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aktuell November 2014 9. Jahrgang Inhalt Editorial: Turbulente Zeiten 1 _______________________________________________________________________ Bericht aus den Institutionen: Neue Kommission/ LuxLeaks/ Streit um EU-Haushalt/ Angst vor Deflation/ TTIP/ Schwache Wirtschaft, mehr Armut/ Arbeits- bedingungen in Europa/ Bildung und Aus- bildung/ Jugendarbeitslosigkeit/ Sicherheit und Arbeitsschutz/ EuGH zu Sozialhilfe und Berufsunfähigkeitsrenten/ Diskriminierung 2-8 _______________________________________________________________________ dbb in Europa: Zur neuen Kommission/ TTIP und TiSA: Keine Generalkritik, aber größte Vorsicht; Ausschluss des Bildungssektors/ Deutsch- land braucht Europa/ Zum Beschäftigungs- gipfel/ Zum EU-Gleichstellungsbericht 9-15 _______________________________________________________________________ Neues von der CESI: Steuergerechtigkeit in Europa/ Anerkennung und Schutz für medizinisches Personal/ Neue Wege/ Arbeitstreffen der CESI Youth 16-18 _______________________________________________________________________ Bürger und Verbraucher: Unter Strom 19 _______________________________________________________________________ Ausblick: Europas Anti-Terror-Maßnahmen Ausländische Kämpfer in Europa Termine 20-22 _______________________________________________________________________ Einblick: Gespräch mit Rob Wainwright, Direktor des Europäischen Polizeiamts Europol Impressum 23-26 Editorial Turbulente Zeiten Europas öffentliche Dienste stehen seit Jahren unter großem Druck. In vielen EU-Staaten, besonders in den Euro-Krisenländern, wird der Sparstift angesetzt. Teilweise massiv. Dass die Wirtschaft wieder in Gang kommt, ist von elementarer Bedeutung, auch für die öffentlich Bediensteten. Bis ins Jahr 2014 hinein schien es, als bleibe Deutschland trotz eines vorüber- gehend langsameren Wachstums das Powerhaus Europas. Inzwischen zeigen aber viele Indikatoren nach unten. Die internationalen Bedrohungslagen, Russland und die arabische Welt, machen der deut- schen Wirtschaft zu schaffen. Die neue EU - Kommis- sion will sich gegen eine weitere Eintrübung stem- men, endlich Wachstumskräfte freisetzen. Viel Zeit bleibt nicht mehr, denn die Europäische Zentralbank greift zu zunehmend verzweifelten Mitteln, eine die wirtschaftliche Substanz langsam zermahlende Ab- wärtsspirale zu verhindern. Kernthemen der neuen Kommission werden Innova- tion und Wachstum sein. Das Juncker-Team will sich konzentrieren auf Initiativen und Maßnahmen, die zu mehr wirtschaftlicher Dynamik beitragen. Im heftig umstrittenen transatlantischen Freihandels- abkommen TTIP sieht Brüssel ein außerordentlich wichtiges Instrument, dem seit der Ukrainekrise zusätzlich eine geostrategische Dimension beikom- men dürfte. Aus gewerkschaftlicher Sicht bleibt TTIP aber in vielerlei Hinsicht eine Büchse der Pandora. Was wird herauskommen, wenn sie sich öffnet, fra- gen sich viele Kritiker auch beim dbb. Die Kommissi- on hat mehr Transparenz angekündigt. Transparenz wird die Kommission nun aber auch in die so genannte LuxLeaks-Affäre bringen müssen. Vermutlich war alles legal. Gerade weil der langjähri- ge luxemburgische Regierungschef nun aber an der Spitze der Kommission steht, wird die Oase an Mosel und Sauer sich wohl steuerpolitisch auf neue Zeiten einstellen müssen. Auch legale Steuertricks richten viel Schaden in Europas Volkswirtschaften an. Nicht zuletzt deshalb fordert die Europäische Union der Unabhängigen Gewerkschaften (CESI) mehr Steuer- gerechtigkeit. Einblick und Ausblick dieser Ausgabe fokussieren auf die innere Sicherheit, die mehr denn je mit der äuße- ren verzahnt, wenn nicht gar von ihr abhängig ist. Die Redaktion wünscht viel Freude beim Lesen.

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9. Jahrgang

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Inhalt

Editorial:

Turbulente Zeiten 1 _______________________________________________________________________

Bericht aus den Institutionen:

Neue Kommission/ LuxLeaks/ Streit um EU-Haushalt/ Angst vor Deflation/ TTIP/ Schwache Wirtschaft, mehr Armut/ Arbeits- bedingungen in Europa/ Bildung und Aus- bildung/ Jugendarbeitslosigkeit/ Sicherheit und Arbeitsschutz/ EuGH zu Sozialhilfe und Berufsunfähigkeitsrenten/ Diskriminierung 2-8 _______________________________________________________________________

dbb in Europa:

Zur neuen Kommission/ TTIP und TiSA: Keine Generalkritik, aber größte Vorsicht; Ausschluss des Bildungssektors/ Deutsch- land braucht Europa/ Zum Beschäftigungs- gipfel/ Zum EU-Gleichstellungsbericht 9-15 _______________________________________________________________________

Neues von der CESI:

Steuergerechtigkeit in Europa/ Anerkennung und Schutz für medizinisches Personal/ Neue Wege/ Arbeitstreffen der CESI Youth 16-18 _______________________________________________________________________

Bürger und Verbraucher:

Unter Strom 19 _______________________________________________________________________

Ausblick:

Europas Anti-Terror-Maßnahmen Ausländische Kämpfer in Europa

Termine 20-22 _______________________________________________________________________

Einblick:

Gespräch mit Rob Wainwright, Direktor des Europäischen Polizeiamts Europol

Impressum 23-26

Editorial

Turbulente Zeiten

Europas öffentliche Dienste stehen seit Jahren unter großem Druck. In vielen EU-Staaten, besonders in den Euro-Krisenländern, wird der Sparstift angesetzt. Teilweise massiv. Dass die Wirtschaft wieder in Gang kommt, ist von elementarer Bedeutung, auch für die öffentlich Bediensteten. Bis ins Jahr 2014 hinein schien es, als bleibe Deutschland trotz eines vorüber-gehend langsameren Wachstums das Powerhaus Europas. Inzwischen zeigen aber viele Indikatoren nach unten. Die internationalen Bedrohungslagen, Russland und die arabische Welt, machen der deut-schen Wirtschaft zu schaffen. Die neue EU - Kommis-sion will sich gegen eine weitere Eintrübung stem-men, endlich Wachstumskräfte freisetzen. Viel Zeit bleibt nicht mehr, denn die Europäische Zentralbank greift zu zunehmend verzweifelten Mitteln, eine die wirtschaftliche Substanz langsam zermahlende Ab-wärtsspirale zu verhindern.

Kernthemen der neuen Kommission werden Innova-tion und Wachstum sein. Das Juncker-Team will sich konzentrieren auf Initiativen und Maßnahmen, die zu mehr wirtschaftlicher Dynamik beitragen. Im heftig umstrittenen transatlantischen Freihandels-abkommen TTIP sieht Brüssel ein außerordentlich wichtiges Instrument, dem seit der Ukrainekrise zusätzlich eine geostrategische Dimension beikom-men dürfte. Aus gewerkschaftlicher Sicht bleibt TTIP aber in vielerlei Hinsicht eine Büchse der Pandora. Was wird herauskommen, wenn sie sich öffnet, fra-gen sich viele Kritiker auch beim dbb. Die Kommissi-on hat mehr Transparenz angekündigt.

Transparenz wird die Kommission nun aber auch in die so genannte LuxLeaks-Affäre bringen müssen. Vermutlich war alles legal. Gerade weil der langjähri-ge luxemburgische Regierungschef nun aber an der Spitze der Kommission steht, wird die Oase an Mosel und Sauer sich wohl steuerpolitisch auf neue Zeiten einstellen müssen. Auch legale Steuertricks richten viel Schaden in Europas Volkswirtschaften an. Nicht zuletzt deshalb fordert die Europäische Union der Unabhängigen Gewerkschaften (CESI) mehr Steuer-gerechtigkeit.

Einblick und Ausblick dieser Ausgabe fokussieren auf die innere Sicherheit, die mehr denn je mit der äuße-ren verzahnt, wenn nicht gar von ihr abhängig ist.

Die Redaktion wünscht viel Freude beim Lesen.

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Neue Kommission nimmt ihre Arbeit auf

Mit großer Mehrheit stimmte das Europäische Parlament am 22. Oktober für das von Jean-Claude Juncker geführte Kommissionsteam. Tags darauf ernannte der Europäische Rat die neue Kommission. Juncker bezeichnete sein Team als die Kommission der letzten Chance. „Europas Herausforderungen dulden keine Aufschub“, laute das Motto des Tages. Am 1. November nahm die neue Kommission ihre Arbeit auf, ihre Amtszeit endet am 31. Oktober 2019. Am 12. November kündigte die Kommission ihr erstes Arbeitsprogramm an, dessen Veröffentlichung für Mitte Dezember zu erwarten ist. Der deutsche Kommissar Günther Oettinger sprach in Berlin über die künftigen Herausforderungen.

„Ab heute werden mein Team und ich hart daran arbeiten, den von uns versprochenen Neubeginn für Europa zu schaffen“, erklärte Jean-Claude Juncker zum Amtsantritt der neuen EU - Kommis-sion. Vor dem Europäischen Parlament hatte Juncker bereits umrissen, was er unter der letzten Chance versteht. „Entweder wir haben Erfolg dabei, die europäischen Bürger näher an Europa zu bringen, oder wir werden scheitern.“ Das Ar-beitsprogramm für 2015 soll dabei helfen, verlo-rengegangenes Vertrauen wiederherzustellen. Der Erste Vize-Präsident der Kommission, Frans Timmermans, sagte am 12. November, die Kom-mission wolle einen Neuanfang mit einer besse-ren Prioritätensetzung. „Unser erstes Arbeitspro-gramm wird sich auf eine begrenzte Anzahl von konkreten Initiativen konzentrieren, die einen positiven Unterschied für die Bürger machen“, so Timmermans, dessen Dienste das Programm ausarbeiten.

Die Kommission wird die Programmschwerpunk-te mit dem Europäischen Parlament beraten. Erstmals wird die Kommission, auch hier unter der Federführung Timmermans, das Programm auch mit den Ministern im Rat Allgemeine Ange-legenheiten beraten. „Auf diese Weise soll bei allen EU-Organen ein Bewusstsein für die Prioritä-ten geschaffen und in den Bereichen, in denen die Bürgerinnen und Bürger eine europäische Ant-wort erwarten, rascher Ergebnisse erzielt wer-den“, so die Kommission.

Günther Oettinger, zuständig für die digitale Wirtschaft, sprach am 15. November vor dem Bundesausschuss der Europa-Union Deutschland über die Aufgaben der neuen Kommission. Oet-tinger bezeichnete die Nullerjahre als „verlorenes

Jahrzehnt“ für Europa. Es bestehe angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in vielen EU - Staaten und der vielfältigen krisenhaften Entwicklungen in Europa und seiner Nachbarschaft die Gefahr eines weiteren verlorenen Jahrzehnts. Der deutsche Kommissar sprach sich für eine Negativliste nicht zu verfolgender Maßnahmen aus, damit die EU sich ganz auf die großen Herausforderungen kon-zentrieren könne. Es gelte, in die europäische Infrastruktur zu investieren, weniger in kurzfristi-ge oder nur lokal relevante Projekte. Zu seinem neuen Aufgabenfeld sagte der bisherige Energie-kommissar mit Blick auf den amerikanischen Vorsprung in der digitalen Wirtschaft: „Eine digi-tale Aufholjagd liegt vor uns.“ Die Realwirtschaft werde binnen der nächsten fünf Jahre eine digita-le Revolution erfahren.

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Andere Zeiten, andere Herausforderungen:

die erste Hallstein-Kommission im Jahr 1960 © Europäische Kommission, 2014

LuxLeaks sorgt für Unruhe

„Die LuxLeaks-Affäre zieht immer größere Krei-se“, schrieb das Luxemburger Wort am 18. No-vember. RTL-Informationen zufolge sei Juncker bereits im September von Medienvertretern auf die Steuerpraktiken des Großherzogtums ange-sprochen worden. Juncker wird vorgeworfen, in seiner langen Regierungszeit als Premier- und Finanzminister Luxemburgs Steuersparmodelle für Unternehmen gekannt und gegebenenfalls mit befördert zu haben. Aufgrund der faktischen großen Koalition im Europäischen Parlament muss Juncker wenige Nachfragen von christ- und sozialdemokratischer Seite befürchten. Unter Beschuss nehmen ihn nun vor allem die Grünen und die Linken. Juncker betonte vor dem Europäi-

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schen Parlament, dass die Steuervorschriften Luxemburgs nicht illegal seien. Die EU - Wettbe-werbskommissarin, Margrethe Vestager, unter-sucht den Fall.

Der wirtschafts- und finanzpolitische Sprecher der Grünen im Europäischen Parlament, Sven Giegold, sagte am 6. November, Junckers Glaubwürdigkeit sei beschädigt. „Juncker war als Finanzminister und Premier Luxemburgs für die Einführung der maß-geschneiderten Steuerbescheide verantwortlich. Juncker hat sich so zum Komplizen von Steuerdrü-ckern gemacht und damit andere EU-Staaten um Steuermilliarden gebracht. Er hat damit Europa geschadet.“ Juncker müsse nun ein Aktionspro-gramm gegen aggressives Steuerdumping vorle-gen, um Zweifel an einem Interessenskonflikt als Kommissionspräsident auszuräumen.

Juncker und Vestager, der Präsident und seine Kommissarin;

sie wird Licht in LuxLeaks bringen müssen © Europäische Kommission, 2014

Am 12. November erklärte Jean-Claude Juncker sich in einer außerordentlichen Aussprache vor dem Europäischen Parlament. Die Steuervorschrif-ten Luxemburgs seien rechtlich nicht zu beanstan-den. Er räumte aber ein, dass es „ein gewisses Maß an Steuervermeidung“ in Luxemburg gegeben haben könne. Das gebe es aber überall in Europa, weil die Steuerharmonisierung nicht ausreiche. Der Vorsitzende der EVP-Fraktion, der CSU-Politiker Manfred Weber, sprach Juncker sein Vertrauen aus, forderte aber mehr Transparenz bei nationalen Steuervorschriften und harmonisierte Bemes-sungsgrundlagen. Der S&D-Fraktionsvorsitzende, der italienische Sozialdemokrat Gianni Pittella, ging noch einen Schritt weiter und verlangte schwere Sanktionen gegen Staaten, die gegen Steuerrecht verstoßen. Die dänische Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager muss den Fall nun untersu-chen. Sie will zudem weitere EU - Staaten unter die Lupe nehmen.

Noch keine Lösung im Streit um EU-Haushalt

Die Verhandlungen für den EU-Haushalt 2015 zwischen Rat, Kommission und Parlament wurden am 17. November ohne eine Einigung unterbro-chen. Die Europäische Kommission muss nun einen Kompromissvorschlag erarbeiten. Die neue EU - Haushaltskommissarin Kristalina Georgieva rief alle Institutionen dazu auf, bis spätestens zum Jahresende eine einvernehmliche Lösung zu fin-den: „Wir schulden dies den europäischen Bür-gern.“ Sollte es allerdings zu keiner Einigung kommen, muss die EU ab Januar mit einem provi-sorischen Haushalt arbeiten. Monatlich wird dann pauschal ein Zwölftel des Vorjahresbudgets zur Verfügung gestellt. Eine detaillierte Übersicht über das Haushaltsverfahren findet sich hier.

Das Europäische Parlament geht vor allem mit zwei Kernforderungen in die Verhandlungen. Erstens soll genug Geld zur Verfügung gestellt werden, um die laufenden Rechnungen für 2014 begleichen zu können. Das Parlament drängt dafür auf eine Summe von mindestens 4,7 Milliarden Euro. Diese könnten nach Vorstellung des Parlaments aus außerordentlichen Einnahmen von etwa fünf Milli-arden Euro aus Strafzahlungen bezahlt werden. Die Mitgliedstaaten wollen diesen Überschuss aller-dings in die nationalen Haushalte zurückführen. Zweitens fordern die Parlamentarier genug Mittel, um den akuten Problemen wie Arbeitslosigkeit und Armut in der EU effizienter begegnen zu können. Eine weitere Forderung ist, dass die EU eine Summe von elf Milliarden Euro zusätzlich vorhält, um sie bei außergewöhnlichen Belastungen wie zum Beispiel Naturkatastrophen einsetzen zu können.

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Nachdem der Rat seinen Verhandlungsvorschlag erst nach Ablauf der eigentlichen Frist eingereicht hatte und die Verhandlungen dann ohne ein Er-gebnis endeten, verschärften die Parlamentarier den Tonfall: „Wie glaubwürdig kann eine EU sein, die einerseits ihre Mitgliedstaaten zur Deckelung ihrer öffentlichen Ausgaben aufruft und anderer-seits Unternehmer, Forscher und Erasmusstuden-ten in Schwierigkeiten bringt, weil sie ihren finanzi-ellen Verpflichtungen nicht gerecht wird?“, fragte etwa Jean Arthuis (ALDE), der Vorsitzende des Haushaltsausschusses des EU-Parlaments. Einer seiner Stellvertreter, der Deutsche Jens Geier (SPE), ergänzte: „Außer einem zusätzlichen Aderlass fällt den Finanzministerien der EU-Mitgliedstaaten offenbar nichts ein, um die Zahlungskrise der EU zu überwinden. Das sind Methoden mittelalterlicher Quacksalber statt verantwortungsbewusster Haushälter.“

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Jens Geier: „Methoden mittelalterlicher Quacksalber“

© Europäisches Parlament, 2014

Überschattet worden war die Verhandlung über den Haushalt von einer Diskussion auf dem Rat der Finanzminister Anfang November. Der briti-sche Finanzminister George Osborne war mit der Forderung in die Sitzung gegangen, ausstehende Zahlungen des Vereinigten Königreichs an die EU von 2,1 Milliarden Euro zu einem selbst gewähl-ten Zeitpunkt zahlen zu können und die Summe zu verringern. Dies hatte in den restlichen Mit-gliedstaaten öffentlichen Protest hervorgerufen. In einem Kompromiss einigten sich die Finanzmi-nister auf eine spätere Auszahlung erst nach der britischen Parlamentswahl im Mai 2015. Zudem reduziert sich die Nachzahlung auf etwa eine Milliarde Euro, da 2015 der sogenannte „Britenra-batt“ angepasst wird.

Die Angst vor der Deflation

Die Politik der Europäischen Zentralbank (EZB) trägt weiterhin stark krisenhafte Züge. Von einer normalen Geldpolitik kann keine Rede sein. Am 17. November diskutierte EZB-Präsident Mario Draghi mit dem Wirtschafts- und Währungsaus-schuss des Europäischen Parlaments über den Kurs der europäischen Notenbank. Die EZB wird getrieben von der Sorge vor einer Abwärtsspirale der Preise, die Europas Wirtschaft um viele Jahre zurückwerfen und noch höhere Arbeitslosigkeit bewirken könnte. Die Angst vor der Deflation bestimmt Draghis Handeln.

Draghi will laut EurActiv die Geldschleusen bei Bedarf weiter öffnen. Die Inflation, die Preisteue-rung, sei unerwünscht niedrig. „Wir müssen wei-ter auf der Hut sein, was Abwärtsrisiken für unse-ren Inflationsausblick angeht“, sagte der EZB - Präsident vor den EU-Abgeordneten. Da der Leit-zins bereits bei 0,05 Prozent liegt, bliebe der EZB

vor allem der höchst umstrittene Weg des Kaufs von Staatsanleihen. Draghi bestätigte diese Opti-on vor den Mitgliedern des Wirtschafts- und Wäh-rungsausschusses. Kritiker werfen der EZB vor, damit indirekte Staatsfinanzierung zu betreiben und nationale Schuldtitel zu vergemeinschaften. Zu den „unkonventionellen Mitteln“, die Draghi anzuwenden bereit ist, um eine Deflation zu ver-meiden, gehört auch der Kauf von Pfandbriefen und Kreditverbriefungen. Letztere hatten die Ban-kenkrise in den USA ausgelöst, gelten also als riskant. Der EZB scheint aber keine Wahl zu blei-ben. Die so erhöhte Geldmenge soll die Wirtschaft im Euroraum beflügeln und zugleich die Deflation bekämpfen, also die Inflation antreiben.

Brüssel und Berlin wollen TTIP, Paris bremst

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Erste Antrittsbesuche einzelner Kommissare in Berlin sind bereits erfolgt. So war die neue Han-delskommissarin, Cecilia Malmström, am 10. November bei Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel. Sie warb für das transatlantische Frei-handelsabkommen TTIP. Gabriel bekräftigte seine Unterstützung, betonte aber auch, die Diskussio-nen um den Investitionsschutz seien noch nicht abgeschlossen. Bundeskanzlerin Angela Merkel bekannte sich klar zum Freihandel zwischen Eu-ropa und den USA. Sie forderte am Rande des G20-Gipfels im australischen Brisbane, die Ver-handlungen zu TTIP müssten dringend fortgesetzt werden. Die Welt warte nicht auf Europa. Die sozialistische Regierung in Paris tritt derweil auf die Bremse.

Malmström sagte in Berlin, es sei eine ihrer ersten Aufgaben sich im Detail anzusehen, wie die Ver-handlungen über TTIP so transparent wie möglich gestaltet werden können. „Wir müssen die Be-denken, wie groß oder klein sie auch sind, ernst nehmen und erklären, dass wir auf keinen Fall unsere Standards herunterschrauben werden.“ Dabei dürften die Europäer aber nicht das große Ganze aus den Augen verlieren. „Dieses Abkom-men würde Europa Wachstum und Arbeitsplätze bringen, nicht zuletzt den kleinen und mittleren Unternehmen.“ Das gelte ganz besonders für Deutschland.

Der Bundeswirtschaftsminister lobte die neue Handelskommissarin. Sie suche aktiv den Dialog und nehme die Anliegen und Sorgen der Bürger ernst – das ist der richtige Weg, um Vertrauen zu schaffen. „Dazu gehört für mich auch, dass die Verhandlungen deutlich transparenter werden.“

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Zu CETA und TTIP sagte Gabriel weiter, Kommis-sion und Bundesregierung wollten beide einen erfolgreichen Abschluss dieser Abkommen. „Auch wenn die Diskussionen zu verschiedenen Fragen wie dem Investitionsschutz noch nicht abgeschlossen sind, sind wir dazu entschlossen, bei der Suche nach gemeinsamen Lösungen zusammenzuarbeiten.“ Gabriel will den Investi-tionsschutz nach Möglichkeit nicht im Abkom-men haben.

Angela Merkel mahnte am 17. November, das transatlantische Freihandelsabkommen zügig zu verhandeln. TTIP sei notwendig, waren sich die europäischen Staats- und Regierungschefs und US-Präsident Obama einig. Merkel betonte ange-sichts der asiatischen Konkurrenz, Europa stehe unter erheblichem Zeitdruck, das Abkommen fertig zu stellen. „Die Welt wartet nicht auf Eu-ropa und uns, sondern sie handelt, was Freihan-del anbelangt.“ Europa bleibe bisher unter sei-nen Möglichkeiten. Freihandel ermögliche Wachstum für alle Beteiligten.

TTIP: Merkel will das Abkommen, Hollande zögert

© Consilium, 2014

Während Berlin die Verhandlungen antreibt, tritt Paris auf die Bremse. Die regierenden französi-schen Sozialisten wollen EurActiv zufolge auf keinen Fall, dass die umstrittenen Investitions-schutzklauseln (ISDS) in das Abkommen aufge-nommen werden. „Wir müssen das Recht des Staates wahren, seine eigenen Standards zu setzen und anzuwenden“, zitiert EurActiv Frank-reich den französischen Staatssekretär für Au-ßenhandel, Matthias Fekl, aus einer Rede vor dem Senat. 2014 seien wegen des Streits um den Investorenschutz keine großen Fortschritte er-zielt worden. Mit einem Abschluss der Verhand-lungen sei nicht vor 2016 zu rechnen.

Schwache Wirtschaft, mehr Armut in Europa

Gerade mal um 0,8 Prozent soll die Wirtschaft 2014 in der Eurozone gewachsen sein. Auch Deutschland ist längst nicht mehr die Konjunk-turlokomotive Europas. Für die EU insgesamt sind die Zahlen mit 1,3 Prozent durchschnittli-chen Zuwachses des Bruttoinlandsprodukts et-was besser. Das liegt nicht zuletzt an Großbri-tannien, das gerade einen Boom erlebt und des-sen Wirtschaft um über drei Prozent wächst. Die EU-Kommission rechnet für 2015 mit einer leich-ten Verbesserung der Lage auch in der Eurozone. Die langen Krisenjahre haben derweil große Löcher in Europas Sozialgewebe gefressen. Jeder Vierte Europäer ist laut Eurostat von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen.

Dass eine langfristige Wachstumsprognose mit großen Unsicherheiten befrachtet ist, weiß auch die Europäische Kommission. Dennoch geht sie aufgrund der in vielen EU-Staaten unternomme-nen Strukturreformen für das Jahr 2016 von einem Wirtschaftswachstum von bis zu zwei Prozent aus. Auf nahezu unverändert hohem Niveau bleibt der Anteil armutsgefährdeter Eu-ropäer. Das europäische Statistikamt Eurostat sieht ihn 2013 bei 24,5 Prozent der EU-Bevölkerung. Folgerichtig urteilte der neue, für Arbeitsplätze, Wachstum, Investitionen und Wettbewerbsfähigkeit zuständige Vizepräsident der Europäischen Kommission, Jyrki Katainen: „Die Wirtschafts- und Beschäftigungslage ver-bessert sich nicht schnell genug.“ B

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Katainen, der bisherige finnische Regierungs-chef, unterstrich den Willen der Kommission, ein Investitionspaket in Höhe von 300 Milliarden Euro für Europa zu schnüren. Mit europäischen Geldern sollen private Investitionen angescho-ben werden. „Investitionsförderung ist die Grundvoraussetzung für wirtschaftliche Erho-lung“, so Katainen. EU-Kommissar Pierre Mosco-vici, verantwortlich für Wirtschaft und Finanzen, forderte vor dem Hintergrund der Herbstprogno-se einen Policymix. Der Franzose, an dessen Be-rufung in Deutschland Zweifel laut geworden waren, weil er zuvor Verantwortung als Finanz-minister für Frankreichs aus dem Ruder laufen-den Etat getragen hatte, sagte: „Wir müssen an drei Fronten tätig werden: glaubwürdige Haus-haltspolitik, ehrgeizige Strukturreformen und öffentliche und private Investitionen, die wir so dringend benötigen.“

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Die Herbstprognose der EU-Kommission stellt nüchtern fest, die minimale wirtschaftliche Erho-lung sei nach wie vor anfällig, es fehle in den meisten EU-Staaten noch immer an einer starken wirtschaftlichen Dynamik. „Verglichen mit ande-ren fortgeschrittenen Volkswirtschaften und frü-heren Nachkrisenzeiten scheint die wirtschaftli-che Erholung in der EU schwach.“ Die im dritten Quartal am stärksten in der Eurozone wachsende Volkswirtschaft war Griechenland, dessen Brutto-inlandsprodukt von Juli bis September um 0,7 Prozent wuchs. Griechenlands Wirtschaft bleibt aber fragil und wird noch Jahre oder gar Jahrzehn-te brauchen, ehe die Krisenfolgen wettgemacht sind, urteilen Bankexperten.

Sisyphusarbeit

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Angesichts solcher Entwicklungen und Zahlen verwundert es nicht, dass die Zahl der armen Europäer nicht rückläufig ist, sondern auf hohem Niveau verharrt. Ein Viertel der Menschen in der EU ist von Armut oder sozialer Ausgrenzung be-droht, wie Eurostat am 4. November mitteilte. In Ländern wie Luxemburg, Dänemark, Finnland, Schweden oder Tschechien ist jeder sechste Bür-ger armutsgefährdet, in Deutschland und Frank-reich etwa jeder Fünfte. Die Schlusslichter bilden Ungarn mit über 33, Griechenland mit fast 36, Rumänien mit über 40 und Bulgarien mit 48 Pro-zent der Bevölkerung.

Eurofound zu Arbeitsbedingungen in Europa

Die Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen Eurofound hat ihre politischen Erkenntnisse zu ihrer 2010 erstell-ten Erhebung zu Arbeitsbedingungen in Europa veröffentlicht. Die Schaffung von mehr und besse-ren Arbeitsplätzen sei das zentrale Ziel. Gute Ar-

beitsbedingungen spielen demnach eine ent-scheidende Rolle für einen dauerhaft stabilen Arbeitsmarkt. Bessere Arbeitsplätze und eine gute Work-Life-Balance seien zum Beispiel entschei-dende Faktoren, die sich positiv auf die Arbeits-leistung der Arbeitnehmer auswirken können. Detailliert wird dargestellt, welche Bedeutung etwa Stress und psychologischen Belastungen zukommt.

EU-Bericht zu Bildung und Ausbildung

Der jährliche „Monitor Bildung und Ausbildung“ stellt die Entwicklung von Bildungssystemen in Europa dar. Neben einer technischen und statisti-schen Analyse gibt der Bericht politische Empfeh-lungen für die Mitgliedstaaten. In der neuesten Ausgabe werden die Verbesserungsmöglichkeiten der Bildungssysteme unter den Gesichtspunkten Zustand der Bildung allgemein, Qualifikationen und Kompetenzen sowie politische Instrumente untersucht. Zudem werden in ausführlichen Länderberichten spezifische Entwicklungsmög-lichkeiten für die jeweils nationalen Systeme aufgezeigt.

Der Bericht hebt hervor, gute Bildung sei nur mit konstanten Investitionen zu erreichen. Dennoch hätten im Berichtszeitraum 2012 immerhin 19 der damals 27 Mitgliedstaaten ihre Bildungsaus-gaben gesenkt, sechs davon sogar um mehr als fünf Prozent. Der Bericht ruft die Mitgliedstaaten dazu auf, vor allem mehr in frühkindliche und höhere Bildung zu investieren. Insgesamt müsse aber nicht nur mehr sondern auch gezielter inves-tiert werden. Bislang werde in vielen Ländern zu wenig für die Ansprüche des Marktes ausgebildet. Es sei aber beispielsweise notwendig, junge Men-schen besser mit digitalen Kompetenzen auszu-statten.

Deutschland wird ausdrücklich für die duale Aus-bildung gelobt, die ein Hauptgrund für die geringe Jugendarbeitslosigkeit sei. Nach wie vor sei aber kritisch anzumerken, dass der sozioökonomische Hintergrund maßgeblich über die Bildungserfolge mitentscheide. Dies beeinflusse das komplette Berufsleben. Außerdem müsse Deutschland sich noch mehr dem Problem des Fachkräftemangels aufgrund des demographischen Wandels wid-men. Mehr Investitionen in Bildungseinrichtun-gen im Primärbereich seien notwendig. Außer-dem seien 46 Prozent der Lehrer älter als 50.

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Somit werde es in den nächsten 15 Jahren zu ei-nem Austausch von etwa der Hälfte des Lehrper-sonals kommen. In dieser Situation müssten Leh-rer teilweise Fächer unterrichten, für die sie nicht ausgebildet seien. Allerdings unterscheide sich das Fortbildungsangebot nach wie vor sehr stark von Bundesland zu Bundesland und in den unter-schiedlichen Schulformen.

Jugendarbeitslosigkeit sinkt leicht

Mitte 2013 lag die Jugendarbeitslosigkeit in Euro-pa bei einem Langzeithoch von 23,6 Prozent. Die neuesten Zahlen des EU-Statistikamts Eurostat zeigen hingegen eine leichte Aufhellung. Im drit-ten Quartal waren zwar noch immer 21,6 Prozent der jungen Menschen unter 25 arbeitslos, den-noch zeichnet sich erstmals seit Beginn der Krise wieder eine Abnahme der Jugendarbeitslosigkeit ab. Das derzeitige Niveau ist allerdings noch weit vom Vorkrisenniveau entfernt. Im zweiten Quar-tal 2008 lag die Jugendarbeitslosigkeit bei ver-gleichsweise geringen 15,4 Prozent und stieg danach sprunghaft an. Damit fiel der Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit mehr als doppelt so stark aus wie der allgemeine Anstieg in der Gesamtbe-völkerung: vor der Krise waren insgesamt 6,9 Prozent arbeitslos, derzeit sind es 10,1 Prozent.

EU-Agentur zu Sicherheit und Arbeitsschutz im Gesundheitswesen

Die europäische Arbeitsschutzagentur EU-OSHA hat einen Bericht über derzeitige und aufkom-mende Risiken im Bereich Sicherheit und Gesund-heitsschutz bei der Arbeit im Gesundheitswesen veröffentlicht. Da die Menschen in der EU im Schnitt länger Leben, steigt auch der Bedarf an Langzeitpflege. Diese findet immer weniger in den klassischen Einrichtungen statt, die auch eine kontrollierte Umgebung garantieren können. Der Schwerpunkt verschiebt sich hin zur Pflege zu Hause und in Gemeinschaftseinrichtungen. Der Bericht widmet dieser Entwicklung besondere Aufmerksamkeit.

OSHA-Direktorin Christa Sedlatschek betonte bei der Vorstellung des Berichts besonders die aktuel-len Herausforderungen für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit im Gesund-heitssektor: „Dieser Bericht wird zu einem Zeit-punkt veröffentlicht, da Beschäftigte im Gesund-heitsbereich zunehmend einer Vielzahl von Risi-ken ausgesetzt sind, die von arbeitsbedingtem

Stress oder Burn-out bis zu tropischen Krankhei-ten wie dem Ebola-Virus reichen.“ Hinzu komme, dass viele Gesundheitssysteme in Europa gegen-wärtig einen Reformprozess durchliefen, so Sed-latschek weiter. „Eines der entscheidenden Merkmale des Gesundheitssektors ist, dass die Versorgung von Patienten ganz zu Recht die Hauptpriorität darstellt — manchmal jedoch zulasten der Sicherheit und des Gesundheits-schutzes der Arbeitnehmer geht. Die Botschaft, die wir vermitteln müssen, lautet: Wenn wir eine Patientenversorgung von hoher Qualität errei-chen und erhalten wollen, müssen wir Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit zur Priorität machen.“

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Gesundheitsschutz gilt auch für Gesundheitsdienste © Zerbor - Fotolia.com

Als besondere Herausforderungen für die Branche werden in dem Bericht der Mangel an qualifizier-ten und erfahrenen Arbeitskräften, die alternde Erwerbsbevölkerung, die zunehmende Nutzung von Technologien, die neue Fähigkeiten erfordern, sowie die Einführung neuer klinischer Behand-lungspfade für mehrere chronische Erkrankungen genannt. Die Pflege zu Hause und in Gemein-schaftseinrichtungen sei auch mit Blick auf diese Entwicklungen sehr anspruchsvoll, da die Be-schäftigten in kleinen Räumlichkeiten arbeiteten, nicht ausreichend geschult seien, meist alleine arbeiteten und nur in geringem Maße oder gar nicht beaufsichtigt würden. Dennoch seien sie den gleichen Risiken ausgesetzt wie zum Beispiel in Krankenhäusern.

EuGH-Urteil zu Sozialhilfe in Deutschland

Deutschland darf EU-Ausländer vom Bezug der Grundsicherung (Arbeitslosengeld II) ausschlie-ßen. Dies urteilten die Richter des Europäischen Gerichtshofs am 11. November. Das Urteil gilt

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aber nur für eine spezielle Fallkonstellation, eine allgemeine Aussage darüber, ob EU-Ausländer Anspruch auf die sogenannten Hartz-IV-Leistungen haben, lässt sich aus dem Urteil nicht ableiten. Ein entsprechendes Urteil steht noch aus. Sicher ist aber, dass jemand dann von be-stimmten Sozialleistungen ausgeschlossen wer-den kann, wenn diese Person „sich allein mit dem Ziel, in den Genuss von Sozialhilfe zu kommen, in einen anderen Mitgliedstaat“ begibt.

Im konkreten Fall ging es um eine Rumänin, die mit ihrem Sohn 2010 nach Leipzig gezogen war. Sie besitzt weder einen Schulabschluss, noch hat sie eine Berufsausbildung abgeschlossen. In Ru-mänien ist sie nie einer Erwerbstätigkeit nachge-gangen. Die Rumänin lebt in Deutschland bei ihrer Schwester. Ihren Antrag auf Hartz IV hatten die Behörden mit der Begründung abgelehnt, die Antragstellerin sei nicht nach Deutschland ge-kommen, um eine Arbeit zu suchen. Der EuGH folgte dieser Argumentation. EU-Ausländer haben nur dann eine generelle Aufenthaltserlaubnis in einem anderen EU-Mitgliedsland in den ersten fünf Jahren, wenn sie über die nötigen eigenen Mittel zur Existenzsicherung verfügen. Das ist im vorliegenden Fall nicht gegeben, die Grundsiche-rung muss auch deshalb nicht gezahlt werden. Das vorliegende Urteil klärt nicht, ob ein Anspruch auf Grundsicherung besteht, wenn sich EU-Ausländer in Deutschland befinden und sich er-folglos um eine Erwerbstätigkeit bemühen.

Sozialleistungen für EU-Ausländer

© Kumbabali - Fotolia.com

EuGH zu Berufsunfähigkeitsrenten in Spanien

Der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof geht in seinem Schlussantrag davon aus, dass eine spanische Gesetzesbestimmung über die Berechnung von Berufsunfähigkeitsrenten in

Widerspruch zum Unionsrecht steht. Nach gel-tender spanischer Gesetzeslage richtet sich die Höhe von Renten wegen dauernder Berufsunfä-higkeit nach den Bemessungsgrundlagen der Sozialversicherungsbeiträge in den letzten acht Jahren vor dem Eintritt der Berufsunfähigkeit. Wenn in diesen acht Jahren eine Erwerbslosigkeit vorlag, wird für die Berechnung eine fiktive Bei-tragsbemessungsgrundlage verwendet. Diese richtet sich danach, ob die Person direkt vor der Erwerbslosigkeit Vollzeit oder Teilzeit gearbeitet hat. Bei Teilzeit fällt diese Berechnung entspre-chend geringer aus.

Im vorliegenden Fall ging es um eine Spanierin, die von 1971 bis 1998 in Vollzeit und dann vier Jahre in Teilzeit gearbeitet hatte. Vor Eintritt in die Erwerbsunfähigkeit 2005 war sie drei Jahre lang erwerbslos. Für diese drei Jahre wurde eine fiktive Bemessungsgrundlage verwendet, die sich an der Teilzeitbeschäftigung orientierte. Die so errechne-te Berufsunfähigkeitsrente belief sich auf 347,03 Euro. Die Spanierin legte dagegen Beschwerde ein, da sich die Rente bei einer anderen Berech-nungsmethode mit einer auf Vollzeit beruhenden Bemessungsgrundlage auf 763,76 Euro belaufen hätte. Der Generalanwalt sieht die Spanierin im Recht, es liege eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts vor. Zwar seien sowohl Männer als auch Frauen bei gleicher Faktenlage von dieser Regelung betroffen. Allerdings treffe das Gesetz signifikant mehr Frauen, da ihr Anteil an den Teilzeitbeschäftigten deutlich höher sei; 80 Prozent im Jahr 2010 und noch 73 im Jahr 2013. B

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Altersdiskriminierung in Spanien

Wer den 30. Geburtstag hinter sich gelassen hat, war bisher zu alt, um sich in der Autonomen Ge-meinschaft Asturien für den örtlichen Polizei-dienst zu bewerben. So sahen es örtliche Gesetze in der spanischen Region vor. Dagegen hatte ein potentieller Bewerber geklagt, der sich aufgrund seines Alters diskriminiert fühlte. Die Richter am EuGH gaben ihm nun Anfang November recht. Das Alter alleine sage nicht genug über die Eig-nung eines Bewerbers aus und könne deshalb nicht als Argument zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in den Kommunen her-angezogen werden. Die physische Fitness, die zweifelsohne für einige Aufgaben notwendig ist, könne etwa in Sporttests geprüft werden. Diese Hürde müsse ausreichen.

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Neue Kommission vor großen Aufgaben

„Den neuen Kommissionsmitgliedern wünsche ich viel Erfolg bei ihrer Arbeit. Es stehen große Aufgaben an.“ Mit diesen Worten hat Dietmar Knecht am 22. Oktober 2014 in Berlin die Wahl der 27 neuen EU-Kommissarinnen und Kommis-sare durch das Europäische Parlament kommen-tiert. Der Vorsitzende der dbb Grundsatzkom-mission Europa und des Landesbundes in Meck-lenburg-Vorpommern erwartet ein selbstbe-wusstes Auftreten der neuen europäischen Füh-rung. „An die EU-Kommission werden mittler-weile die gleichen Anforderungen gestellt wie an nationale Regierungen. Das heißt sowohl Transparenz in der politischen Arbeit als auch schnelle, zielgenaue Lösungen für aktuelle Her-ausforderungen.“ Dazu gehöre vor allem eine Lösung der sozialen Krise Europas.

Die neue Kommission unter der Führung ihres Präsidenten Jean-Claude Juncker müsse künftig verstärkt beschäftigungs- und sozialpolitische Initiativen nutzen, um die Mitgliedstaaten bei der Bewältigung der aktuellen Wirtschaftskrise zu unterstützen. „Natürlich liegt auch weiterhin die Hoheit über die Sozialpolitik bei den Natio-nalstaaten, daran soll sich auch nichts ändern. Allerdings haben viele der aktuellen Herausfor-derungen eine europäische Dimension, die ent-sprechend nach europäischen Lösungsansätzen verlangt. Die Kommission wird vor allem daran gemessen werden, ob sie es mit ihren Mitteln schafft, spürbar zu einer Verbesserung der Lage beizutragen“, sagte Knecht.

Knecht: Unabhängige Gewerkschaften

an Sozialgipfeln beteiligen © dbb, Urban 2014

Um nachhaltige Erfolge zu erzielen, müssten künftig noch stärker als bislang die Sozialpartner eingebunden werden: „Viele europäische Maß-

nahmen haben unmittelbare gesellschaftliche Auswirkungen. Deshalb müssen vorab die sozia-len Folgen geprüft werden, die Sozialpartner müssen daran beteiligt werden. Nur so können größere Spannungen vermieden werden.“ Knecht rief die neue Kommission zudem dazu auf, die in der CESI zusammengeschlossenen unabhängigen Gewerkschaften noch intensiver in ihre Arbeit einzubinden. „Die Vielfalt der Ge-sellschaft spiegelt sich auch in der Gewerk-schaftslandschaft wieder. Die Zahl Unabhängi-ger wächst. Es ist nur konsequent, sie etwa bei den jährlichen Sozialgipfeln zu beteiligen.“

Dies gelte ebenfalls für die weitere Arbeit der Europäischen Kommission an der Novelle der Arbeitszeitrichtlinie, zu der die Vorschläge der Sozialpartner gehört werden müssten. „Die Ar-beitnehmer dürfen durch eine neue Richtlinie nicht schlechter gestellt werden als bislang. Das Schutzniveau muss mindestens gehalten wer-den. Dies gilt insbesondere für den bestehenden, höchstrichterlich bestätigten Rechtsrahmen für die Bereitschaftsdienstzeiten.“ Auch dürfe es nur wenige, systemisch gerechtfertigte Ausnahmen bei den Wochenhöchstarbeitszeiten geben, zum Beispiel bei der Feuerwehr und den Rettungs-diensten. Knecht: „Die Europäische Kommission trägt in der Frage der Arbeitszeit eine hohe Ver-antwortung für den sozialen Frieden in Europa. Die aktuellen Einlassungen deuten darauf hin, dass sie dies in ihrem Gesetzesvorschlag berück-sichtigen wird.“

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TTIP und TiSA: Keine Generalkritik, aber größte Vorsicht

Droht eine neue Privatisierungswelle? Findet ein Generalangriff auf öffentliche Dienstleistungen statt? dbb Vize Ulrich Silberbach sprach am 5. November mit Vertretern der Europäischen Kommission und EU-Abgeordneten über das transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) und die internationalen Verhandlungen über ein Handelsabkommen über Dienstleistungen (Ti-SA). „Ich bin hier, um mir ein klares Bild zu ma-chen“, sagte der Bundesvorsitzende der komba gewerkschaft in Brüssel. Beamtenbund und komba wollten verantwortlich mit dem Thema umgehen, keine Ängste schüren, Gefahren für öffentliche Dienste aber frühzeitig erkennen und benennen. „Es geht mir um eine sachliche Aus-einandersetzung“, sagte Silberbach mit Blick auf die verhärteten Fronten zwischen Befürwortern

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und Gegnern der Abkommen in Deutschland. Silberbach betonte die dbb Forderung nach mehr Transparenz und Beteiligung.

In den Gesprächen mit dem Verhandlungsführer der Europäischen Kommission zu TiSA, Ignacio Iruarrizaga Díez, und dem TTIP-Unterhändler Marco Dueerkop erklärte Silberbach, der dbb werde keine unbegründeten Ängste gegen das Abkommen schüren. Iruarrizaga versicherte Silberbach, öffentliche Dienstleistungen seien von den Abkommen nicht betroffen. Es gehe nicht um Marktöffnung im Bereich der Daseins-vorsorge. Vielmehr könnten öffentliche Monopo-le mit Ausnahme der Telekommunikation fort-bestehen und auch öffentliche Dienstleistungen würden nicht einem neuen Wettbewerb mit privaten Anbietern ausgesetzt. „Wir werden sehr genau beobachten, ob es zutrifft, dass öffentli-che Dienstleistungen effektiv nicht von dem Abkommen berührt werden“, sagte der stellver-tretende dbb Bundesvorsitzende. Ob die Ein-schätzung der Kommission zutreffe, müsse einstweilen offenbleiben. „Richtig beurteilen können wir das erst, wenn wir die Verhand-lungsgegenstände und die jeweiligen sektoralen Ziele genau kennen.“

v.l.n.r. Ulrich Silberbach mit den EU-Abgeordneten

Evelyne Gebhardt und Bernd Lange © dbb, 2014

Die Kommission versicherte, es werde nicht zu Negativfolgen für den öffentlichen Dienst kom-men. Das Ziel sei vor allem die Nichtdiskriminie-rung, im Falle TTIPs amerikanischer Dienstleis-tungsanbieter. Die Gleichbehandlung mit inlän-dischen beziehungsweise europäischen Anbie-tern bedeute aber keine Liberalisierung oder Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen. Iruarrizaga und Dueerkop betonten, ein Viertel des weltweiten Dienstleistungshandels finde mit

oder innerhalb der EU statt. Ein Drittel der EU-Exporte seien Dienstleistungen. Von gemeinsa-men Standards bei privaten Dienstleistungen und einem Abbau mengenmäßiger Beschrän-kungen würden alle profitieren, auch die öffent-liche Hand, etwa durch höhere Steuereinnah-men.

Auch die SPD-Abgeordneten Evelyne Gebhardt und Bernd Lange betonten die gemeinsamen Chancen. Gebhardt ist die Dienstleistungsexper-tin des Europäischen Parlaments, Lange ist Vor-sitzender des mächtigen Handelsausschusses und Berichterstatter für TTIP. „Viele Befürchtun-gen haben mit den tatsächlichen Verhandlungen nicht viel zu tun“, so Lange. Die Abgeordneten begrüßten die Bereitschaft Silberbachs, zu einer Versachlichung der Debatte beizutragen. Lange geht davon aus, dass die neue Handelskommis-sarin, Cecilia Malmström, in Bälde eine umfas-sende Liste mit all den öffentlichen Dienstleis-tungen veröffentlichen werde, die von der An-wendung des Freihandelsabkommens ausge-nommen seien.

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Die sozialdemokratischen Abgeordneten spra-chen sich klar für einen sachlichen Umgang mit TTIP und TiSA aus, ebenso klar jedoch gegen den Investorenschutz durch den umstrittenen Streit-beilegungsmechanismus (ISDS) und die damit verbundene Rolle internationaler Schiedsgerich-te. „ISDS ist ein Instrument aus dem letzten Jahrhundert“, so Lange. Silberbach erkundigte sich nach Gefahren für das öffentliche Schulwe-sen. Bei der Bildung gelte es in der Tat wachsam zu sein, so die SPD-Politiker. Bildung sei nicht im Verhandlungsmandat der Kommission enthal-ten. Die Amerikaner wollten sie aber „offensiv“ einbeziehen. Gebhardt und Lange zeigten sich überzeugt, das Parlament werde seine Zustim-mung nur geben, wenn öffentliche Dienstleis-tungen in Europa nicht gefährdet würden. Die Kommission wisse das auch. Sie wolle kein Acta II, sagte Lange in Anspielung auf die Ablehnung des Handelsabkommens ACTA, mit dem Produkt-fälschungen bekämpft werden sollten. Gebhardt betonte, das Parlament werde sich, wenn das Abkommen ausgehandelt und veröffentlicht ist, die Definitionen sehr genau ansehen, ehe es seine Zustimmung gibt.

Auch gegenüber der EVP - Schattenberichterstat-terin Godelieve Quisthoudt-Rowohl (CDU) beton-te Silberbach die für den dbb essentiell zu beach-tenden Grundsätze. „Die Daseinsvorsorge darf nicht berührt werden. Der Erhalt der kommuna-

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len Selbstverwaltung ist nicht verhandelbar. Sie darf nicht relativiert werden.“ Die CDU - Abge-ordnete teilte diese Haltung, sagte aber auch: „Wenn eine Gemeinde ausschreiben will, dann kann sich auch ein Amerikaner bewerben.“

Auch Quisthoudt-Rowohl sicherte ihre aufmerk-same Beobachtung der Verhandlungen im Sinne des Schutzes öffentlicher Dienstleistungen zu. Als Schattenberichterstatterin hat sie wie Bernd Lange Zugang zu allen Dokumenten. Bis dato liege noch nicht viel Substanzielles vor, versi-cherte Quisthoudt-Rowohl. Öffentliche Dienst-leistungen würden durch TTIP nicht in Frage gestellt. Wer privatisieren wolle, müsse das re-gelkonform tun. Das sei alles. Silberbach erinner-te aber an die so genannte Ratchet-Klausel, die Rekommunalisierungen einmal privatisierter Dienste verbiete. „Solche Bestimmungen lehnt der dbb entschieden ab“, so Silberbach.

Reinhard Bütikofer

© Europäisches Parlament, 2014

Der Präsident der Europäischen Grünen, Rein-hard Bütikofer, warnte anders als Christ- und Sozialdemokraten vor der für öffentliche Dienst-leistungen vorgesehenen Negativliste. Diese Negativliste soll schätzungsweise 150 Dienstleis-tungen umfassen, die in öffentlich-rechtlichem Auftrag erfolgen und für die der Freihandel keine neuen, womöglich den Markt für private Anbie-ter öffnenden Regeln mit sich bringen soll. Sil-berbach stimmte mit Bütikofer, der sich sehr kritisch gegenüber den gegenwärtigen Verhand-lungen zu TTIP und TiSA zeigte, überein, dass eine solche abschließende Liste problematisch sei, weil sie neue öffentliche Aufgaben mögli-cherweise nicht mehr erlaube, aber auch wegen der Schwierigkeit der exakten Erfassung und Definitionen aller relevanten Bereiche des öf-fentlichen Sektors.

Bütikofer kritisierte die mangelnde Transparenz. Klimaverhandlungen würden schließlich auch vollkommen transparent geführt. „Wieso soll das nicht beim Handel möglich sein?“, fragte der Grünen Politiker. Bütikofer warnte auch vor dem geplanten Regulierungsrat. Dem würden voraus-sichtlich nur Bürokraten und Konzernlobbyisten angehören. Ebenso sei der momentan noch vor-gesehene Investorenschutz, die Möglichkeit, vor internationalen Schiedsgerichten zu klagen, nur für Konzerne relevant. Welcher kleine Mittel-ständler könne vier Millionen riskieren, die solch ein Verfahren durchschnittlich koste, fragte Bü-tikofer.

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Godelieve Quisthoudt-Rowohl © Europäisches Parlament, 2014

Silberbach tauschte sich auch mit dem Vizeprä-sidenten des Europäischen Parlaments und Prä-sidenten der Europa-Union Deutschland, Rainer Wieland, aus. Wieland selbst ist nicht mit Han-delsfragen befasst, aber auch immer gerne ein Ansprechpartner des dbb. Silberbach und die Abgeordneten wollen im Gespräch bleiben. Der dbb Vize will die weitere Entwicklung der Ver-handlungen aufmerksam verfolgen. Freihandel sei prinzipiell gut und wichtig. „Unsere Wirt-schaft in Europa braucht zusätzliche Wachs-tumsimpulse. Nur wenn die Wirtschaft wächst, hat auch der öffentliche Dienst eine gute Zu-kunft. Der dbb wird sich in Sachen TTIP und TiSA wie bisher differenziert und umsichtig positio-nieren, dabei aber sehr genau darauf achten, dass keine roten Linien überschritten werden.“

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Ausschluss des Bildungssektors aus TTIP

Der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), Udo Beckmann, hat bereits vor Negativfolgen des transatlantischen Freihan-delsabkommens TTIP für das öffentliche Schulwe-sen gewarnt. Einzelne Landesverbände des VBE wenden sich nun an die deutsche Politik und for-dern eindringlich, den Bildungssektor aus den TTIP-Verhandlungen auszuschließen. Die Landta-ge sollen dafür sorgen, dass der Druck auf Berlin und damit auf Brüssel wächst, die Verhandlungen zwischen EU-Kommission und US - Handelsminis-terium in diesem Sinn zu beeinflussen.

„Regeln für den kommerziellen Handel dürfen keinesfalls die Möglichkeiten der Regierung und der zuständigen öffentlichen Behörden ein-schränken, öffentliche Bildung in hoher Qualität bereitzustellen“, sagte etwa Michael Blank, der VBE-Landesvorsitzende in Mecklenburg-Vor-pommern. Der VBE befürchtet, dass TTIP zu einer Privatisierung und Kommerzialisierung von Bil-dung führt. „Die intransparente Verhandlungs-führung über TTIP und die bisherige stark einge-schränkte Einbindung der nationalen Parlamente bestärkt uns in unseren Befürchtungen, den Bildungsbereich und alle in ihm Beschäftigten vor vollendete Tatsachen stellen zu wollen.“

Der VBE beobachtet die Aktivität von Wirt-schaftslobbyisten, die sich bei der EU - Kommis-sion und auch nationalen Regierungen dafür einsetzen, die Bedingungen für private Schulen im Rahmen von TTIP zu verbessern. Blank appel-liert an seine Landesregierung: „Im Namen des VBE bitte ich Sie um Ihre aktive Unterstützung zur Bewahrung des hohen Bildungsanspruchs in Deutschland und in der Europäischen Union. Setzen Sie sich dafür ein, Bildungsdienstleistun-gen explizit aus den TTIP-Verhandlungen auszu-nehmen.“

Lühmann: Deutschland braucht Europa

„Die europäische Integration ist Deutschlands Staatsräson. Die Bundesrepublik muss mit ihrer Außenpolitik dazu beitragen, dass die EU und der Einigungsprozess nicht scheitern“, sagte Kirsten Lühmann am 4. November bei einer Diskussions-runde der Europäischen Bewegung (EBD) in Ber-lin. Unter dem Titel „Review 2014 – Außenpolitk weiter denken“ diskutierten neben der stellver-tretenden Bundesvorsitzenden und EBD-Präsidiumsmitglied Lühmann zu diesem Thema

Martin Kotthaus vom Auswärtigen Amt, Stefan Gran vom Brüsseler Büro des DGB und Günter Lambertz, der Leiter des DIHK-Verbindungsbüros in Brüssel. Moderiert wurde die Runde von EBD-Generalsekretär Bernd Hüttemann.

„Die heutige Europäische Union krankt daran, dass die Wirtschafts- und Währungsunion ohne die stabilisierende Grundlage einer politischen Union gegründet wurde“, erläuterte Lühmann. Auch wenn es erste wichtige Schritte in diese Richtung gebe, müsse noch deutlich mehr unter-nommen werden. „Die wirtschaftlichen Ungleich-gewichte in Europa bestehen fort, haben sich im Laufe der Krise sogar verschärft. Der Stabilitäts-pakt gerät immer mehr unter Feuer.“ Deutschland müsse im Zusammenspiel mit seinen europäi-schen Partnern dafür sorgen, wirtschaftliche Erho-lung zu fördern und somit die Einhaltung des Stabilitätspakts zu ermöglichen.

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Kirsten Lühmann: Eine gute Verwaltung ist ein Standortvorteil

© dbb, 2014

„Wachstum und dauerhaft stabile öffentliche Haushalte sind allerdings nicht ohne gute öffent-liche Dienste zu haben“, so die dbb-Vizechefin. Die Qualität öffentlicher Dienstleistungen entscheide maßgeblich mit darüber, ob ein Staat im interna-tionalen Wettbewerb bestehen könne. „Eine gute, effiziente Verwaltung ist ein wichtiger Standort-vorteil. Deutschland hat davon in den vergange-nen Jahrzehnten sehr profitiert.“ Deshalb sei es im Interesse aller Mitgliedstaaten, hier weiterhin zu investieren und nicht auf Privatisierungen oder auf eine Billiglösung zu setzen, die die anstehen-den Aufgaben nicht wahrnehmen kann. „Die Er-fahrungen europaweit haben gezeigt, dass priva-tisierte Lösungen oder eine Laissez-faire-Mentalität eben nicht zwangsläufig weniger kos-

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ten. Vor allem in der Daseinsvorsorge hat sich der Rückzug des Staates häufig als Irrweg erwie-sen. Die gescheiterten Rezepte der Vergangen-heit sollten auch in Krisenzeiten nicht wieder als Rezepte der Zukunft verkauft werden.“

Zudem warb Lühmann für vertrauensbildende Maßnahmen: „In den vergangenen Jahren haben wir leider eine Abkehr vom ordentlichen Gesetz-gebungsverfahren auf europäischer Ebene er-lebt. Das mittlerweile gängige Trilogverfahren ist zu intransparent. Europäische Entscheidungen können nur noch schlecht nachvollzogen wer-den. Das muss sich dringend ändern.“ Nicht nur die europäischen Sozialpartner sondern auch maßgeblich das Europäische Parlament würden so geschwächt. „Europa ist an einem Scheide-weg. Selbst der neue Kommissionspräsident Juncker spricht von der letzten Chance. Diese müssen wir unbedingt nutzen. Deutschland braucht Europa!“

Beschäftigungsgipfel in Mailand: Jugendarbeits-losigkeit in der EU effektiv bekämpfen

Fünf Millionen Jugendliche in der EU sind arbeits-los. Vor diesem Hintergrund begrüßt die dbb jugend, dass die EU-Staats- und Regierungschefs am 8. Oktober 2014 auf einem Beschäftigungs-gipfel in Mailand diskutierten, wie die Jugendar-beitslosigkeit effektiver bekämpft werden kann. Nach dem Willen Deutschlands soll eine schnelle-re Vergabe bestehender Milliarden-Hilfen für Maßnahmen gegen die hohe Jugendarbeitslosig-keit ermöglicht werden. „Damit die Mittel zeitnah in Anspruch genommen werden können, ist eine Vereinfachung der administrativen Anforderun-gen an die Mittelverwendung unabdingbar“, sagte der stellvertretende Bundesjugendleiter Michael Gadzalla. Die Ergebnisse des Gipfels blie-ben hier zu vage. Die dbb jugend fordere eine Überprüfung, ob die von der EU bereitgestellten Mittel tatsächlich über ein aufwendiges Verfah-ren vom Europäischen Sozialfonds zur Verfügung gestellt werden müssen, bei dem die Mitglieds-länder erst komplexe operative Programme zur Genehmigung vorlegen müssen.

„Ziel muss es sein, dass die EU-Kommission diese Mittel künftig zügiger bewilligen kann“, forderte Gadzalla. Insgesamt hätten 20 Staaten konkrete Programme eingereicht, von der Kommission bewilligt seien laut Aussage der Bundesregierung jedoch nur Gelder für Frankreich, Italien und Li-

tauen. „Der bessere Weg zur Umsetzung der Maßnahmen gegen Jugendarbeitslosigkeit in der EU wäre die Einrichtung eines eigenen Notlagen-fonds, mit dem zügig und unbürokratisch auf soziale Notlagen reagiert werden kann“, ergänzte Steven Werner, Sprecher der AG Jugend in Europa der dbb jugend. Die Ausgestaltung und Organisa-tion eines solchen Fonds solle in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern entwickelt werden.

Die EU muss auch die dauerhafte Implementie-rung der Jugendgarantie beschließen, lautet eine weitere Forderung der dbb jugend: „Wird die Umsetzung der Maßnahmen erleichtert, werden auch höhere Summen erforderlich“, so Gadzalla. Demnach würde die dauerhafte und systemati-sche Einführung entsprechender Systeme laut ILO (International Labour Organization) mit 21 Milli-arden Euro zu Buche schlagen. „Gut investiertes Geld, denn einem Eurofound-Bericht zufolge wür-de ein passives Abwarten die Sozialsysteme in der EU mit jährlich 153 Milliarden Euro belasten.“ Zudem sind aus Sicht der dbb jugend weitere strukturelle Veränderungen erforderlich.

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Werde ich gebraucht?

© K.- P. Adler - Fotolia.com

„Jugendarbeitslosigkeit endet nicht mit Vollen-dung des 25. Lebensjahres“, betonte Gadzalla, weswegen man für eine Heraufsetzung der Al-tersgrenze im Rahmen der Jugendgarantie auf das 30. Lebensjahr sei. „Notwendig ist auch, einer schleichenden Akademisierung des Arbeitsmarkes entgegenzutreten. Der europäische Arbeitsmarkt muss Stellen für alle Bildungshintergründe bieten. Jugendliche mit geringerem Bildungskapital dür-fen nicht aus dem Fokus verloren gehen, und Praktika sind gerade keine nachhaltige Beschäfti-gung“, stellte Gadzalla klar: „Nachhaltig ist eine dauerhafte und qualitative Integration in den ersten Arbeitsmarkt. Nur so können jungen Men-schen in Europa Perspektiven geboten werden.“

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Entscheidend sei auch, dass die Jugendarbeitslo-sigkeit nicht nur zweimal im Jahr auf öffentlich-keitswirksamen Gipfeln Thema würde, „sondern in unserer eigenen, täglichen Wahrnehmung als europäisches Problem betrachtet werden muss“, mahnte Vanessa See , Mitglied der AG Jugend in Europa, mit Blick auf den aktuellen konjunkturel-len Abschwung in ganz Europa.

Gleichstellung: Wildfeuer zu EU-Bericht

Nach wie vor befindet sich Deutschland auf einem der hinteren Ränge in Europa, wenn es um die Gleichstellung der Geschlechter geht. Frauen haben noch nicht die gleichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt und sind viel häufiger von Altersar-mut betroffen. „Das ist ein inakzeptabler Zu-stand“, kommentierte die Bundesvorsitzende der dbb bundesfrauenvertretung, Helene Wildfeuer, einen neuen Bericht für das Europäische Parla-ment mit dem Titel „Wirtschaftliche Unabhän-gigkeit und die Lage der Frauen auf dem Arbeits-markt der Europäischen Union“. In einem so ge-nannten Gleichstellungsindex werden verschie-dene Faktoren wie zum Beispiel Arbeit, Macht und Gesundheit verglichen. Deutschland liegt bei wichtigen Indikatoren deutlich unter dem EU-Schnitt.

„Deutschland macht wenig bis gar keine Fort-schritte beim geschlechtsspezifischen Lohngefäl-le. Die strukturellen Gründe dafür sind aber nicht in Stein gemeißelt, andere europäische Staaten sind bereits deutlich weiter“, so Wildfeuer. Teil-weise habe sich das Gefälle allerdings auch nur verringert, weil besonders von Männern domi-nierte Wirtschaftszweige vom Abschwung betrof-fen waren. „Die Verschlechterungen für ein Ge-schlecht als Verbesserung für das andere zu ver-kaufen, ist ein billiger Trick. Langfristig muss es um gleich gute Arbeitsbedingungen für alle gehen und nicht um gleich schlechte!“ Bis dahin sei es aber offensichtlich noch ein weiter Weg. „Die Länder mit einer verbindlichen Geschlechterquote stehen im Schnitt aber besser da. Auch Deutsch-land muss sich noch stärker verbindlichen Quoten öffnen“, fordert Wildfeuer.

Das Lohngefälle präge besonders spürbar die Rentenansprüche von Frauen. Laut des EU - Be-richts haben Frauen in Deutschland einen im Schnitt um 44 Prozent geringeren Rentenan-spruch als Männer. EU-weit liegt diese Zahl bei 39 Prozent. „Frauen arbeiten in Deutschland noch besonders häufig in Teilzeit, ein großer Teil von

ihnen allerdings unfreiwillig. Die Übergänge von Erziehungszeiten zurück ins Berufsleben und da-mit zurück auf den Karriereweg sind in Deutsch-land besonders holprig. Das spüren die Frauen später in ihrer Altersvorsorge.“ Um hier eine sub-stantielle Veränderung zu erreichen, müsse es einen gesellschaftlichen Wandel geben. Die Karri-ere von Frauen dürfe nach einer Familienauszeit keinen irreparablen Schaden nehmen: „Trotz anderslautender Beteuerungen ist dies leider noch häufig der Fall. Wichtig ist, die unterschiedli-chen Lebensläufe von Frauen und Männern zu berücksichtigen, auch Teilzeit in Führungspositio-nen als etwas ganz Normales zu betrachten, denn nur so können Frauen der Teilzeitfalle entgehen. Ebenfalls unerlässlich ist eine gute, bezahlbare und verlässliche Kinderbetreuung, die es Frauen und Männern erlaubt, Familie und Beruf zu ver-einbaren, ohne auf vollzeitnahe Teilzeit oder Voll-zeitarbeit zu verzichten.“

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Helene Wildfeuer © dbb, 2014

Positiv hob Wildfeuer hervor, dass der Bericht einen direkten Zusammenhang zwischen gewerk-schaftlicher Organisation und einem geringeren Lohngefälle aufzeige. Dies sei zum Beispiel im öffentlichen Dienst mit starken Sozialpartnern zu beobachten. „Gewerkschaften können maßgeb-lich zu einem verbesserten Arbeitsumfeld für alle Arbeitnehmer beitragen. Es geht um Ausgleich und faire Behandlung. Nicht in allen Ländern kön-nen Gewerkschaften aber uneingeschränkt ihrer Arbeit nachgehen.“ Die EU müsse, zum Beispiel im Rahmen des europäischen Semesters, noch ver-stärkt auf die positive Wirkung starker Sozialpart-nerschaften hinweisen und entsprechend auf die Mitgliedstaaten einwirken.

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17:30 Uhr

Informationsbörse Empfang und kleiner Imbiss

18:30 Uhr

Begrüßung

Klaus Dauderstädt, dbb Bundesvorsitzender und Vize-Präsident der Europäischen Union der Unabhängigen

Gewerkschaften CESI

18:45 Uhr

Impulsvortrag

Joschka Fischer, Bundesaußenminister a.D.

Elmar Brok MdEP, Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten im Europäischen Parlament

19:45 Uhr

Podiumsdiskussion

Rolf-Dieter Krause, Leiter des ARD-Studios Brüssel

Richard Kühnel, Vertreter der Europäischen Kommission

in Deutschland

Dr. Angelika Mlinar MdEP, NEOS – Das Neue Österreich

und Liberales Forum

Prof. Dr. Werner Weidenfeld, Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung, Universität München

Moderation:

Constanze Abratzky, Phoenix

21:00 Uhr

Schlusswort

Dr. Eva Högl MdB, Vizepräsidentin der Europa-Union

Deutschland

anschl. Ausklang und Informationsbörse

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Heeger: „Steuergerechtigkeit in Europa herstellen“

In einem Beitrag für den EUobserver fordert CESI-Generalsekretär Klaus Heeger strengere Regeln, um die Steuersysteme der EU-Mitglieder gerechter und transparenter zu machen. „Die Förderung von Steuerhinterziehung hat die öf-fentlichen Dienste in Zeiten der Krise um ent-scheidende Ressourcen gebracht.“ Heeger rea-gierte damit auf die Enthüllungen zum luxem-burgischen Steuersystem. „Der jüngste Steuer-skandal in Luxemburg hat gezeigt, dass Regie-rungen einerseits bei öffentlichen Dienstleistun-gen sparen und gleichzeitig Unternehmen ermu-tigen, sich an komplexen Steuersparsystemen zu beteiligen.“

Heeger fordert die EU auf, konkrete Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung und Steuerflucht zu ergreifen: „Der G20-Gipfel zeigt, dass es Lösun-gen gibt. Allerdings gibt es in Europa einen Man-gel an politischem Willen, diese auch umzuset-zen.“ Dies sei zwar nicht einfach, allerdings sei dies kein Grund, nicht zu handeln. „Die Verwal-tungszusammenarbeit muss verstärkt werden, so dass der Informationsaustausch effektiver wird. Wichtige Schritte sind die Einbeziehung der Offenlegung des wirtschaftlichen Eigentums und Länderberichte zu genauen Angaben, wo die hauptsächlichen wirtschaftlichen Aktivitäten stattfinden.“

Klaus Heeger: Transparenz und Vereinfachung

© CESI, 2014

Um diese Änderungen auch in der Praxis umzu-setzen, müsse allerdings mehr in die Verwaltung investiert werden: „Mehr Investitionen in Perso-nal sind unerlässlich, um den erhöhten Informa-tionsaustausch zu ermöglichen. Auskünfte und Nachweise sind nutzlos ohne ausreichende Res-

sourcen, um diese verarbeiten und auf die Er-kenntnisse reagieren zu können.“ Der CESI-Generalsekretär schlägt „Transparenz und Ver-einfachung“ als Schlüsselbegriffe für kommende Reformen vor. „Europa muss zuerst mehr Trans-parenz für Steuerbescheide schaffen und dann als Priorität die Rechtsetzung für eine Richtlinie über eine gemeinsame Steuerbemessungs-grundlage mit verbindlicher Harmonisierung vorantreiben.“

Eine einzige Steuerbemessungsgrundlage könne sicherstellen, dass Gewinne nur einmal besteuert und die Steuererlöse dann zwischen den Ländern aufgeteilt würden, in denen die Firma einen Sitz hat. Heeger schlägt zudem vor, über die Einfüh-rung eines „Steuersiegels“ nachzudenken: „Ver-gleichbar mit Umweltsiegeln könnten Unter-nehmen, die sich an die Steuervorschriften hal-ten, ein Steuersiegel bekommen. Welche Metho-de auch immer wir finden, ein offener und klarer Ansatz würde uns aus dem Teufelskreis der Steuerschlupflöcher befreien.“

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Ebola: Mehr Anerkennung und besserer Schutz für medizinisches Personal

Wenn Ebola sich nicht weiter ausbreiten soll, muss es in Westafrika eingedämmt und schließ-lich gestoppt werden. Die Bundesregierung sucht freiwillige Helfer, neben Ärzten vor allem auch Krankenschwestern und Pfleger, für den Einsatz in Liberia, Guinea und Sierra Leone. Auch in eini-gen deutschen Spezialkliniken ist Pflegepersonal mit dem hochgefährlichen Virus konfrontiert. Die komba gewerkschaft im dbb vertritt Pflegeperso-nal an vielen öffentlich-rechtlichen Krankenhäu-sern. Ihr Chef, der stellvertretende dbb Bundes-vorsitzende Ulrich Silberbach, begrüßt einen ak-tuellen Forderungskatalog des Berufsrats Ge-sundheit der CESI zum Umgang mit Ebola.

„Die CESI hat Recht, wenn sie einen besseren Umgang mit dem Pflegepersonal in den EU-Staaten fordert“, so Silberbach. Für die Mitarbei-ter, die Ebola-Patienten behandeln und pflegen, müssen höchste Sicherheitsstandards gelten.“ Das betreffe auch die Ausstattung mit adäqua-ten Schutzanzügen und anderen medizinischen Hilfsgeräten, die wirksam vor einer Übertragung schützen. „Wenn es aber doch zu Infektionen kommt, wie in Spanien geschehen, dann müssen die betroffenen Mitarbeiter eine optimale medi-zinische Versorgung und ihre Angehörigen eine erstklassige Begleitung erfahren.“ Der komba

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Bundesvorsitzende zeigt sich erleichtert, dass die beiden spanischen Krankenschwestern genesen sind. „Ich bin froh, dass in den deutschen Kran-kenhäusern, die Ebola-Patienten behandeln, noch keine Infektionen aufgetreten sind.“

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© Gino Santa Maria - Fotolia.com

Von den amerikanischen Quarantänemaßnah-men gegenüber medizinischen Helfern, die aus Afrika zurückkehren, hält Silberbach nicht viel. „Das erscheint nur auf den ersten Blick sinnvoll. Bei genauerem Hinsehen stellt man fest, dass auf diese Weise diejenigen abgeschreckt werden, die wir so dringend in den betroffenen Ländern brauchen. Wer diese schwierige Arbeit leistet, darf nicht stigmatisiert werden. Diejenigen ver-dienen im Gegenteil höchste Anerkennung.“ Das Gesundheitswesen der USA wie auch Europas sei in der Lage, Erkrankungen wirksam zu isolieren. „Wir haben gesehen, dass sogar ein Entwick-lungsland wie Nigeria den Ausbruch erfolgreich gestoppt hat. Es besteht also kein Grund zur Panik, wohl aber für einen anerkennenden und fürsorglichen Umgang mit dem Personal, das für uns ins Feuer geht.“ Ebola müsse in Afrika ge-stoppt werden, so Silberbach. Die Pflegekräfte, die hier wie dort gegen Ebola im Einsatz sind, bezeichnet er als Helden. „Die gesellschaftliche Anerkennung, auch die ihrer Arbeitgeber, darf ihnen nicht versagt bleiben.“

Das Gleiche gelte aber im Prinzip für den ganzen Berufsstand. „Die Krankenschwestern und Pfle-ger leisten eine hingebungsvolle Aufgabe. Es gibt gerade für das medizinische Personal auch jen-seits von Epidemien wie Ebola immer die Gefahr von Infektionen. Die Kolleginnen und Kollegen leisten so oder so immer physisch und psychisch harte Arbeit, für die sie viel mehr Anerkennung und auch eine bessere Bezahlung verdienen.“

Gesundheitsgewerkschaften suchen neue Wege

Am 17. Oktober 2014 sind die Mitglieder des Berufsrats Gesundheit zu ihrer jährlichen Sitzung in Luxemburg zusammengekommen. Inhaltliche Schwerpunkte waren eine bilaterale Vereinba-rung für mobile Arbeitnehmer sowie - aus aktu-ellem Anlass - die derzeit im Wesentlichen noch auf Westafrika beschränkte Ebola-Epidemie und die diesbezüglichen Auswirkungen auf das Gesundheitspersonal.

Mobile Arbeitnehmer wie beispielsweise Pflege-kräfte aus Spanien oder Portugal, die in Deutsch-land arbeiten möchten, sehen sich diversen Prob-lemen gegenübergestellt. Neben regelmäßig bestehenden Sprachbarrieren sind es vor allem arbeitsrechtliche und bürokratische Herausfor-derungen, die es zu bewältigen gilt. So ist es derzeit gängige Praxis, ausländischen Arbeit-nehmern schlechtere Arbeitsbedingungen zu bieten als ihren deutschen Kollegen.

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Die, die helfen, nicht im Stich lassen

© St.Op. - Fotolia.com

Mit Hilfe von bilateralen Vereinbarungen zwi-schen den Gesundheitsgewerkschaften der EU-Mitgliedstaaten soll es den ausländischen Ge-werkschaftsmitgliedern ermöglicht werden, die inländische Gewerkschaft als erste Anlaufstelle nutzen zu können. Hierbei wird es sich nicht um eine verbindliche rechtliche Beratung handeln können, sondern vielmehr um eine erste Orien-tierungshilfe mit der Option, bei einem Eintritt in die inländische Gewerkschaft, dort den vollen Mitgliedsservice in Anspruch nehmen zu können.

Die Mitglieder des Berufsrates waren sich vor dem Hintergrund des mit dem demografischen Wandels einhergehenden Fachkräftemangels sowie der Aussicht, neue Mitglieder gewinnen zu können, einig, dieses Thema in ihren Gremien auf die Agenda zu setzen und derartige Verein-barungen nach Möglichkeit zu fördern. Ein „fol-low-up“ ist für das Frühjahr 2015 in Brüssel ge-plant.

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Hinsichtlich der derzeit grassierenden Ebola - Epidemie stellte die Vorsitzende des Berufsrats, Esther Reyes Diez, klar, dass die Medienberichte über menschliches Versagen im Zusammenhang mit der Infektion einer Krankenschwester in Madrid falsch seien. Die Infektion wurde erst dadurch ermöglicht, dass die Schutzausrüstung nicht vollumfänglich den Erfordernissen genüg-te. Die Mitglieder des Berufsrates erklärten sich solidarisch mit den Betroffenen.

Der Berufsrat einigte sich desweiteren auf eine Liste von Maßnahmen und Forderungen, die eine bessere Prävention ermöglichen und den Schutzbedürfnissen der Arbeitnehmer im Gesundheitsbereich angemessen Rechnung tragen. Unter anderem beinhaltet dies die flä-chendeckende Schulung und Qualifizierung der Beschäftigten bezogen auf hoch-infektiöse Er-krankungen, eine qualitativ hochwertige Ausrüs-tung, die Berücksichtigung der besonderen Be-dürfnisse bestimmter Risikogruppen. So etwa die temporäre Versetzung von Schwangeren in un-gefährlichere Bereiche sowie die Einbeziehung des familiären Umfelds in sämtliche Maßnah-men. Ein entsprechendes Papier wird die CESI kurzfristig an den EU - Kommissar für Gesund-heit und Verbraucherschutz senden.

(Jan Oliver Krzywanek)

CESI Youth: erstes Arbeitstreffen in Brüssel

Seit einem Jahr hat die CESI wieder eine aktive Jugendorganisation. CESI Youth Sprecher Mat-thäus Fandrejewski zieht ein positives Fazit: „Wir geben der Jugend der unabhängigen Ge-werkschaften in Europa eine Stimme. Vor allem in Zeiten der Krise ist es wichtig, dass die Jugend bei politischen Entscheidungen von großer Tragweite mitentscheiden kann.“ Nachdem die CESI Youth bereits im Mai erfolgreich mit einem eigenen Projekt am European Youth Event in Straßburg teilgenommen hatte, trafen sich am 31. Oktober nun erstmals die Jugendvertreter aus den Mitgliedsgewerkschaften in Brüssel, um über die aktuellen Herausforderungen der euro-päischen Jugendpolitik und die inhaltlichen und strukturellen Leitlinien der CESI Youth für die kommenden Jahre zu diskutieren.

An dem Treffen nahmen junge Gewerkschafter aus Italien, Luxemburg, Polen, Ungarn und Ös-terreich teil. Für die dbb jugend waren Vanessa

See, Sebastian Spindler und Steven Werner vor Ort. Sebastian Spindler beurteilte das Treffen positiv: "Wir haben heute gesehen, wie komplex und unterschiedlich die Ansätze in Europa sind. Deshalb ist ein regelmäßiger Austausch mit der CESI Youth wichtig. Dadurch können gemeinsa-me Strategien für Europas Jugend entwickelt werden." Dies könne zum Beispiel durch eine verstärkte Debatte über die Anerkennung non-formaler Bildung oder die Stärkung des dualen Ausbildungssystems in Europa geschehen. Ste-ven Werner ergänzte: „Die CESI Youth ist ein guter Ort für die inhaltliche Zusammenarbeit zwischen jungen Gewerkschaftern europaweit.“

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dbb jugend bei der CESI in Brüssel v.l.n.r. Sebastian Spindler, CESI Youth Sprecher

Matthäus Fandrejewski, Vanessa See und Steven Werner © dbb, 2014

Matthäus Fandrejewski hob besonders die Zu-sammenarbeit mit dem European Youth Forum hervor. „In den vergangenen Monaten haben wir zusammen schon erste inhaltliche Forderungen präsentieren können. Der Zusammenschluss europäischer Jugendorganisationen hilft uns, unsere Positionen an die richtigen Entschei-dungsträger heranzutragen.“ Als Schwerpunkte der kommenden Monate sieht der CESI Youth Sprecher vor allem den Schutz prekär Beschäftig-ter, den gesicherten Übergang von Ausbildung in ein festes Beschäftigungsverhältnis und die praktische Umsetzung der Jugendgarantie in Europa. „Gewerkschaften tragen bei diesen Themen eine besondere Verantwortung. Diese wollen wir auch als CESI Youth wahrnehmen.“

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Vorabinfo erwünscht

„Verbraucher, die im Rahmen der allgemeinen Versorgungspflicht mit Strom und Gas beliefert werden, müssen rechtzeitig vor Inkrafttreten jeder Preiserhöhung über deren Anlass, Voraus-setzungen und Umfang informiert werden.“ So entschieden es die Richter am Europäischen Ge-richtshof am 23. Oktober. Grundlage der Entscheidung waren die sogenannte „Stromricht-linie“ und die „Gasrichtlinie“ aus Deutschland. Darin wurde festgelegt, dass die Versorger den Tarif für Lieferungen von Strom und Gas ändern können. Allerdings mussten sie die Verbraucher nicht vor Inkrafttreten der Änderung informieren. Der Gerichtshof wies in seiner Entscheidung da-rauf hin, dass diese Regelung dem hohen An-spruch des Verbraucherschutzes nicht gerecht werde. Kunden müssten genug Zeit haben, ihren Vertrag gegebenenfalls zu kündigen oder gericht-lich gegen die Vertragsänderung vorzugehen. Um sich die nötige Sachkenntnis für solche Entschei-dungen anzueignen, müsse der Versorger seine Kunden rechtzeitig informieren, dies sei so aus-drücklich in der entsprechenden EU-Richtlinie vorgesehen.

Unter Strom

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Auswärtige Behandlung

Unionsbürger sind frei, sich in jedem Land der Europäischen Union medizinisch behandeln zu lassen. Die Erstattung der Kosten durch ihre heimische Krankenkasse ist allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Die vor-genommene Behandlung muss im Leistungska-talog der Krankenversicherung vorgesehen sein. Wenn dies der Fall ist, muss auch noch ausge-schlossen werden können, dass die nötige Be-handlung im Herkunftsland rechtzeitig hätte vorgenommen werden können, urteilte nun der

EuGH. Geklagt hatte eine Rumänin, die sich in Deutschland am Herzen operieren lies, weil die nötigen medizinischen Geräte in ihrem Heimat-land vorübergehend nicht verfügbar waren. Die rumänischen Gerichte müssen nun prüfen, ob die Behandlung tatsächlich nicht mehr rechtzei-tig hätte stattfinden können. Falls nicht, müssen der Rumänin die Behandlungskosten in voller Höhe erstattet werden.

Fisch in Gefahr

Der rote Thun ist ein Stachelflosser und gehört zur Familie der Makrelen. 2008 geriet die Art aufgrund der Fischerei im Mittelmeer und im Atlantik vor Frankreichs Küste in starke Be-drängnis. Die Europäische Kommission sah den Fortbestand des roten Thuns, der über drei Meter lang und über 300 Kilo schwer werden kann, akut bedroht. Deshalb wurden die französischen Behörden angewiesen, die Fangerlaubnis zu-rückzuziehen. Die Saison wurde somit um 14 Tage verkürzt. Einige Fischer klagten gegen diese Entscheidung, da ihnen dadurch relevante Ein-nahmen entgangen seien. Die Richter in Luxem-burg konnten dieser Argumentation zwar folgen, allerdings müssten die Fischer bei bestimmten Arten mit solchen Sofortmaßnahmen rechnen, da diese der Kommission ausdrücklich gestattet sind, um Bedrohungen der Ökosysteme abzu-wenden. Ein Schadensersatz stehe den Fischern deshalb nicht zu.

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Glück in Italien

Bislang mussten Italiener für Gewinne aus Glücksspiel keine Einkommenssteuer bezahlen, vorausgesetzt der Gewinn stammte aus dem Inland. Wurde die Summe hingegen im Ausland erspielt, wurde der volle Einkommensteuersatz fällig. Die italienische Regierung begründete dies damit, dass bei inländischem Glücksspiel über die Vergnügungssteuer der staatliche Anteil schon vor Auszahlung der Gewinne einbehalten werde. Der EuGH urteilte aber, eine solche Rege-lung verstoße gegen die Dienstleistungsfreiheit, da es weniger Anreize für die Teilnahme an aus-ländischem Glücksspiel gebe. Einen besonderen Schutz der Verbraucher konnten die Richter ebenfalls nicht sehen, da diese durch die fehlen-de Besteuerung inländischer Gewinne sogar motiviert sein könnten, am Glücksspiel teilzu-nehmen. Künftig müssen alle Gewinne befreit sein, oder besteuert.

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Europas Anti-Terror-Maßnahmen Ausländische Kämpfer in Europa

von Thomas Syberg

In der Debatte über Europas innere Sicherheit spiegelt sich deutlich die angespannte Weltlage wider. Die Krisen und Kriege unter anderem in der arabischen Welt wirken sich unmittelbar auf Europa aus. Ein besonderes Problem entsteht dabei durch zurückkehrende Kämpfer aus dem Kriegsgebiet, die aufgrund ihrer Radikalsierung und ihrer Kampferfahrung zum Sicherheitsrisiko in den EU-Mitgliedsländern werden können. Einigkeit herrscht darüber, dass die National-staaten dieser Entwicklung wirkungsvoll nur im europäischen Verbund begegnen können. Doch welche Lösungen hat Europa für diese Problema-tik? Welche konkreten Maßnahmen wurden ergriffen, was ist geplant, was umstritten? Ein Überblick.

Am 24. Mai 2014 betrat ein junger Mann das jüdische Museum in Brüssel und feuerte mit einer Schnellfeuerwaffe auf Besucher und Mit-arbeiter. Vier Menschen erlagen ihren Verlet-zungen. Wenige Tage später konnte der mut-maßliche Täter, ein 29-jähriger Franzose mit algerischen Wurzeln, in Frankreich festgenom-men werden. Vor der Tat hatte er sich etwa ein Jahr lang in Syrien aufgehalten und dort für den sogenannten „Islamischen Staat“ gekämpft. Vor seiner Abreise nach Syrien hatte er fünf Jahre in einem französischen Gefängnis verbracht. Er-mittler vermuten, dass seine Radikalsierung maßgeblich dort stattfand.

Die Sicherheitsbehörden in Europa gehen von einer wachsenden Zahl solch radikalisierter Ein-zelkämpfer aus. Spätestens seit dem 11. Sep-tember 2001 sind die Sicherheitsbehörden für das Problem ausländischer Kämpfer sensibili-siert. Doch erst der Konflikt in Syrien und Irak hat zu einem verstärkten politischen Handlungs-druck gegenüber diesem Bedrohungsszenario geführt: Einzelne reisen in Krisengebiete, um dort in den Kampf zu ziehen. Teilweise kehren sie gewaltbereit und radikalisiert in ihre Ausgangs-staaten zurück. Die Gefahr von Terroranschlägen auch in Europa steigt.

Genaue Zahlen, wie viele Kämpfer tatsächlich aus Europa in die aktuellen Krisengebiete einge-reist sind, gibt es hingegen nicht. Verschiedene wissenschaftliche Studien kommen beim aktuel-len Konflikt in Syrien und Irak zu einer Schätzung von 4.000 bis 11.000 ausländischen Kämpfern.

Das Londoner King’s College schätzt den Anteil europäischer Kämpfer an dieser Zahl auf sieben bis elf Prozent. Die amerikanische Denkfabrik Brookings geht von etwa 2.500 Kämpfern aus westlichen Staaten aus.

Gerade aus dieser Unsicherheit über das tatsäch-liche Gefährdungspotential entsteht ein diffuses Sicherheitsbild. Zudem greifen die Medien ein-zelne Fälle, wie die des Berliner Rappers Denis Cuspert mit dem Künstlernamen „Deso Dogg“ heraus und tragen so zu einem öffentlichen Zerrbild bei. Selbst wenn ein Einzelner als Kon-fliktteilnehmer erfasst wird, lässt sich daraus nicht automatisch ein Gefährdungspotential ableiten. Viele der Kriegsrückkehrer sind trauma-tisiert und desillusioniert.

Bereits Im September 2011 wurde das „Radicalisation Awareness Network“ eingerich-tet. Das europäische Netzwerk soll dabei helfen, die Radikalisierung einzelner schon in der An-fangsphase aufzuhalten oder, falls es dafür schon zu spät sein sollte, zumindest für eine Entradikalisierung einzutreten. Dazu werden sogenannte „frontliners“ unterstützt, die im direkten Kontakt mit dem betroffenen Individu-um und seinem Umfeld für Lösungen sorgen sollen. In Fortbildungen und Workshops soll zum Beispiel Lehrern vermittelt werden, wie sie bei Schülern in einem Alter zwischen zwölf und 20 Jahren Anzeichen von Radikalisierung entdecken können und welche Handlungsmöglichkeiten es in solchen Fällen gibt. Ähnliches wird auch für Strafvollzugsbedienstete angeboten. Das Perso-nal in Justizvollzugsanstalten soll noch stärker für die Gefahr der Radikalsierung sensibilisiert werden, so wie sie etwa beim mutmaßlichen Täter aus Brüssel stattfand.

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Um die tatsächlichen Erkenntnisse über die Ge-fährdungslage in Europa besser zu überschauen, hat sich der Europäische Rat für Inneres dem Thema „ausländische Kämpfer“ seit Anfang 2013 besonders angenommen. Die Mitgliedstaaten wurden aufgerufen, besonders eng zusammen-zuarbeiten und sich untereinander abzustim-men. Auch die Europäische Kommission unter-stützt die gemeinsamen europäischen Bemü-hungen. Der neue EU-Kommissar für Migration und Inneres, Dimitris Avramopoulos, sieht die Rolle der Kommission in der Unterstützung der Mitgliedstaaten. In seiner Vorstellung vor dem Parlament am 30. September 2014 sagte er: „ Es ist dringend notwendig, den Kampf gegen den Terrorismus zu verschärfen, insbesondere durch

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die Auseinandersetzung mit der Frage der soge-nannten ausländischen Kämpfer. Die EU muss den Mitgliedstaaten bei der Bewältigung dieser Bedrohung helfen, durch Maßnahmen zur Ver-hütung und Bekämpfung von Radikalisierung und durch Instrumente, um die Reiserouten aus-ländischer Kämpfer zu offenbaren.“ Auch die neue Außenbeauftragte der Europäischen Union, die frühere italienische Außenministerin Federi-ca Mogherini machte sich kurz nach ihrer Nomi-nierung als neue EU-Chefdiplomatin bereits für eine bessere Grenzsicherung gegen ausländische Kämpfer stark. „Die Arbeit für den Frieden in der ganzen Region nicht nur als idealistische Bezug auf Werte, sondern auch als ein besonderes Inte-resse für unsere Bürger.“

Bereits im Juni 2013 nahm der Rat ein 22 Punkte-Programm an. Maßgeblich an der Ausarbeitung des umfassenden Plans beteiligt war der Anti-Terror-Koordinator der Europäischen Union. Ziel war es, die Reisebewegungen der ausländischen Kämpfer einzuschränken, verdächtiges Verhal-ten früher zu entdecken und die Koordinierung mit Drittstaaten zu verbessern. Konkret mündet dies unter anderem in folgende Vorschläge: Die Außenbeauftragte soll einen monatlichen Be-richt über die Aktivitäten bewaffneter Gruppen in Syrien vorlegen und über ihre Zuordnung und Ziele informieren. Außerdem soll Europol fortlau-fend analysieren, wie die Reisen von ausländi-schen Kämpfern organisiert und finanziert wer-den und welche Netzwerke und Einrichtungen die Rekrutierung ermöglichen. Darüber hinaus wird die Kommission aufgefordert, Hilfsprojekte aufzulegen, in denen junge Menschen vor Ort in Syrien Unterstützung leisten können. So sollen jene erreicht werden, die sich humanitär betäti-gen wollen.

Auch die europäische Grenzschutzagentur FRONTEX wurde aufgefordert, den Sicherheits-behörden ihre Erkenntnisse über Reiserouten von ausländischen Kämpfern darzulegen. Damit sollen wichtige Informationen für ein geplantes Handbuch zu dieser Thematik zusammengefügt werden. Insgesamt soll vor allem die Zusam-menarbeit mit Drittstaaten verbessert werden. Dazu gehören vorrangig die Türkei, Jordanien, Ägypten, Marokko, Libyen, die Golfstaaten, Russ-land, die zentralasiatischen Republiken und der Westbalkan. Wichtigste Ziele einer verstärkten Zusammenarbeit sind der bessere Informations-austausch und gemeinsame Aktionen gegen die Radikalisierung.

Etwa zeitgleich wurde unter der Schirmherr-schaft von Belgien eine regelmäßige Arbeits-gruppe besonders betroffener Mitgliedstaaten ins Leben gerufen, um weitere Maßnahmen vorzubereiten. Unter anderem einigten sich die-se Länder darauf, Daten zu ausländischen Kämp-fern etwa über Europol besser zusammen aus-zuwerten und auf europäischer Ebene für weite-re Maßnahmen zu werben. Der Europäische Rat im Oktober 2014 machte das Thema abermals zu einem der Hauptdiskussionspunkte. Der Rat drängte nochmals auf die Umsetzung des 22-Punkte-Plans und forderte zusätzliche Aktionen, da sich auch der öffentliche Druck und das Prob-lembewusstsein in der Zwischenzeit verstärkt hatten.

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Die Grenzen des Islamischen Staats sind die der Welt © imaginando - Fotolia.com

Uneinigkeit herrscht nach wie vor bei der Um-setzung verschärfter Informationspflichten für Fluggesellschaften. Um die Ein- und Ausreise von ausländischen Kämpfern verhindern zu können, drängen die Staats- und Regierungschefs das Europäische Parlament, einen Vorschlag zur Übermittlung von Passagierdaten möglichst noch dieses Jahr zuzustimmen. Künftig sollen Fluggesellschaften bei internationalen Flügen verpflichtet sein, umfassende Daten aus ihrem Reservierungssystem zentral weiterzuleiten. Diese Daten sollen über einen längeren Zeitraum hinweg gespeichert werden. Datenschützer äu-ßern starke Kritik an diesem Vorgehen. Aller-dings ist eine ähnliche Datenübermittlung seit mehreren Jahren im Flugverkehr zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union Normalität geworden. Ob noch dieses Jahr ein Kompromiss erreicht werden kann, ist zumindest fraglich. Beim Dezemberrat soll die weitere Ent-wicklung erneut diskutiert werden.

Auch auf internationaler Ebene gab es Initiati-ven, der Problematik ausländischer Kämpfer zu begegnen. So nahm der Sicherheitsrat der Ver-

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einten Nationen am 24. September 2014 ein-stimmig Resolution 2178 (2014) an. Darin wird gefordert, die Mitgliedstaaten sollten „die Rekru-tierung, die Organisation, den Transport oder die Ausstattung von Personen [verhindern], die zu einem anderen als ihrem Wohnsitzstaat oder ihrem Herkunftsstaat reisen, zum Zwecke der Begehung, Planung oder Beteiligung an terroris-tischen Handlungen“. Diese Reisebeschränkun-gen sollen möglichst von allen UN-Mitgliedern weltweit umgesetzt werden.

Was wird er tun, wenn er zurückkehrt?

© Oleg_Zabielin - Fotolia.com

Die Umsetzung der auf europäischer und inter-nationaler Ebene angeregten Maßnahmen liegt weitestgehend in der Verantwortung der Mit-gliedstaaten. In Deutschland legte Bundesjus-tizminister Heiko Maas Ende Oktober entspre-chende Vorschläge vor. „Künftig soll sich auch strafbar machen, wer Deutschland verlassen will, um sich an schweren Gewalttaten im Ausland zu beteiligen oder um sich für die Teilnahme an schweren Gewalttaten ausbilden zu lassen“, erläuterte der Minister. Deutschland setze damit die entsprechende UN-Resolution um. Weiter erläuterte Maas: „Wir werden einen eigenstän-digen Straftatbestand der Terrorismusfinanzie-rung schaffen. Wenn wir Terrororganisationen wie ISIS in ihrem Kern treffen wollen, müssen wir versuchen, ihre Finanzquellen trocken zu legen.“

Der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizei-gewerkschaft (DPolG) Rainer Wendt begrüßte grundsätzlich die Vorschläge Heiko Maas‘. „Un-ser Rechtsstaat ist nicht wehrlos und reagiert auf die Bedrohung durch radikale Kräfte, die im Aus-land Terror und Gewalt verbreiten und hier in Deutschland für Angst und Schrecken sorgen

wollen. Die jetzt beschlossenen gesetzlichen Schritte sind die richtige und angemessene Ant-wort auf diese Herausforderung. Wenn nun auch das Personalausweisgesetz geändert und die Ausreise von Dschihadisten durch Einziehung des Personalausweises erschwert wird, können alle diese Schritte ein wirksamer Beitrag zum Schutz vor Terror auch in Deutschland sein.“

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Allerdings fordert Wendt auch weitere Schritte, wie etwa den Entzug der deutschen Staatsbür-gerschaft bei Doppelstaatlern und das grund-sätzliche Verbot der Sympathiewerbungen für Terrororganisationen „Auch die derzeitige Straf-bestimmung der Ausbildung in einemTerror-camp müsste dringend modifiziert werden, da der subjektive Tatnachweis quasi nicht geführt werden kann.“ Neben den gesetzlichen Bestim-mungen dürfe die Politik aber auch die Ausstat-tung der Sicherheitsbehörden nicht vernachläs-sigen: „Alle gesetzlichen Schritte dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Sicher-heitsbehörden mit genügend Technik und Per-sonal ausgestattet sein müssen, um dies alles auch durchzusetzen. Es nutzt nichts, gesetzliche Verbote zu erlassen, wenn sich keine Polizisten finden, die das anzeigen und keine Staatsanwäl-te da sind, um Anklageschriften zu verfassen. Die chronische Überlastung unserer Strafverfol-gungsbehörden bleibt eine politische Dauerauf-gabe, die in keiner Weise bewältigt ist.“

Termine

24.11.2014 Europäischer Abend „Europa regieren?!“, dbb forum, Berlin; 17.30 Uhr

24.-27.11.2014 Sitzung Europäisches Parlament, Straß-burg

26.11.2014 Bundestag: Ausschuss für Angelegenhei-ten der EU, Berlin

01.12.2014 Podiumsdiskussion: Europa und seine Minderheiten: welche Perspektive gibt es für eine Integration der Roma? Haus der Katholischen Kirche, Stuttgart, 18.00 Uhr

02./03.12.2014 Seminar: Europa gemeinsam gestalten: Das EU-Programm ›Europa für Bürgerin-nen und Bürger‹ (2014–2020), Haus der Kultur, Bonn, 9.30 Uhr

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Gespräch mit Rob Wainwright, Direktor des Europäischen Polizeiamts Europol

Seit April 2009 ist der 47jährige Waliser Rob Wain-wright Direktor des Europäischen Polizeiamts Euro-pol. Wainwright studierte an der London School of Economics, schloss mit einem Bachelor in Science ab und trat 1989 in den britischen Staatsdienst ein. Sei-ne Aufgabengebiete in der Verwaltung, in der er bald Führungsverantwortung übernahm, waren un-ter anderem organisierte Kriminalität, Terrorismus-abwehr und nachrichtendienstliche Analyse. Von 2000 bis 2003 leitete Wainwright das britische Ver-bindungsbüro bei Europol. Gleichzeitig unterstand ihm die britische Europol-Einheit in London. 2003 wechselte er zum National Criminal Intelligence Ser-vice (NCIS), einem polizeilichen Nachrichtendienst. Dort übernahm er als Direktor für internationale Angelegenheiten die Leitung für internationale Ope-rationen. Zudem zeichnete er in Großbritannien ver-antwortlich für die Entwicklung einer Strategie ge-gen illegale Einwanderung. Ab 2006 leitete er die in-ternationale Abteilung der britischen Serious Orga-nised Crime Agency (SOCA), die sich mit der Bekämp-fung der schweren organisierten Kriminalität in Großbritannien befasst.

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Europathemen: Wie mächtig ist die Organisierte Kriminalität in Europa?

Wainwright: Organisierte Kriminalität (OK) ist ein zunehmend dynamisches und komplexes Phäno-men, das eine bedeutende Bedrohung für Sicher-heit und Wohlstand in der Europäischen Union darstellt. In seiner 2013 durchgeführten Bewertung der Bedrohungslage im Bereich der schweren und organisierten Kriminalität (SOCTA) identifizierte Europol geschätzte 3.600 OK - Gruppierungen, die derzeit in der EU aktiv sind. Viele davon sind große und mobile Netzwerke, die mit anderen Gruppie-rungen weltweit zusammenarbeiten. Die kürzlich von Europol vorgelegte Bewertung der Bedro-hungslage im Bereich der organisierten Kriminali-tät im Internet (iOCTA) stellte einen weiteren Schritt in dieser Entwicklung fest. Im Internet agiert eine dienstleistungsorientierte Verbrechensindust-rie, die viel weniger hierarchisch und weniger strukturiert ist als traditionelles Organisiertes Ver-brechen. Das wird zunehmend zur typischen Orga-nisationsform von OK - Gruppierungen. Kriminelle, die immer weniger sichtbar sind und global agie-ren, können nur durch verstärkte internationale Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden bekämpft werden.

Europathemen: In welchen EU-Staaten sind die internationalen Verbrecherkartelle am stärksten?

Wainwright: Eine neue Art von OK - Gruppierungen in Europa hat sich entwickelt, die dazu imstande sind in mehreren Staaten und verschiedenen Ver-brechensbereichen zu operieren. Sie sind nicht mehr durch ihre Nationalität oder Spezialisierung in einer Art von Verbrechen definiert, sondern durch ihre Fähigkeit international tätig zu sein und geschäftsmäßig ihre Gewinne auf ein Höchstmaß zu bringen und Risiken klein zu halten. Diese neuen Entwicklungen ändern die Erscheinungsform von Organisiertem Verbrechen in Richtung einer ver-netzten Gemeinschaft verschiedenartiger interna-tionaler Gruppierungen.

Europathemen: Was sind die größten polizeilichen Herausforderungen der EU-Mitgliedstaaten in den kommenden Jahren?

Wainwright: OK - Gruppierungen werden immer komplexer, dynamischer und internationaler. Die größten Herausforderungen sind die Auswirkun-gen der Finanz- und Wirtschaftskrise auf die innere Sicherheit und der wirtschaftliche Schaden, der durch schwere und organisierte Kriminalität verur-sacht wird. Es sind OK - Gruppierungen, die irregu-läre Einwanderer einschleusen und davon profitie-

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ren. Eine große Herausforderung sind terroristische Bedrohungen, insbesondere durch so genannte ausländische Kämpfer, die in der EU leben und an Kampfhandlungen insbesondere im Nahen Osten teilnehmen. Des weiteren die Cyberkriminalität, da die digitalen forensischen Möglichkeiten der Polizei im Allgemeinen nicht ausreichen und bedeutende Lücken in der Gesetzgebung bestehen. Beides er-schwert die Identifizierung von Tätern.

Europathemen: Ist Europol eine Art Europäisches FBI?

Wainwright: Europol, die Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Strafverfolgung, ist das Drehkreuz für verbrechens-relevante Informationen und das Zentrum für operative Unterstützung der Strafverfolgungsbe-hörden in der EU. Die 800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Europol, einschließlich 170 Verbin-dungsbeamter aus 38 Staaten, unterstützen die Ermittlungen der Mitgliedstaaten durch Analyse und direkte Hilfestellung im Einsatz. 2013 war Europol an 18.000 Fällen beteiligt – das ist mehr als doppelt so viel wie vor fünf Jahren. Das FBI hat einen anderen Auftrag. Als nationale Strafverfol-gungsbehörde mit mehr als 35,000 Bediensteten ist das FBI dafür verantwortlich, die Vereinigten Staaten von Amerika vor terroristischen und ge-heimdienstlichen Angriffen zu schützen, die US-Strafgesetze durchzusetzen und Strafverfolgungs-behörden auf unterschiedlichen Ebenen zu unter-stützen.

Europathemen: Wenn es auf EU-Ebene keine Exeku-tivbefugnisse gibt, wie soll dann das Organisierte Verbrechen wirksam bekämpft werden?

Wainwright: Der EU-Politikzyklus zur Bekämpfung der organisierten und schweren internationalen Kriminalität, im Rahmen dessen auf Grundlage von Europols Bewertung der Bedrohungslage im Be-reich der schweren und organisierten Kriminalität (SOCTA) die Top-Prioritäten zur Verbrechensbe-kämpfung auf EU-Ebene festgelegt werden, ist ein bedeutender Ausgangspunkt. Der wichtigste Fak-tor aus meiner Sicht ist das starke Bekenntnis der Union zur verstärkten Zusammenarbeit der Straf-verfolgungsbehörden. Der Schwerpunkt sollte dabei auf der Identifizierung und Zerschlagung der bedeutendsten OK - Gruppierungen liegen. Dazu bedarf es verstärkter grenzüberschreitender Analy-se, die auf dem höchstmöglichen Niveau von In-formationsaustausch beruht.

Europathemen: Kürzlich hatten Sie mit der Operati-on “Archimedes” einen großen Erfolg. Worum ging es da? Warum war das für Europol wichtig?

Wainwright: Die vor kurzem an neun Tagen im September durchgeführte Operation Archimedes, die vom Europol-Hauptquartier aus koordiniert wurde, ist ein Meilenstein für die Anstrengungen der Strafverfolgungsbehörden, in abgestimmten Aktionen gegen OK - Gruppierungen in Europa vorzugehen. Mehr als 20.000 Mitarbeiter von Straf-verfolgungsbehörden nahmen an den 260 Aktio-nen der Operation teil, die in mehr als 300 Städten, Flughäfen, Seehäfen und Grenzübergängen in 34 Staaten Europas und darüber hinaus durchgeführt wurden.

Das Ausmaß der Operation ist ohne Beispiel. Das Ergebnis mit mehr als 1.000 Verhaftungen in ganz Europa ist eine Warnung selbst an die bedeutends-ten OK-Gruppierungen, dass die internationale Strafverfolgungsgemeinschaft dazu entschlossen ist, deren illegale Tätigkeiten zu bekämpfen. In ganz Europa wurden zahlreiche verbrecherische Unternehmungen zerschlagen – bedeutende Men-gen an Drogen und anderen illegalen Gütern wur-den beschlagnahmt, Opfer von Kindeshandel iden-tifiziert und Netzwerke, die für das Einschleusen tausender irregulärer Migranten nach Europa ver-antwortlich sind, aufgelöst. Dieser Erfolg beweist, dass zwischen Polizei, Zoll und anderen Strafverfol-gungsbehörden eng abgestimmte grenzüber-schreitende Aktionen, unterstützt durch die Analy-se und die mobilen Büros von Europol und mit Beteiligung von Drittstaaten, Eurojust, Frontex und Interpol, dem Kampf gegen schwere und organi-sierte Kriminalität eine neue Dynamik verleihen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass die Operation auch Rückschlüsse auf die Durchführung künftiger grenzüberschreitender Ermittlungen zulässt.

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Europathemen: Wie funktioniert die Zusammenar-beit mit den Polizeien der Mitgliedstaaten, wie mit der deutschen Polizei?

Wainwright: Die Zusammenarbeit funktioniert über die Nationalen Europolstellen in den Mitglied-staaten und die Verbindungsbüros der Mitglied-staaten im Europol-Hauptquartier in Den Haag. Die Verbindungsbeamten arbeiten mit mehr als 200 Analysten und Kriminalitätsexperten von Europol in einem sicheren Umfeld zusammen, um Operati-onen zu koordinieren, sowie operative und strate-gische Daten der Mitgliedstaaten, Partnerorganisa-tionen und Drittstaaten mit Kooperationsabkom-men auszuwerten. Daten zu allen wichtigen Be-

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drohungen vonseiten schwerer und organisierter Kriminalität sowie Terrorismus sind in hoch gesi-cherten Datenbanken verfügbar, für die ein robus-tes Datenschutzregime gilt. Die Netzwerkanwen-dung für Sicheren Informationsaustausch (SIENA) verbindet tausende Nutzer in 450 nationalen Straf-verfolgungsbehörden in Europa.

Europol leistet operative Sofortunterstützung, wenn notwendig 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche, durch Analyse, Hilfestellung am Einsatzort und Bereitstellung von Echtzeitdaten. Europol koordiniert auch Großoperationen wie die eben erwähnte Operation Archimedes und richtet dann Operationszentren in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten ein.

Die Zusammenarbeit mit der Deutschen Nationa-len Europolstelle am Bundeskriminalamt und den zehn deutschen Verbindungsbeamten von Polizei und Zoll in Den Haag ist ausgezeichnet. In diesem Jahr ist Deutschland bislang der Mitgliedstaat, der die höchste Zahl an Fällen eingeleitet und die höchste Zahl an Berichten ausgetauscht hat.

Europathemen: Was bedeutet die Debatte um Da-tenschutz und Datensicherheit für Europol?

Wainwright: Europol ist sich der wachsenden Be-sorgnis in Zivilgesellschaft und öffentlicher Mei-nung in Bezug auf Datenschutz und Privatsphäre bewusst. Das muss berücksichtigt werden, wenn Regelungen ausgearbeitet werden. Von einer Strafverfolgungsperspektive aus gesehen, sollten Regelungen immer dem Prinzip der Verhältnismä-ßigkeit folgen, sodass dem Schutz der Bevölkerung und der Beachtung der Grundrechte gleich viel Bedeutung geschenkt wird. Für Europol bedeutet dies, dass Daten immer nur zum Zweck der Erfül-lung von Europols Auftrag verarbeitet werden und dass das höchstmögliche Datenschutzniveau ga-rantiert wird.

Auch die Diskussion um Datenspeicherung sollte in diesem Zusammenhang betrachtet werden. Ob-wohl der EuGH im April 2014 die Datenspeiche-rungs-Richtlinie aufhob, stellte der Gerichtshof auch fest, dass der Zweck der Richtlinie, Telekom-munikationsdaten zum Schutz der öffentlichen Sicherheit zu speichern, legitim sei. Ebenso wichtig ist es, dass vor dem Hintergrund der vom globali-sierten Organisierten Verbrechen und Terrorismus ausgehenden Bedrohungen jegliches allgemeines Datenschutzregime die Besonderheiten des Ge-biets der Strafverfolgung berücksichtigt und den ohnehin schon stark strapazierten nationalen Poli-zeibehörden keine unnötigen Verwaltungslasten

auferlegt. Damit können sowohl erhebliche Infor-mationspflichten oder ernsthafte Beschränkungen des rechtmäßigen Informationsaustausches zwi-schen Polizeibehörden gemeint sein.

Schließlich gilt es zu verhindern, dass die bereits bestehende gute Zusammenarbeit zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten beeinträchtigt wird oder die Mitgliedstaaten im Allgemeinen weniger Willen zum Austausch von Informationen haben könnten.

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Rob Wainwright: Unionsmitgliedschaft hat erhebliche Vorteile für Großbritannien

© Europol, 2014

Europathemen: Was tut Europa gegen die Cyber-kriminalität?

Wainwright: Cyberkriminalität ist eine der größten aktuellen Herausforderungen auf dem Gebiet der Strafverfolgung. Diese Verbrechensart weist ein exponentielles Wachstum sowie sich rasch verän-dernde Modi Operandi auf und macht vor keinen Staatsgrenzen halt. Die hohe Internet-Nutz-ungsrate macht die Union besonders verwundbar.

Das Europäische Zentrum für Cyberkriminalität (EC3) bei Europol bündelt die Kräfte der Europäi-schen Union im Kampf gegen diese außerordentli-che, aktuelle Bedrohung und spielt eine entschei-dende Rolle bei der Koordinierung und Unterstüt-zung der Anstrengungen der Mitgliedstaaten. EC3 hat zum Ziel, Expertise zu konzentrieren, um die Cyberkriminalitätskompetenz in den Mitgliedstaa-ten zu stärken und ihre Ermittlungen operativ zu unterstützen.

Die vom EC3 im September 2014 präsentierte Be-wertung der Bedrohungslage im Bereich der orga-nisierten Kriminalität im Internet (iOCTA) ruft zur stärkeren grenzüberschreitenden Zusammenarbeit auf und fordert neue Gesetzgebung und Rechtsin-strumente zum Aufspüren, Zuordnen und Austau-

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Page 26: aktuell - dbb · gehend langsameren Wachstums das Powerhaus Europas. Inzwischen zeigen aber viele Indikatoren nach unten. Die internationalen Bedrohungslagen, Russland und die arabische

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schen von Informationen im Kampf gegen Cyber-kriminalität. Ganz klar gibt es eine neue Front für Polizeiarbeit im Cyberbereich, wo die Zusammen-arbeit mit Drittstaaten und auch mit Partnern aus dem Privatsektor weiter verbessert werden muss.

Am 1. September 2014 hat Europol die Gemeinsa-me Cyberkriminalitäts-Einsatzgruppe (J-CAT) ge-gründet, um internationale Ermittlungen gegen bedeutende Cyberkriminalitätsbedrohungen und Täter zu koordinieren. In J-CAT arbeiten Verbin-dungsbeamte der Mitgliedstaaten, aus Drittstaa-ten und Mitarbeiter des EC3 zusammen. Solche Aktionen mit unmittelbarer operativer Wirkung könnten den Kampf gegen Cyberkriminalität effek-tiver machen.

Europathemen: Wird Ihre Arbeit parlamentarisch kontrolliert?

Wainwright: Ja, Europol wird vom Europäischen Parlament kontrolliert, zum Beispiel über die all-jährliche Entlastung des Direktors im Bezug auf die Haushaltsgebarung oder über die gemeinsam mit dem Rat zu treffende Entscheidung, welche Haus-haltsmittel an Europol fließen sollen. Zudem be-steht eine ausgezeichnete Arbeitsbeziehung insbe-sondere mit dem Ausschuss für bürgerliche Freihei-ten, Justiz und Inneres des Parlaments.

Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wurde die parlamentarische Kontrolle weiter aus-gebaut. Seitdem ist der Bereich Inneres nicht mehr Bestandteil einer speziellen Säule der EU oder gar Gegenstand zwischenstaatlicher Zusammenarbeit, sondern ist ein gewöhnlicher Politikbereich der EU, gegründet auf den im Vertrag vorgesehenen Be-stimmungen zu Rechtsetzung, Rechenschafts-pflichten und demokratischer Kontrolle. Die derzeit verhandelte Europol-Verordnung, für die das Euro-päische Parlament gemeinsam mit dem Rat als Gesetzgeber fungiert, wird besondere Verfahren für die Prüfung der Aktivitäten von Europol durch das Europäische Parlament und die Parlamente der Mitgliedstaaten und damit eine verstärkte parla-mentarische Kontrolle im Geiste des Vertrags von Lissabon vorsehen.

Europathemen: Sie sind Brite. Großbritannien debat-tiert den Austritt aus der EU. 2017 soll es ein Refe-rendum geben. Was sagen Sie zu der Debatte?

Wainwright: Das britische Volk wird über die Zu-kunft meines Landes in der EU entscheiden. In meiner derzeitigen Funktion sehe ich aber, dass sich für das Vereinigte Königreich aus der Unions-mitgliedschaft erhebliche Vorteile ergeben. Ich

setze mich dafür ein, dass Europol alles in seiner Möglichkeit Stehende unternimmt die Sicherheit der Briten und aller anderen Unionsbürger gewähr-leisten zu helfen.

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Europathemen: Gerade im Bereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts wollen viele Briten Kompetenzrückverlagerungen sehen. Sind Ihre Landsleute da auf dem falschen Weg?

Wainwright: Traditionell waren die Strafverfol-gungsbehörden des Vereinigten Königreichs im-mer an der Spitze der EU-Polizeizusammenarbeit. Das Vereinigte Königreich hat auch außerordent-lich wichtige Beiträge zur Politikgestaltung im Bereich der inneren Sicherheit der EU geleistet und ist einer der einflussreichsten Mitgliedstaaten in der Gestaltung von Rechtsetzung im Bereich der inneren Sicherheit. Für Europol ist es wichtig, dass das Vereinigte Königreich ein Hauptakteur und eine führende Kraft in internationaler Polizeikoope-ration und ein führender Partner im Kampf gegen organisierte Kriminalität und Terrorismus bleibt, insbesondere indem die Zusammenarbeit mit Eu-ropol bestehen bleibt oder sogar weiter gestärkt wird.

Ein Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus Euro-pol oder anderen wichtigen Politiken oder Maß-nahmen im Bereich der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts hätte beträchtliche Auswirkungen auf die Möglichkeiten des Vereinigten Königreichs, an der Politikentwicklung im Bereich der Strafverfol-gung mitzuwirken und seinen Einfluss geltend zu machen.

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