AIKIDO-WURZELN UND -ZWEIGE · zum Lernen brauche und wie ich sie gern unterrichte. ... Aus...

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1 Adapted from: Peter Schettgen (Hrsg.): Kreativität statt Kampf – Aikido-Erweiterungen in Theorie und Praxis. ISBN 3-937210-00-8. © 2003 www.ziel-verlag Paul Linden AIKIDO-WURZELN UND -ZWEIGE: Methoden zur Bildung von Körperbewusstsein und ihre Anwendung im alltäglichen Leben Überblick: 1. Einführung 2. Grundlegende Körperbewusstseinsübungen 2.1 Atmung 2.2 Haltung 2.3 Bewegungsmechanik 2.4 Absichtlichkeit 3. Anwendungen 3.1 Musik 3.2 Computergebrauch 3.3 Gartenarbeit 3.4 Schwangerschaft 3.5 Sport 3.6 Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen 3.7 Genesung nach sexuellem Missbrauch 3.8 Friedensstiftung 3.9 Aikido 4. Schlussfolgerungen

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Adapted from: Peter Schettgen (Hrsg.): Kreativität statt Kampf – Aikido-Erweiterungen in Theorie und Praxis. ISBN 3-937210-00-8. © 2003 www.ziel-verlag

Paul Linden

AIKIDO-WURZELN UND -ZWEIGE:

Methoden zur Bildung von Körperbewusstseinund ihre Anwendung im alltäglichen Leben

Überblick:

1. Einführung

2. Grundlegende Körperbewusstseinsübungen

2.1 Atmung

2.2 Haltung

2.3 Bewegungsmechanik

2.4 Absichtlichkeit

3. Anwendungen

3.1 Musik

3.2 Computergebrauch

3.3 Gartenarbeit

3.4 Schwangerschaft

3.5 Sport

3.6 Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen

3.7 Genesung nach sexuellem Missbrauch

3.8 Friedensstiftung

3.9 Aikido

4. Schlussfolgerungen

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Paul Linden

Paul Linden

AIKIDO-WURZELN UND -ZWEIGE1:

Methoden zur Bildung von Körperbewusstsein und ihre Anwendung im alltäg-lichen Leben

1. Einführung

Neulich unterbrach ich den Unterricht in meiner Kinder-Aikidogruppe und stellteeine Frage: „Wie heißt die Hauptstadt von Texas?“ Ohne zu zögern, schrien alle Kin-der zusammen: „Hüften!“. Der Witz in unserer Gruppe besteht darin, dass alle Fra-gen im Aikido die gleiche Antwort haben: „Hüften“; und so wussten die Kindergleich, wie sie auf meine Frage über Texas zu antworten hatten. In der gleichen Weisegibt es einige einfache, grundlegende Aikido-Ideen/Prozesse, die bei der Beantwor-tung fast jeder Wie-Frage in allen Lebensbereichen hilfreich sein können. Als einprofessioneller Körperarbeiter bringe ich diese Prozesse außerhalb des Aikido ganzverschiedenen Leuten mit einer großen Bandbreite von Interessen und Bedürfnissenbei. Das Wesentliche dieser Übungen ist Fülle, das heißt, präsent und offen zu seinbeim Atmen, in der Haltung, in der Bewegung und in der Absichtlichkeit. Was im-mer Sie tun, Sie werden es besser tun, wenn Sie in Ihrem Körper präsent sind.

Das Konzept der Fülle und die Methoden, um sie zu erreichen, sind im Aikidohäufiger implizit als explizit. Es war im Aikidotraining, wo ich die Gelegenheit hatte,mich selbst in Bewegung zu studieren. Aikido war mein Labor zum Entwickeln undTesten meiner Ideen und Methoden zum Training von Körperbewusstsein. Aikidowies mir die Richtung der Fülle. Jedoch, die Konzepte und Übungen werden im All-gemeinen nicht in der spezifischen, systematischen Weise dargestellt, wie ich siezum Lernen brauche und wie ich sie gern unterrichte. Schließlich musste ich mei-ne eigenen Trainingsmethoden entwickeln. Diese Trainingsmethoden betonen dasAufbrechen von komplexen, globalen Prozessen in modulare Einheiten der Übungund Aneignung von Fertigkeiten.

Wie kam ich zu diesen Übungen? Ich fing 1969 an, Aikido zu üben, und ich warziemlich unbeholfen, als ich begann. Ich lebte wirklich nicht effektiv in meinem Geist-körper, und die Aikidotechniken waren zu komplex und subtil für mich. Mir wurde

1 Dieser Beitrag ist original unter dem Titel „Aikido Roots and Branches: Body Awareness Methods and TheirApplications in Daily Life“ erschienen (Aiki Thought Papers, An Aiki Extensions Publication, No. 2, Spring).

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nach und nach klar, dass ich etwas lernen musste, was noch viel grundlegender warals die körperlichen Verteidigungstechniken. Ich erarbeitete mir ein paar grundle-gende Geist/Körper-Übungen, die mich befähigten, effektiver mit dem Aikidotrainingzu beginnen. Dann stellte ich fest, dass diese Praktiken mir halfen, meine Effektivitätim alltäglichen Leben zu verbessern. Ich bemerkte schließlich, dass diese Praktikenfür andere Aikidoka auch hilfreich waren. Und später fing ich an, jene Geistkörper-Übungen außerhalb des Aikido zu lehren und wurde ein berufsmäßiger Körpererzieher.

Als ich Leute außerhalb des Aikido unterrichtete, fand ich, dass die Geistkörper-Bewusstseins-Trainingsmethoden, die ich entwickelt hatte, in hohem Ausmaß wir-kungsvoll beim Verbessern des Handelns in jedem Lebensbereich sind. Sie fußen aufein paar einfachen, aber weitreichenden Ideen/Erfahrungen über die Funktionsweisedes Geistkörpers.

1. Körperausrichtung (Haltung) und Körpergebrauch (Bewegungsstil) sind die kon-kreten Manifestationen der Philosophie eines Menschen in bezug auf sein Selbst/die Welt/sein Handeln.

2. Emotionen und Wahrnehmung sind physische Aktionen, die im Körper ablaufen.

3. Absichtlichkeit ist das, was Haltung und Bewegung formt.

4. Die Angriffs/Verteidigungs-Interaktion ist ein exzellentes Modell für alle proble-matischen Situationen. Die gängige Antwort auf eine Herausforderung bestehtim Zusammenziehen, Verbiegen und Verhärten der Atmung, der Haltung und derBewegung. Diese Verhärtung ist die somatische Aktion von Abgetrenntheit, Iso-lation, Angst, Ärger und Anstrengung.

5. Es ist möglich, die Aktion der Verhärtung des Körpers durch die Absicht/die Ak-tion zu ersetzen, den Körper zu öffnen. In den Termini der „Absichtlichkeit“ (oderdes „Ki“) wäre dies ein expansiver, ausstrahlender, symmetrischer Status der Ab-sicht. In der Begrifflichkeit von „Haltung“ wäre das ein vertikaler Status der Aus-richtung, bei dem die Wirbelsäule und der Kopf effektiv vom Becken und denBeinen gestützt werden. Aus psychologischer und spiritueller Sicht wäre dies eineIntegration von Bewusstsein, Kraft, Liebe und Freiheit.

6. Dieser Status der offenen Integrität ist die Basis für effektives Denken und Han-deln in jedem Lebensbereich.

Im Folgenden werde ich Beispiele zeigen, wie ich diese Ideen und Übungen ineiner Reihe von scheinbar verschiedenen Arbeitsbereichen angewendet habe: Mu-sik, Computerergonomie, Gartenarbeit, Schwangerschaft, sportliche Leistung, Ar-beit mit Kindern mit Aufmerksamkeitsdezifit-Syndrom, Genesung nach sexuellemMissbrauch und Friedensstiftung. Und, natürlich, in bezug auf den Aikidounterrichtselbst.

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Jede dieser Anwendungen verdient eine ganze Abhandlung oder sogar ein gan-zes Buch für sich selbst, aber ich glaube, dass ein kurzer Überblick klar machenwird, wie einige grundlegende Elemente auf eine große Vielfalt von Aufgaben an-gewendet und wie auf Aiki beruhendes Körpergeist-Training auf Alltagstätigkeitenausgedehnt werden kann. Detaillierte schriftliche Beschreibungen der Körperer-ziehung, die ich lehre, benötigen ein gehöriges Maß an Platz – mehr Platz als hierangemessen wäre. Jene Leser, die daran interessiert sind, genauer zu erfahren, wiedie Techniken funktionieren, finden eine detaillierte und ausführliche Beschrei-bung der von mir entwickelten Methoden der Körpererziehung sowie ihrer An-wendungen in unterschiedlichen Lebensbereichen in den Artikeln und Büchernauf meiner Webseite.

Um einen Eindruck von den Methoden zu vermitteln, nach denen ichKörperbewusstsein und effektive Bewegung unterrichte, werde ich im nächsten Ab-schnitt Beispiele aus einigen der grundlegenden Körperbewusstseinsübungen, die ichbenütze, kurz beschreiben. Wirksamer Körpergebrauch ist die Basis für mühelose,effektive Bewegungen zum Verrichten von Aufgaben, und er ist auch die Grundlagefür emotionales Zentrieren und Klarheit im Denken. Die vier Schlüsselelemente inden Methoden, mit denen ich arbeite, sind Atmung, Haltung, Bewegungsmechanikund Absichtlichkeit. Im dritten Abschnitt des Artikels werde ich aufzeigen, wie dieseMethoden in verschiedenen Bereichen des täglichen Lebens angewendet werdenkönnen.

2. Grundlegende Körperbewusstseinsübungen

Den systematischen Prozess des Lehrens von Körperbewusstsein, den ich entwik-kelt habe, nenne ich Being in Movement(r) Mindbody Training (BIM), und das istes, was die Grundlage meines Lehrens sowohl im und außerhalb von Aikido bildet.BIM ist ein erzieherischer Prozess, der praktische Bewegungsexperimente verwen-det, um Menschen zu lehren, ihren Körper als ihr Selbst zu untersuchen; dabei er-forscht BIM die zugrundeliegenden Verbindungen zwischen struktureller/funktio-naler Effizienz, emotionaler/spiritueller Ganzheit und sozialer Gerechtigkeit. Indemman untersucht, wie Atmung, Haltung und Bewegung gleichzeitig Gedanken, Ge-fühle und Absichten formen und von diesen geformt werden, lehrt BIM die Men-schen, wie sie die zugrundeliegenden Ideen, die ihre Bewegungen regeln und ein-schränken, entdecken, und wie sie effektivere Handlungsstrategien entwickeln kön-nen – Strategien, die auf Geistkörper-Integrität beruhen.

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2.1 Atmung

Wenn Menschen mit einer Schwierigkeit oder einer Herausforderung konfron-tiert werden, hält typischerweise ihre Atmung an. Die Einengung des Atems ist einSchlüsselelement in der Erfahrung, nicht gut genug zu sein, und freier zu atmen istdie Basis für Wirksamkeit. Um Schülern die Fülle des Atems beizubringen, fange ichdamit an, dass ich sie aufstehen und den Bauch abwechselnd anspannen und „her-ausfallen“ lasse. Dann fordere ich sie dazu auf, ihre Bäuche los zu lassen, ohne dasssie sie vorher angespannt haben. Menschen empfinden im Allgemeinen eine spürba-re Befreiung, obwohl sie ihre Bäuche vorher nicht bewusst angespannt haben, und eswird ihnen damit klar, dass sie sich unbewusst angespannt haben, und dass sie sichwahrscheinlich die ganze Zeit angespannt halten. Ich lasse sie ihre Bäuche berührenund mit ihrer Atmung experimentieren, bis sie herausfinden, wie man die Einatem-bewegung in die Bauchgrube fallen lässt, indem der Bauch und der untere Rückenebenso wie die Brust sich ausdehnen, wenn sie einatmen. Dies ist genau das Gegen-teil des Atemmusters in Zusammenhang mit Angst oder Ärger, in welchem der Bauchangespannt und die Brust während des Einatmens erhoben bleibt.

Um Menschen eine klare Erfahrung von der Wirkung der Einengung des Atemszu vermitteln, lasse ich sie sich hinstellen und einem leichten Schieben an den Schul-tern Widerstand leisten, zuerst während sie den Atem zusammenziehen, und dann,während sie den Atem weich und voll werden lassen. Menschen stellen bereitwilligfest, dass sie sehr viel stabiler sind, wenn sie mühelos atmen. Angst/Ärger-Atmungmacht uns zu einem leichten Opfer.

2.2 Haltung

Müheloses Atmen ist der Anfang der Erfahrung von Haltungsstabilität, die fürdas Entwickeln des Gefühls von Effizienz und Leichtigkeit ausschlaggebend ist. Ichbeginne an der Haltungsstabilität zu arbeiten, indem ich die Menschen fühlen lasse,wie man sich aus einer schlappen Haltung aufrichtet. Die meisten Leute meinen,dass das Aufrichten durch ein Nachhintenwerfen der Schultern oder durch Anspan-nung des Rückens geschieht, und praktisch niemand bemerkt, dass der ganze Vor-gang sich um die Rotation des Beckens abspielt. Wenn das Becken nach hinten (dieRichtung, in der die Eingeweide über den hinteren Rand der Beckenschale hinaus-schwappen würden) kippt, hat der Stapel von Wirbeln kein Fundament, auf dem ersich abstützen kann, und er sackt zusammen. Durch Nachvornekippen – in der an-

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gemessenen Weise – des Beckens wird ein Fundament für die Wirbelsäule und denOberkörper als Ganzes errichtet und so wird aufrechte Haltung erzeugt.

Die meisten Menschen kippen das Becken nach vorne, indem sie die an derOberfläche sitzenden Muskeln im Rücken benützen, um am hinteren Rand desBeckens hochzuziehen. Ich lasse Schüler diese Erfahrung machen, indem sie ihreSchulterblätter und hinteren Hosentaschen zusammenziehen, und sie spüren, wieihr Rücken sich biegt und ihre Haltung angespannt und bleischwer wird.

Um die effektivste Art zu finden, wie man in eine aufrechte Sitzhaltung gelangt,bitte ich die Schüler, zusammenzusacken und zu beobachten, dass, wenn sie dies tun,die Schambeinsymphyse (der Knochen vorne am Becken, direkt über den Genitali-en) nach oben zeigt. Die beste Art, das Becken nach vorne zu kippen, besteht darin,dass man die Schambeinsymphyse nach vorne und unten bewegt, so dass sie zumBoden zeigt. Um diese Bewegung auszuführen, werden die Iliacus- und Psoas-Mus-keln (tief sitzende Muskeln vorne) gebraucht. Diese neue Sitzhaltung erzeugt eineanstrengungsfreie Stabilität und eine körperliche Empfindung von Heiterkeit undKraft, die das Gegenteil der Zusammenziehung darstellt, die durch Schwäche undUnfähigkeit produziert wird.

Der nächste Schritt bei der Entwicklung der Haltungsstabilität ist für die meistenMenschen ziemlich überraschend: es ist die Entwicklung eines liebenden Herzens(vgl. Schwarzmayr, in diesem Band). Ich helfe den Menschen, das zu verstehen, in-dem ich sie bitte, sich eine Situation vorzustellen, in der sie mit einem Chef zu tunbekommen, der antagonistisch, kritisch und respektlos ist; dann lasse ich sie die kör-perlichen Veränderungen beobachten, die sie erfahren. Im allgemeinen fühlen dieLeute einen Druck in der Brust, einen kurzen Atem und andere Spannungsgefühleüberall im Körper. Dann lasse ich sie sich etwas oder jemanden vorstellen, das/derihr Herz zum Lachen bringt. Dies kehrt nicht nur die Veränderungen um, die durchdie Vorstellung der unangenehmen Situation entstanden sind, sondern erzeugt auchEmpfindungen der Entspannung, Wärme, Weichheit und Offenheit in der Brust2.Diese Empfindungen des „Warmherzigseins“ sind der körperliche Ausdruck der Lie-be. Nicht nur dass die Brust weicher wird, sondern der ganze Körper wird freier undvereinter, und dies verbessert den Körpergebrauch und die koordinierte Freisetzungvon Kraft bei jeder Tätigkeit. Natürlich, wenn man Liebe zu einem Bestandteil derKraft macht, stellt das auch sicher, dass die Kraft weise und konstruktiv verwendetwird.

2 Ich habe diese Übung von Stephen Levine gelernt, der mit Herzmeditationen arbeitet. Siehe sein Buch Who Dies?Conscious Living and Conscious Dying [A.d.Ü.: Wer stirbt? Bewusstes Leben und bewusstes Sterben], Anchor Books,Garden City, 1982.

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Kraft und Liebe sind wirklich unzertrennlich – im Gegensatz zu dem Modell, dasunsere Kultur unterstellt. Liebe ohne Kraft ist schlaff und unwirksam. Und Kraftohne Liebe ist rigide und streng. (Hier benutze ich die Begriffe in ihren üblichenBedeutungen, so als ob sie zu trennen wären.) In jedem dieser Fälle wird die Liebeoder die Kraft bis zu dem Punkt verkleinert, an dem sie nur noch ein Schatten undüberhaupt keine wahre Liebe oder Kraft mehr ist. Kraft ist das Fundament für dieFähigkeit zu lieben, und Liebe ist das Fundament für den weisen Gebrauch von Kraft.Das ist keine reine Philosophie, sondern einfach eine schnelle Methode, um darzu-

stellen, dass der Körper und das Selbst weichund empfänglich, sowie auch integriert undstark sein müssen, um gut zu funktionieren.

2.3 Bewegungsmechanik

Haltungsstabilität ist die Grundlage fürdie Fähigkeit, sich mit Kraft und Grazie zubewegen. Gehen bietet sich als passendesMittel an, um mit dem Studium der Bewe-gung zu beginnen, da die Gehbewegungengrundlegende Bestandteile von vielen ande-ren Tätigkeiten sind.

Um die Wahrnehmung der Menschen füreinen effizienten Gang zu entwickeln, lasseich sie aus dem Stand gegen eine Wand drük-ken, wobei die Füße weit genug von derWand entfernt sein müssen, damit der Kör-

per sich etwas nach vorne neigt. Gewöhnlich glauben die Leute, dass sie mit denArmen und Schultern gegen die Wand drücken, und sie bemerken den Beitrag derBeine und Hüften nicht. Ein Weg, hier für Klarheit zu sorgen, besteht darin, dassman sie die Knie nur ganz wenig beugen und danach die Beine schnell streckenlässt, so als ob sie versuchten, den Boden nach hinten weg von der Wand zu schie-ben. Während sie das tun, beobachten sie, dass die Kraft, die über die Hände an dieWand weiter gegeben wird, zunimmt. Dies hilft ihnen, zu verstehen, dass die Bo-denhaftung der Füße und das Nach-hinten-und-unten-Schieben mit den Beinendas ist, was den Schub nach vorne auf die Wand bewirkt. Diese Einsicht wandeltihr Bewusstsein dahingehend um, dass sie ihre untere Körperhälfte als aktiv undkraftvoll empfinden.

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Wenn Schüler nun mit diesem neuen Bewusstsein gehen, verändert das ihrenGang. Wenn sie einen Schritt nach vorne tun und mit dem Ballen des hinterenFußes übertrieben stark nach unten und hinten drücken, gibt ihnen das eine neueGangerfahrung. Die nach hinten/unten gerichtete Energie wird vom Boden zurück-reflektiert als eine nach vorne/oben gerichtete Bewegung des Körpers. Sie habeneinen Boden, auf dem sie stehen können, ein Fundament für sich selbst. Ihre Hal-tung öffnet sich nach oben. Ihr Gang wird aufrechter, klarer und entschlossener.Die Menschen verstehen Gehen oft eher als ein Hinunterfallen auf ihren vorderenFuß, und nicht als ein Nach-oben-Springen von ihrem hinteren Fuß; aber wenn sieso gehen, hängen sie durch und fallen nach unten. Ihre Energie erschlafft. Dieneue Art des Bewegens ist mechanisch effizienter und kraftvoller. Sie ist auch vielselbstsicherer und munterer.

Das Ziel und das Ergebnis der Atem-, Haltungs- und Bewegungsmechanik-übungen ist es, Menschen zu helfen, die Natur wahrer Kraft im Körper zu erfahren.Wahre Kraft ist weich, fließend, fokussiert und liebend.

Gehen und gleichzeitig auf Atmung, Haltung, den Gebrauch der Beine und Her-zenswärme zu achten, ist ein Weg, wie man einen Zustand der Vollständigkeit undGanzheit praktiziert.

2.4 Absichtlichkeit

Ein anderes Element im Prozess der Entwicklung von Befähigung und Ganzheithat mit Absichtlichkeit zu tun. Absicht ist der Vorgang, der Haltung, Bewegung undHandeln formt. Indem man Menschen hilft, unmittelbar zu erfahren, dass ihre Hand-lungen an Absicht gebundene Grundlagen haben, schafft man eine Möglichkeit, siesowohl dazu zu bewegen, Verantwortung für ihre Reaktionen zu übernehmen, alsauch ihnen zu zeigen, wie sie ihre Reaktionen verbessern können.

Um eine brauchbare Definition für „Absicht“ zu erstellen, lege ich etwas – zumBeispiel einen Bleistift – etwa drei Meter vor einen Schüler/eine Schülerin hin undgebe ihm/ihr die Anweisung, ihn haben zu wollen. Ich bitte den Schüler, wirklich zubeabsichtigen, hinzugehen und den Bleistift zu holen. Es muss ein echtes Wollensein. Es muss im Körper gefühlt werden.

„Wollen“ heißt nicht nur einfach daran denken oder wirklich gehen und den Bleistiftholen. Es ist eine aufrichtige somatische Empfindung des Wunsches. Die meistenMenschen können ein authentisches Gefühl des Wollens erzeugen, wenn sie sichdarauf konzentrieren, obwohl viele dafür eine persönliche Anleitung benötigen. Wasich erreichen möchte, ist, den Körper einfach die Erfahrung des Wollens machen zulassen und darauf natürlich und spontan zu reagieren.

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Sobald die Leute dieses Gefühl erzeugen können, fühlen sie sich gewöhnlich „unfrei-willig“ zu dem Bleistift hingezogen. Für die meisten Leute wird diese Bewegung einleichtes Hin zu dem Bleistift sein, vielleicht ein Drittel eines Zentimeters oder so,obwohl einige Leute sich tatsächlich mehr bewegen werden. Die meisten Menschenwerden empfinden, daß der Bleistift eine Art „Magnet“ ist, der sie sanft zu sich hin- zieht. (Einige Leute werden sich von dem Bleistift weg bewegen, was gewöhnlich einAusdruck der Notwendigkeit ist, die eigenen Sehnsüchte abzulehnen.)

Wenn man ein Bild von einer Bewegung hat und beabsichtigt, diese auszuführen,schickt das Gehirn Nervenimpulse zu den Muskeln, die diese Bewegung ausführenwerden. Die Muskeln können mit einer Reihe von Möglichkeiten reagieren, voneiner kaum merklichen Anspannung bis zu einem Alles-oder-Nichts-Zusammenzie-hen. Wie dem auch sei, selbst unterhalb der Schwelle des für die meisten Menschenkaum Wahrnehmbaren, gibt es noch immer physische Aktivität, die leisesten Re-gungen der Muskeln. Man könnte diese leisen, gewöhnlich nicht wahrnehmbarenAnspannungen „Mikrobewegungen“ nennen. Alles was man tun muss, ist, sich zuwünschen, sich in irgendeine Richtung zu bewegen, und der Körper wird anfangen,diese Bewegung auszuführen: entweder auf einem Mikroniveau oder auf größere,offensichtlichere Weise.

Die Bleistift-Haben-Wollen-Übung ist ein Weg, Menschen zu helfen, die Mikro-bewegungen, welche die kleinen Anfänge der Tätigkeit des Bleistiftholens sind, zufühlen und zu bemerken. Wenn man Menschen helfen will, dieses ungebrocheneKontinuum vom Gedanken zur Bewegung wahrzunehmen, ist der Punkt, ihnen ge-nau bewusst zu machen, dass es keine Trennung zwischen Geist und Körper gibt.Etwas zu beabsichtigen, heißt anfangen es zu tun. Und jeder Tätigkeit liegt die Ab-sicht, diese Tätigkeit auszuführen, zugrunde, obgleich Menschen sich der Willens-grundlage ihres Handelns oft nicht bewusst sind. (Um es genauer zu sagen: Jedekomplexe Tätigkeit hat als Grundlage eine Absicht. Einfache Reflexbewegungen ent-stehen nicht aus Absichten.) Dadurch, dass Menschen Absicht als Grundlage vonTätigsein erfahren, werden sie dahingehend bewegt, Verantwortung, für das, was sietun, zu übernehmen.

Darüber hinaus ist die Arbeit auf dem subtilen Niveau der Absichtlichkeit (zu-sätzlich zu den offensichtlicheren Elementen wie Atmung, Haltung und Bewegung)hilfreich beim Ersetzen von ineffektiven Tätigkeiten durch effektivere. Durch dasGewahrwerden der ersten leisen Regungen von Entscheidungen zur Durchführunggewohnheitsmäßiger, ineffektiver Tätigkeiten und deren Ersetzung durch die Ab-sicht, effektivere Tätigkeiten auszuführen, können Menschen bessere Reaktions-gewohnheiten einüben und lernen.

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Der Arbeit, die ich mit Atem, Haltung, Bewegungsmechanik mache, liegt ein Ide-al zugrunde, das ein optimales, von Absichten gesteuertes Funktionieren beschreibt.Als allgemeine Regel gilt, dass wir dann am effektivsten funktionieren, wenn sichder Geistkörper in einem symmetrischen, expansiven Zustand befindet.

Die Atemübung nach sechs Richtungen ist eine Möglichkeit, die Absicht desAusweitens zu üben. Ich lasse die Leute mit geschlossenen Augen ruhig sitzen. Zu-erst passen sie Haltung und Atmung an. Dann atmen sie zum Zentrum ihres Körpersdirekt unter dem Nabel ein. Und wenn sie ausatmen, versuchen sie eine regelmäßigeSteigerung zu erreichen, indem sie ihren Atem nach außen in die sechs kardinalenRichtungen schicken. Sie atmen durch die Nase ein und durch den Mund aus, miteinem Atemzug für jeden Richtungsschwerpunkt, sie atmen sanft nach unten, nachoben, nach rechts, nach links, nach vorne, nach hinten und dann atmen sie in allesechs Richtungen gleichzeitig aus.

Diese Übung ist eine Möglichkeit, zu trainieren, wie man ein offenes, symmetri-sches, expansives Bewusstsein des ganzen Körpers erhält. Mehr noch als das: es isteine Möglichkeit, mit dem Gefühl, ganz in der Welt zu sein, Verbindung aufzuneh-men. Angst, Ärger, Hilflosigkeit etc. erzeugen dunkle Flecken oder Verdrehungenund Asymmetrien im Empfinden des Energie-/Aufmerksamkeitsfeldes des Körpers.Jene Lücken im Feld zu finden und wieder Leben in sie hineinzuatmen, ist eine Mög-lichkeit, sich daran zu erinnern, ganz im Körper zu leben, im Jetzt, in der Welt. Mankann die Übung ausführen, indem man gleichzeitig vom Herzen und vom Bauch ausprojiziert, und so den Fokus erweitert, um sowohl Liebe wie auch Kraft einzuschliessen.

Diese Atemübung ist hilfreich, weil sie den Menschen einen Sinn für das grundle-gende Niveau vermittelt, auf dem Entscheidung oder Absicht wirkt, um den Körperund das Verhalten zu strukturieren. Sie gibt ihnen ein Werkzeug an die Hand, mitdem sie verschiedene Formen des Seins üben können. Und während sie mit diesemWerkzeug Fertigkeiten erwerben, können sie es uneigennützig in herausforderndenSituationen verwenden, um alte Muster zu unterbrechen und durch neue, wirksa-mere zu ersetzen.

3. Anwendungen

Die kombinierte Arbeit mit Atmung, Haltung, Bewegung und Absichtlichkeiterzeugt den Geistkörper-Zustand der Fülle. Dieser Abschnitt über Anwendungendes Körperwahrnehmungstrainings wird zeigen, wie jener Zustand der Fülle in un-terschiedlichen Bereichen eingesetzt werden kann. Wir werden mit einfacherHaltungsarbeit anfangen und mit Entwicklungs- und Gefühlsschwierigkeiten fort-

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fahren. Diese Themen scheinen grundsätzlich verschieden zu sein, aber aus der Per-spektive, die das menschliche Wesen als ein körperliches Ganzes sieht, sind dieseThemen im Prinzip die gleichen. Sie können behandelt werden, indem man die Kon-zepte der „Geistkörper-Ganzheit“ und „-Fülle“ heranzieht.

Haltungsfehler, psychologische Aspekte, spirituelle Fragen und Probleme bei derVerrichtung von Aufgaben bilden ein unteilbares Ganzes. Selbst ein sehr einfachesphysisches Problem kann Elemente von emotionalen und spirituellen Schwierigkei-ten in sich versteckt haben. Zum Beispiel ist der Grund, warum eine Person – wennsie läuft – die Hüften verschließt, eventuell der, dass sie als Kind sexuell missbrauchtwurde, und andauernd ein gleichbleibend hohes Spannungsniveau in ihrem Beckenaufrechterhält. Es ist oft der Fall, dass eine physische Aufgabe, die ein Schüler ver-bessern möchte, ohne die Lösung eines emotionalen Elementes nicht geändert wer-den kann. Ähnlich verhält es sich, wenn ein Schüler emotionale oder spirituelleSchwierigkeiten lösen möchte: da muss zuerst die Körperhaltung, welche der physi-sche Ausdruck jener Schwierigkeit ist, gelockert und geändert werden, damit einepsychospirituelle Änderung beginnen kann. Der körperliche Zustand von Freiheitund Gleichgewicht ist die konkrete Erweiterung des emotionalen und spirituellenZustands von Ganzheit und Frieden.

3.1 Musik

Die zwei Fotos von einer Flötenspielerin (siehe unten) zeigen ihre ursprünglicheSpielhaltung (Foto Nr. 1) und ihre Haltung am Ende der dritten Stunde (Foto Nr.2). Ich habe dieselbe zusammengesackte Haltung bei Geigenspielern, Pianisten, Töp-fern, Zahnärzten, Computerbenutzern und anderen Leuten gesehen, die in einersitzenden Position arbeiten.

Um zu spüren, wie ein Zusammensacken die Bewegungseffizienz beeinträchtigt,versuchen Sie bitte, zusammenzusacken, Ihre Arme zu heben und sie hin und her zubewegen. Dann rollen Sie Ihr Becken nach vorne, um sich selbst in eine aufrechtereSitzposition zu bringen, und versuchen Sie wieder, Ihre Arme hin und her zu bewe-gen. Es ist leicht zu spüren, wie ein Zusammensacken die Atmung einschränkt unddas Bewegen der Arme anstrengender macht. Aufrechtsitzen gibt größeres Wohlbe-finden und Effizienz bei der Unterstützung der Haltung. Es ist unmöglich, auf diesemgedruckten Papier die wunderbare Klangverbesserung zu vermitteln, die eintritt, wennein Musiker oder eine Musikerin seinen oder ihren Körper mit mehr Effizienz ge-braucht.

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Nr. 1 Nr. 2

Die Flötenspielerin hatte ein relativ einfaches Problem. Trotzdem, was wie eineinfaches Haltungsproblem aussieht, kann oft wichtige Schichten versteckter Be-deutung enthalten. Ich habe einmal mit einem Jazzpianisten gearbeitet, der Stundennahm, weil ihm während des Spielens Schmerzen in seinem rechten Arm das Spielenunmöglich machten. Die Stunden beinhalteten ein faszinierendes Zusammenspielzwischen der Arbeit mit der Körpermechanik des Pianisten und den emotionalen,kulturellen und philosophischen Bedeutungen, die seiner Körpermechanik zugrun-de lagen.

Am Anfang unserer ersten Stunde bemerkte ich, dass die linke Schulter des Pia-nisten höher war als seine rechte, und dass er sein linkes Bein mehr für die Gewichts-unterstützung gebrauchte. Wenn er spielte, saß er zusammengebeugt über der Tasta-tur. Ich entschied, den Schwerpunkt unserer Stunden darauf zu legen, wie man amKlavier in einer entspannten, ausgeglichenen und aufrechten Haltung sitzt. Nach-dem ich ihm die freie Haltung des Aufrechtsitzens gezeigt hatte, wurde ihm klar, dasser bei dem Versuch, stark und hart sein zu wollen in vielen seiner Bewegungen über-mäßige Spannung aufbaute. Diese Idee, dass Stärke hart und schwer ist, ist in unse-rer Kultur natürlich sehr verbreitet. Als ich ihm zeigte, wie er Sanftheit als Basis fürStärke benützen konnte, begann er beim Spielen weniger Schmerzen zu empfinden.

Am Anfang einer Stunde bemerkte ich, daß er – wenn er wirklich in die Musikeintauchte - sich hinunter über die Tastatur krümmte, genauso wie er es gemachthatte, als ich ihn zum ersten Mal sah. Als ich ihn danach fragte, sagte er, dass er nichtgerne mit aufrechtem Kopf und offenem Körper spielte, weil er als Jazzpianist oft inBars spielte. Die Leute im Publikum waren häufig betrunken und unsympathisch,und sein unwiderstehlicher Wunsch war es, sich ins Klavier und in die Musik zuverkriechen, um so eine Schranke zwischen sich und seinem Publikum aufzubauen.Indem ich ihm zeigte, wie sanfte Stärke eine Basis für effektive Grenzkontrolle seinkonnte, half ich dem Klavierspieler zu erfahren, dass Offenheit und Verletzlichkeiteine bessere Verteidigung als Härte und Abwehrhaltung waren.

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In einer weiteren Stunde sagte er, dass die Haltung des Sich-über-das-Klavier-Beugens, des In-die-Tasten-Hineinkriechens, Teil der Art und Weise war, wie Jazz-pianisten spielten. Er erklärte, dass dies mit dem wesentlichen Prozess der Jazz-improvisation zu tun hatte. Weil er kein niedergeschriebenes, vorgefertigtes Musik-stück zum Spielen hatte, konnte er nicht mit einem Plan hineingehen, sondern musstesich der Gunst der Stunde anvertrauen. Der gute Pianist, sagte er, lehne nahe amInstrument, um hineinzukommen, richte seine Aufmerksamkeit weg von den Raum-geräuschen und hinein in den Klang des Klaviers. Er versuche, die nächsten Noten,die er spielen würde, zu finden, indem er sich auf das Instrument als die entscheiden-de Quelle für den nächsten musikalischen Gedanken konzentriere.

Ich wies ihn darauf hin, dass seine musikalischen Gedanken eigentlich aus derTiefe seines Selbst herausströmten. Indem er die Quelle der musikalischen Gedan-ken im Instrument plazierte, verlor er zu einem gewissen Grad die Erfahrung seinesinneren Selbst. Um in einer aufrechten Haltung spielen zu können, war es notwen-dig, dass er seine Idee von dem, was die Gedankenproduktion verursachte, veränder-te. Sobald er in der Lage war, die neue physische Haltung als eine Grundlage desDenkens einzunehmen, war er auch in der Lage, neue Kraft und Empfindsamkeit imkreativen Prozess zuzulassen. Zusätzlich verminderte die neue Form noch die Bela-stung seines Arms.

3.2 Computergebrauch

Dieser Abschnitt über Computer-gebrauch bringt ein Beispiel, wieKörperbewusstseinstraining in Ge-schäftswelt und Industrie angewendetwerden kann. Ich habe auch zahlreichePräsentationen für Physiotherapeutengehalten über anstrengungsfreie Arten,Massagen zu erteilen, und ich habeFabrikfließbandarbeiter gelehrt, wie siesich bewegen sollen, um Anspannungund Ermüdung zu vermindern. In einerweiteren, nur scheinbar davon verschie-

denen, Anwendung habe ich für Firmen auch das Thema „Konfliktmanagement“präsentiert, welches, wie Sie später lesen können, damit anfängt, dass man eine aus-geglichene Haltung findet.

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Adapted from: Peter Schettgen (Hrsg.): Kreativität statt Kampf – Aikido-Erweiterungen in Theorie und Praxis. ISBN 3-937210-00-8. © 2003 www.ziel-verlag

Es ist offensichtlich, dass die gleiche aufrechte Sitzhaltung, die bei der Flötenspielerindemonstriert wurde, auch beim Computergebrauch wichtig ist. Wenn Sie Stundenam Computer sitzend verbringen, und Sie nicht so sitzen, dass Ihr Körpergewicht alsBlock direkt nach unten auf Ihren Stuhl fällt, setzen Sie Ihre Muskeln und Gelenkeeiner beachtlichen Spannung aus.

Das Design und die Anordnung des Arbeitsplatzes orientieren sich amKörperbewusstsein. Die Stuhlhöhe entspricht der Länge der Unterschenkel plus Dickeder Schuhsohlen. Mit dieser Höhe sind die Oberschenkel und das Becken frei undim Gleichgewicht. Der Stuhl ist gepolstert, aber nicht weich und schwammig; erversorgt den Körper mit einer soliden Stütze. Beachten Sie bitte auch, dass die Sitz-fläche flach und sehr leicht nach vorne geneigt ist. Wenn sie schaufelförmig undnach hinten geneigt wäre, wie es leider gebräuchlich ist, würde sich das Becken ehernach hinten neigen, als dass es waagerecht wäre, und die Wirbelsäule wäre nichtrichtig gestützt.

Sobald der Stuhl den Körper angemessen stützt, kann der Rest des Arbeitsplatzesarrangiert werden. Die Arme sollten an den Ellbogen abgewinkelt werden; wären dieArme ausgestreckt, würde das das Gewicht erhöhen, das die Schultermuskeln hal-ten müssten. Sobald die Ellbogen abgewinkelt sind, bestimmt das die Höhe derSchreibtischoberfläche, und die Entfernung, die der Stuhl vom Schreibtisch habensoll. In einer Nussschale sollte die Tastatur direkt unter den Händen untergebrachtwerden; die Hände sollen sich niemals nach der Tastatur ausstrecken müssen. Inähnlicher Weise sollte der Monitor dort plaziert sein, wo natürlicherweise der Blickhinfällt; der Kopf sollte sich niemals an die Monitorposition anpassen müssen. Dadie gebräuchliche Tastatur die Cursorkontrolltasten und den Zahlenteil rechts hat,sollte die Maus links sein (für gewöhnliche Zeige- und Klickaktivitäten). Plaziertman die Maus rechts, bedeutet das, dass der rechte Arm vom Körper weggestrecktwird, und das verursacht merkliche Anspannung.

Ich habe ein Buch mit dem Titel Comfort at Your Computer: Body Awareness Trai-ning for Pain-Free Computer Use [A.d.Ü.: Wohlbehagen am Computer:Körperbewusstseinstraining für schmerzfreien Computergebrauch] geschrieben. DasBuch bietet einiges mehr an Informationen über sicheren Computergebrauch, ein-geschlossen solche Dinge wie Arbeit an Computer-Steharbeitsplätzen und Laptops.Der Schlüssel ist das Körperbewusstsein. Sobald Sie wissen, wie Sie Ihren Körper ineinen Zustand des Gleichgewichts, des Wohlbefindens, der Kraft und der Freiheitbringen können, werden Sie in der Lage sein, ein Arbeitsplatzdesign zu schaffen, dasIhren Körper dabei unterstützt, diese physische Integrität beizubehalten.

Paul Linden

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3.3 Gartenarbeit

O’Sensei praktizierte Aikido und betrieb Landwirtschaft. Ich habe Aikido undorganische Gartenarbeit über 30 Jahre lang ausgeübt. Innerhalb der ersten Zeit, alsich mit Aikido begann, fing ich auch an, mir Gedanken darüber zu machen, wie ichAikidobewegungen auf Gartenarbeiten übertragen konnte. Ein früher Artikel, denich über Aiki-Erweiterungsarbeit veröffentlichte, war ein Artikel, den ich 1978 überGartenarbeit schrieb.

Das erste Foto zeigt die typische Art undWeise, wie Menschen hacken. Sie benützendie Arme und den Rücken, um die Bewe-gung zu erzeugen und die Hacke zu führen.Aber die Arme sind relativ schwach und derRücken der Spannung ausgesetzt. Zusätz-lich drückt diese Haltung die Atmung zu-sammen, was das physische Unbehagennoch erhöhen wird. Beachtet Sie bitte auch,dass mein Bewusstsein sichtbar auf die obe-re Körperhälfte und den engen Ausschnitt,indem sich die Hacke und mein Ziel befin-det, beschränkt ist.

Nr. 1

Denken Sie zurück an die vier Themen zur Körperwahrnehmung, über die ichvorher gesprochen habe. Weil der Platz beschränkt ist, kann ich nicht in die ganzenEinzelheiten gehen, wie ich Fülle als Fundament für kraftvolles, effizientes, belastungs-freies Hacken lehre. Wie auch immer, allgemein gesprochen, sollte der Körper gutausgerichtet sein, mit voller Atmung, und die Kraft soll aus den Beinen und Hüftenkommen. Es sollte ein ausgeglichenes und offenes Bewusstsein des Selbst im Raumbestehen. Im Besonderen ist der Gebrauch der Hacke ähnlich der Ruderübung imAikido, und er ist sehr ähnlich dem Gebrauch vom Aikido-Jo (kurze Variante).

Um auf den Fotos mehr Klarheit zu erzielen, zeige ich die Hackbewegung, wie ichsie anwenden würde, wenn ich durch ein besonders strüppiges Unkraut mit dicken,starken Wurzel hacken würde. Beim Hacken von gewöhnlichen, kleineren Unkräu-tern wären die Bewegungen die gleichen, aber in einer leichteren, kürzeren Form.

Halte ich die Hacke in die Höhe (Foto Nr. 2), unterstütze ich ihr Gewicht mitBeinen und Hüften. Beachte Sie bitte, dass Oberkörper und Arme direkt über dem

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Becken und den Beinen plaziert sind. Beachten Sie auch, dass mein Bewusstsein vielgleichmäßiger in meinem ganzen Körper und in der Umgebung rundherum verteiltist.

Auf Foto Nr. 3 habe ich die Hackbewegungbeendet, und es ist klar, dass die Kraftaus der nach vorne gerichtetenGewichtsverlagerungsbewegung von Beinenund Becken kommt, kombiniert mit dersenkrecht nach unten gerichteten Bewegungder Arme. Diese Art der physischen Orga-nisation ist abgeleitet von der Aikido-Ruder-übung, aber sie macht auch Gebrauch vonder Offenheit und Erweiterung des Atems,des Körpers, der Haltung und der Bewegung,die ich weiter oben beschrieben habe.

Nr. 2

Das vierte Foto zeigt das Zurückziehen, das im letzten Moment der Hackbewegungerfolgt und dazu dient, das, was auch immer gehackt wird, zu ziehen und zu bewe-gen. Auch diese Bewegung ist Teil der Ruderübung, und das erfolgreiche Ausführender Bewegung hängt vom Öffnen des Körpers ab und davon, ob er sich im Gleichge-wicht befindet.

Die fundamentalen Prinzipien des Körpergebrauchs im Gleichgewicht kann manbei jeder Gartenarbeit anwenden, vom Unkrautjäten bis zum Rollen eines Fasses.Darüber hinaus trifft der gleiche erzieherische Ansatz auf jede Alltagstätigkeit zu,vom Geschirrspülen bis zum Autofahren.

Nr. 3 Nr. 4

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3.4 Schwangerschaft

Während der Schwangerschaft erfahren viele Frauen eine Menge Unbehagen.Ihr Rücken schmerzt, und sie haben einen watschelnden Gang, wenn sie gehen.Doch das meiste von diesem Unbehagen kann mit einigen kurzen Instruktionen zuKörper- und Bewegungsbewusstsein (vorausgesetzt, dass das Unbehagen nicht voneinem medizinischen Problem herrührt) beseitigt werden. Ich beginne gewöhnlich,indem ich schwangere Frauen lehre, wie sie das Becken beim Sitzen ins Gleichge-wicht bringen. Dieses neue Bewusstsein von Beckengleichgewicht kann dann aufgrößere Bewegungen wie Stehen, Gehen und das Verrichten von Hausarbeiten aus-gedehnt werden.

Stehen stellt einzigartige Herausforderungen für schwangere Frauen dar, da daszunehmende Gewicht des sich entwickelnden Babys einen starken Zug auf ihre Hal-tung ausübt. So wie der Fötus wächst, zieht das Körpergewicht der schwangerenFrau nach vorne, und fast immer wirft die werdende Mutter die Schultern nachhinten, um das Gewicht des Fötus auszubalancieren. Sie erzeugt die charakteristi-sche Haltung des Nach-hinten-Schwingens der Schwangeren als ein Mittel, um dasGewicht, das nach vorne hängt, zu bewältigen. Diese vergrößerte Kurve macht dieHaltung der Frau biomechanisch schwächer; sie trägt zu Schmerzen im unterenRücken und zu dem unbeholfenen, angespannten Watscheln der Schwangeren bei.Es ist jedoch leicht, das zu ändern, wie die Tatsache zeigt, dass alle hier aufgeführ-ten Fotos der schwangeren Frau innerhalb des Ablaufs von einer Sitzung aufge-nommen wurden, die insgesamt eine Stunde dauerte.

Um zu demonstrieren, wie man den Zug ausgleicht, arbeite ich damit, wie manam besten ein Gewicht in Armeslänge vor dem Körper hält. Die meisten Leute glei-chen die nach vorne und nach unten gerichtete Kraft des Gewichts dadurch aus,dass sie den Kopf und die Schultern nach hinten neigen, wie auf dem ersten Fotodeutlich wird. Das erzeugt jedoch eine geschwungene Kurve, die den unteren Rük-ken zusammendrückt. Das verhindert auch den effizienten Gebrauch der Beine zumDruck nach hinten während des Gehens, was wiederum der Grund dafür ist, dassschwangere Frauen einen watschelnden Gang haben.

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Nr. 1 Nr. 2

Drückt man das Steißbein stattdessen leicht nach hinten und außen, ermöglichtdas dem Becken und dem unteren Rumpf besser als den Schultern und dem Ober-körper, ein Gegengewicht zu dem nach vorne ziehenden Gewicht zu bilden (Foto Nr.2). Dies öffnet und verlängert den Rücken und befreit die Hüften und Beine. Esermöglicht ebenso, dass das Gewicht eher durch die Beinmuskeln als durch den Rük-ken unterstützt wird. All dies hat eine viel leichtere und stärkere Stehposition zurFolge wie auch einen effizienteren und bequemeren Gang.

Zusammen mit der Verbesserung der Haltung bei den relativ einfachen Tätigkei-ten des Sitzens, Stehens und Gehens ist es für schwangere Frauen auch notwendig,zu lernen, eine ausgeglichene Bewegungsmechanik bei den komplexeren Bewegun-gen der täglichen Hausarbeit anzuwenden. Dies umfaßt alles, angefangen vomComputergebrauch über das Hochheben von Kindern bis hin zum Fahren von Au-tos und der Benutzung von Staubsaugern.

Nr. 3 Nr. 4 Nr. 5

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Beachten Sie bitte, dass das erste Foto vom Staubsaugen (Foto Nr. 3) dem Fotodes nicht korrekten Hackens sehr ähnlich ist. Auf beiden Fotos ist die sich bewegen-de Person nach vorne gebeugt. Dies ist ein übliches Bewegungsmuster. Die meistenLeute in unserer Kultur bewegen sich von ihren Schultern, ihren Armen und ihrenRücken aus. Und ebenso wie beim korrekten Hacken, ist die anstrengungsfreie Be-wegung (Foto Nr. 4 und 5) aus der Aikido-Ruderübung abgeleitet. Durch den Ge-brauch der Beine zur Verlagerung des Körpergewichts, wird der Staubsauger vor undzurück bewegt, und der Rücken ist frei von Anstrengung und Anspannung.

Ohne in die Einzelheiten zu gehen, lehre ich schwangere Frauen auch, mit demWehenschmerz zurecht zu kommen. Der natürliche Drang ist, sich dem Schmerz zuwidersetzen und sich davon zurückzuziehen, und somit die Atmung und dasBewusstsein zu verengen; aber durch das Aufrechterhalten von weicher Atmungund Körperausdehnung, können Frauen die Schmerzen vermindern und mit Schmer-zen, die sie nicht vermeiden können, besser umgehen.

Es ist nicht notwendig, dass Schwangerschaft so unangenehm sein muss. Für diemeisten schwangeren Frauen ist es relativ einfach, zu lernen, wie sie ihrKörperbewusstsein gebrauchen können, um Wohlbefinden zu erzeugen. Die Erzie-hung zu Körper- und Bewegungsbewusstsein ist (zusammen mit Übungsprogrammenund Kindgeburtsgruppen) sehr wichtig für eine sichere und angenehme Erfahrungder Schwangerschaft.

3.5 Sport

Ich habe mit Läufern, Schwimmern, Golfern, Tennisspielern, Gewichthebern,Baseballspielern, Volleyballspielern, Fahrradfahrern usw. gearbeitet. Der Schlüsselzu effektiver Leistung ist immer Offenheit und Gleichgewicht des Körpers und desWahrnehmungs-/Absichtlichkeitsfeldes.

Hier werde ich Golf als ein Beispiel untersuchen, wie das Aiki-gestützte Körper-training, das ich entwickelt habe, auf Sport angewendet werden kann. Die beidenersten Fotos zeigen, wie die Golfspielerin zu spielen pflegte, bevor sie angefangenhatte, bei mir Sitzungen zu nehmen. Beachten Sie bitte, wie steif Arme und Beinesind, wenn sie sich dem Ball zuwendet und ihre Aufmerksamkeit auf die Schulter-partie und auf den Ball beschränkt ist. Dies wird noch offensichtlicher in der Art,wie sie ihren Golfschläger schwingt. Sie ignoriert ihre Beine und Hüften und schwingtaus der Taille, aus den Schultern und aus den Armen. Tatsächlich ist dies dem Foto,auf dem ich auf unkorrekte Weise hacke, erneut sehr ähnlich. Der übertriebene Ge-brauch von Schultern und Armen und die Platzierung des Bewusstseins hoch oben

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im Körper bilden einen fundamentalen Bewegungsstil, der durch die euro-ameri-kanische Kultur gefördert wird.

Nr. 1 Nr. 2

Auf dem dritten Foto hat sie die Art und Weise, wie sie sich dem Ball zuwendet,geändert. Ihre Ellbogen und Knie sind ein bisschen gebeugt, was Brust, Rücken undHüften entspannt und frei macht. Ich hoffe, dass es auf dem Foto sichtbar wird, dasssie jetzt voller atmet und ihrem ganzen Körper mehr Aufmerksamkeit widmet. Siesteht auf ihren Beinen und fühlt den Boden, was es ihr möglich machen wird, denSchläger auf eine effektivere Weise zu heben und zu schwingen. (Ihre Form magkeine Standardgolfform sein, aber jeder, der diese freiere Form ausprobiert hat, warüberrascht, dass sie bequemer und effektiver als der Standard ist.)

Nr. 3 Nr. 4

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Nr. 5 Nr. 6

Aus der Schwingbewegung (Fotos Nr. 4 und 5) und der Durchziehbewegung (Nr.6) wird ersichtlich, dass die Golferin in ihrer Haltung ausgeglichener und freier ist,fließender in den Bewegungen und expansiver in ihrem Bewusstsein.

3.6 Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen

In den letzten Jahren habe ich immer mehr mit Kindern gearbeitet, dieAufmerksamkeitsstörungen oder ein Asperger-Syndrom haben. Bei beiden Formenvon Entwicklungsstörungen fällt es den Kindern schwer, ihre Aufmerksamkeit zufokussieren und ihre Reaktionen auf Ablenkungen aus der Umgebung zu kontrollie-ren. Unaufmerksamkeit und Impulsivität sind üblich, wie auch die Unfähigkeit, auf-merksam bei einer Aufgabe zu bleiben und aufkommende Impulse zu kontrollieren.Das Asperger-Syndrom enthält auch eine Komponente von verminderter Bewusstheitnichtverbaler Kommunikation und sozialer Hinweisreize.

Ein Grund dafür, daß es meist schwierig ist, Konzentration zu lehren, besteht dar-in, dass man sie gewöhnlich als einen übergangslosen, mentalen Prozess betrachtetund erfährt. Wie lernt man, sich zu konzentrieren? Nun, man beschäftigt sich ge-danklich einfach mit etwas. Diese Art, den Vorgang in Worten auszudrücken, be-nennt zwar den Prozess, aber sie erklärt nicht, wie man es machen soll; und so wirdjemand, der sich von Natur aus nicht konzentrieren kann, von einer solchen Anwei-sung nicht profitieren. Der Schlüssel beim Lehren der Fertigkeit des Konzentrierensist, sie in einen somatischen Prozess umzudeuten und diesen somatischen Prozess inkleine, konkrete Lernschritte aufzuteilen.

Gewöhnlich sehe ich Kinder mit Aufmerksamkeitsproblemen für drei bis fünf Sit-zungen, die jeweils eine Stunde lang dauern. Dies ist im allgemeinen genug, ihnendie von mir entwickelten Konzentrations- und Selbstregulierungstechniken beizu-

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bringen. Viele Kinder wechseln nach der Serie von Einzelsitzungen in meine Kin-der-Aikidogruppen. Die Einzelsitzungen sind viel ruhiger und von der Umgebungher weniger komplex als eine Aikidogruppe mit 15 Kindern, und somit finden Kin-der mit Aufmerksamkeitsproblemen Einzelsitzungen als Startpunkt viel einfacher.Die Aikidogruppen bieten ihnen eine Möglichkeit, Selbstregulierung undFokussierung weiter zu üben.

Eine Übung, die ich bei den meisten Kindern verwende, ist die „Antikitzeltechnik“.Ich beginne, indem ich dem Kind die Übung erkläre und es um Erlaubnis bitte, siedurchzuführen. Im Anschluss daran erkläre ich, dass sie mir jederzeit sagen können,wann ich aufhören soll, und ich das dann auch tun werde. Dann kitzle ich sie. Selbst-verständlich bäumen sich die Kinder vor Lachen auf und sind hilflos.

Anschließend gehe ich durch die Atem- und Sitzübungen. Selbstverständlich lehreich auf eine einfache, witzige, den Kindern angemessene Weise. Nebenbei zeige ichden Kindern, wie physische Entspannung und Haltungsstabilität das Laufen, einenBallwurf usw. verbessern. Dann kehren wir zum Kitzeln zurück. Dabei entdecken dieKinder, dass sie es – wenn sie in dem entspannten, stabilen, expansiven körperlichenZustand bleiben – schaffen können, nicht kitzlig zu sein. Dieses Beispiel für ihreFähigkeit, zu fokussieren und dadurch interessante Ergebnisse zu erzielen, ist für dieKinder (und ihre Eltern) sehr überraschend und sehr motivierend. Es wird ihnenklar, dass sie mehr machen können, als sie jemals dachten, und der Erfolg bei derKontrolle ihrer bis dahin unkontrollierbaren inneren Welt ist sehr befriedigend.

Dafür brauche ich normalerweise zwei Sitzungen, und in der dritten Sitzung lasseich die Kinder oft lesen üben. Gewöhnlich machen sie die Erfahrung, dass siedurch das Konzentrieren auf den körperlichen Zustand der Fülle viel leichter lesenkönnen – selbst wenn ich versuche, sie abzulenken, indem ich Taschentücher auf siewerfe, sie kitzle oder auf sie einrede.

Zusätzlich zur Arbeit mit Aufmerksamkeit, habe ich mit Kindern gearbeitet, dieSchwierigkeiten im Umgang mit Ärger, Konfliktbewältigung, Körperkoordination undAngst haben. Bei meinem Unterricht mache ich einfach keinerlei Unterschied zwi-schen „physischen“ und „mentalen“ Problemen. Weil ich die ganze Person als einenProzess von gleichzeitigem körperlichem und mentalem Erfahren und Fühlen an-spreche, kann ich mit einer großen Bandbreite von Problemen arbeiten und schnelleErgebnisse erzielen.

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3.7 Genesung nach sexuellem Missbrauch

Seit 1987 sind die meisten der Klienten, die zu meinen Sitzungen für Körpererzie-hung gekommen sind, erwachsene Überlebende von Kindesmissbrauch. Als Körper-erzieher und Kampfkünstler steht für mich eine sehr körperorientierte und prakti-sche Sicht des Kernproblems bei Missbrauch im Mittelpunkt. In meiner Arbeit habeich wieder und wieder gesehen, wie sich Zeichen der Machtlosigkeit und die Abwe-senheit von Sicherheit in den Körpern der Menschen zeigen, die missbraucht wur-den. Ich habe gesehen, wie heilsam es ist, wenn Menschen lernen, mehr in ihrenKörpern zu leben und auf dieser Basis effektive Grenzen zu ziehen. (Obwohl meinSchwerpunkt in diesem Abschnitt auf Missbrauch liegt, sollte ich sagen, dass dieKörpererziehungsprozesse, die ich beschreiben werde, bei anderen Traumen wie Au-tounfällen und operativen Eingriffen wirksam sind. Sie wirken auch unter Bedin-gungen, die eine ausgeprägte Angstkomponente haben, z. B. Fibromyalgie.)

Aus meiner Perspektive ist der entscheidende Punkt bei Missbrauch das Lernen,das während des Missbrauchs stattfindet. Wenn jemand missbraucht wird, egal obkörperlich, sexuell oder emotional/verbal, lernt er, dass er weitgehend machtlos ist –machtlos, seinen Körper und seine Umgebung zu kontrollieren und Sicherheit her-zustellen. Dieses Gefühl der Machtlosigkeit wird ein Kernelement seiner Selbst-Iden-tität. Viele der Traumasymptome wie Dissoziation, Drogenmissbrauch, körperlicheTaubheit oder Hyperaktivität sind auf der Seite des Überlebenden mit dem Gefühl/Glauben verbunden, dass er keine Sicherheit herstellen kann.

Ich würde die Traumareaktion als ein körperliches Verhaltensmuster definieren.Der Kern der Traumareaktion besteht – am einfachsten ausgedrückt – darin, denKörper anzuspannen und zu verdrehen. Dies zeigt sich im Allgemeinen in einer an-gespannten Atmung, festen Muskeln, zusammengezogener Haltung, steifen Bewe-gungen und eingeengter Aufmerksamkeit. Auf eine paradoxe Weise kann Ange-spanntheit oft auch Schlaffheit enthalten, und das drückt sich in Zuständen vonkörperlicher Taubheit oder Dissoziation aus. Die Traumareaktion wird ein funda-mentaler Bestandteil des Körperstils, den der Traumaüberlebende gelernt hat, undwird solange als gelerntes Verhalten aufrechterhalten, bis es durch neues Lernenersetzt werden kann.

Die Traumareaktion funktioniert oft als eine Möglichkeit, die Bewusstheit zu re-duzieren, als eine Form der Anästhesie. Wenn es nichts Praktisches gibt, das getanwerden kann, um eine Bedrohung zu kontrollieren, dann bietet Anästhesie ein Mit-tel, sie zu tolerieren. Als Aikidoka haben wir jedoch sehr deutlich erfahren, dass dieKraft, um einen Angriff abzuwehren oder ihm auszuweichen, aus einer entspannten,balancierten Bewegung und klarem Bewusstsein kommt. Die normalen Schock-reaktionen der Muskelkontraktion oder der geistigen Dissoziation führen nicht zu

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einer wirksamen Schutzhandlung, sondern stattdessen zur Schwächung des Geist-körpers und zu ineffektivem Handeln.

Das Problem für Überlebende von Missbrauch ist, dass Machtlosigkeit und Trauma-reaktion, einmal erfahren und in die Selbst-Identität eingebaut, zu einem Teufels-kreis führen. Wenn Erwachsene ihr Leben auf der Basis von Gefühlen der Machtlo-sigkeit leben, antworten sie auf Drohungen in ineffektiver Weise. Dadurch wird eswahrscheinlicher, dass sie wieder überwältigt und erneut traumatisiert werden.

Stellen Sie sich jemand vor, der ins Wasser gefallen ist und fast ertrunken wäre,und der als Folge dessen eine riesige Angst vor dem Wasser hat. Psychotherapie, mitihrer verbalen Arbeit um das Angstgefühl herum, wäre sicherlich ein entscheidendererster Schritt im Heilungsprozess. Das Sprechen über das Gefühl wird die Personallerdings nicht schwimmen lehren, und vollständiges Heilen muss (in diesem Bei-spiel) das Schwimmen-Können einschließen. Wenn die Person nicht schwimmenlernt, dann ist sie noch immer machtlos und wird in der Nähe von Wasser weiterhinAngst empfinden. Ohne Schwimmenlernen kann das Trauma nicht vollständig ge-heilt werden. Und Schwimmenlernen mit zusammen gebissenen Zähnen und unter-drückter Angst wird nicht genug sein. Entscheidend ist, das Schwimmen mit Freudezu lernen. Zu lernen, Freude zu erfahren und die Meisterung der Situation einervormals überwältigenden Herausforderung – das ist es, was zur Genesung führenwird.

Die Arbeit, die ich mit Überlebenden von Missbrauch mache, beruht auf der Tat-sache, dass Machtlosigkeit ein körperlicher Zustand ist und durch den körperlichenZustand der Bemächtigung ersetzt werden kann. Der vorrangige Inhalt der Arbeit istpraxisbezogen: Schritt-für-Schritt-Übungen, die sich auf Atmung, Muskeltonus,Haltung, Bewegung und Absicht beziehen. Auf diese Weise wird ein integrierter Zu-stand von Bewusstsein, Kraft und Liebe entwickelt, auf dessen Basis angemessenepersönliche Grenzen und wirksamer Selbstschutz entstehen können.

Sobald die Schüler einen Zustand entspannter Wachsamkeit und Stabilität her-stellen können, lehre ich sie, das in ihrem täglichen Leben anzuwenden. Ich beginnemit relativ einfachen Übungen. Ich könnte etwa in einem Abstand von zwei Meternstehen und Taschentücher auf sie werfen. Obwohl sie erkennen, dass dieser symboli-sche Angriff trivial ist, erinnert er sie trotzdem an ihren Missbrauch und kann tiefeAngst auslösen. Indem sie ihre Atmung und Haltung in einem freien und stabilenZustand halten, und dann die Taschentücher fangen (anstatt in Schock und Disso-ziation zu erstarren), machen die Überlebenden von Missbrauch ihre ersten Schrittebei der aktiven und effektiven Reaktion auf ihre Traumen. Ich helfe den Schülern,sich durch eine Reihe von immer stärkeren Herausforderungen durchzuarbeiten, bissie für wirkliche Selbstschutzinstruktion bereit sind. Dann spielen wir die tatsächli-chen Angriffe, die sie erlitten haben, durch. Ich leite sie bei den notwendigen Hand-

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lungen an, bei denen sie dieses Mal gewinnen müssen. Es ist ein ganz besonderesGrinsen, das die Gesichter der Menschen erhellt, wenn sie die Freude erleben, dasssie es schaffen können, sicher und frei zu bleiben.

Indem sie lernen, ihren Körper offen und frei zu halten und sich selbst zu schüt-zen, schreiben die Überlebenden von Missbrauch die Auswirkungen ihrer Vergan-genheit neu. Bei der Arbeit mit Überlebenden mache ich nicht nur von derKörperbewusstseinsarbeit Gebrauch, die ich entwickelt habe, sondern auch von rich-tigen Selbstverteidigungstechniken aus dem Aikido.

Um mehr Informationen über Körperbewusstseinstraining mit Überlebenden vonsexuellem Mißbrauch zu erhalten, können Sie auf meine Webseite gehen. Dort sindArtikel zum Thema verfügbar (einschließlich eines Artikels über Überlebende vonMissbrauch, die in Aikidogruppen integriert sind) wie auch ein elektronisches Buch,das man herunterladen kann: Winning is Healing: Body Awareness and Empowermentfor Abuse Survivors [A. d. Ü.: Gewinnen heilt: Körperbewusstsein und Bestärkung fürÜberlebende von Missbrauch].

3.8 Friedensstiftung

Themen der Konfliktlösung und Friedensstiftung können ebenfalls als körperli-che Prozesse betrachtet werden. Einem Konflikt nähert man sich gewöhnlich überden Inhalt oder Verhalten auf höheren Ebenen. Mit Inhalt ist die tatsächliche Sub-stanz des Streits gemeint, d. h. die widerstreitenden Anliegen oder Ziele von ver-schiedenen Parteien. Verhalten auf höheren Ebenen besteht aus den Worten oderHandlungen, die man verwendet, um einen Konflikt zu erzeugen oder zu lösen. Sicheinem Konflikt auf diese Weise zu nähern, ist aus meiner Perspektive jedoch so, alsob man ein Haus vom 2. Stock aus aufwärts bauen würde.

Die Bausteine für Verhalten auf höherer Ebene sind die fundamentalen Verhal-tensweisen von Atmung, Haltung und Bewegung, und es ist wichtig, dies bei derKonfliktlösung zu beachten. Stellen Sie sich vor, wie Sie vor jemandem stehen, derauf Sie böse ist. Vielleicht ist er nach vorne geneigt, kommt zu nahe, hat die Fäustegeballt; sein Gesicht ist rot, sein Hals ist angeschwollen, seine Stimme harsch undlaut. Was werden Sie fühlen? Beim Unterricht über Konflikte lasse ich Schüler diesmit einem Partner in einem Bewegungsexperiment tatsächlich üben, und die mei-sten Menschen finden, dass sie ziemlich intensive körperliche Reaktionen haben.

Die Erfahrungen im Experiment können etwas variieren, aber die Menschen be-richten üblicherweise, dass sie – wenn sie bedroht werden – ihre Atmung einschrän-ken, ihre Muskeln anspannen (oft in Schultern, Hals, Brust und Bauch) und ihre

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Haltung kontrahieren. Manche Menschen erleben Schlaffheit und Kollaps, waseine etwas passivere Form der Kontraktion ist.

Diese Kontraktion rührt von zwei Elementen her: kommunikativer Mimikry unddefensiver Organisation. Ein Teil unserer nonverbalen Kommunikation besteht dar-in, automatisch und unbewusst die körperlichen Zustände des jeweiligen Gegen-übers nachzuahmen. Wenn wir uns in der Nähe von jemandem befinden, der einintensives Gefühl hat, nehmen wir dieses Gefühl wahr, erkennen es und entwickelndie Tendenz, die körperlichen Aktivitäten dieses Gefühls in unseren eigenen Kör-pern zu reproduzieren. Das bedeutet, dass wir Dinge fühlen könnten, die wir unsnicht zu fühlen wünschen oder die wir nicht als nützlich oder angenehm zu fühlenerachten. Wenn wir mit Aggression konfrontiert werden, antworten wir natürlicher-weise mit dem körperlichen Zustand der Aggression, und dies trägt zur Fortsetzungund Eskalation von Aggression bei.

Die defensive Organisation besteht im Zusammenziehen und Bereitwerden, ent-weder um zu kämpfen oder um sich zu unterwerfen (vgl. Wohak, in diesem Band).Indem sie in angespannter Angst zusammenschrumpfen, reagieren die Menschenjedoch schwach und ineffektiv auf Angriffe und ermutigen damit eher weitere Ag-gression von Seiten des Aggressors. Es erübrigt sich zu sagen, dass schlaffes Kollabie-ren als Basis der eigenen Selbstverteidigung ebenfalls ineffektiv ist. Verhärtung ausÄrger lässt die Menschen auf ungünstige, unkontrollierte Weise auf einen Angriffreagieren, und fördert so die Eskalation der Gewalt. Sowohl Angst wie auch Ärgervermindern die Fähigkeit, effektiv auf einen Angriff zu reagieren. Mit anderen Wor-ten, Defensivsein ist eine vollkommen unbefriedigende Basis für effektive Verteidi-gung.

Weichheit, Stärke, Offenheit und Liebe sind die Basis für freie und balancierteBewegung und effektive Verteidigungshandlungen. Damit Menschen auf kurze, prak-tische Art diese Erfahrung machen und dieses Verständnis erwerben können, ver-wende ich die von mir entwickelten Basisübungen, um den körperlichen Zustandvon Kraft und Liebe zu lehren. Sobald sie das gelernt haben, lasse ich die Menschenzum Experiment des „Angeschrien-Werdens“ zurückkehren und sehen, wie es sichanfühlt, angegriffen zu werden, während sie den körperlichen Zustand der Offenheitund Fülle aufrechterhalten. Im allgemeinen finden sie, dass sich – wenn sie gut ver-wurzelt, mit offener Atmung und Haltung stehen – ihre Erfahrung ändert. Anstattsich anzuspannen oder schlaff zu werden, kommen die Menschen eher stark undoffen in die Situation des Angeschrien-Werdens und bleiben die ganze Zeit über starkund offen. Sie werden durch den Angriff nicht überwältigt, sondern bleiben inSelbstbewusstsein und persönlicher Stärke verwurzelt. Die Kraft, die die Menschenfühlen, wird zwar physisch gebildet, ist aber genauso emotional und spirituell wie siephysisch ist.

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Die Menschen finden, dass – wenn sie stark und offen bleiben – sich das physi-sche und emotionale Unbehagen angesichts eines Angriffs weitgehend vermindert.Es wird ihnen klar, dass sie den größten Teil des empfundenen Unbehagens selbsterzeugt haben: durch ihre Anspannung oder Schlaffheit und den Widerstand. Eswird ihnen auch klar, dass sie im Zustand der Anspannung oder Erschlaffung ihrBewusstsein sowohl vor sich selbst als auch vor ihren Partnern verschlossen haben,indem sie sich von sich selbst und von ihren Angreifern „abtrennten“. Wenn sie dieAngreifer und den Angriff in einem Geistkörper-Zustand der Kraft, Liebe und Of-fenheit empfangen, erfahren die Menschen, dass sie nicht mit Angst oder Ärgerreagieren, und dass sie fortfahren können, eher ein gelassenes Verbundensein mitdem Angreifer zu spüren als den Zwang zu verletzen und ihn oder sie zu zerstören.

Der körperliche Zustand von Offenheit und Gleichgewicht ist die Basis für Kon-fliktlösung und Friedensstiftung. Dieser Zustand erlaubt uns, das Hin und Her vonnonverbal und verbal aggressiver Kommunikation zu unterbrechen. Es erlaubt uns,unser Gegenüber als ein menschliches Wesen zu sehen, als einen Partner (vgl.Schettgen, in diesem Band). Es ist auf der Grundlage des körperlichen Zustandes derOffenheit, dass Verhalten auf einer höheren Ebene auf überzeugende Weise geändertwerden kann. Stellen Sie sich vor, wie jemand die richtigen Worte über das Mitein-ander-Auskommen und Win-Win-Lösungen sagt, während er gleichzeitig physischeSignale von Angst oder Ärger aussendet. Es würde einem sehr schwer fallen, sichnicht bedroht zu fühlen und nicht bedrohen zu wollen. Diesen körperlichen Zu-stand zu unterbrechen und ihn mit dem körperlichen Zustand von Gelassenheit undFreundlichkeit zu ersetzen, würde es Worten und Handlungen ermöglichen, mit demkörperlichen Zustand übereinzustimmen. Den Wunsch nach Frieden sowohl mit Ver-halten auf einer niedrigen als auch auf einer höheren Ebene gleichzeitig auszudrük-ken, ist eine viel bessere Grundlage zur Konfliktbewältigung und Friedensstiftung.Und sobald diese Grundlage besteht, kann der tatsächliche Inhalt des Streitfalls mitviel weniger Aggression und viel mehr Klarheit angesprochen werden.

3.9 Aikido

Alles aus der BIM-Arbeit in bezug auf Haltungsstabilität und effiziente Bewe-gung kann mit Sicherheit auf den Aikidounterricht übertragen werden. Dazu ge-hört auch die körperliche Selbstregulierung, die ich als Teil des Konfliktlösungs-trainings lehre. In diesem Abschnitt werde ich mich damit beschäftigen, wie einbestimmtes Körperbewusstseinskonzept, das Teil des „Being in Movement“ ist, dasAikidotraining verbessern kann. In meinem Aikidotraining und -unterricht beto-ne ich die vertikale Körperausrichtung. Auf diesen Schwerpunkt kam ich schonfrüh in meinem Training, obwohl das nicht etwas war, das betont oder überhaupt

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Adapted from: Peter Schettgen (Hrsg.): Kreativität statt Kampf – Aikido-Erweiterungen in Theorie und Praxis. ISBN 3-937210-00-8. © 2003 www.ziel-verlag

gelehrt wurde. Für mich war das eine Konsequenz aus den Meditationen, die ich inbezug auf Symmetrie und Bewusstseinserweiterung machte.

Wenn sich Ihre Haltung in die eine oder andere Richtung neigt, neigt sich auchIhr Bewusstsein. Die einzige Körperposition, die eine Gleichbehandlung allerUmgebungsrichtungen erlaubt, ist die vertikale Haltungslinie. Wenn Sie beimAikidotraining vor einem Angriff Angst haben, werden Sie sich natürlicherweisevon ihm wegbeugen. Werden Sie antagonistisch und widerstehen dem Angriff, wer-den Sie sich natürlicherweise gegen ihn lehnen. Wenn Sie sich bei einem Wurf zusehr engagieren [als Nage; A. d. Ü.], werden Sie sich in ihn hineinlehnen. In alldiesen Fällen werden Sie Ihre aufrechte Haltung verlieren. Dem AufrechtstehenAufmerksamkeit zu schenken, ist ein Weg, sich selbst daran zu erinnern, geistigesGleichgewicht und Unvoreingenommenheit aufrecht zu erhalten. In diesem Sinnebedeutet die Beachtung der vertikalen Ausrichtung des Körpers während der Aus-übung von Aikidotechniken, die Körperpraxis in eine Meditation zu verwandeln.

Die vertikale Linie aufrecht zu erhalten, hat jedoch mehr als nur eine spirituelleBedeutung. Denn es wird auf dreierlei Weise eine wirksamere Kampftechnik erzeugt:Der Kraftausstoß wird verbessert; Öffnungen für Gegenangriffe werden verhindert; undschließlich die Bereitschaft verbessert, mit mehreren Angriffen gleichzeitig umzugehen.Lassen Sie uns zwei Aikidotechniken untersuchen, um zu sehen, wie das funktioniert.

Wir wollen mit Katatori Nikkyo beginnen. Das erste Foto zeigt eine gebräuchli-che Art, die Technik anzuwenden. Viele Leute üben den Griff mit einem ausgespro-chenen Nachvornebeugen. Aber auf diese Weise kommt ein Großteil der Kraft ausdem Gebrauch von Schultern und Oberkörper. In diesem Fall war die Kraft, die ichmit meinen Schultern aufbringen konnte, nicht einmal ausreichend, meinen Part-ner zu überzeugen, nach unten zu gehen.

Nr. 1 Nr. 2

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Wenn Sie den Körper richtig ausgerichtet halten – wie auf dem zweiten Fotogezeigt – können Sie die Kraft für Nikkyo aus der Beckenbewegung holen, wasselbstverständlich durch den Gebrauch der Beine und der Hüften unterstützt wird.Es gibt eine Vorwärtsbewegung, um das Gewicht und somit den Nikkyo auf dasvordere Bein zu verlagern. Zusätzlich gibt es eine Vorwärtsrotation des Beckens, diedie Wirbelsäule zwar nach vorne neigt, aber ohne dass sie sich krümmt. Das gibtdem Nikkyo wahre Kraft. Wenn man den Nikkyo aus der Hüfte macht, ist das vielstärker und erlaubt größere Kontrolle des Uke mit weniger Anstrengung. BeachtenSie bitte, dass die Haltung auf dem zweiten Foto der Haltung auf dem dritten Fotobeim korrekten Hacken sehr ähnlich ist.

Ein zweites Problem mit dem Nachvorneneigen besteht darin, dass Sie für einenGegenangriff offen bleiben. Wenn Sie sich beugen, überträgt sich die Kraft der Tech-nik wie ein Bogen über die Schultern; wenn der Uke wachsam ist, ist es leicht für ihn,den Nikkyo außer Kraft zu setzen. Indem er den Nikkyo nach vorne und nach untenzieht, und indem er die Beine des Nage blockiert, kann Uke unter dem Bogen hin-eingleiten und Nage für einen Wurf über sich bringen (Fotos 3 - 4). Wird der Nikkyomit aufrechter Haltung durchgeführt, geht die Kraft des Nikkyo ganz nach untenRichtung Boden, und es gibt keine Lücke, unter der Uke für einen Gegenangriffhineingleiten kann.

Ich habe von dem nicht korrekten Nikkyo in rein physikalischer Begrifflichkeitgesprochen, aber natürlich geht es dabei um mehr. Was bringt uns dazu, die Schul-tern zu überbeanspruchen und uns nach vorne zu beugen? Überanpassung und Ag-gression. Die aufrechtere Haltung basiert auf Gelassenheit, Liebe und erweiterterAufmerksamkeit.

Nr. 3 Nr. 4

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Als ein weiteres Beispiel lassen Sie unsAikatatetori Kokyunage betrachten. In der hiergezeigten Variante wurde meine rechte Handvon Uke mit seiner rechten Hand gepackt. Ichdrehte mich herum und wendete einen Arm-hebel für den Wurf an. Viele Leute führen die-sen Wurf mit einem ausgeprägten Nachvorne-beugen aus (Foto Nr. 5).

Nr. 6 Nr. 7

Wie schon beim Nikkyo, kann der Wurf mit mehr Kraft und besserem Gleichge-wicht ausgeführt werden, wenn man von den Beinen und Hüften aus bewegt undden Körper aufrecht hält (Fotos Nr. 6 - 7). Beachten Sie bitte, dass die Kraft, die aufden Arm von Uke ausgeübt wird, aus der Vorwärtsbewegung meines Beckens kommt.Da der Uke mit mir in Hüfthöhe verbunden ist, gibt es keinen Grund, meine Schul-tern nach vorne zu beugen.

Bei dieser Technik lässt das Nachvornebeugen mit den Schultern Nage nichtoffen für einen Gegenangriff durch die Person, die geworfen wird; aber es erfordert,dass Nage einen Erholungsmoment braucht, um die aufrechte Haltung wieder zuerlangen. Bedenken Sie den Gebrauch dieser Technik beim Angriff einer Gruppe, beidem die Angriffe schnell und fortwährend kommen. Wenn Nage im Augenblick desWurfes nach vorne geneigt ist, um sich für den nächsten Angriff bereit zu machen,wird es nötig sein, den Körper in eine aufrechte Position zurückzubringen. Während

Nr. 5

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dieser Bewegung nach oben ist Nage für den Angriff nicht bereit. Solange Nagenach vorne geneigt ist, ist er oder sie nicht in der Lage, klar zu sehen, was dieAngreifer tun. Nage kann sich nicht frei bewegen, um sich mit Angriffen – gleich,welcher Art – auseinanderzusetzen. Wird der Wurf indessen mit aufrechtem Kör-per ausgeführt, wird Nage aufgrund seiner Haltung bereit sein, den nächsten An-griff zu sehen und sich mit ihm zu bewegen.

Die gleichen Überlegungen zu spirituellem Gleichgewicht und kämpferischerBereitschaft treffen auf das Ausführen jeder anderen Aikidotechnik zu. Es gibt nochviel mehr Elemente von BIM, die ich zur Unterstützung meines Aikidotrainings und-unterrichts gebrauche. Nach meiner Erfahrung ist es sehr produktiv, demKörperbewusstsein als einem Fundament des Aikidotrainings besondere Aufmerk-samkeit zu schenken.

Für Leser, die mehr Informationen möchten, gibt es auf meiner Webseite in derAikidosektion eine Reihe von Artikeln über Körperbewusstsein und Aikidotraining.Außerdem arbeite ich gerade an einem Buch speziell zu diesem Thema, und ichhoffe, dass es in naher Zukunft fertig sein wird.

4. Schlussfolgerungen

Aikido ist meine Bewegungsheimat, aber Aikido selbst ist für viele Leute zu an-strengend und komplex. Mit der Entwicklung von „Being in Movement MindbodyTraining“ (BIM) hoffte ich, einen einfacheren, leichter zugänglichen Weg zu finden,wie man Menschen diejenige Geistkörper-Koordination beibringen kann, die ich imAikidotraining erfahren habe. BIM ermöglicht eine schnellere, präzisere Behand-lung der vielen menschlichen Leistungsprobleme, deren Wurzeln in der Unwissen-heit über die Struktur und Funktion des Körperselbst liegen.

Der Schlüssel ist, dass wir glauben und erfahren, dass Härte mit Stärke gleichzu-setzen ist, dass Gefühllosigkeit mit Sicherheit korrespondiert und dass Barrieren Frei-heit erzeugen. Wir sind so darauf aus, harte Barrieren in unseren Körpern zu errich-ten. Aikido lehrt etwas anderes. Abgeleitet aus der Aikidopraxis, stellt BIM einesystematische Methode dar, die Menschen die körperlichen Erfahrungen von Offen-heit und Fülle vermittelt, und die ihnen zeigt, wie sie diese Erfahrungen im Alltags-leben anwenden können.

Der Unterricht, den ich gebe, ist eine Erweiterung von Aikido im Hinblick aufalltägliche Situationen und Verrichtungen außerhalb der Matte. Meine Hoffnungist, dass mein Ansatz andere Aikidolehrer inspirieren wird, neue Wege zu finden, wiesie ihr Wissen der Vielzahl von Menschen nahe bringen können, die Geistkörper-Zentrierung brauchen, jedoch niemals Aikido selbst praktizieren werden.

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Paul Linden ist Budomeister und somatischer Erzieher (Ph.D.). Er hat das Co-lumbus Center for Movement Studies gegründet und das Being In Movement®Mindbody-Training entwickelt. Er ist autorisierter Lehrer der Feldenkrais-Metho-de®, trägt den 5. Dan in Aikido und den 1. Dan in Karate. Er hat das Aikido ofColumbus Dojo aufgebaut und leitet dort das Training.

Sein Training des Körper- und Bewegungsbewusstseins wendet er hauptsächlichin den Bereichen Stressmanagement, Konfliktlösung, Leistungsverbesserung undTraumaheilung an.

Er ist Autor von Comfort at Your Computer: Body Awareness Training for Pain-Free Computer Use und Winning is Healing: Body Awareness and Empowermentfor Abuse Survivors. Paul kann man erreichen unter: Columbus Center for MovementStudies, 221 Piedmont Road, Columbus, OH 43214, USA. Tel. (614) 262-3355,eMail: [email protected]., Internet: www.being-in-movement.com.