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Aristoteles, griech. Philosoph und Naturfor- scher, neben Platon der bedeutendste Repräsen- tant der antiken Philos., * 384 v. Chr. Stagira (da- her auch ›der Stagirite‹ genannt), † 322 v. Chr. Chalkis auf Euböa. Leben: A., Sohn eines am Hof des makedoni- schen Königs tätigen Arztes, ging 367 nach Athen an die Akademie, wo er (zunächst als Schüler) bis zu Platons Tod (348/347) arbeitete; nach Auf- enthalten an wechselnden Orten und einem Zwi- schenspiel am makedonischen Hof (als Erzieher des jungen Alexander) kehrte er 335 nach Athen zurück und lehrte dort im sog. Lykeion. Nach dem Tod Alexanders d. Gr. musste er 323 vor den Nachstellungen der anti-makedonischen Par- tei, die ihn der Gottlosigkeit beschuldigte, nach Chalkis fliehen, wo er bald darauf starb. Schriften: A. ist der eigentliche Begründer der Philos. als formal eigenständiger Disziplin. Sie erscheint bei ihm zum ersten Mal als systemati- sche, selbst in verschiedene Fachbereiche einzu- teilende Wissenschaft. Ein großer Teil der techni- schen Terminologie der abendländischen Philos. geht auf ihn bzw. seine Schule zurück. Die Aus- nahmestellung von A., wie die von Platon, er- kennt man schon daran, dass von ihnen weitaus mehr Schriften überliefert sind als von anderen antiken Philosophen. Während von Platon mit seinen Dialogen v. a. die exoterischen Schriften erhalten, die esoterischen Texte hingegen verlo- ren gegangen sind (esoterisch/exoterisch), ist es bei A. umgekehrt: Die von ihm verfassten Dialo- ge und andere für die Öffentlichkeit bestimmte Schriften sind verloren gegangen, während die sog. Lehrschriften (Pragmatien), die weitgehend den Charakter von Notizen haben und als Grundlage für Lehrvorträge gedacht waren, in großem Umfang erhalten sind. Sie machen den weitaus größten Teil des Corpus Aristotelicum aus, der Gesamtheit der von A. verfassten bzw. der ihm traditionell zugeschriebenen Schriften. Zum Corpus Aristotelicum gehören seitdem: (1) im weiteren Sinne logische Schriften, das sog. Organon: Categoriae (Cat.), »Kategorien«; De interpretatione (De int.); Analytica priora (An. pr.), »Erste Analytiken«; Analytica posteriora (An. p.), »Zweite Analytiken«; Topica (Top.), »Topik«; Sophistici elenchi (Soph. el.), »Sophistische Widerle- gungen«. (2) Physikalische Schriften: Physica (Phys.), »Physik«; De caelo (De cael.), »Über den Himmel«; De generatione et corruptione (De gen. et corr.), »Über Entstehen und Vergehen«; Meteorologica (Meteor.), »Meteorologie«. (3) Psychologische Schriften: De anima (De an.), »Über die Seele«; die sog. Parva naturalia (Parv. nat.), u. a. De memo- ria et reminiscentia, »Über Gedächtnis und Er- innerung«; De somnu (De somn.), »Über den Schlaf«; De sensu et sensatu (De sens.), »Über Empfindung«. (4) Naturgeschichtliche Schriften: De partibus animalium (De part. an.), »Über die Teile der Tiere«; De motu animalium (De mot. an.), »Über die Bewe- gung der Tiere«; De generatione animalium (De gen. an.), »Über die Entstehung der Tiere«. (5) Philos. Schriften: Metaphysica (Met.), »Metaphysik«; Ethica Nicomachea (E. N.), »Nikomachische Ethik«; Ethica Eudemia (E. E.), »Eudemische Ethik«; Magna Moralia (M. M.), »Große Ethik«; Politica (Pol.), »Politik«; Rhetorica (Rhet.), »Rhetorik«; Poetica (Poet.), »Poetik«. Stellen in aristotelischen Werken werden wie folgt nachgewiesen: Titel, ggf. in Abk.en, Buch in röm. Ziffern, Kap. in arab. Ziffern, sowie die Sei- ten- und Zeilenzahl in der von Bekker besorgten Akad.-Ausg. Bsp.: »Der Mensch ist ein politisches ALFRED KRÖNER VERLAG Leseprobe Aus: Philosophisches Wörterbuch, neu herausgegeben von Martin Gessmann, 23., vollständig neu be- arbeitete Auflage 2009. © Alfred Kröner Verlag

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Aristoteles, griech. Philosoph und Naturfor-scher, neben ↑Platon der bedeutendste Repräsen-tant der antiken Philos., * 384 v. Chr. Stagira (da-her auch ›der Stagirite‹ genannt), † 322 v. Chr.Chalkis auf Euböa.

Leben: A., Sohn eines am Hof des makedoni-schen Königs tätigen Arztes, ging 367 nach Athenan die ↑Akademie, wo er (zunächst als Schüler)bis zu Platons Tod (348/347) arbeitete; nach Auf-enthalten an wechselnden Orten und einem Zwi-schenspiel am makedonischen Hof (als Erzieherdes jungen Alexander) kehrte er 335 nach Athenzurück und lehrte dort im sog. ↑Lykeion. Nachdem Tod Alexanders d. Gr. musste er 323 vorden Nachstellungen der anti-makedonischen Par-tei, die ihn der Gottlosigkeit beschuldigte, nachChalkis fliehen, wo er bald darauf starb.

Schriften: A. ist der eigentliche Begründer derPhilos. als formal eigenständiger ↑Disziplin. Sieerscheint bei ihm zum ersten Mal als systemati-sche, selbst in verschiedene Fachbereiche einzu-teilende Wissenschaft. Ein großer Teil der techni-schen Terminologie der abendländischen Philos.geht auf ihn bzw. seine Schule zurück. Die Aus-nahmestellung von A., wie die von ↑Platon, er-kennt man schon daran, dass von ihnen weitausmehr Schriften überliefert sind als von anderenantiken Philosophen. Während von Platon mitseinen Dialogen v. a. die exoterischen Schriftenerhalten, die esoterischen Texte hingegen verlo-ren gegangen sind (↑esoterisch/exoterisch), ist esbei A. umgekehrt: Die von ihm verfassten Dialo-ge und andere für die Öffentlichkeit bestimmteSchriften sind verloren gegangen, während diesog. Lehrschriften (Pragmatien), die weitgehendden Charakter von Notizen haben und alsGrundlage für Lehrvorträge gedacht waren, ingroßem Umfang erhalten sind. Sie machen denweitaus größten Teil des Corpus Aristotelicum aus,der Gesamtheit der von A. verfassten bzw. derihm traditionell zugeschriebenen Schriften. ZumCorpus Aristotelicum gehören seitdem:(1) im weiteren Sinne logische Schriften, das sog.↑Organon:

Categoriae (Cat.), »Kategorien«;De interpretatione (De int.);Analytica priora (An. pr.), »Erste Analytiken«;Analytica posteriora (An. p.), »Zweite Analytiken«;Topica (Top.), »Topik«;Sophistici elenchi (Soph. el.), »Sophistische Widerle-

gungen«.

(2) Physikalische Schriften:Physica (Phys.), »Physik«;De caelo (De cael.), »Über den Himmel«;De generatione et corruptione (De gen. et corr.), »Über

Entstehen und Vergehen«;Meteorologica (Meteor.), »Meteorologie«.

(3) Psychologische Schriften:De anima (De an.), »Über die Seele«;die sog. Parva naturalia (Parv. nat.), u. a. De memo-

ria et reminiscentia, »Über Gedächtnis und Er-innerung«; De somnu (De somn.), »Über denSchlaf«; De sensu et sensatu (De sens.), »ÜberEmpfindung«.

(4) Naturgeschichtliche Schriften:De partibus animalium (De part. an.), Ȇber die

Teile der Tiere«;De motu animalium (De mot. an.), »Über die Bewe-

gung der Tiere«;De generatione animalium (De gen. an.), »Über die

Entstehung der Tiere«.

(5) Philos. Schriften:Metaphysica (Met.), »Metaphysik«;Ethica Nicomachea (E. N.), »Nikomachische

Ethik«;Ethica Eudemia (E. E.), »Eudemische Ethik«;Magna Moralia (M. M.), »Große Ethik«;Politica (Pol.), »Politik«;Rhetorica (Rhet.), »Rhetorik«;Poetica (Poet.), »Poetik«.

Stellen in aristotelischen Werken werden wiefolgt nachgewiesen: Titel, ggf. in Abk.en, Buch inröm. Ziffern, Kap. in arab. Ziffern, sowie die Sei-ten- und Zeilenzahl in der von Bekker besorgtenAkad.-Ausg. Bsp.: »Der Mensch ist ein politisches

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Tier« (Pol., I. 2, 1253a2–3; d. h. Politik, Buch I,Kap. 2, in der Ausg. von Bekker, S. 1253, linkeSp., Zeile 2–3). Der uns heute zugängliche Textdes Corpus Aristotelicum beruht auf Handschriften,deren älteste aus dem frühen MA stammen, undlässt sich aufgrund anderer Zeugnisse zurückver-folgen bis zu einer Ausgabe der Werke des A.durch Andronikus von Rhodos, einen Peripateti-ker aus der 10. Schülergeneration des A., im 1. Jh.v.Chr.

Lehre: Die Lehre des A. steht wie die Philos. Pla-tons in der weiteren Auseinandersetzung mit derantiken Sophistik (↑Sophisten). Während die So-phistik auf vielfältige Art und Weise versuchte, mitHilfe von Sprache rhetorische Scheinwelten zu er-zeugen, ging es Platon und A. umgekehrt darum,in ihrer Philos. zu einer Klärung unseres Wirklich-keitsbezuges in der Sprache zu kommen. Philos.wichtig sind demnach die prinzipiellen Möglich-keiten, den Unterschied von ↑Sein und ↑Scheinim Medium der Sprache (↑Logos) zu klären.Mit den Werkteilen, in denen das Vorhaben einersinnvollen Klärung der Sprache auf formale Weiseumgesetzt wurde, ist A. der Begründer der forma-len ↑Logik geworden: A. lieferte mit seiner Syllo-gistik in den Analytica priora das erste uns bekannteBsp. für die Darstellung schlüssiger ↑Argumenteunter Bezugnahme auf Satzformen, in denen Re-deteile durch Schemabuchstaben (↑Variablen) er-setzt sind. Wie seine Syllogistik der traditionellenLogik bis in die frühe Neuzeit als Vorbild diente,so waren auch die übrigen Schriften seines Organonlange Zeit maßgeblich für Form und Inhalt der↑Dialektik und ↑Rhetorik (Top., Soph. el.), fürdas Verständnis der Struktur von Wissenschaften(An. p.) sowie für die Sprachphilos., insbes. für dieLehre vom Begriff (Cat.) und die Lehre vom ↑Satz(De int.).Mit den Werkteilen, die eine Klärung des Unter-schieds zwischen Sein und Schein auf inhaltlicherEbene vorsehen, gab A. der ↑Metaphysik als der›ersten Philos.‹ eine bis heute prägende Gestalt,wenngleich der Ausdruck (griech. metà tà physiká,›nach der Physik‹) von Andronikus möglicher-

weise nur zu Zwecken der ↑Ordnung gebildetwurde. In den unter diesem Titel versammelten14 Büchern, die wohl nicht alle von A. selbstverfasst wurden, skizzierte A. eine Prinzipien-lehre, die in zwei Hinsichten, als ↑Ontologieund als ↑Theologie, erscheint. Die Ontologie istdie Wissenschaft vom »Seienden als Seiendem«(Met. IV. 1). Sie fragt nach den ersten Gründen,warum überhaupt ›etwas als etwas‹ erscheint undals solches erkennbar ist. Die Theologie fragt da-gegen nach dem höchsten Seienden, das bei A.im Zusammenhang mit der Physik (als der Lehrevon wandelbaren Gegenständen) als Ursprungaller Veränderung im ↑Kosmos erscheint. Gottist ein »Prinzip, dessen Wesenheit Aktivität« ist(Met. XII. 6), und weil er oberstes ↑Prinzip ist, ister »unbewegter ↑Beweger« (Met. XII. 8). DieBegriffe, die A. zur Beantwortung dieser Fragenin vielen Fällen überhaupt erstmals geprägt hat,z. B. ↑Substanz und ↑Akzidens, Form und ↑Ma-terie, ↑Akt und Potenz, Wesen, ↑Entelechie,sind zum Grundbestand des begrifflichen Ins-trumentariums der abendländischen Metaphysikgeworden. Unumstritten ist, dass A. seine Meta-physik in kritischer Auseinandersetzung mit denThesen seines Lehrers Platon entwickelt hat, dieEinzelheiten über Stoßrichtung und Umfangdieser Kritik wurden in der Forschung jedochkontrovers diskutiert. Es ist sowohl die Meinungvertreten worden, A.’ Denken habe sich schritt-weise von seinen eigenen platonischen Anfängenentfernt, als auch die These, dass gerade in denvermutlich spätesten Texten von A. die größteNähe zu Platon zu erkennen sei. Generell kannman sagen, dass sowohl die Metaphysik des A.wie auch seine in den physikalischen, psycholo-gischen und naturgeschichtlichen Schriften do-kumentierte Naturauffassung geprägt ist durchden Versuch, die ↑Begründungs- und Erkennt-nisleistung der ↑transzendenten Ideen Platonsdurch ein in der Welt ↑immanent wirkendesPrinzip wiederzugeben. Dabei werden Wandelund Veränderung als Ausdruck lebendiger Kräfteverstanden, wie sie beim Entstehen und Verge-hen und in der Interaktion von Organismen zu

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beobachten sind. Paradebeispiel eines im primärenSinne Seienden, einer Substanz, ist nicht einfachein gewöhnliches Ding, sondern ein lebendiges↑Individuum, das vermöge seiner Seele oder seinesWesens (eîdos) aus sich selbst heraus zu der ihmeigentümlichen Gestalt (morphë) kommt undschließlich zur Erzeugung anderer Individuen der-selben ↑Art befähigt ist. Im Rahmen dieser Natur-auffassung, die A. nicht nur auf natürliche Artenvon Lebewesen, sondern auch auf den Kosmos imGanzen bezogen hat, spielen teleologische Erklä-rungen (↑Teleologie) eine herausragende Rolle.Nicht zuletzt deshalb geriet die aristotelische Phi-los. mit dem Aufkommen der neuzeitlichen ↑Na-turwissenschaft, die ohne die Inanspruchnahmevon natürlichen Zwecken allein auf Kausalerklä-rungen ausgerichtet war, in Verruf.Die ↑Ethik und Handlungstheorie des A., die inder Ethica Nicomachea ihren reifsten Ausdruck ge-funden hat, ist ausgerichtet an den Begriffen der↑Glückseligkeit und eines guten Lebens (Eudai-monismus). ↑Tugend (aretë) bestimmte A. nichtnur als das Mittlere zwischen einem Zuviel undZuwenig (mesótés-Lehre), sondern v. a. als diedurch die Wechselfälle des Lebens nicht so leichtzu erschütternde ↑Disposition (↑Habitus), das zutun, was für ein insgesamt gelungenes Leben nötigist. Ein solches Leben vollendet sich in der politi-schen Teilnahme in einem wohlgeordneten Staat(Polis). Deshalb schließt die Ethik für A. die ↑Poli-tik mit ein. In der betreffenden Schrift versucht er,im Rückgriff auf die natürliche Tendenz der Men-schen, sich in Staaten zusammenzufinden, diejeni-ge Staatsform zu ermitteln, die jenem natürlichen↑Zweck am meisten entspricht. Die Sphäre desEthisch-Politischen bildet so zuletzt im Kosmos ei-nen eigenen Geltungsbereich der Gründe aus, in-dem der Mensch den politischen ↑Raum aus eige-nen Kräften für ihn als Individuum wie für die↑Gemeinschaft als Ganze bestmöglich entwickelt.Die Polis wird so eine Art ›zweite ↑Natur‹.

Wirkung: Den überragenden Einfluss von A. aufdie nachfolgende Philos., insbes. auf die des abend-ländischen MAs (↑Aristotelismus), kann man daran

ermessen, dass er von deren prominentestemVertreter, ↑Th. v. Aquin, oft nur Philosophus,»der Philosoph«, genannt wurde.Ausg.: Aristotelis Opera, hg. v. I. Bekker, I–V,1831–70, Repr. 1960–63; A., Werke in dt. Übers.,I–XX, 1956ff.; The complete Works of Aristotle(The revised Oxford Transl.), I–II, 1984.

Lit.: W. Jaeger, A. Grundlegung einer Geschichteseiner Entwicklung, 1923, 21955, Repr. 1967; W. D.Ross, Aristotle, 1923; E. Kapp, Greek Foundationsof traditional Logic, 1942, dt. 1965; G. Patzig, Diearistotelische Syllogistik, 1958, 31969; W. Wieland,Die Aristotelische Physik, 1962, 21970; I. Düring, A.,1966; F.-P. Hager (Hg.), Metaphysik und Theologiedes A., 1969; Ders. (Hg.), Ethik und Politik des A.,1972; Ders. (Hg.), Logik und Erkenntnislehre des A.,1972; E. Hartmann, Substance, Body and Soul. Aris-totelian Investigations, 1977; A. Kenny, The Aristo-telian Ethics, 1978; J. L. Ackrill, Aristotle the Phi-losopher, 1981; H. Schmitz, Die Ideenlehre des A.,2 Bde., 1985; D. W. Graham, Aristotle’s two Sys-tems, 1987; M. Furth, Substance, Soul and Psyche,1988; O. Höffe, A., Nikomachische Ethik, 1995; C.Rapp, Metaphysik V–VII, 1996; J. Ritter, Metaphy-sik und Politik, 1969, 2003; F. Ricken, Gemein-schaft, Tugend, Glück. Platon und A. über das guteLeben, 2004; W. Detel, A., 2005; O. Höffe, A. Lexi-kon, 2005.

* * *

Ästhetik (v. griech. aistánesthai, ›wahrneh-men‹), Bezeichnung für die philos. ↑Theorievon der Herstellung und Erfahrung des Schö-nen in Kunst und ↑Natur. Formal wird gemäßden Hinsichten von Herstellung und Erfahrungeine Produktionsästhetik von der Rezeptionsäs-thetik unterschieden. Im ersten Fall geht es umdie Entstehungsbedingungen von Kunstwerken,im zweiten um die Wahrnehmungsbedingungenästhetischer Gegenstände. Während der Produk-tionsästhetik seit der aristotelischen Poetik diekünstlerischen Traktate zuzurechnen sind, diev. a. Anleitungen zur Herstellung geben, be-schränken sich die Rezeptionsästhetiken darauffestzustellen, wann ein Gegenstand in seiner↑Wahrnehmung als ästhetisch (d. h. schön, ↑er-

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haben oder interessant bzw. deren jeweiliges Ge-genteil) gelten darf. Inhaltlich wird dann weiterunterschieden zwischen einer Werkästhetik, einerFormästhetik und einer Gehaltsästhetik. DieWerkästhetik versteht das Kunstwerk v. a. als dieVerkörperung eines philos. ausgezeichneten↑Prinzips, die Formästhetik dagegen als das Zu-sammenspiel rein formaler Gestaltungsmerkmale.Die Gehaltsästhetik sieht das Verhältnis vonKunstwerk und seinem (geschichtlichen, sozialen,↑ontologischen) Kontext als ↑konstitutiv an.

Geschichte: Der Begriff wird von A. ↑Baumgartenin seinem Werk Aesthetica (2 Bde., 1750/58) ge-prägt und meint zunächst eine die Rolle der↑Sinnlichkeit aufwertende Theorie der Erkennt-nis; in diesem Sinne verwendet I. ↑Kant in der Kri-tik der reinen Vernunft (1781) den Titel einer »trans-zendentalen Ä.«. Da mit der Aufwertung der Sinn-lichkeit die bildende Kunst und die Poesie philos.Bedeutung bekommen, versucht schon Baumgar-ten, die spezifische Erkenntnisleistung der Kunstzu erfassen. Sein zentraler Gedanke ist der einer»Metaphysik des Schönen«: Was subjektiv in dersinnlich bestimmten Erfahrung des Schönen er-schlossen wird, ist die ↑Welt in ihrer wahrnehm-baren Vollkommenheit. Dieser Gedanke wird vonKant in der Kritik der Urteilskraft (1790) aufgenom-men. Die »Analytik des Schönen« im ersten Teildes Buches ist die Vorbereitung für den Versuch,die Natur im Ganzen nicht unter den Prinzipiender mathematisch geprägten ↑Naturwissenschaftenzu bestimmen, sondern als in sich zweckvollenBereich zu denken: Die Natur erscheint als in sichzweckmäßig geordnet und so organisiert, dassunser Denken und das, was uns von der Naturdurch ↑Anschauung zugänglich ist, grundsätzlichmiteinander übereinstimmen. Schön ist demnachein Gegenstand, wenn er in der Anschauung be-reits eine innere Harmonie von Denken und ↑Seinerkennen lässt, noch bevor das Wesen des Gegen-standes durch einen bestimmten Begriff und damitdurch Verstandestätigkeit gefasst wird. Fr. ↑Schil-ler gibt dem Programm Kants eine anthropologi-sche Wendung, indem er die Erfahrung des Schö-

nen als »ästhetische Erziehung« deutet und als ihrZiel die Einheit von ↑Freiheit und Natur, von↑Vernunft und Sinnlichkeit im menschlichenLeben formuliert. Demgegenüber nimmt G. W.F. ↑Hegel eine radikale Neubestimmung der Ä.vor: Ä. gilt ausschließlich als »Philos. der schö-nen Kunst« und wird damit praktisch durch eineKunstphilos. ersetzt, in der philos. Inhalte zuletztwichtiger sind als die Art und Weise, wie derMensch Kunst erfährt. Zwar versteht Hegel dieKunst als Darstellung der »freien Individualität«,so dass hier der Bezug zu Schillers umfassenderenanthropologischem Ansatz noch gewahrt bleibt.Aber trotzdem ist mit Hegels Entscheidung fürdie Kunstphilos. das Schicksal der philos. Ä. im19. Jh. im Grunde besiegelt. Sie gilt ihm als dieausgezeichnete Form, wie philos. Wahrheit inkonkrete Anschauung übersetzt werden kann.Mit dem Zusammenbruch des ↑deutschen Idea-lismus und des Glaubens an die Möglichkeitenphilos. ausgezeichneter Erkenntnis ändern sichauch Funktion und Stellenwert der Ä. Für Fr.↑Nietzsche ist Ä. nicht mehr ein privilegierterZugang zur ↑Wahrheit wie ihn ↑Theologie undPhilos. bieten, sondern umgekehrt deren bloßerAbglanz in einer Zeit der ↑Dekadenz, in der andie Vorstellung von Wahrheit selbst nicht mehrgeglaubt werde. Ä. wird damit paradoxerweisezum Abglanz einer Wahrheit, die es nicht mehrgibt. Immerhin behält sie einen Stellvertreter-charakter, der philos. fruchtbar bleibt, insoferndie Welt nur noch als »ästhetisches Phänomen …gerechtfertigt« sei (Die Geburt der Tragödie, in:KSA 1, S. 47). Die Auffassung der Ä. als einerArt Ersatz-Wahrheit reicht über M. ↑Heidegger(Der Ursprung des Kunstwerks) und die ↑Hermen-eutik H.-G. ↑Gadamers (Wahrheit und Methode)bis weit ins 20. Jh. Auch die ↑Kritische Theorieknüpft prinzipiell noch an solche Vorstellungenan, wenn sie sich wie Th. W. ↑Adorno in seinerÄsthetischen Theorie auf die Erfahrung großerKunst als Indiz für das »Wahre im Falschen« ge-sellschaftlicher Zustände beruft. W. ↑BenjaminsWürdigung der ↑›Aura‹ ästhetischer Gegenstän-de als ihrer uns heute nicht mehr zugänglichen

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Wahrheit gehört in einen vergleichbaren Zusam-menhang. Zusammen mit der Loslösung der Ä.vom Denken des Idealismus eröffnet sich zugleichdie Möglichkeit, Kunst nicht mehr als anschauli-chen Ausdruck philos. Wahrheit, sondern als an-schauliche Ausprägung des Lebens und der Schöp-ferkraft des Menschen zu sehen. Diesem Ansatzfolgen nach Nietzsche v.a. pragmatische Kunstbe-trachtungen von J. ↑Dewey bis zu R. ↑Rorty. DieWende von einer »Ä. von oben« zu einer »Ä. vonunten« (G. T. ↑Fechner) bietet im 20. Jh. auchRaum für empirisch-psychologische (vgl. auch F.↑Brentano) und phänomenologische Zugänge (E.↑Husserl, M. ↑Merleau-Ponty). Der linguisticturn wird sprachanalytisch prominent durch N.↑Goodman und A. Danto vollzogen, poststruktu-ralistisch von J. ↑Derrida und J.-F. ↑Lyotard.Neuere Tendenzen lösen vor dem Hintergrundweit fortgeschrittener und hochreflektierterKunstproduktion bzw. -diskussion die Ä. aus demklassischen Kanon der Philos. und verstehen sie imRahmen einer allgemeinen Kultur- und Medien-theorie neu. Künstlerisches Schaffen und ↑Verste-hen ist demnach in der Struktur prinzipiell in Ana-logie zu anderen kulturellen Hervorbringungen zuverstehen und wird wie diese medial bewirtschaf-tet.

Lit.: A. G. Baumgarten, Aesthetica, 2 Bde., 1750/58,Repr. 1961; I. Kant, Kritik der Urteilskraft, 1790; Fr.Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen,in einer Reihe von Briefen, 1795; G. W. F. Hegel,Vorlesungen über die Ä., 3 Bde., 1835–38; G. Th.Fechner, Vorschule der Ä., 2 Bde., 1876; J. Dewey, Artas Experience, 1934, dt. 1980; M. Heidegger, Der Ur-sprung des Kunstwerks, in: Holzwege, 1950; H.-G.Gadamer, Wahrheit und Methode, 1960; N. Good-man, Languages of Art, 1968, dt. 1973; Th. W. Ador-no, Ästhetische Theorie, 1970; W. Benjamin, DasKunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reprodu-zierbarkeit, in: Gesammelte Schriften I, 2 (Werkausga-be, Bd. 2), hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser,1980, S. 471–508; A. Danto, The Transfiguration ofthe Commonplace. A Philosophy of Art, 1981, dt.1984; Ders., The philosophical Disenfranchisement ofArt, 21986, dt. 1993; R. Bubner, Ästhetische Erfah-

rung, 1989; J. Derrida, Die Wahrheit in der Malerei,hg. v. P. Engelmann, 1992; R. Rorty, Kontingenz,Ironie und Solidarität, 1992; J.-F. Lyotard, DieAnalytik des Erhabenen. Kant-Lektionen, 1994; M.Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare,1994; J. Früchtl, Ästhetische Erfahrung und morali-sches Urteil. Eine Rehabilitierung, 1996; F. Brenta-no, Grundzüge der Ä., hg. v. F. Mayer-Hillebrandvon Hain, 21998; J. Nida-Rümelin, Ä. und Kunst-philos. Von der Antike bis zur Gegenwart in Einzel-darstellungen, 1998; M. Seel, Ä. des Erscheinens,2000; H. Blumenberg, Ästhetische und metaphoro-logische Schriften, 2001; M. Frank, Einführung indie frühromantische Ä. Vorlesungen, 42002; Th. He-cken/A. Spree (Hg.), Nutzen und Klarheit. An-glo-amerikanische Ä. im 20. Jh., 2002; A. Kern,Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zurphilos. Ä., 2002; D. Mersch, Ereignis und Aura. Un-tersuchungen zu einer Ä. des Performativen, 2002;R. Wiehl, Philos. Ä. zwischen Immanuel Kant undArthur C. Danto, 2005; W. Krohn, Ä. in der Wissen-schaft. Interdisziplinärer Diskurs über das Gestaltenund Darstellen von Wissen, 2006; J. Tanizaki/E.Klopfenstein, Ä. und die Philos. der Kunst, 2007; J.Rancière, Das Unbehagen in der Ä., 2007; P. Sloter-dijk, Der ästhetische Imperativ. Schriften zur Kunst,2007; E. Liebau (Hg.), Die Sinne und die Künste.Perspektiven ästhetischer Bildung, 2008; L. Wiesing,Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspek-tiven der formalen Ä., 2008.

* * *

Chinesische Philosophie, erscheint von An-fang an als ein vollkommen weltbezogenes Den-ken, in dessen Mittelpunkt der Mensch, seinVerhältnis zu sich selbst, seiner Gesellschaft, demStaat und zuletzt zum natürlichen ↑Kosmos ste-hen. Metaphysische Fragen erscheinen am Ran-de, eine eigenständige Sprach- und ↑Erkennt-nistheorie gibt es nur in Ansätzen. Der Weltnäheder chines. Philos. entspricht ihre anschaulicheArgumentationsweise, die anstelle von Traktatenund Abhandlungen mit lehrreichen Anekdotenoder Sentenzen und Anspielungen auf histori-sche Begebenheiten operiert. Weiterhin ist eineVorliebe für die Darstellung der Kombinatorik

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von Grundprinzipien und ↑Kategorien in gra-phischen Schemata und überschaubaren Tabellencharakteristisch. Das Vokabular entstammt derVolkssprache und wird systematisch als ein Rastergebraucht, in das alle Vorkommnisse, ↑Ereignisseund ↑Erlebnisse eingeordnet werden können.1. Vorzeit der ch. Ph. bis Anfang des 6. Jh.sv. Chr.: Grundlegend ist die Vorstellung vomWirken zweier Urprinzipien, ↑Yin und Yang(dargestellt im Buch I Ging), die alles in der ↑Welthervorbringen und durchwirken, zusammen mitden fünf Elementen Metall, Erde, Holz, Wasser,Feuer die fünf ↑Naturzustände Nässe, Wind, Wär-me, Trockenheit, Kälte erzeugen und zugleichfünf menschlichen Grundfunktionen zugeordnetsind: Gebärden, Sprache, Gesicht, Gehör, Den-ken. Yin steht für das Passive, Rezeptive, Weibli-che, Dunkle; Yang für das Aktive, Hervorbringen-de, Männliche, Helle. Yin und Yang werden in al-len Dingen gleichzeitig angenommen, wobei siesich dort zugleich gegenseitig bekämpften und er-gänzten. Das Schicksal von Menschen und Staatenist unter dieser Voraussetzung analog zu jenem al-ler Vorgänge in der ↑Natur zu deuten.2. Altertum der ch. Ph., 600–200 v. Chr.: In derZeit der »streitenden Reiche« (475–221 v. Chr.)ist China nicht nur von politischer ↑Anarchie ge-prägt, sondern auch philos. vom Streit der »hun-dert Schulen« um Fragen der ↑Religion und desStaates. Im 6. Jh. v. Chr. treten zwei Denker auf,deren Einfluss bis in die Gegenwart reicht:↑Lao-tse oder Laotse/Laozi und Kung-fu-tse oder(latinisiert) ↑Konfuzius (551–479 v. Chr.). Der anKonfuzius anschließende ↑Konfuzianismus legt dasAugenmerk auf humanistische Fragen und lehntmetaphysische und religiöse ↑Spekulationen ab.Die Schriften des Konfuzius, die sich hauptsächlichmit ↑sozialen Tugenden und ↑Pflichten befassen,sollten in China zur Grundlage einer religiös im-prägnierten Staatsdoktrin werden (↑Konfuzianis-mus, Neo-Konfuzianismus). Die beiden von Kon-fuzius geforderten Haupttugenden, Nächstenliebeund Pietät, erweitert Me Ti zur allgemeinen Men-schenliebe, was ihn soziale Reformen verlangenlässt. Konfuzius’ ↑Ethik wird im optimistischen

Sinne durch ↑Mong-tse, im pessimistischendurch Hsün-tse (3. Jh.) ausgebaut. Im Gegensatzdazu wendet sich der an Lao-tse anschließende↑Taoismus gegen eine Vermenschlichung derNatur und fordert gemäß dem Weltprinzip des↑Tao, das einen den Dingen und dem Menschengleichermaßen vorgezeichneten Weg meint, einnaturgemäßes Handeln, das sich als ein Nicht-Tun (wu wei) und spontanes Sich-mitreißen-Las-sen oder Sich-Entschließen äußert. Seine Lehrekennzeichnen auch heute noch unorthodoxeLehrmethoden philos. Fragens und die Kunstdes richtigen Schweigens. Die SpruchsammlungDaodejing (oder Tao Te King) wird Lao-tse zuge-schrieben und bildet die Grundlage der Religiondes Taoismus.3. MA der ch. Ph., 200 v. Chr. bis 960 n. Chr.:Nach langen Auseinandersetzungen wird im2. Jh. v. Chr. der Konfuzianismus in ChinaStaatsreligion, nimmt im Laufe der Zeit aberElemente des konkurrierenden Taoismus wiedes von Indien kommenden ↑Buddhismus auf.Bedeutsame Denker sind: Kaiser Han Wu Ti(2. Jh. v. Chr., Konfuzianer, er macht den Kon-fuzianismus erstmalig zur Staatslehre) sowie dieTaoisten Yang Hsiung und Ko Hung, die einemystische Naturphilos. vertreten. Im 1. Jh. n.Chr. tritt zudem ↑Wang-tschung als radikalerMaterialist auf. Im 6. Jh. blüht der Buddhismusauf, vom 7. Jh. an wird er verfolgt.Im Neukonfuzianismus des 10. Jh.s (zur Zeitder Sung-Dynastie) bildet sich eine realistischeSchule heraus, die von dem Ordnungsprinzip Liausgeht, das aus der Klassikerlektüre zu erschlie-ßen und an der Wirklichkeit zu erproben sei,sowie eine ihr entgegenstehende idealistischeSchule, Xin (Hsin), die auf moralische Intro-spektion und die Kultur reiner Herzensgütesetzt.4. Neuzeit der chines. Philos., ab 960: Sie ist ge-kennzeichnet durch Dogmatisierung des Konfu-zianismus, der samt seinem Stifter religiöse Ver-ehrung erhält (1055 Erhebung der FamilieKung-tse in den Herzogsstand, 1503 ›Heilig-sprechung‹ des Kungtse, dem – bilderlose –

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Aus: Philosophisches Wörterbuch, neu herausgegeben von Martin Gessmann, 23., vollständig neu be-arbeitete Auflage 2009. © Alfred Kröner Verlag

Tempel errichtet werden). Zugleich wird derTaoismus unterdrückt (formelles Verbot 1183).Bedeutendere Denker treten nur wenige auf; zuerwähnen ist der zwischen Taoismus und Kon-fuzianismus vermittelnde ↑Wang Yang Ming(16. Jh.). Die Berührung mit dem Christentumdurch Missionare im 17. Jh., deren Rückkehr nachEuropa G. W. ↑Leibniz zu seinen Chinoiserien in-spiriert, bleibt folgenlos. Ende des 19. Jh.s kom-men mit der Anbindung Chinas an die interna-tionalen Handelswege auch Einflüsse des Westensin Form eines ↑Pragmatismus, Sozialdarwinismusoder Anarchismus in das Reich der Mitte. Der↑Marxismus wird erst mit der russ. Oktoberrevo-lution wahrgenommen. Unter dem Stichwort ei-nes ›Neuen Lebens‹ wird in den 1920er und 30erJahren eine Wiederbelebung des Konfuzianismusversucht, mit der Gründung der VolksrepublikChina 1949 wird die marxistisch-leninistisch-maoistische Lehre zum dogmatischen Filter für al-les Gedankengut, das aus der klassischen chines.Philos. überliefert ist. Mit der Öffnung Chinas seitden 1990er Jahren ist das Bedürfnis nach Besin-nung auf ältere Kulturtraditionen spürbar. EineWiederbelebung steht allerdings heute unter demZeichen einer kritischen Auseinandersetzung mitdem westlichen ↑Liberalismus.

Lit.: A. Forke, Geschichte der alten chines. Philos.,1927, 21964; H. Hackmann, Chines. Philos., 1927; A.Forke, Geschichte der mittelalterlichen chines. Philos.,1934, 21964; W. J. Durant, Our Oriental Heritage,1935, dt. 1946; Y. Lin, The Importance of Living,1937, dt. 1979; A. Forke, Geschichte der neueren chi-nes. Philos., 1938, 21964; Y.-L. Fung, A History ofChinese Philosophy, 2 Bde., 1952–53; A. Eckardt, La-otses Gedankenwelt, 1957; G. Schmitz, Der dialekti-sche Materialismus in der chines. Philos., 1960; C. B.Day, The Philosophers of China, 1962; A. F. Wright(Hg.), Studies in Chinese Thought, 1967; O. Graf, Taound Jen. Sein und Sollen im sungchines. Monismus,1970; W. T. De Bary (Hg.), The Unfolding of Neo-Confucianism, 1975; W. Münke, Die klassische chines.Mythologie, 1976; C. W. Fu, Guide to Chinese Philo-sophy, 1978; H. Schleichert, Klassische chines. Philos.,1980; M. Granet, Das chines. Denken. Inhalt, Form,

Charakter, 1985; L. Geldsetzer/H.-d. Hong, Chi-nes.-deutsches Lexikon der chines. Philos., 1986;H. Schleichert, Klassische chines. Philos., 21990; L.Geldsetzer/H.-d. Hong, Chines.-deutsches Wörter-buch der Klassikerwerke der chines. Philos., 1995;J. Hirschberger, Geschichte der Philos., 1996; H. J.Störig, Kleine Weltgeschichte der Philos., 1999; K.Flasch, Das philos. Denken im Mittelalter, 2000;W. Bauer, Geschichte der chines. Philos., 2006; B.Russell, Philos. des Abendlandes, 2006.

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Ironie (v. griech. eironeía, ›Verstellung‹; lat. iro-nia, aber auch simulatio u. dissimulatio), bezeich-net eine Haltung des Sprechens, in der jemandsein Wissen, seine ↑Meinung oder seine Gefühlenur indirekt, oft sogar durch die Bekundung desGegenteils, zum Ausdruck bringt. Das Verständ-nis ironischen Sprechens ist deshalb davon ab-hängig, dass man die in ihm gegebenen I.-Signa-le versteht bzw. ironische Sätze aus ihrem Kon-text als solche erkennt. I. in diesem Sinne ist seitder griech. Antike als wirkungsvolles Mittel der↑Rhetorik bekannt. Durch ↑Cicero wurde sie indie juristische bzw. forensische Rhetorik einge-führt. Zu einer philos. bedeutsamen Erschei-nung wurde die I. durch den platonischen ↑So-krates: Seine I. ist der Verzicht auf die Mitteilungphilos. Einsicht und der sie tragenden Frömmig-keit, um so ein philos. Gespräch zu ermöglichenund die bloß dogmatische oder bekenntnishafteRede zu vermeiden. In der dt. Frühromantik,bes. bei Fr. ↑Schlegel, wird der Begriff der I. imphilos. Sinne zum Ausdruck der Vorläufigkeitund ↑Endlichkeit aller bestimmten Einsicht undFormulierung aufgenommen. Die sog. »roman-tische I.« hat dabei v. a. den Sinn, eine nega-tive Erfahrung des »Unendlichen« freizusetzen.Während also die I. innerhalb der antiken Rhe-torik nur die Brechung und Umwertung einer↑Aussage innerhalb eines bestimmten Redekon-textes betrifft und einzelne Aussagen inhaltlichoder geltungstechnisch in ihr Gegenteil ver-kehrt, zielt die romantische I. auf eine ebenso re-

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flexive wie künstlerische Infragestellung unseresWeltverhältnisses im Ganzen.Lit.: S. Kierkegaard, Über den Begriff der I. mit ständi-ger Rücksicht auf Sokrates, 1841; I. Strohschneider-Kohrs, Die romantische I. in Theorie und Gestaltung,1960; W. Wieland, Platon und die Formen des Wis-sens, 1982, S. 61ff.; U. Japp, Theorie der I., 1983; R.Rorty, Kontingenz, I. und Solidarität, 1989; G. Figal,Sokrates, 1995; Chr. Menke, Die Gegenwart der Tra-gödie. Versuch über Urteil und Spiel, 2005.

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Maieutik (v. griech. maieutikë [téchné], ›Hebam-menkunst‹), metaphorische Kennzeichnung derGesprächskunst des ↑Sokrates in Platons DialogTheaitetos (149a–151d, vgl. 184b, 210b–c). Sokra-tes sagt dort von sich, es sei ihm nicht vergönnt,Gedanken und Einsichten selbst hervorzubringen,vielmehr nötige der Gott (Apollon) ihn, anderenbei der Geburt ihrer Gedanken und Einsichtenbeizustehen. Dem sokratischen Vorbild nachemp-funden ist das, was S. ↑Kierkegaard die »indirekteMitteilung (Maieutik)« nennt, nämlich seine bes.Art, philos. Texte zu schreiben, die den Leser dasdargestellte Problem als eines seiner eigenen Le-bensführung entdecken lassen soll.Lit.: M. Landmann, Elenktik und M., 1950; R. E. An-derson, Kierkegaards Theorie der Mitteilung, in: M.Theunissen/W. Greve (Hg.), Materialien zur Philos.S. Kierkegaards, 1979, S. 437–460.

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Medizinethik ist wie die ↑Bioethik keine allge-meine ↑Ethik, vielmehr ist sie ein Teilgebiet derangewandten Ethik, d. h. sie ist aus medizinischenSpezialproblemen hervorgegangen, die einer ethi-schen Bewertung bedürfen. M. beschäftigt sich mitden sittlichen Normsetzungen, welche im Ge-sundheitswesen, d. h. sowohl für alle dort tätigenInstitutionen, Organisationen, Ärzte und das Pfle-gepersonal als auch für Patienten und deren Ange-hörige gelten sollen. Sie muss von dem Bestrebenausgehen, das Wohlergehen des Menschen zu för-dern, wie auch von dem Verbot, einem Menschen

zu schaden. Weiterhin orientiert sie sich an demRecht des Menschen auf Selbstbestimmung oder– allgemeiner formuliert – am Prinzip der Men-schenwürde. Durch immer neue Entwicklungenin der Medizin, aber auch im Umgang mit knap-pen Ressourcen im Gesundheitswesen entwi-ckelte sich die medizinische Ethik zu einem sehrweitläufigen Gebiet, das einer zunehmendenDifferenzierung und rechtlich-moralischen Ko-difizierung unterliegt. Aufgrund dieser inhaltli-chen und normativen Vielfalt bietet sich für eineÜbersicht eine Darstellung an, welche am Le-bensverlauf orientiert ist.1.) Stammzellenforschung, die Forschung an po-lypotenten menschlichen Körperzellen, stellt einProblemfeld dar, mit dem sich die M. in bes.Maße konfrontiert sieht. Bei der Entnahme derbenötigten Zellen aus kurz zuvor befruchtetenEizellen entsteht die Frage, ob es sich bei diesenfrühen Embryonen um menschliche Wesenhandelt und diese somit dem Würdeschutz un-terliegen. Verteidiger dieser Forschung sehen dasPotential, möglicherweise schwere Krankheitenwie Morbus Parkinson zu heilen oder aber irre-versibel geschädigte Organe wiederherzustellen,als ein pro-Entnahme-Argument. Gegner hin-gegen, wie sie bspw. in der kath. Kirche hervor-treten, stehen auf dem Standpunkt, dass es sichbei befruchteten Eizellen bereits um Menschenhandelt, da von einer ↑Kontinuität, Potentialitätund damit auch einer ↑Identität ihres Wesensausgegangen werden muss, sie somit die Krite-rien für eine Zuschreibung von ↑Würde erfüllenund folglich schützenswert sind.2.) Ein weiteres Problemfeld der M. ist diekünstliche Befruchtung wie z. B. die in-vitro-Fertilisation. Hierbei sind die genetischen Elternnicht unbedingt auch die sozialen Eltern, was zurmöglichen Folge hat, dass es zu Identitätspro-blemen bei den Kindern kommen kann. Dersich hieraus ergebende Konflikt zwischen demRecht der Eltern, sich fortzupflanzen, und derPflicht des Staates, alle seine Bürger zu schützen,ist Ursache ethisch-rechtlicher Kontroversen.Hiermit verbunden ist die Problematik der Prä-

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implantationsdiagnostik (PID). Mittels dieses Ver-fahrens kann am dritten Tag nach der Befruchtungim Reagenzglas eine Zelle des Embryos entnom-men und auf genetische Defekte hin untersuchtwerden. Gegner der PID befürchten, dass es hier-durch zu einer Selektion kommen könnte, diemoralisch nicht vertretbar wäre. Befürworter se-hen in dem Verfahren dagegen eine Möglichkeit,bessere Erfolge bei der künstlichen Befruchtung zuerzielen. Die PID ist derzeit in der BundesrepublikDeutschland gesetzlich verboten. Schwangerehaben jedoch die Möglichkeit, mittels Pränatal-diagnostik (PND), z. B. durch Ultraschalluntersu-chung, Entwicklungsschwächen des Embryos fest-stellen zu lassen und ggf. auf dieser Diagnose beru-hende Entscheidungen zu treffen, wobei zuletztauch ein Schwangerschaftsabbruch in Betracht ge-zogen werden kann. Nach Maßgabe der ›goldenenRegel‹ folgt daraus eine Ablehnung der PND.Befürworter der PND sind dagegen der Auffas-sung, dass es Situationen geben kann, in denen dasSelbstbestimmungsrecht der Mutter über dem In-teresse des Ungeborenen steht.3.) Die Arzt-Patienten-Beziehung ist ein weitererFokus der M. Durch Spezialisierung und Fort-schritt unterliegt sie einem ständigen Wandel. EinKonflikt zwischen der Selbstbestimmung des Pa-tienten und der Fürsorgepflicht des Arztes kommtim Zuge dieser Veränderungen immer häufigervor. Als bes. schwierig und sensibel erweist sich dasArzt-Patienten-Verhältnis, wenn es um den Um-gang mit Behinderten bzw. psychisch krankenMenschen geht. So kommt es bspw. bei Fällen vonPädophilie zu einem Konflikt zwischen der ↑Frei-heit des Patienten und dem Anspruch der Gesell-schaft, vor ihm geschützt zu werden.4.) Ein weiteres, wichtiges Teilgebiet der M. ist dieethische Haltung gegenüber medizinischen Versu-chen an Tieren. Gegner wie Peter ↑Singer forderneine vergleichbare Bewertung der Bedürfnisse vonMenschen und Tieren. Befürworter von Tierver-suchen hingegen schreiben menschlichen Bedürf-nissen, v. a. medizinischen, einen höheren Wertzu. Es stellt sich in der Folge der Debatte auch dieFrage, ob Versuche am Menschen moralisch ver-

tretbarer sind. Wichtig sind für alle dieseThemen die Entscheidungen von Ethikkommis-sionen, in denen der institutionelle Versuch ge-macht wird, die Abwägung bes. heiklen Fragenauf den Konsens einer breiten gesellschaftlichenBasis zu gründen und damit die ↑Verantwortungauf ›möglichst viele Schultern‹ zu verteilen.5.) Im Hinblick auf den ↑Tod des Menschenrückt das Thema der aktiven und passiven Ster-behilfe in den Mittelpunkt der M. Als Prioritäterscheint hier wie bei allen Entscheidungen inder Medizin v. a., den ↑Willen des Patienten zurespektieren. Deshalb bedürfen alle Maßnah-men, welche möglicherweise den Tod des Pa-tienten betreffen, dessen eigener Zustimmungoder aber derjenigen seiner Angehörigen.Schwierigkeiten bereitet bei genauerer Betrach-tung insbes. die detaillierte Abgrenzung von ak-tiver Sterbehilfe – dem Töten – gegenüber passi-ver Sterbehilfe – dem Sterbenlassen infolge einerKrankheit. Einen bes. Punkt bildet hier die indi-rekte Sterbehilfe in Form einer Verabreichungvon schmerzlindernden Mitteln, die unter Um-ständen eine lebensverkürzende Wirkung habenkönnen. Die M. beschäftigt sich ebenfalls mit derFrage, ob der Hirntod als hinreichendes Kriteri-um für das Ableben des Menschen zu sehen ist,sowie mit den Problemen rund um die postmor-tale Organentnahme, wobei die Zustimmungdes Patienten, bspw. durch einen Organspen-deausweis, die Grundlage für die Legitimität derEntnahme darstellen kann.Bei den Problemstellungen im Zusammenhangmit dem menschlichen Leben stellt sich gerade inder ↑Moderne neben Fragen der ethischen Zu-lässigkeit von Verfahren immer häufiger auch dieFrage der Machbarkeit, d. h. u. a. der Finanzier-barkeit eines technisch hochentwickelten Ge-sundheitswesens.

Lit.: H.-M. Sass (Hg.), Medizin und Ethik, 1989;A. Leist (Hg.), Um Leben und Tod. MoralischeProbleme bei Abtreibung, künstlicher Befruchtung,Euthanasie und Selbstmord, 1990; B. Schöne-Sei-fert/L. Krüger (Hg.), Humangenetik – ethische Pro-bleme der Beratung, Diagnostik und Forschung,

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1993; S. Reiter-Theil (Hg.), Vermittlung medizini-scher Ethik. Theorie und Praxis in Europa, 1997;C. Kaminsky, Embryonen, Ethik und Verantwortung.Eine kritische Analyse der Statusdiskussion als Pro-blemlösungsansatz angewandter Ethik, 1998; B. Gor-dijn (Hg.), M. und Kultur. Grenzen medizinischenHandelns in Deutschland und den Niederlanden, 2000;O. Höffe, Medizin ohne Ethik?, 2002; A. T. May(Hg.), Passive Sterbehilfe: besteht gesetzlicher Rege-lungsbedarf? Impulse aus einem Expertengespräch derAkademie für Ethik in der Medizin e. V./Münster,2002; P. Singer, Animal Liberation, 2002; U. Wiesing(Hg.), Die Ethik-Kommissionen. Neuere Entwicklun-gen und Richtlinien, 2003; S. Sahm, Sterbebegleitungund Patientenverfügung. Ärztliches Handeln an denGrenzen von Ethik und Recht, 2006; B. Schöne-Sei-fert, Grundlagen der M., 2007; H.-J. Kaatsch (Hg.),M., 2008; M. Klekamp, Lücken im Lebensschutz. Hu-mane Vorkernstadien und Präimplantationsdiagnostikaus der Sicht der Christlichen Gesellschaftslehre, 2008.

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Neurophilosophie, ist urspr. ein Ansatz der phi-losophy of mind, Bewusstseinsphilos. mit den Mit-teln der Neurobiologie auf eine wissenschaftlichgesicherte Basis zu stellen. Die N. wurde von P.M. Churchland und P. Churchland Mitte der1980er Jahre ins Leben gerufen und verfolgt ihrProjekt im Sinne eines eliminativen ↑Materialis-mus, d. h. alle Bewusstseinsphänomene sollen zu-letzt aus den neuronalen Zuständen unseres Ge-hirns und seinen Veränderungen erklärt werden.Spätestens seit dem Ende der 1990er Jahre ist dieDiskussion um die ↑Willensfreiheit ins Zentrumder Auseinandersetzung der N. mit klassischenAnsätzen der Philos. gerückt. Anstoß waren dieExperimente von B. Libet, in denen empirischnachgewiesen wurde, dass in einem Areal außer-halb der Großhirnrinde der ↑Impuls zu einer↑Handlung gegeben wird, noch bevor er alsHandlungsentschluss bewusst wird, die ↑Entschei-dung demnach schon vor ihrer rationalen ↑Be-gründung gefallen sein musste. Gegen die Theseeiner Widerlegung der Willensfreiheit wurde u. a.eingewandt, dass sich komplexe Entscheidungen

z. B. in Lebensfragen experimentell nicht ingleicher Weise nachvollziehen lassen und un-möglich zu vergleichbaren Ergebnissen führenkönnten, weil keine einfachen Handlungsimpul-se im Spiel sind und eine langwierige Abwägungverschiedener Optionen kaum in einfache moti-vationstechnische Raster zu bringen ist. Prinzi-piell hat J. ↑Habermas unter Berufung auf I.↑Kant dafür plädiert, die Willensfreiheit nicht imWiderspruch zu hirnphysiologischen Vorgängenzu denken (hier würde der Mensch, so hatteschon Kant argumentiert, eine Ausnahme vom↑Kausalgesetz in der Natur machen, was einemWunder gleichkäme), die Sphäre der ↑Freiheitaber in einem Raum der Gründe anzusetzen, indem grundsätzlich eine Rechenschaft gefordertwird, die nicht aus einer Kausalerklärung folgenkönne. Es gelte den Unterschied zwischen ↑Ur-sachen und Gründen zu verstehen. P. Bieri hatdagegen normative Fragen in der Debatte hint-angestellt und für eine Gleichberechtigung derBeschreibungsvokabulare argumentiert. Phäno-menologische Ansätze betonen die Vielschich-tigkeit des Problems und sehen die Alternative›Freiheit oder ↑Determinismus‹ als einseitig an,insofern zwischen der moralischen Selbstgesetz-gebung eines vernünftigen ↑Subjekts und derTotaldeterminierung durch hirnphysiologische↑Kausalitäten eine ganze Bandbreite von Ver-mittlungsstufen und Sinngebungen bis hin zuleiblichen Weltverhältnissen übersehen werde.Die analytische mindbody-Diskussion verbindetmit der Freiheitsfrage auch metaphysische Ansät-ze und unterstellt z. B. mit D. ↑Dennett jederErklärungsform, die über rein funktionalistischeRekonstruktionen des Geistes hinausgeht, mitfragwürdigen ↑Entitäten wie ›Seele‹ zu operie-ren.

Lit.: P. S. Churchland, Neurophysiology. Toward aunified Science of the Mind-Brain, 21986; P. M.Churchland, A neurocomputational Perspective.The Nature of Mind and the Structure of Science,1992; A. Damasio, Descartes’ Error. Emotion, Reas-on, and the human Brain, 1994; P. Gehring, Esblinkt, es denkt. Die bildgebenden und die weltbild-

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gebenden Verfahren der Neurowissenschaft, in: Philos.Rundschau 51 (2004), S. 273–293; Chr. Geyer, Hirn-forschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neu-esten Experimente, 2004; G. Northoff, Philosophy ofthe Brain. The Brain Problem, 2004; J. Habermas,Zwischen Naturalismus und Religion. Philos. Aufsät-ze, 2005; P. Bieri, Das Handwerk der Freiheit. Überdie Entdeckung des eigenen Willens, 2006; E. Oeser,Das selbstbewußte Gehirn. Perspektiven der Neuro-philos., 2006; D. Dennett, Süße Träume, 2007; B. Li-bet, Mind Time. Wie das Gehirn Bewußtsein produ-ziert, 2007; G. Roth, Persönlichkeit, Entscheidungund Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich und an-dere zu ändern, 2008.

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Seele (v. ahd. seola, abgel. v. seo, ›der (die) See, dasMeer‹; griech. psychë, pneûma, lat. animus, spiritus,›Hauch, Atem, Seele‹), das belebende Prinzip allerKreaturen, das in verschiedenen Kulturen, Reli-gionen und philos. Systemen auf vielfältige Weisegedacht wird und entweder als individuelles Le-bensprinzip oder als ↑Weltseele angenommenwird.

Geschichte: Die Annahme einer vom ↑Körpergetrennten S. gibt es bereits in frühen Kulturenund ist dort an religiöse Vorstellungen gebunden(↑Animismus). In der Philos. beginnt mit ↑Platonund ↑Aristoteles in Auseinandersetzung mit den↑Vorsokratikern eine Ausdifferenzierung nachFunktionen, die in rationalen und ↑irrationalenS.nteilen lokalisiert werden. Platon unterscheidetin seiner ↑Psychologie einen begehrenden von ei-nem muthaften und einem vernünftigen Teil derS. Im ↑Mythos erscheinen sie als ein Gespann auszwei Pferden, von denen eines nach oben, einesnach unten strebt. Beide werden kontrolliert undkoordiniert von einem Wagenlenker. Die Seele istdann in guter Verfassung, wenn der Mensch guthandelt, d. h. der ›Wagen‹ auf der rechten ›Spur‹bleibt. Von ↑Pythagoras übernimmt Platon dieVorstellung von der S.nwanderung, die er er-kenntnistheoretisch in Anspruch nimmt. Die vomKörper befreite S. schaut im Himmel die Ideen in

Reinform an, so dass alle Erkenntnis nach Wie-dereintritt in die Körpersphäre nur Wiedererin-nerung ist (↑anámnésis). Kosmologisch wird dieS. im Dialog Timaios zum Weltprinzip. Aristote-les naturalisiert Platons Annahmen grundsätz-lich, indem er die S. als ↑Entelechie des lebendi-gen Körpers ansetzt, also als die Form, auf die dasWachstum ausgerichtet ist und von der aus derVerfall beginnt. Sie ist das Ziel aller Entwicklungund Bewegungsprinzip des Körpers. Es gibt einevegetative S., die bereits in der Pflanze vorhan-den ist und für Lebendigkeit überhaupt steht,eine sensitive S., die ↑Wahrnehmung, ↑Begeh-ren und Selbstbewegung ermöglicht, eine Geist-seele, die nur beim Menschen vorkommt: den↑»noûs« (↑»Vernunft«), bei dem zwischen einemrezeptiven und einem produktiven S.nteil unter-schieden wird. Die niederen S.nformen sind ver-gänglich, die tätige Geistseele ist unvergänglich,verliert allerdings mit der Bindung an den Kör-per nach dem ↑Tod auch ihre Individualität undgeht in einer allgemeinen S. auf. In der ↑Stoawird die S. als Teil der Weltseele stofflich ge-dacht, ebenso wie zuvor schon bei ↑Epikur undspäter noch bei frühen ↑Kirchenlehrern.In der Neuzeit wird die S.nthematik grundsätz-lich aus der antiken ↑Kosmologie und einer ob-jektiven Schöpfungsordnung des MAs gelöstund mit R. ↑Descartes auf das denkende ↑Sub-jekt zurückbezogen. Seitdem steht sie im Zu-sammenhang mit dem ↑Leib-S.-Problems, beidem es um die Frage geht, wie die ↑ontologischeKluft zwischen der denkenden ↑Substanz (↑rescogitans) und der ausgedehnten Substanz (res ex-tensa) überbrückt werden soll. Descartes schlägteine psychophysische Wechselwirkung vor, beider die S. ihren Ort in der »Zirbeldrüse« als derSchnittstelle von Körper und Geist haben müss-te. B. d. ↑Spinoza geht von einer Denken und↑Natur umfassenden Weltsubstanz aus, inner-halb derer die Körperseele als eine Individuationgedacht wird. G. W. ↑Leibniz setzt eine meta-physisch »prästabilierte ↑Harmonie« im Verhält-nis der Einzelseelen (↑»Monaden«) zur Weltseele(»Zentralmonade«) voraus. Im engl. ↑Empiris-

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mus und ↑Sensualismus zerfällt die S. in ein Bündelvon Vorstellungen (D. ↑Hume). I. ↑Kant erscheintdie Annahme einer S. als metaphysisch und unbe-weisbar, da das Pro und Kontra in der Argumen-tation für ihre Annahme in einen Paralogismus(↑Fehlschluss) führe. An der Vorstellung von derUnsterblichkeit der S. hält er dennoch in Form ei-nes ↑»Postulats« fest, um in seiner ↑Ethik glaubhaftmachen zu können, dass die S. zur sittlichen Ver-vollkommnung fähig sei, obwohl die menschlicheNatur aus »krummem Holz« geschnitzt ist, solangewir leben.Während die S. in den Systemen des ↑deutschenIdealismus noch einmal eine intellektuelle Be-gründung und ontologische Stufung erfährt, v. a.in G. W. F. ↑Hegels Natur- und Geistphilos., wirdsie im nachfolgenden ↑Realismus und nach der↑»Entzauberung der Welt« durch die Wissenschaftnur noch als romantische Reminiszenz behandelt.F. W. J. ↑Schelling, A. ↑Schopenhauer und Fr.↑Nietzsche entwerfen mit der Instanz des ↑Willenseine triebdynamische Alternative zur Begründungmenschlichen Verhaltens wie auch des Weltge-schehens im Ganzen, und in der Weiterführungdieser triebdynamischen Alternative wird schließ-lich bei S. ↑Freud auch die wissenschaftliche Be-handlung der S. von allen vormalig metaphysi-schen und teleologischen Bestimmungen abgelöst.L. ↑Klages spricht später zusammenfassend vom»Geist als Widersacher der S.«. Für die Anthropo-logie und die ↑Phänomenologie ist die S. im20. Jh. nicht mehr Ausgangspunkt der Philos., weildie Daseinsanalyse bei komplexen Strukturen des↑»In-der-Welt-seins« (M. ↑Heidegger) ansetzt. Ei-ne letzte Widerlegung wird von den Vertreternder Neurophilos. anvisiert mit dem Ziel, seelischeVermögen vollkommen auf biochemische oderelektrochemische Steuerungsprozesse zurückzu-führen. In der analytischen Philos. wird seit den1970er Jahren über die mögliche Existenz der S.debattiert (D. ↑Dennett, Th. ↑Nagel).Lit.: Platon, Politeia IV. 2; Aristoteles, De Anima; I.Kant, Kritik der reinen Vernunft, transzendentale Di-alektik, II. Buch, 1. Hauptstück, 1781/1787; L. Klages,Der Geist als Widersacher der S., 1929; P. Bieri, Ana-

lytische Philos. des Geistes, 1981; C. Castoriadis,Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft,1981; J. N. Bremmer, The early Greek Concept ofthe Soul, 1983; R. Swinburne, The Evolution of theSoul, 1986; W. Barrett, Death of the Soul, 1987; G.Jüttemann u. a. (Hg.), Die S. Ihre Geschichte imAbendland, 1991; I. Hacking, Rewriting the Soul.Multiple Personality and the Sciences of Memory,1995; J. M. Rist, Man, Soul and Body. Essays in an-cient Thought from Plato to Dionysius, 1996; J. M.Cooper, Reason and Emotion, 1999; M. J. C. Crab-be (Hg.), From Soul to Self, 1999; J. P. Wright (Hg.),Psyche and Soma. Physicians and Metaphysicians onthe Mind-Body Problem from Antiquity to En-lightenment, 2000; U. Lorenz (Hg.), Philos. Psy-chologie, 2003; A. Hilt, Ousia – Psyche – Nous.Aristoteles’ Philos. der Lebendigkeit, 2005; H.-D.Klein (Hg.), Der Begriff der S. in der Philos.ge-schichte, 2005; M. F. Peschl (Hg.), Die Rolle der S.in der Kognitionswissenschaft und der Neurowissen-schaft. Auf der Suche nach dem Substrat der S., 2005;F. Hermanni (Hg.), Das Leib-S.-Problem, 2006; P.Baumanns, Die S.-Staat-Analogie im Blick auf Pla-ton, Kant und Schiller, 2007; D. Dennett, SüßeTräume, 2007; T. Metzinger (Hg.), Grundkurs Phi-los. des Geistes, Bd. II, 2007.

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Transzendent (zu lat. transcendere, ›hinüberge-hen‹), gilt allgemein als etwas, dessen Annahmealle Seins- oder Erfahrungsbereiche überschrei-tet. Seinen Ursprung hat die Zuschreibung t. inder ontologischen Zweiteilung der ↑Welt inimmaterielle, sich immer gleichbleibende Ideenund deren Abbilder, die materiellen, wandelba-ren Dinge in der Welt. Während bei ↑Platonnoch die platonischen Ideen als Erkenntnisgrün-de der Dinge t. genannt werden, ist es im ↑Neu-platonismus da s ↑Eine als das metaphysischePrinzip aller weltlichen Prinzipien. Im Zusam-menhang mit der christlichen Schöpfungslehrewird das t.e Prinzip auch als jenseitig bezeichnet.Im MA geht die ↑Scholastik von »Transzenden-talien« als allgemeinsten Begriffen jenseits allerspeziellen Art- und Gattungszuschreibungen aus,

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in der Neuzeit wird der Begriff von der ↑On-tologie und ↑Logik auf die ↑Erkenntnistheorieübertragen und steht für all das, was nichtmehr in der Reichweite unseres Erkenntnisver-mögens liegt, wie bspw. die »Dinge an sich« beiI. ↑Kant. In der ↑Existenzphilos. des 20. Jh.s meintt. den Bereich, der jenseits des endlichen Hori-zonts lebensweltlicher Verständnisweisen als Sinn-leere erscheint, auf die z. B. M. ↑Heidegger mitseiner Formel vom »Hineingehaltensein in dasNichts« anspielt als der Grundsituation desmenschlichen Daseins.Lit.: I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1781/87;Ders., Prolegomena, 1783, §§ 33ff.; M. Heidegger,Sein und Zeit, 1927; K. Jaspers, Philos., Bd. 3: Meta-physik, 1932; J. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen,1992; L. Honnefelder (Hg.), Transzendenz, 1992; H.Holz, Immanente Transzendenz, 1997.

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Utilitarismus (v. engl. utilitarianism, v. lat. utilis,›nützlich‹), Position in der ↑Ethik und Sozialphi-los., bei der die Güte einer Handlung nach derNützlichkeit ihrer Folgen bewertet wird. Ansätzefür utilitaristisches Denken finden sich historischmeist dort, wo gegen eine Gesinnungsethik (↑Ver-antwortungsethik) Position bezogen wird, z. B.bereits in der ↑Antike bei ↑Epikur, in der Neuzeitim engl. ↑Empirismus, bes. bei den schott. Moral-philosophen (D. ↑Hume, A. ↑Smith, A. ↑Fergu-son). Zu einem philos. System wird der U. bei J.↑Bentham, der von den Gefühlen von ↑Lust undUnlust ausgeht und auf sie das Streben nach↑Glück bezieht, wobei Glück für ihn in der Be-dürfnisbefriedigung besteht und die Chancen aufBedürfnisbefriedigung schließlich das ↑Kalkül fürdie Nützlichkeit einer Handlung bestimmen. Umso kalkulieren zu können, wird der zu erwartendeLustgewinn hinsichtlich seiner Intensität und↑Dauer, seiner ↑Wahrscheinlichkeit sowie seinerzeitlichen und räumlichen Nähe abgeschätzt. Indas Kalkül geht auch die Einschätzung darüber ein,ob aus einem unmittelbaren Lustgewinn weitereLust oder Unlust folgt. Der ↑kollektive Nutzen er-gibt sich für Bentham aus der Summe der indivi-

duell errechneten Lustgewinne, wobei als ↑nütz-lich gilt, was »das größtmögliche Glück dergrößtmöglichen Zahl (der Betroffenen)« hervor-bringt. Im Vergleich zu Bentham liberalisiertspäter J. S. ↑Mill den U. und räumt der Lust ander geistigen Entfaltung der eigenen Persönlich-keit Priorität über andere Möglichkeiten desLustgewinns ein. Einwände gegen den U. bezie-hen sich klassischerweise auf technische Pro-bleme wie die Vergleichbarkeit und Quanti-fizierung von Lust und die Einschätzung, waszu ihrer Befriedigung beiträgt. Ein speziellesethisch-politisches Problem ergibt sich aus demUmstand, dass sich aus dem Nutzenkalkül selbstkein Minderheitenschutz ableiten lässt, generellwird das Fehlen allgemeinverbindlicher Normenund Prinzipien kritisiert.Lit.: J. Bentham, An Introduction into the Principlesof Morals and Legislation, 1789; J. S. Mill, Utilitaria-nism, 1861/1975; J. J. C. Smart/B. Williams, Utili-tarianism: For and against, 1973; D. Lyons (Hg.),Mill’s Utilitarianism. Critical Essays, 1996; B. Ge-sang, Eine Verteidigung des U., 2003; O. Höffe, Ein-führung in die utilitaristische Ethik, 2003, 22008; T.Mulgan, Understanding Utilitarianism, 2006.

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Aus: Philosophisches Wörterbuch, neu herausgegeben von Martin Gessmann, 23., vollständig neu be-arbeitete Auflage 2009. © Alfred Kröner Verlag