der sogenannten Metaethik, diese Frage nach der Möglichkeit und Natur ethischer Er-kenntnis zu stellen. Man sieht schnell, wa-rum sie schwer zu beantworten ist: Auf der einen Seite ist es so, dass wir anscheinend fest davon überzeugt sind, dass ethische Erkenntnis möglich ist. Wie sonst wäre es zu verstehen, dass wir feste ethische Über-zeugungen haben, etwa die, dass es falsch ist, Menschen zu foltern, zu demütigen oder zu unterdrücken? Würde jemand die-se Überzeugungen bestreiten, so würden wir ihm widersprechen. Eine solche Per-son, so unsere feste Überzeugung, täuscht sich. Das wissen wir, also muss ethische Er-kenntnis möglich sein. Aber woher wissen wir es? Hier zeigt sich, dass wir – auf der anderen Seite – nicht leicht sagen können, wie ethische Erkenntnis möglich sein soll. Eines ist jedenfalls klar: Werte sieht man nicht. Entsprechend kann man auch nicht sehen, was die richtige, also die bes-te, also die wertvollste Handlungsoption ist. Man kann sehen, wie jemand gefoltert wird. Aber man kann nicht sehen, dass das falsch ist, jedenfalls nicht mit den Au-gen. Und gegen Antoine de Saint-Exupery möchte man sagen: Letztlich sieht man nur mit den Augen gut.

Da die Sinne prinzipiell nicht dazu tau-gen, ethische Einsichten zu liefern, müsste es ein eigenes Erkenntnisvermögen geben, mit dem wir Werte erfassen. Aber was soll-te das für ein Vermögen sein? Die Frage nach der Möglichkeit und Natur ethischer Erkenntnis konfrontiert uns insofern mit einem Rätsel, das eine für philosophische Rätsel typische Form hat, welche Lud-wig Wittgenstein einmal folgendermaßen auf den Punkt gebracht hat: „‚Es ist doch nichts so!’ – sagen wir. ‚Aber es muss doch so sein!’“ (Philosophische Untersuchungen, §112). Es ist doch nicht so, dass ethische Erkenntnis unmöglich ist (denn wir haben doch ethische Erkenntnisse), aber es muss doch so sein (denn wir haben keine Vor-stellung davon, wie ethische Erkenntnis möglich sein soll).

Drei LösungsstrategienEs gibt grundsätzlich drei Strategien, um dieses Rätsel zu lösen. Manche Philo-sophen meinen, wir sollten uns von der Vorstellung verabschieden, dass es echte ethische Erkenntnis gibt. Thomas Hobbes zufolge sind Werte beispielsweise nichts anderes als die Projektion unserer subjekti-ven Reaktionen auf die Welt. Wir reagieren auf eine Spinne mit Ekel und sagen darum, die Spinne sei ekelhaft. Ähnlich, so die Überlegung, reagieren wir auf bestimm-te Handlungen mit Empörung, und wir sagen, die Handlung sei empörend oder falsch. Wie im Spinnenbeispiel geht es aber nicht um eine echte Eigenschaft der Hand-

lung, sondern um eine Projektion von uns. Ein Hauptproblem dieser Strategie besteht darin, dass es mit ihr schwer wird, unsere Haltung zu ethischen Meinungsverschie-denheiten verständlich zu machen. Man hat kein Problem damit, dass manche Menschen Spinnen eklig finden (sich also vor ihnen ekeln), andere nicht. Man hat aber sehr wohl ein Problem damit, dass manche Menschen Folter für legitim hal-ten. Ob man Spinnen eklig findet, ist Ge-schmackssache, ob die Menschenrechte gelten sollen, nicht. Ein zweiter Ansatz, das Rätsel zu lösen, besteht darin, tatsächlich ein spezielles ethisches Erkenntnisvermögen anzuneh-men, das man häufig als „Intuition“ be-zeichnet. Die Schwierigkeit besteht dann allerdings darin zu erklären, was für ein Erkenntnisvermögen das ist. Von „Intui-tion“ zu sprechen, erklärt nichts, sondern gibt unserem Unverständnis nur einen Na-men. Die dritte Strategie zur Lösung des Rät-sels besteht schließlich darin, ethische Er-kenntnis doch als eine Art Sinneserkennt-nis zu deuten. Dieser Ansatz erscheint auf Anhieb wenig plausibel, gewinnt aber an Plausibilität, wenn man ethische Erkennt-nis mit wissenschaftlicher Erkenntnis ver-gleicht. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind, wie man in der Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts betont hat, „theorie-beladen“, das heißt, dass man keine wis-senschaftlichen Beobachtungen anstellen kann, ohne bereits wissenschaftliche The-orien zugrunde zu legen. Man „sieht“ ein

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agora 42 Werte sieht man nicht

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agora 42 Ist Freiheit in Ordnung? — Oder: Wie frei ist der Mensch?

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«Im historischen Rückblick ist immer wieder erstaunlich, wie viel Grund zur Beruhigung es gab, wenn gerade die Freiheit abgeschafft wurde.»

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agora 42 Viel Grund zur Beruhigung — Transparenz & Totalitarismus

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Vom Nutzen und Nachteil der Statistik—

Text: Tanja Will

Geht es um die Zukunft, braucht man die Statistik – gleich, ob es um die Vorhersage von Aktienkursentwicklungen, Unternehmensbankrott und Ausfallwahrscheinlichkeiten geht. Welche Macht und welche Verdienstmöglichkei-ten mit der Fähigkeit, Trends vorherzusagen, verbun-den wird, zeigen auch die Lehrpläne der Universitäten: Keine streng wissenschaftliche Ausbildung kommt mehr um die Regressionsanalyse herum, die als das wichtigs-te Verfahren der quantitativen Datenanalyse gehandelt wird. Regressieren bedeutet „zurückführen auf etwas“. Und das in diesem Verfahren gleich auf zweierlei Wei-se: Zum einen werden bestimmte Phänomene auf (ide-alerweise) eine Ursache zurückgeführt und damit eine Ursache-Wirkungs-Gesetzmäßigkeit aufgedeckt. Zum anderen wird diese Gesetzmäßigkeit in die Zukunft pro-jiziert und damit unterstellt, dass gewisse Dinge statisch sind: Kaufhandlungen, Vorlieben, Interessen, die Denk-weisen der Masse. Die Zukunft ist nicht mehr ungewiss, sondern wird als das Fortbestehen der Vergangenheit – beispielsweise in Form von Trendkurven – sichtbar ge-macht. Dass dies nicht ganz so einfach ist, zeigen die kontroversen Debatten um das Versagen der Statistiker bei der Vorhersage der Weltwirtschaftskrise. Die OECD sagte noch im Juni 2008 fast all ihren Mitgliedsländern steigende Wachstumsraten für 2008 und 2009 voraus. Die Finanzkrise blieb davon unbeeindruckt. Nichtsdestotrotz klammert man sich an über-zeugte Propheten, die die Fahne der Zukunftsberech-nung hochhalten. Ein Statistiker, der unter dem Pseudo-nym Nate Silver zu Ruhm gelangte, wurde im April 2009 gar vom Time Magazine als eine der 100 einflussreichs-ten Persönlichkeiten weltweit gelistet. Er rühmt sich damit, dass selbst Terroranschläge und Umweltkatast-rophen voraussagbar seien. Statt uns davor zu fürchten, derart eingefahren, langweilig und berechenbar zu sein, feiern wir lieber den großen Entdecker unserer Routi-nen. Beginnt hier das ersehnte Ende des Zufalls?

Die Grundidee der statistischen Berechnung ist einfach. Nehmen wir einmal die Vorhersage von Ölpreisentwick-lungen. Um diese abzuschätzen, schaut sich der Statis-tiker einige Preisschwankungen aus der Vergangenheit an und entwirft anhand ihrer denkbare Schwankungs-ursachen: Rohstoffknappheit, kriegerische Unruhen, Zugangsbeschränkungen etc. Aus diesen Ursachen wird nun ein sogenanntes Modell entworfen, in dem ein Wir-kungszusammenhang konstruiert wird, der angibt, um wie viel der Ölpreis steigt oder fällt, wenn sich eine der Ursachen ändert. Die Änderungsraten werden dabei aus gesammelten Daten übernommen, den Belegen der Vergangenheit. Um die Zukunft mittels eines Modells zu berechnen, wird die Realität also vereinfacht dargestellt,

weil zugunsten der Identifizierung vermeintlich zentra-ler Einflussgrößen die Möglichkeit singulärer Ereignisse ausgeblendet wird. Sind solche Ursache-Wirkungs-Zu-sammenhänge einmal entworfen, werden sie unhinter-fragt als gegeben angenommen. Denn schlussendlich muss sich der Statistiker für ein bestimmtes Modell ent-scheiden und mit diesem rechnen. Hinzu kommt, dass die Datenbasis statistischer Berechnungen allzu häufig geschätzt, lückenhaft und uneindeutig ist. Es wäre nun zu kurzsichtig, die Statistik an den Pranger zu stellen und ihr jeden Wert abzusprechen. Ein guter Statistiker ist sich sehr wohl der Grenzen seiner Möglichkeiten bewusst, denn Fehlinterpretationen und Aussagekraft von Statistiken werden fachintern ausgie-big diskutiert. Das Problem ist vielmehr der inflationäre Gebrauch „statistischer Begründungen“. Gerade weil heute alle Entscheidungen einen nachvollziehbaren Grund vorweisen müssen, sucht man insbesondere bei unabsehbaren, riskanten, weitreichenden Entschlüssen nach argumentativem Beistand. Angezogen von der wissenschaftlichen Seriosität und den bezifferbaren Er-gebnissen der Statistik ist ihr Missbrauch nahe liegend.

Der Vergangenheit eine derart wichtige Rolle zuzu-schreiben und auf der Grundlage ihrer Analyse die wil-desten – und profitabelsten – Finanzmarktspekulationen vorzunehmen, zeigt, dass die Statistik längst Instrument eines ökonomisierten Historizismus geworden ist. Allzu verlockend ist die Vorstellung, künftige Entwicklungen, seien sie wirtschaftlicher oder politischer Natur, auf Ba-sis solider Erkenntnisse aus der Vergangenheit vorher-sagen zu können. Professor Friedrich Nietzsche fürchte-te seinerzeit, dass die Historie zum Selbstzweck werde, dass der Mensch nichts tut, als „fortzuleben, wie er ge-lebt hat, fortzulieben, was er geliebt hat, fortzuhassen, was er gehasst hat und die Zeitungen fortzulesen, die er gelesen hat, für ihn giebt es nur eine Sünde – anders zu leben als er gelebt hat“. Eine Geschichtsbetrachtung, die bloß nach der Befolgung von Gesetzmäßigkeiten sucht, ist für ihn lebensfeindlich. Es fehle ihr an Vitalität, Fruchtbarkeit, Lebendigkeit, an der Begeisterung für das Ereignis, das kreative Erschaffen der Welt. Es bleibt paradox: Das große Geld ist nicht mit visionären Ideen, bahnbrechenden Handlungen und ver-rückten Köpfen zu machen. Der Rubel rollt dort, wo ein-gefahrene Handlungen von Massen erkannt, aufrecht-erhalten und damit vorhergesagt werden. Je weniger Veränderung in den Massen, desto berechenbarer der Markt und der Profit. Einst rief Nietzsche aus: „Wie, die Statistik bewiese, dass es Gesetze in der Geschich-te gäbe? Gesetze? (…) So weit es Gesetze in der Ge-schichte gibt, sind die Gesetze nichts wert.“ Zumindest dies scheint widerlegt. Nichts ist uns heute mehr wert als unsere Routinen.

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größte Erstversicherungskonzern der Welt, durfte man nicht pleite gehen lassen und so übernahm der US-amerikanische Staat knapp 80 Prozent des Unternehmens. Der neue Eigentümer wollte natürlich wissen, was er sich da ans Bein gebunden hatte. Genau an dieser Stelle kam BlackRock ins Spiel, das vom Staat beauftragt wurde, den Wert der toxischen Wertpapiere zu ermit-teln. Aber wie bewertet man diese künst-lichen Papiere, für die es an den Börsen keine Preise mehr gibt, weil kein Mensch mehr weiß, was sie noch wert sind, und die somit auch nicht gehandelt werden? Ganz einfach, man entwickelt mathematische Modelle und schätzt anhand von Statis-tiken (siehe Vom Nutzen und Nachteil der Statistik auf Seite 26) ihren Preis. Und wieder wiederholt sich die Ge-schichte. Waren es nicht solche hypotheti-schen Annahmen, welche die letzte Blase auf den Finanzmärkten hervorgebracht hatten? Bereits im Jahr 2010 versicherte mir ein Mitarbeiter der Federal Reser-ve Bank of New York, dass die riskan-ten Finanzprodukte weiterhin kreiert und gehandelt werden. Die Nachfrage nach diesen Produkten ist ungebrochen, weil man mit als sicher geltenden Anlagen (wie beispielsweise deutschen Staatsanleihen) kein Geld mehr verdienen kann. Mit ande-ren Worten: Es herrscht seit Längerem ein regelrechter Anlagenotstand; man weiß einfach nicht, wohin mit dem vielen Geld – wie man auch beim Börsengang von Fa-cebook gesehen hat, als dieses gerade ein-mal acht Jahre alte Unternehmen mit über 100 Milliarden US-Dollar bewertet wur-de. Ein weiteres wunderbares Beispiel, zu welch absurden Entwicklungen dieser An-lagenotstand inzwischen geführt hat, liest man in einem Artikel des Monatsmagazins le monde diplomatique: „In Los Angeles zum Beispiel wundert sich der Makler Mark Alstom über eine merkwürdige Ent-wicklung: Die Häuserpreise zogen wieder an (…): von Oktober 2012 bis Oktober 2013 um satte 20 Prozent. Unter normalen Marktbedingungen zeigen steigende Preise eine wachsende Nachfrage an. Aber hier war es anders, denn die Zahl der individu-ellen Hausbesitzer ging zurück.“ Sprich, es werden zwar vermehrt Häuser gekauft, in diesem Fall aber vor allem von einem Käu-fer. Und wen wundert es, dass dieser neue Besitzer unser alter Bekannter – nein, nicht Herr Saccard! – BlackRock ist, der durch seine Tochterfirma Invitation Homes in den letzten Jahren über 40.000 Häuser in den USA gekauft hat. Wie wir wissen, ist

BlackRock ein Profi, wenn es um die Be-wertung seltsamer Wertpapiere geht. Fol-gerichtig war man beim Kauf dieser vielen Häuser auch besonders findig: Um Kapital für den Kauf der Häuser einzusammeln, nahm man nicht einfach Kredite auf, son-dern kreierte kurzerhand eine ganz neue Wertpapierklasse – die mietbesicherten Wertpapiere. Nicht mehr die Immobilien selbst dienen hierbei als Sicherheit für den Kredit, sondern die Mieteinnahmen, die man durch die Immobilien erzielen kann! Die Erwartungen an Invitation Homes sind hoch, denn schließlich muss sich die Firma nun als Immobilienverwaltungsge-sellschaft beweisen, die zuverlässig Mieten einnimmt, um damit die Kredite bedienen zu können. Ein großes Projekt, sicherlich, aber kein großartiges. Denn mit einem solchen Ge-schäftsmodell kann man heute die Fantasie nicht mehr in Wallung versetzen. Zu frisch ist noch die Erinnerung an die vielen ge-platzten Blasen, die immer mehr Verlierer produziert haben und produzieren. Zu unglaubwürdig klingen heute die Verspre-chungen der Finanzwirtschaft, dass sie al-lem und jedem Leben einhauchen kann. Wenn es jedoch nicht einmal mehr mittels der magischen Kräfte der Finanzwirtschaft gelingen kann, die „Erde umzukneten“, wie dann? Wie können heute großartige Pro-jekte aussehen, welche die Leidenschaften zum Lodern bringen? Auch wenn ich da-rauf keine Antwort geben kann, wünsche ich mir doch, dass die künftigen Projekte weniger selbstzerstörerisch angelegt sind als all jene, mit deren Folgen wir zu kämp-fen haben. Mithin lautet die Frage: Wie könnte eine Zukunft aussehen, die uns wieder erwartungsfroh stimmt? ■

Federal Reserve Bank of New York

Diese Bank ist ihrem Vermögen nach die größte der zwölf US-amerikanischen Region-albanken. Sie ist Teil des Zentralbankensys-tems der USA und hat insofern die üblichen Aufgaben von Zentralbanken zu erfüllen. Darunter fallen in erster Linie die Ausgabe der Landeswährung, die Erledigung der Bankgeschäfte der Regierung sowie die Ab- wicklung der bedeutendsten Devisentrans- aktionen des Staates. In ihren Tresoren lagert mit rund 8.000 Tonnen die weltweit größte Menge an Barrengold.

Vom Autor empfohlen:

SACHBUCH

Nassim Nicholas Taleb: Fooled by Random-ness: The Hidden Role fo Chance in Life and in the Markets (Penguin, 2007)

KEIN SACHBUCH

Ein frei zugängliches Dossier der Le Monde diplomatique zur Finanzkrise: http://www.monde-diplomatique.de/pm/.dossier/finanzkrise

ROMAN

Natürlich Émile Zola: Das Geld; aber auch: Andreas Eschbach: Eine Billion Dollar (Bastei Lübbe, 2003)

FILM

Fight Club von David Fincher (1999)

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Gestatten, Müll

— Der lange Schatten

des Menschen

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Portrait

Gestatten, Müll

— Der lange Schatten

des Menschen

Nachdem der Mensch sich aufgerichtet und somit beide Hände frei hatte, begann er Dinge wegzuwerfen: Bananenschalen, abgenagte Knochen, abgenutzte Faustkeile, zerbrochene Pfeilspit-zen. Der Müll folgte dem Menschen wie ein treuer Gefährte. Wo immer er kampierte und Feuer machte, ließ der Mensch ihn wieder zurück. Aber nie wurde er ihn auf Dauer los. Manches verrottete, anderes blieb Jahre und Jahrtausende erhalten, sodass die Archäologie, die durch die Erde hindurch zurück in die Ver-gangenheit blickt, die ersten Spuren des Menschen in seinem Müll entdeckte. Noch bevor er Felswände bemalte, Gräber aushob oder sich gar zum Bau von aufwendigen Palästen anhalten ließ, machte der Mensch Müll.

Text: Christian Unverzagt

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Die Ansammlung des MüllsSchon früh war Müll zweierlei: das Unbrauchbare und das Unreine. Letzteres bedeutet, dass der Mensch sich nicht nur aus Platzgründen von seinem Müll trennen musste. Lange Zeit waren es vor allem Religionen, die Gebote zur Reinhaltung und Reinigung erließen. Sie konnten nicht ein für alle Male erfüllt werden, denn Abfall ist das, was permanent anfällt. So auch die Reinigung von ihm. Rhythmisch wie das Ein- und Ausatmen muss sie sich wiederholen. Der Mensch lebt im Rhythmus von Müll machen und Müll entsor-gen. Während sich Hygienemaßnahmen gegen das Unreine allmählich von der Religion lösten, wurde die Entsorgungstechnik immer wichtiger. Als Menschen sich in Siedlungen und schließlich Städten ansammelten, zeigte auch der Müll – wie ein Double des Men-schen – seinen Hang zur Ansammlung, der sich noch heute an jeder wilden Müllkip-pe beobachten lässt. Der Müll forderte seine Infrastruktur, die mit den Städten wuchs: Müllhaufen wurden ausgelagert, sortiert, kompostiert, deponiert, verbrannt, dann wur-den Straßen gepflastert und regelmäßig gereinigt, Kloaken wurden angelegt etc. Wie ein länger und länger werdender Schatten begleitete der Müll den Menschen.

Das katastrophische Auftauchen des MüllsDie Geschichte des Mülls verläuft jedoch nicht linear. Müll will vergessen werden. Er ist das Nicht-Thema schlechthin. Das erfordert immer wieder Bewusstseinssprünge, die durch Skandale erzwungen werden. Eine Konstante in der Geschichte des Mülls ist sein katastrophisches Auftauchen. Im Jahre 1185 ließ der französische König Philipp II. die wichtigsten Straßen von Paris pflastern, nachdem er durch aufsteigendes Faulgas einen Ohnmachtsanfall erlitten hatte. An anderen Orten und zu anderen Zeiten waren es Pest und Cholera, die den Stadtbewohnern die Notwendigkeit einer organisierten Müllentsor-gung erneut vor Augen führten. Im 20. Jahrhundert wurde der Fortschrittsoptimismus der Industriegesellschaft zum ersten Mal in den 60er-Jahren mit dem Hinweis auf die Begrenztheit ihrer Ressourcen gedemütigt. Noch bevor man daran dachte, dass eines Ta-ges das Erdöl ausgehen könnte, war der Raum für den Abfall knapp geworden. Deponien waren überfüllt, überall entstanden wilde Müllkippen – und mit ihnen Gefahr für Leib und Leben der Bevölkerung. Massenproduktion und Massenkonsum unter dem Vorzeichen unbedingten Wachs-tums hinterließen ihre Spuren. Mit dem rein quantitativen Anwachsen des Müllbergs ging aber noch eine andere Gefahr einher: Die Industriegesellschaft hatte die Stoffzu-sammensetzung der Dinge verändert. Noch vor den großen Unfällen von Seveso (1976) und Tschernobyl (1986) drangen durch lokale Skandale Botschaften einer neuen Gefahr ins gesellschaftliche Bewusstsein. Konnte in vorindustrieller Zeit der ausgelagerte Müll als verschwindendes Phänomen behandelt werden, so war er nun zur problematischen Materie geworden. Der Müll erschien plötzlich als unbezähmbares Ungeheuer, das den Lebensraum des Menschen bedrohte, als giftige Hydra, der zwei Häupter nachwachsen, wenn man ihr eines abschlägt.

Vermeiden – Verwerten – VerschwindenlassenDer Mensch nahm den Kampf auf. Gegen den Müll, den er zunächst als Feind behandel-te, besann er sich auf Strategien – die zwar nicht wirklich neu waren, aber neu entdeckt, erneuert und neu angewendet wurden. Das Nächstliegende schien zu sein, Müll einfach zu vermeiden. Allerdings enthüllte die Idee der Müllvermeidung auf den zweiten Blick, dass sie genauso groß wie unrea-listisch ist. Diese Idee, heute als Textbaustein unverzichtbar, liefe bei ihrer Realisierung auf ein Vermeiden der Industriegesellschaft selbst hinaus. Diese Einsicht führte zu der Erkenntnis, dass der Müll, der eben noch als Feind des Menschen identifiziert worden war, plötzlich als sein Alter Ego erschien. Bei der Vorstellung eines Lebens ohne Müll entdeckte der Mensch, dass jener zu seiner Würde gehört. Bedeutet nicht: mehr Müll = mehr Mensch? Die australischen Ureinwohner hatten außer einfachen Grabstöcken und Bumerangs kaum Dinge, entsprechend kaum Müll. Sie waren der Meinung, dass die Dinge irgendwann Besitz von den Menschen ergreifen würden; die Industriegesellschaft ist es nicht. Es kann also nur um eine Vermeidung des Mülls „im Rahmen des Möglichen und Machbaren“ gehen. Dieser Rahmen lässt zurzeit am Industriestandort Deutschland jährlich rund 385 Millionen Tonnen Müll zu.

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Die Einsicht, dass man den Müll nicht vermeiden kann, weil er zur Conditio humana gehört, kann als der große Augenöffner einer Epoche betrachtet werden, die durch öko-logische Erkenntnisse in tiefe Selbstzweifel gestürzt worden war. Auf einmal taten sich versöhnliche Perspektiven auf. War der Kampf mit dem Müll nicht ein Bruderkampf mit Hoffnung auf Befriedung? Es ist doch eine Welt, in der wir leben, eine Erde, der wir alle – Mensch und Dinge – entstammen. Dieser Gedanke stand Pate bei der Lieblingsidee der Epoche, dem Recycling. Der Traum: dass sich alles wiederverwerten lässt; dass mithilfe der Technik es an uns ist, die Materie als Müll oder als Rohstoff zu definieren; dass sich ein Kreislauf von Ver- und Entsorgung schließen lässt. Aber: Zum einen blieben zu viele Produkte durch ihre Stoffzusammensetzung von der Möglichkeit des Recyclings ausgeschlossen. Zum andern sind mit dem Recycling Kosten und ein erneutes Müllaufkommen verbunden, bei unter Umständen leicht degenerierten Produkten. So sammelt sich der Müll weiter an. Ließen sich die in Deutschland produzierten 385 Millionen Müll-Tonnen in große Fässer verpacken, reichten sie mehrfach um den Äqua-tor. Dafür aber ist der Äquator nicht gedacht. Die Menge muss reduziert werden, und für den Rest müssen andere Orte gefunden werden. Müllverbrennungsanlagen (MVAs) und Deponien sollen in der strategischen Aufstellung gegen den Müll wie zwei Backen einer Zange zusammenwirken. Müll-Verbrennung gab es schon in der Steinzeit. Bereits damals setzte man periodisch Müllhalden in Brand, wahrscheinlich weniger, um ihr Volumen zu reduzieren, als mehr, um der Geruchsbelästigung und der Ungezieferplage Herr zu werden. Die erste moder-ne MVA wurde 1870 in England (Paddington) in Betrieb genommen. Richtig in Gang kam die Müllverbrennung aber erst mit der Konsumgesellschaft. 1971 waren es in West-deutschland schon 30 MVAs, im Jahr 1981 dann 42. Im Jahr 2008 hatte man auf 71 er-höht. Wie kam es zu diesem Boom? Durch heutige MVAs lässt sich 1. die beim Verbren-nungsvorgang freigesetzte Energie in Strom oder Heizwärme umsetzen; 2. wird durch die Verbrennung eine Volumenreduktion des Mülls auf 30 Prozent, manchmal sogar auf bis zu 10 Prozent erreicht.

«Der Müll erschien plötzlich als unbezähmbares Ungeheuer, das den Lebensraum des Menschen bedrohte, als giftige Hydra, der zwei Häupter nachwachsen, wenn man ihr eines abschlägt.»

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Fotos: Gabriel Gerlinger

Gerald Hörhan

Gerald Hörhan, geboren 1975 in Wien, studierte am Harvard College Mathematik und Betriebswirtschaft. Er arbeitete als Investmentbanker für JPMorgan Chase & Co. in New York und als Unternehmens-berater für McKinsey & Company in Frank- furt. Er ist Eigentümer und Vorstand des international tätigen Corporate Finance Unternehmens Pallas Capital Holding AG.

2011 gründete er zusammen mit Harald Psaridis „Die Finanzschule“, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Privatpersonen öko- nomisches Grundwissen zu vermitteln, um sie unabhängiger von gesellschaftli-chen wie wirtschaftlichen Umwälzungen zu machen. Zuletzt erschien von ihm das Buch Null Bock Komplott (edition a, 2013).

Die unsichtbaren

Fesseln–

Interview mit Gerald Hörhan

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Interview

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Herr Hörhan, in Ihrem jüngsten Buch ist häufig von einem System die Rede, genauer einem Kontrollsystem, das die Menschen ihrer Freiheit beraubt und die Wirtschaft erlahmen lässt. Was ist das für ein System?

Dieses System zeichnet sich durch eine Vielzahl dummer und undurchführbarer Gesetze und Verordnungen aus. Es wird von einem Staat getragen, der versucht, für jede Lebens-lage solche Vorgaben zu schaffen und deren Umsetzung zu überwachen. Außerdem for-dert das System, dass sich der Bürger an dieser Überwachung beteiligt: Man wird dafür belohnt, dass man andere Bürger verpetzt, Stichwort technische Überwachungsapparate oder Compliance Officer. Das gab es schon einmal in der DDR, das sogenannte Spitzel-wesen. Und das wird jetzt wieder neu erfunden – nur mit wesentlich effizienterer Tech-nologie. Dadurch wird die individuelle Freiheit massiv eingeschränkt.

Andererseits: Bedarf es in manchen Bereichen – Stichwort Finanzmarktauf-sicht, Schattenbanken oder Steueroasen – nicht noch strengerer Regulie-rungen, wenn uns beim Platzen der nächsten Blase nicht alles um die Ohren fliegen soll?

Ja, wir brauchen Regulierung, aber eine zielgerichtete. Was ich kritisiere, ist die völlige Überregulierung, die in allen gesellschaftlichen Bereichen zu beobachten ist. In Deutsch-land gibt es 20 verschiedene regionale Verordnungen zum Hundeführerschein oder zur Länge der Hundeleinen. Wie kann es sein, dass man sich bei diesem Thema nicht auf eine klare Vorschrift einigen kann? Aber auch die ganzen Regulierungen auf dem Finanzmarkt gehen am Ziel vorbei. Das Ziel einer Bank sollte doch sein, die Kunden möglichst gut zu kennen, um dadurch abschätzen zu können, ob sie in der Lage sind, einen Kredit zurückbezahlen oder nicht. Aber dies gerät mehr und mehr aus dem Blick. Stattdessen müssen die Banken sich in-zwischen mit Regulierungsvorschriften befassen – Stichwort Basel III –, die zum Teil so komplex sind, dass sie niemand mehr versteht. Bezüglich der Steueroasen und Schat-tenbanken muss man leider konstatieren, dass Europa da ohnehin nichts machen kann – jedenfalls solange nicht, bis die EU ihre Gerichtsbarkeit nicht auch auf die Steueroasen ausdehnt, wie das die USA vorgemacht haben. All die Restriktionen, die stattdessen vor-genommen werden, bringen nichts. Noch einmal: Wir brauchen Regulierungen, aber die müssen einfach und zielge-richtet sein. Was wir jedoch erleben, ist eine Entmündigung der Bürger in allen Berei-chen. Diese Entmündigung wird dann unter dem Label „Schutz des Bürgers“ verkauft – Anlegerschutz, Konsumentenschutz, Mieterschutz etc. Zugleich wird der Bürger kri-minalisiert: Es ist ja fast nicht mehr möglich, durch den Tag zu gehen, ohne zahlreiche Verordnungen zu verletzen.

Sind nicht viele dieser Regulierungen, zum Beispiel was den Anlegerschutz oder den Mieterschutz angeht, gerade deshalb entstanden, weil Bürger übervorteilt oder nicht ausreichend informiert wurden?

Die meisten Bürger verstehen nicht, was Freiheit bedeutet. Freiheit bedeutet auch, dass man für die Konsequenzen seiner Entscheidungen Verantwortung übernimmt. Die Be-reitschaft dazu ist aber immer weniger vorhanden. Das hat dazu geführt, dass man kaum noch jemandem ein vernünftiges Anlageprodukt verkaufen kann. Es ist doch bezeich-nend, dass genau jene Anleger, die auf eine hohe Rendite aus waren, sich dann über einen zu geringen Schutz beschwert haben, als sie mit dem Verlust ihrer Investitionen kon-frontiert wurden – und dabei oft noch zu ihrer Entlastung vorbrachten, sie hätten dieses riskante Finanzprodukt gar nicht verstanden. Ein anderes Beispiel für diese Mentalität: Es wäre doch vernünftig, wenn ein Hun-debesitzer einem Passanten Schmerzensgeld zahlen muss, wenn dieser von seinem Hund gebissen wird. Heute haben wir Gesetze erschaffen, die präventiv sicherstellen sollen, dass sich dem Hund nicht einmal mehr die Gelegenheit bietet, jemanden beißen zu können. Das erhöht den Verwaltungsaufwand ungemein und bringt trotzdem nicht das gewünschte Ergebnis. Denn Hunde beißen natürlich weiterhin. Vielleicht kommt man demnächst auf die Idee, ein Bellverbot oder eine Lärmbeschränkung für bellende Hunde zu erfinden. Da sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt.

BASEL III

Mit Basel I, Basel II und Basel III werden Maßnahmenpakete zur Bankenregulie-rung bezeichnet. Entwickelt wurden diese Regulierungsmaßnahmen vom Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht, der 1974 von den Zentralbanken der G10-Staaten in Basel gegründet wurde. Ihm gehören derzeit Vertreter aus 27 Ländern an: Repräsentanten der Zentralbanken und der Aufsichtsbe-hörden der Mitgliedsstaaten. Da der Baseler Ausschuss nur Empfehlungen aussprechen kann, obliegt die Um- setzung der Maßnahmen den natio- nalen Behörden. Im Jahr 1988 wurde das 30 Seiten starke Dokument Basel I verabschiedet. Es galt als Meilenstein der Bankenauf-sicht, wurden doch erstmals weltweit Mindeststandards für die Eigenkapital-unterlegung der Banken festgelegt. Dementsprechend müssen Banken mindestens acht Prozent ihres Eigen- kapitals im Verhältnis zu ihren Kredit- positionen einbehalten. Im Jahr 2004 wurde mit Basel II eine Reform des ersten Entwurfs veröffent-licht, der 347 Seiten umfasste. Denn durch neue Finanzinstrumente und Methoden der Kreditrisikosteuerung konnten die Eigenkapitalanforderun-gen leicht umgangen werden. Da auch dieses Reformpaket die Finanzkrise nicht verhindern konnte, wurde 2010 die Reform der Reform, Basel III, veröffentlicht, die 616 Seiten umfasst und deren Regeln schrittweise von 2013 bis 2019 eingeführt werden sollen. Banken müssen demzufolge ihre Kreditgeschäfte mit mehr eigenem Kapital von besserer Qualität absichern. Der Vorstand der Bank of England, Andrew Haldane, führte in seinem Vortrag „The dog and the frisbee“ im Jahre 2012 aus, dass diese Vorschriften für eine international tätige Bank mehrere Millionen Berechnungen nach sich zieht, wenn die Risiken richtig eingeschätzt werden sollen. Berechnun-gen, für die Unmengen von Daten benötigt werden. Da jedoch keine Bank der Welt über diese Daten verfügt, müssen in vielen Fällen Schätzungen vorgenommen werden. Ob dieses Vor- gehen das Bankgeschäft sicherer macht, darf Haldane zufolge bezweifelt werden.

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Gerald Hörhan

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Auf zu neuen Ufern! Wie lässt sich eine andere gesellschaftliche

Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen

herbeiführen? HH O R I Z O N T

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Just do it!—

Das Schicksal verändernText: Slavoj Žižek

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Illustrationen: Carlos García-Sanchodedesign.tumblr.com

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Hier werden Forschungsergebnisse präsentiert, die neue Denkräume eröffnen.Stellen Sie Ihre Arbeit bei uns vor: [email protected]

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C A P I TA L I S B A C K :W E A LT H - I N C O M E R AT I O S

I N R I C H C O U N T R I E S1 7 0 0 – 2 0 1 0 *

—T h o m a s P i k e t t y G a b r i e l Z u c m a n

*Erschienen in: Quarterly Journal of Economics, vol.129, no.3, 2014

FragestellungWie entwickelt sich langfristig gesehen privates Vermö-gen (Kapital) in Relation zum Wirtschaftswachstum?

DatenerhebungDie Autoren erstellen eine Datenbank mit Daten aus volkswirtschaftlichen Bilanzen, die bis ins Jahr 1700 zurückreicht.

Ergebnis Die Analyse der Daten zeigt, dass das private Ver-mögen schneller wächst als die Wirtschaft. Die Fol-ge: Man nähert sich einer Vermögensverteilung an, wie sie für das 18. und 19. Jahrhundert typisch war.

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ZUSAMMENFASSUNG DES ARTIKELS

Zum ersten Mal in der Geschichte der Ökonomik werden derartig umfangreiche Daten zur Entwick-lung von Vermögenswerten auf der einen und dem Wirtschaftswachstum auf der anderen Seite analy-siert. Dabei ist das Wirtschaftswachstum der Grad-messer für die Verdienstmöglichkeiten, die man durch Arbeit erzielen kann (income). Im Gegensatz dazu stehen die Einnahmen, die durch Vermögens-werte (wealth) erzielt werden können. Das besonde-re Augenmerk in dem Artikel gilt der Entwicklung des Verhältnisses von wealth und income, da sich aus diesem Verhältnis Aussagen darüber ableiten lassen, wie sich die Verteilung des Vermögens in der Gesellschaft entwickelt.

In allen untersuchten Ländern konnten die Autoren feststellen, dass die Bedeutung des Vermögens gegenüber der Bedeutung des Werts der Arbeit zu- nimmt. Damit nähert man sich strukturell einer Ver-teilungssituation an, die man in Europa im 18. und 19. Jahrhundert beobachten konnte. Die Gründe hierfür sind den Autoren zufolge in den Preissteige-rungen von Vermögenswerten (ihrerseits verursacht durch die wirtschaftliche Erholung der Nachkriegs-jahre) sowie darin zu finden, dass die Bevölkerung kaum mehr wächst und auch die Produktivität nicht mehr so stark zunimmt wie früher.

1 . D I E D AT E N G R U N D L A G E

—Die Grundlage dieser Analyse stellen Daten nation- aler statistischer Ämter dar. Für die Jahre 1970 bis 2010 entsprachen diese in den allermeisten Fäl-len bereits dem U.N. System of National Accounts (kurz SNA), einem von den Vereinten Nationen ver-öffentlichten Standard zur Erstellung Volkswirt-schaftlicher Gesamtrechnungen. Insofern sind die-se Daten direkt miteinander vergleichbar. In den Fällen, in dem die Daten von diesen Standards ab- wichen, wurden sie bestmöglich angepasst. Dies gilt auch für die Daten vor 1970, die im Falle Frank-reichs bis ins Jahr 1700 zurückreichen.

Durch Daten abgedeckter Gesamtzeitraum

Verfügbare jährliche Daten

Zehnjährige Schätzungen

USA 1770-2010 1869-2010 1770-2010

Japan 1960-2010 1960-2010

Deutschland 1870-2010 1870-2010

Frankreich 1700-2010 1896-2010 1700-2010

Großbritannien 1700-2010 1855-2010 1700-2010

Italien 1965-2010 1965-2010

Kanada 1970-2010 1970-2010

Australien 1970-2010 1970-2010

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2 . D A S V E R H Ä LT N I S W E A LT H - I N C O M E

—Im Zentrum der Argumentation steht die Formel Ɯ = s/g, die das Verhältnis (Ɯ = „Beta“) von wealth (private Vermögenswerte) und income (Einkommen) angibt. Dabei steht das „s“ im Zähler nicht für das Ver-mögen als solches, sondern vielmehr für den Zu- wachs des Vermögens pro Jahr. Dabei beinhaltet der Begriff Vermögen natürlich Geld, umfasst dar-über hinaus aber auch jegliches Vermögen, das (in der Regel) problemlos verkauft werden kann: Im- mobilien, Land, Aktien, Anleihen oder andere Wert-gegenstände. Auch das „g“ im Nenner steht für eine Zuwachs-rate – in diesem Fall für das Wachstum der Wirt-schaft, das mittels des Bruttoinlandsprodukts ge- messen wird und die Summe aller Einkommen in einer Volkswirtschaft (Arbeits- und Kapitaleinkom-men) darstellt. Auch das „g“ im Nenner steht für eine Zuwach- srate – in diesem Fall für das Wachstum der Wirt-schaft, das mittels des Bruttoinlandsprodukts ge- messen wird und die Summe aller Einkommen in einer Volkswirtschaft (Arbeits- und Kapitaleinkom-men) darstellt. Folglich gibt jeder Wert über 100% an, dass der Wert des bloßen Vermögens schneller steigt als die Wirtschaft wächst. Ist das der Fall, heißt das, dass die Bedeutung von Vermögen (Grund, Boden, Maschinen, Aktien) als Zugewinnfaktor gegenüber dem Einkommen als Zugewinnfaktor zunimmt. Bei einem Ɯ von 400%, sprich einem s=4% und einem g=1%, nimmt der Zugewinn durch Vermögen 4-mal so stark zu wie der Zugewinn durch steigende Ein-kommen. Entsprechend könnte der Vermögende drei Viertel des Wertzuwachses seines Vermögens verpulvern und dennoch würde sein Vermögen im Gleichschritt mit der Wirtschaft wachsen.

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4 . B L A S E N B I L D U N G

—Steigt das Beta überproportional stark an, können dadurch Vermögensblasen identifiziert werden. Dies kann man sehr gut anhand der Werte für Japan in den 90er-Jahren und der Werte für Spanien in den Nullerjahren nachvollziehen.

3 . W E A LT H - I N C O M E V O N 1 9 7 0 B I S 2 0 1 0

—In allen untersuchten Ländern konnten die Autoren zwischen 1970 und 2010 einen Anstieg von Ɯ fest-stellen – von circa 200 bis 300% im Jahr 1970 auf 400 bis 600% im Jahr 2010. Dabei fällt die Entwicklung von Ɯ in zwei Län-dern besonders auf: So verzeichnete Japan den stärksten Anstieg der wealth-income-Rate (von un-ter 300% im Jahr 1970 auf über 700% im Jahr 1990). Da in das Privatvermögen auch Immobilienpreise einfließen, lässt sich dieser Anstieg mit der Immo-bilienblase in den 90-Jahren in Japan erklären. Deutschland hingegen verzeichnete einen Anstieg von 200% im Jahr 1970 auf knapp über 400% im Jahr 2010. Somit driften in Deutschland die Vermö-genszuwächse im Vergleich zu den Zugewinnen durch Arbeit weniger auseinander als in den mei-sten anderen Ländern. Die Autoren erklären diese Unterschiede unter anderem mit dem starken Einfluss der Gewerkschaften, der dafür sorgt, dass die Unternehmenspolitik nicht ausschließlich dar-auf ausgerichtet ist, die Profite der Eigentümer zu maximieren. Entsprechend führt dies dazu, dass die Aktien deutscher Unternehmen weniger wert sind als jene vergleichbarer Unternehmen in ande-ren Ländern.

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5 . Z U R Ü C K I N S 1 8 . J A H R H U N D E RT ?

—Es ist unmöglich, den Anstieg von in reichen Län-dern zwischen 1970 und 2010 zu verstehen, ohne diese Periode in einen größeren historischen Kon-text zu setzen. Die Frage, die sich die Autoren gestellt haben, ist, ob die niedrigen Ɯ-Werte, die man zwischen 1945 und 1970 beobachten konnte, im historischen Kontext eher die Regel oder eher die Ausnahme darstellen. Vergleicht man die nied-rigen Betawerte in diesen Jahren mit den langfri-stig erhobenen Daten (die beispielsweise in Frank-reich bis ins Jahr 1700 zurückreichen; siehe Ab- bildung), zeigt sich, dass die Nachkriegsjahre die Ausnahme darstellen. Auch wenn sich die Ɯ-Werte zunehmend jenen des 18. Jahrhunderts annähern, lässt sich – nicht nur in Frankreich – beobachten, dass im Unterschied zum 18. Jahrhundert der größ-te Zuwachs im Bereich der Vermögenswerte bei den Immobilien zu verzeichnen ist.

6 . T H E O R I E & P R A X I S

—Die hier vorgestellte Studie hat weitreichende Kon-sequenzen zum einen für die ökonomische Theo-rie und zum anderen für die Politik. So zeigen die Ergebnisse, dass eine der grundlegenden Annah-men der neoklassischen Theorie – die Investition von Kapital führt zu steigendem Wachstum – nicht zwangsläufig zutrifft. Ferner muss die Gesellschaft eine Antwort auf die Frage finden, wie man mit der zunehmenden Ungleichverteilung des Vermögens umgehen will – und insofern mit der Entwicklung hin zu einer Oligarchie. Eine Entwicklung, die durch die gängige Erbschaftspraxis noch verstärkt wird.

1700 1750 1780 1810 1850 1880 1910 1920 1950 1970 1990 2000 2010

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Net foreign assets Other domestic capital Housing Agricultural land

The changing nature of national wealth: france 1700 – 2010

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N A C H G E F R A G T

—Unsere Fragen beantwortete Gabriel

Zucman.

As wealth becomes more and more concentrated in the hands of a few: Would there be viability in abolishing the right to inherit?In principle we could abolish the right to inheritance by taxing all inheritances at a rate of 100%. However that would not be desirable. I think it’s good to allow people to leave bequests to their child-ren in general. But you’ve got to find the right balance between the altruism of parents, who naturally want to help their children, and our meritocratic values. The right balance probably involves high taxes on very big inheritances (of several millions euros and more). For half a cen-tury (from the Great Depression to the late 1970s) the U.S. has taxed large esta-tes at more than 70-80%. It would not be absurd to come back to such a system.

To correct the rising inequality of wealth and income you suggest pro-gressive taxation. What do you think about the elimination of the interest rate on capital?I don’t favor the elimination of the inte-rest rate on capital. Simply put, it’s not possible: there would be no reason for saving, and thus no capital in the eco- nomy. Now capital is useful, it helps pro-duce more. For a given distribution of wealth, it’s always better to have more capital in the economy – more and bet-ter houses, more and better machines that can do lots of useful things, etc. And for that, we need a positive interest rate. The main problem, then, is how to make sure that capital is not too un- equally distributed – and here, taxes play an important role.

In a democracy one has the right and the duty to fight for ones rights. As not many people fight against rising inequality, can we conclude that it is democratically legitimised?

«For half a century (from the Great Depression to the late 1970s) the U.S. has taxed large estates at more than 70-80%. It would not be absurd to come back to such a system.»

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I don’t agree with your premise that „not so many people fight against rising ine-quality“. When you vote for a govern-ment, for a Parliament that enacts tax laws, in effect you vote for some types of redistributive policies. Our tax and transfer systems do achieve a fair amount of redistribution – one that might be insufficient in many ways, but still, one that makes today’s societies fundamen-tally different from the aristocratic socie-ties of the past.

Capitalism was for many years much more than an economic system – it was the promise, that everybody can better his conditions of life, that there will be endless progress, that there will be liberation from feudalistic structures etc. In view of environmen-tel destruction and neofeudalistic tendencies: Is the dream over? And what comes next?The capitalist dream is not over – but capitalism needs to be reformed. If capi-tal taxes go to zero and nothing is done to seriously deal with climate change, then yes there’s a serious risk of witness- ing a return to extreme wealth inequali-ties in the decades ahead, and extreme environmental damage. However, we’re not doomed. Our capitalist and demo-cratic societies can prevent these outco-mes from happening, with the right poli-cies, in particular by taxing wealth and taxing carbon emissions.

Do you consider initiatives like The Giving Pledge, that was initiated by Bill Gates and Waren Buffet, as a possibility to reduce the concentration of capital?Charitable giving can help reduce the concentration of capital, but it would be a grave mistake to rely on that force only. Today, despite all the pledges made, the wealth in US private foundati-ons is only 1% of total household wealth – and no more than 5% of the wealth of the top 0.1% of the population. Chari-table giving is not substitute for pro-gressive taxation.

Gabriel ZucmanGabriel Zucman hat Wirtschaftswissenschaften studiert und ist Assistant Professor an der Lon-don School of Economics.

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