Akute Nekrose der Zunge unter Epirubicin-Cyclophosphamid-Therapie bei einem invasiv duktalen...

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Eine einseitige Zungennekrose ist eine seltene Erkrankung, die in der Literatur nur als vereinzelt auftretende Kompli- kation einer Arteriitis temporalis oder einer Ergotamintherapie beschrieben wurde [9, 11, 14]. Nekrosen als Folge ei- ner akuten Ischämie v. a. der akralen Ge- webe sind aber auch als thrombemboli- sche Komplikationen [19] oder Paraneo- plasien verschiedener Tumoren [4] be- kannt. Aufgrund der akuten Schmerz- symptomatik und der Lokalisation mit starker Einschränkung der Artikulation und Digestion ist eine sofortige Thera- pie des Krankheitsbildes unumgänglich. Im Folgenden berichten wir über den ungewöhnlichen Befund einer ein- seitigen Zungennekrose, die sich bei ei- ner Patientin mit duktalem Mammakar- zinom unter adjuvanter Chemotherapie mit Epirubicin und Cyclophosphamid zeigte. Fallbericht Die Erstvorstellung der 62-jährigen weiblichen Patientin erfolgte zur Be- handlung eines mammographisch und sonographisch suspekten Tumors der linken Brust in der Universitätsfrauen- klinik Mainz. Bei hochgradigem Ver- dacht auf ein Mammakarzinom links wurde eine Segmentektomie links mit axillarer Lymphonodektomie der Level I–II durchgeführt. Ein Vorliegen von Fernmetastasen konnte im Rahmen der Staginguntersuchungen ausgeschlossen werden. Die abschließende histologische Untersuchung ergab die Diagnose eines 1,6 cm durchmessenden, schlecht diffe- renzierten, invasiv-duktalen Mamma- karzinoms links mit beginnender Infil- tration der Dermis per continuitatem (pT1c, pN0, M0, R0, G3). Aufgrund der schlechten Differen- zierung des Karzinoms wurde eine Che- motherapie mit 90 mg/m 2 Epirubicin und 600 mg/m 2 Cyclophosphamid (EC) mit Bestrahlung der Restbrust geplant. Zusätzliche allgemeinmedizinische Er- krankungen lagen bei der Patientin nicht vor. Die adjuvante Chemotherapie wur- de von der Patientin zunächst gut tole- riert, im 2. Therapiezyklus entwickelte sich jedoch binnen 1 Tages eine zuneh- mende Schwellung der Zunge und des Mundbodens. In der Folge traten Ge- lenkschmerzen, Myalgien und letztend- lich eine schwellungsbedingte Verlegung der Atemwege auf,die zu einer erneuten stationären Aufnahme mit Nottracheo- tomie führten. Die Patientin wurde daraufhin mit einer akuten Nekrose der rechten Zun- genhälfte in der Klinik für Mund-, Kie- fer- und Gesichtschirurgie konsiliarisch vorgestellt (Abb. 1). Mund Kiefer GesichtsChir 3 · 2003 175 Mund Kiefer GesichtsChir 2003 · 7 : 175–179 DOI 10.1007/s10006-003-0469-9 Fallbericht R. S. R. Buch 1 · M. Schmidt 2 · T. E. Reichert 1 1 Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Johannes-Gutenberg-Universität, Mainz 2 Universitätsfrauenklinik, Mainz Akute Nekrose der Zunge unter Epirubicin-Cyclophosphamid- Therapie bei einem invasiv duktalen Mammakarzinom Online publiziert: 6. Mai 2003 © Springer-Verlag 2003 Dr. Dr. R. S. R. Buch Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Johannes-Gutenberg-Universität, Augustusplatz 2, 55131 Mainz, Tel.: 06131-173083,Fax: 06131-176602, E-mail: [email protected] Zusammenfassung Fall: Eine einseitige Zungennekrose ist eine seltene Erkrankung, die in der Literatur nur als vereinzelt auftretende Komplikation ei- ner Arteriitis temporalis oder einer Ergota- mintherapie beschrieben wurde. Im Folgen- den berichten wir über den ungewöhnlichen Befund einer einseitigen Zungennekrose bei einer 62-jährigen weiblichen Patientin, die wegen eines duktalen Mammakarzinoms mit Epirubicin und Cyclophosphamid (EC-Therapie) chemotherapiert wurde. Befund: Die mit der Nekrose verbundene massive Schwellung der Zunge führte zu einer Verlegung der Atemwege und in der Folge zur Tracheotomie der Patientin.Nach Demarkierung und chirurgischer Abtragung der nekrotischen Zungenbezirke waren die Zungenschwellung und die Atemwegsbe- hinderung schnell rückläufig. Diskussion: Aufgrund des vorliegenden zeit- lichen Zusammenhangs mit der EC-Therapie wurde ursächlich eine zytotoxische Kompli- kation angenommen, obwohl auch eine Pa- raneoplasie nicht auszuschließen war.Das hier beschriebene Krankheitsbild der einsei- tigen Zungennekrose ist eine seltene Erkran- kung bzw. seltene Komplikation einer der oben genannten Grunderkrankungen. Beim Auftreten dieser Erkrankung muss zügig interveniert werden, und die verschiedenen möglichen Ursachen müssen in der Thera- pieplanung Berücksichtigung finden. Schlüsselwörter Zungennekrose · Chemotherapie · Zytotoxische Nebenwirkung · Mammakarzinom

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Eine einseitige Zungennekrose ist eineseltene Erkrankung, die in der Literaturnur als vereinzelt auftretende Kompli-kation einer Arteriitis temporalis odereiner Ergotamintherapie beschriebenwurde [9, 11, 14]. Nekrosen als Folge ei-ner akuten Ischämie v. a.der akralen Ge-webe sind aber auch als thrombemboli-sche Komplikationen [19] oder Paraneo-plasien verschiedener Tumoren [4] be-kannt. Aufgrund der akuten Schmerz-symptomatik und der Lokalisation mitstarker Einschränkung der Artikulationund Digestion ist eine sofortige Thera-pie des Krankheitsbildes unumgänglich.

Im Folgenden berichten wir überden ungewöhnlichen Befund einer ein-seitigen Zungennekrose, die sich bei ei-ner Patientin mit duktalem Mammakar-zinom unter adjuvanter Chemotherapiemit Epirubicin und Cyclophosphamidzeigte.

Fallbericht

Die Erstvorstellung der 62-jährigenweiblichen Patientin erfolgte zur Be-handlung eines mammographisch undsonographisch suspekten Tumors derlinken Brust in der Universitätsfrauen-klinik Mainz. Bei hochgradigem Ver-dacht auf ein Mammakarzinom linkswurde eine Segmentektomie links mitaxillarer Lymphonodektomie der LevelI–II durchgeführt. Ein Vorliegen vonFernmetastasen konnte im Rahmen derStaginguntersuchungen ausgeschlossenwerden.Die abschließende histologischeUntersuchung ergab die Diagnose eines1,6 cm durchmessenden, schlecht diffe-

renzierten, invasiv-duktalen Mamma-karzinoms links mit beginnender Infil-tration der Dermis per continuitatem(pT1c, pN0, M0, R0, G3).

Aufgrund der schlechten Differen-zierung des Karzinoms wurde eine Che-motherapie mit 90 mg/m2 Epirubicinund 600 mg/m2 Cyclophosphamid (EC)mit Bestrahlung der Restbrust geplant.Zusätzliche allgemeinmedizinische Er-krankungen lagen bei der Patientin nichtvor.

Die adjuvante Chemotherapie wur-de von der Patientin zunächst gut tole-riert, im 2. Therapiezyklus entwickeltesich jedoch binnen 1 Tages eine zuneh-mende Schwellung der Zunge und desMundbodens. In der Folge traten Ge-lenkschmerzen, Myalgien und letztend-lich eine schwellungsbedingte Verlegungder Atemwege auf, die zu einer erneutenstationären Aufnahme mit Nottracheo-tomie führten.

Die Patientin wurde daraufhin miteiner akuten Nekrose der rechten Zun-genhälfte in der Klinik für Mund-, Kie-fer- und Gesichtschirurgie konsiliarischvorgestellt (Abb. 1).

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Mund Kiefer GesichtsChir 2003 · 7 : 175–179DOI 10.1007/s10006-003-0469-9 Fallbericht

R. S. R. Buch1 · M. Schmidt 2 · T. E. Reichert 11Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie,Johannes-Gutenberg-Universität, Mainz2Universitätsfrauenklinik, Mainz

Akute Nekrose der Zunge unterEpirubicin-Cyclophosphamid-Therapie bei einem invasivduktalen Mammakarzinom

Online publiziert: 6. Mai 2003 © Springer-Verlag 2003

Dr. Dr. R. S. R. BuchKlinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie,Johannes-Gutenberg-Universität,Augustusplatz 2, 55131 Mainz,Tel.: 06131-173083, Fax: 06131-176602,E-mail: [email protected]

Zusammenfassung

Fall: Eine einseitige Zungennekrose ist eineseltene Erkrankung, die in der Literatur nurals vereinzelt auftretende Komplikation ei-ner Arteriitis temporalis oder einer Ergota-mintherapie beschrieben wurde. Im Folgen-den berichten wir über den ungewöhnlichenBefund einer einseitigen Zungennekrose beieiner 62-jährigen weiblichen Patientin, diewegen eines duktalen Mammakarzinomsmit Epirubicin und Cyclophosphamid (EC-Therapie) chemotherapiert wurde.Befund: Die mit der Nekrose verbundenemassive Schwellung der Zunge führte zu einer Verlegung der Atemwege und in derFolge zur Tracheotomie der Patientin. NachDemarkierung und chirurgischer Abtragungder nekrotischen Zungenbezirke waren dieZungenschwellung und die Atemwegsbe-hinderung schnell rückläufig.Diskussion: Aufgrund des vorliegenden zeit-lichen Zusammenhangs mit der EC-Therapiewurde ursächlich eine zytotoxische Kompli-kation angenommen, obwohl auch eine Pa-raneoplasie nicht auszuschließen war. Dashier beschriebene Krankheitsbild der einsei-tigen Zungennekrose ist eine seltene Erkran-kung bzw. seltene Komplikation einer deroben genannten Grunderkrankungen. BeimAuftreten dieser Erkrankung muss zügiginterveniert werden, und die verschiedenenmöglichen Ursachen müssen in der Thera-pieplanung Berücksichtigung finden.

Schlüsselwörter

Zungennekrose · Chemotherapie · Zytotoxische Nebenwirkung · Mammakarzinom

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Acute tongue necrosis provokedby epirubicin-cyclophosphamidetreatment for invasive ductalbreast carcinoma

Abstract

Case: Unilateral necrosis of the tongue is anuncommon symptom of different rare dis-eases. Previously, it had only been describedas an infrequent complication of temporalarteritis or as a side effect of therapy with er-gotamine.We present a case of unilateralnecrosis of the tongue in a 62-year-oldwoman with invasive ductal carcinoma ofthe breast treated with epirubicin and cy-clophosphamide.Results: The necrosis led to a rapid swellingof the tongue and consequently to an airwayobstruction necessitating a tracheotomy.After excision of the necrosis, the swelling of the tongue and the airway obstructionsubsided.Discussion: Because of the temporal con-nection between the occurrence of thenecrosis and the administration of chemo-therapy, an adverse effect of the adminis-tered drugs seems most likely. However,a paraneoplastic pathogenesis cannot becompletely excluded.The occurrence of uni-lateral necrosis of the tongue is a rare com-plication of the above-mentioned condi-tions. However, it is important to be aware ofthe different causes leading to this rare dis-ease in order to initiate the right therapy.

Keywords

Necrosis of the tongue · Chemotherapy · Cytotoxic side effect · Breast cancer

Klinische Befunde

Die in der Akutphase angefertigte Com-putertomographie der Kopf-Hals-Re-gion zeigte eine ausgeprägte Auftrei-bung der Zunge mit entzündlicher Infil-tration des Fettgewebes und einer ein-schmelzenden Läsion im Bereich desZungengrunds rechts.Aufgrund von Ar-tefaktbildungen durch metallkerami-sche Kronen- und Brückenkonstruktio-nen lag in einigen Schnitten nur eineeingeschränkte Beurteilbarkeit der Auf-nahme vor. Insgesamt zeigten sich deut-lich entzündliche, phlegmonöse Verän-derungen des Spatium suprasternaleund des Spatium prätracheale. Die Ver-änderungen waren bei starker Schwel-lung der gesamten Zunge rechts stärkerausgeprägt als links (Abb. 2). Ursachenfür eine Emboliequelle (Rhythmusstö-rungen, Thrombose, offenes Foramenovale) fanden sich nicht.

Die laborchemische Untersuchungwies folgende Parameter auf: Bluthämo-globingehalt 13,0 g/dl, Leukozyten 1900/mm3, CRP 337, Thrombozyten 148.000/mm3, Kreatinin 0,95 mg/dl, GPT (AST)38 U/l, GOT (ALT) 36 U/l.

Zur histologischen Sicherung desZungenbefunds wurde eine Probebiop-sie aus dem nekrotischen Zungenbe-reich entnommen. Die Histologie zeigteeine Nekrose der Zungenmuskulaturohne Anhalt für Malignität. Es ergabensich keine Anzeichen für das Vorliegeneiner vaskulären (Vaskulitis) oder thromb-embolischen Ursache.

Therapie und Verlauf

Bei zunehmender respiratorischer In-suffizienz wurde eine Tracheotomie zurSicherung der Atemwege notwendig.Die Patientin wurde mit febriler Neu-tropenie und Gerinnungsaktivierung

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FallberichtMund Kiefer GesichtsChir 2003 · 7 : 175–179DOI 10.1007/s10006-003-0469-9

Abb. 1 � Zungenrandnekroserechts mit deutlicher Demarkation

und Frontzahneinbiss im Bereichder Zungenspitze

Abb. 2 � Die in der Akut-phase angefertigte Com-

putertomographie derKopf-Hals-Region zeigte ei-

ne einschmelzende Läsionim Bereich des Zungen-

grunds rechts

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auf die Intensivüberwachungsstationverlegt.

Bei der Untersuchung durch die Kli-nik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschi-rurgie zeigte sich eine massive Schwel-lung der gesamten Zunge mit einerscharf begrenzten Nekrose im Bereichder vorderen rechten Zungenhälfte, diesich bis zum Zungengrund rechts aus-dehnte und mit Fibrinbelägen bedecktwar. Bei vorliegender Hypersalivationund ausgeprägtem Foetor ex ore war dieZungenbeweglichkeit nach rechts lateraldeutlich eingeschränkt. Zusätzlich fielein flaches Ulkus im Bereich der kau-dalen Zungenspitze rechts auf. Hier zeigten sich Impressionen der Front-zähne des Unterkiefers. Eine Zungen-sensibilität war nur außerhalb derNekrose nachweisbar. Auf einen Ge-schmackstest wurde wegen des schlech-ten Allgemeinzustands der Patientinverzichtet.

Zur Lokaltherapie wurde eine Be-handlung mit Mundspüllösungen ein-geleitet. Die Patientin erhielt ein Bepan-then-H2O2-Gemisch sowie – zur Schmerz-therapie – ein Xylocain-Bepanthen-Ge-misch als Mundspülung. Zur Schonungder oralen Wundsituation wurde einenaso-gastrale Ernährungssonde gelegt.

Nach Stagnation des klinisch pro-gredienten Verlaufs mit geringerer Schwel-lung und abnehmender Schmerzbelas-tung der Patientin wurde die Entschei-dung zur Nekroseabtragung in Lokalan-ästhesie – als (gering) invasive Thera-piemaßnahme – getroffen: Nach Infil-tration von Ultracain (4%) im Bereichder Demarkation wurden die gesamtenNekrosebereiche gründlich abgetragen(Abb. 3). Nach Entfernen der gangränö-sen Zungenanteile wurde die Wunde mitHilfe eines scharfen Löffels sorgfältigdébridiert. Insgesamt wurde ein etwa 4 cm¥3 cm¥1,2 cm messendes Gewebe-stück aus dem vorderen rechten Zun-

gendrittel entfernt (Abb. 4). Zur Verklei-nerung des chirurgischen Defekts wur-den adaptierende Seidennähte einge-bracht (Abb. 5).

Nach Nekroseabtragung war dieZungenschwellung deutlich rückläufig.

Postoperativ wurde die Wunde mitBepanthen-H2O2-Spüllösung weiterbe-handelt. Die Trachealkanüle konnte am5. postoperativen Tag entfernt werden.Die Fäden wurden am 10. postoperati-ven Tag gezogen. Die Mundspülungenmit Bepanthen-H2O2-Lösung wurdenweitergeführt. Die laborchemische Un-tersuchung wies zu diesem Zeitpunktfolgende Parameter auf: Bluthämoglo-bingehalt 11,1 g/dl, Leukozyten 7300/mm3,CRP negativ,Thrombozyten 719.000/mm3.Aufgrund der vorliegenden Thrombo-zytose erhielt die Patientin ASS 100 biszur Normalisierung des Thrombozyten-werts.

Histologisch stellte sich das ent-fernte Gewebe als nahezu vollständigeNekrose der Zungenmuskulatur sowiedes Fett- und Bindegewebes dar, welchedurch ein granulozytäres Infiltrat de-markiert wurde. Ein Anhalt für Malig-nität fand sich nicht.

Die Patientin konnte nach 7 Tagenstationärer Therapie ambulant weiter-behandelt werden. Der Lokalbefund derZunge 2 Wochen nach Nekroseabtra-gung ist in Abb. 6 dargestellt.

Diskussion

Eine schmerzhafte Zungenschwellung,Zungenparese oder Zungenteilnekrosekönnen ein seltenes Symptom verschie-dener Grunderkrankungen sein. In derLiteratur ist die einseitige Zungenne-krose nur als seltene Komplikation einerArteriitis temporalis (synonym Riesen-zellarteriitis,Arteriitis cranialis, Morbus

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Abb. 3 � Befund nach sorgfältigerEntfernung der gesamten Nekrose-bereiche und Wunddébridementmit Hilfe eines scharfen Löffels

Abb. 4 � Entferntes Gewebestückaus dem vorderen rechten Zungen-drittel

Abb. 5 � Abschließend zur Verklei-nerung des chirurgischen Defekts

eingebrachte adaptierende Seiden-nähte zum Wundverschluss

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Horton) [11, 14] oder als Komplikationeiner Ergotamintherapie bei starker Mi-gräne [3, 9] bzw. eines Ergotaminmiss-brauchs [17] beschrieben. Im geschil-derten Fall war jedoch das Vorliegen ei-ner Arteriitis temporalis aufgrund feh-lender Symptome auszuschließen. Ne-ben anfänglichen Kopfschmerzen in derSchläfenregion ist die A. temporalis ty-pischerweise sehr druckdolent und ver-härtet. Als Spätsymptom kann bei voll-ständiger Stenose das betroffene Augeerblinden [7]. Beim Auftreten der ge-nannten Symptome ist sofort eine Ent-zündungsdiagnostik notwendig, die imvorliegenden Fall jedoch ebenfalls nega-tiv war. Dennoch sollte, auch wenn dieoben genannten Symptome fehlen, aneine Zungenbeteiligung im Rahmen derGrunderkrankung gedacht werden.

Zur Behandlung vaskulärer Kopf-schmerzen und Migräne werden heutespezifische Migränemittel (Mutterkor-nalkaloide und „Triptane“) angewendet.Dabei sollte die Behandlung mit Ergota-mintartrat schweren, anderen Analgeti-ka nicht zugänglichen Migräneattackenvorbehalten bleiben, da starke Neben-wirkungen bekannt sind [5]. In der Li-teratur wurden unter Ergotaminthera-pie neben Erbrechen und Dauerkopf-schmerzen in einzelnen Fällen auchZungennekrosen beschrieben [1, 9, 13, 17,18]. Im vorliegenden Fall waren eine Mi-gräneerkrankung oder andere vaskuli-tische Kopfschmerzen mit Ergotamin-behandlung anamnestisch sicher auszu-schließen.

Obwohl in klinischen Studien mitEpirubicin und Cyclophosphamid (EC)bisher keine Nekrosen im Bereich derZunge beschrieben sind, ist bei der vor-liegenden Form der Nekrose, im zeit-lichen Zusammenhang mit der Chemo-therapie, primär eine zytotoxische Ne-benwirkung nicht auszuschließen.

Epirubicin gehört zu den Anthrazy-klinen, Cyclophospamid wird zu den Al-kylanzien gezählt. Die Kombination bei-der Präparate findet bei der adjuvantenChemotherapie des primären, lokore-gionär begrenzten Mammakarzinomsals EC-Schema Anwendung [8]. SchwereNebenwirkungen treten bei EC-Thera-pie insbesondere in Form von kardialenNebenwirkungen im Sinne von Kardio-myopathien [15] oder Neutropenien auf[6]. Embolische Komplikationen als Fol-ge zytostatischer Vaskulitiden sind zwarin Einzelfällen, v. a. im Sinn thrombem-bolischer Veränderungen bekannt [19],Nekrosen als Folge arterieller Embolienoder Stenosen in Folge einer EC-Thera-pie sind in der Literatur jedoch bishernicht beschrieben. Allerdings wäre einezytostatische Vaskulitis als Ursache ei-nes embolischen Verschlusses denkbar.

Als Differenzialdiagnose ist ein em-bolisch bedingter Verschluss der A. lin-gualis, z. B. in Folge einer atypischenoder paradoxen Embolie, ebenfalls inErwägung zu ziehen [12].Allerdings lie-ßen sich im vorliegenden Fall keine kar-dialen Ursachen einer ursächlichen Em-bolie nachweisen.

Neben den bereits genannten mög-lichen Ursachen der Zungennekrose kannauch eine Paraneoplasie nicht völlig aus-geschlossen werden. Diese seltene Er-krankung kann in Assoziation mit ei-nem Malignom auftreten und wirddurch vom Tumor freigesetzte Media-torsubstanzen oder hormonartig wir-kende Polypeptide hervorgerufen, dieihre Wirkung fern vom primären und/oder metastatischen Tumorort entfaltenkönnen [2]. Zwar wurden in diesem Zu-sammenhang noch keine Zungennekro-sen beschrieben, aber ähnliche Sympto-me, wie z. B. akut auftretende akraleIschämien mit digitaler Nekrose einzel-ner Langfinger sind schon vereinzelt in

der Literatur zu finden [4]. In Assozia-tion mit einer Tumorerkrankung wurdesie bevorzugt bei älteren weiblichen Pa-tienten beobachtet. In mehr als der Hälf-te der Fälle war es bereits zur fortge-schrittenen Metastasierung gekommen.Im Zusammenhang mit dieser Sympto-menkonstellation wurden neben Ade-nokarzinomen unterschiedlicher Loka-lisation auch lymphoproliferative Er-krankungen und maligne Melanome be-obachtet [10]. Die ursächlichen Mecha-nismen sind noch völlig unklar, neuereUntersuchungen deuten auf eine immu-nologisch vermittelte Vaskulitis hin [16].

Bei malignen Tumoren kommt eszudem relativ häufig zur paraneoplas-tisch bedingten Zunahme der Throm-bozytenwerte (Thrombozyten 719.000/mm3) im peripheren Blut, die mit hoherWahrscheinlichkeit in Analogie zu Poly-globulien und Leukozytosen durch Zy-tokine vermittelt werden. Eine spezifi-sche Therapie der Thrombozytose istzumeist nicht indiziert, vielmehr mussauch hier die dem Syndrom zugrundeliegende Tumorerkrankung behandeltwerden.

Bemerkenswert waren im vorlie-genden Fall die trotz ausgedehnter Nek-rose starken Schmerzen, die sich nurdurch 4-malige Gabe von 15 mg Piritra-mid (Dipidolor) einstellen ließen. Da ei-ne Heilung der Nekrosen aufgrund derAusdehnung nicht zu erwarten war,wurde eine chirurgische Abtragung der-selben vorgenommen [12], was inner-halb weniger Tage zu einem völligen Ab-klingen der Beschwerden führte. Auf-grund der schnellen postoperativen Er-holung der Patientin kann die vorge-nommene radikale chirurgische Entfer-nung der nekrotischen Zungenanteileim vorliegenden Fall als Therapie derWahl angesehen werden.

Aufgrund der schwer wiegendenKomplikation der EC-Chemotherapiewurde von gynäkologischer Seite auf ei-ne weitere Chemotherapie verzichtet.Bei vorliegendem positivem Hormonre-zeptorstatus wurde eine Therapie mitTamoxifen, 20 mg/Tag, begonnen. Zu-sätzlich wurde eine adjuvante Radiatiovereinbart. Nach Beendigung der Radia-tio wurde eine logopädische Anschluss-behandlung eingeleitet.

Nach Auswertung der vorhandenenBefunde scheinen im beschriebenen Fallam ehesten eine bisher nicht aufgetrete-ne zytotoxische Komplikation der EC-

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Fallbericht

Abb. 6 � Zustand der Zunge der Patientin 2 Wochen postoperativ

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Therapie oder eine Paraneoplasie vor-zuliegen. Eine absolute diagnostischeKlarheit ließ sich in diesem Fall leidernicht gewinnen.

Das Auftreten einer einseitigenZungennekrose wird sicher eine selteneErkrankung bzw. seltene Komplikationeiner der oben genannten Grunder-krankungen bleiben, dennoch solltenbeim Auftreten dieser Entität die ver-schiedenen möglichen Ursachen in derTherapieplanung Berücksichtigung fin-den.

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