Allen das Gleiche oder jedem das Seine? Zum Ethos der ... · PDF fileMartha C. Nussbaum...

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Verena Begemann, Professorin für Ethik, Disziplin und Profession der Sozialen Arbeit 1 Allen das Gleiche oder jedem das Seine? Zum Ethos der Gerechtigkeit 1. Gerechtigkeit als personale Haltung 2. Gerechtigkeit als Anerkennung des Anderen 3. Verteilungs- und Befähigungsgerechtigkeit als ethisches Prinzip und Aufgabe Sozialer Arbeit 4. Macht Teilen glücklich – Gemeinschaft als Weg zu mehr Gerechtigkeit?

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Verena Begemann, Professorin für Ethik, Disziplin und Profession der Sozialen Arbeit 1

Allen das Gleiche oder jedem das Seine? Zum Ethos der Gerechtigkeit

1. Gerechtigkeit als personale Haltung 2. Gerechtigkeit als Anerkennung des Anderen3. Verteilungs- und Befähigungsgerechtigkeit als

ethisches Prinzip und Aufgabe Sozialer Arbeit 4. Macht Teilen glücklich – Gemeinschaft als Weg zu

mehr Gerechtigkeit?

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Gerechtigkeit als personale Haltung

•Das Adjektiv „gerecht“ leitet sich vom althochdeutschen „gireth“ (8. Jh.) ab und bedeutet „passend, gerade, richtig“ (Kluge, Etymologisches Wörterbuch, 350)

•Die Gerechtigkeit und der nach Gerechtigkeit strebende Mensch fragt danach, wie man richtig lebt. Wie werde ich meinen Bedürfnissen gerecht? Wie kann ich zwischen den Polen von Wunsch und Pflicht leben lernen?

•„Gerechtigkeit und Friede müssen zuerst in der eigenen Person herbeigeführt werden“ (Hoye, 2010, 8).

•Richtig zu leben bedeutet aufrecht, aufrichtig und authentisch zu leben, um sich selbst gerecht zu werden, aber nicht der Gefahr der Selbstgerechtigkeit zu unterliegen.

•„Ein gerechter Mensch ist sich selbst Freund geworden und verhält sich daher auch gegenüber anderen gerecht“ (Schmid, 2007, 146)

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Gerechtigkeit als personale Haltung

„Wenn du dich selbst nämlich so liebst“, sagen Augustinus und Eckhart, „dass du dich zugrunde richtest, so will ich nicht, dass du irgend jemand in demselben Maße wie dich selber liebst. Entweder gehe allein zugrunde oder bring erst deine Liebe in Ordnung oder verzichte auf menschliche Gemeinschaft (…) Liebe also deinen Nächsten“, so interpretiert Eckhart den Gedanken Augustinus, „wie du dich selbst liebst, nicht wie du dich selbst hasst.“(Dietmar Mieth, Die neuen Tugenden, 1984,188)

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Gerechtigkeit - die Anerkennung des anderen (Hoye)

• Einen Sinn für Gerechtigkeit zu haben ist ein Habitus (lat. haben)

• Werte verfügen über kein eigenes Sein. Sie sind an die Subjektivität des handelnden Menschen und seine Erfahrungen gebunden.

• „Das Tugendgemäße heißt für Aristoteles im Blick auf die Gerechtigkeit, dass man durch die Gerechtigkeit zum Gerechten fähigwerde, gerecht handle, es überdies wolle.“ (Höffe, 2007, 132)

• Gerechtigkeit ist ein habitualisierter Wert. „Ohne Empathie, ohne Mitgefühl kommt der Sinn abhanden; Sinnverlust bedeutet Werteverlust und Werteverlust resultiert aus Habitusverlust“(Manemann, 2012, 23).

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Gerechtigkeit - die Anerkennung des anderen (Hoye)

„Geld gab‘s dafür nicht, aber Anerkennung. Nicht mehr übersehen, sondern gesehen werden.“

Kunst trotzt Armut. Wanderausstellung der Ev. Obdachlosenhilfe. www.kunst-trotzt-armut.de

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„Gerechtigkeit reagiert nachträglich auf vorgegebene Rechte. Der Gerechtigkeit liegt das Recht voraus“ (Pieper, Werke, Bd. 4, 47)

Verteilungs- und Befähigungsgerechtigkeit als ethisches Prinzip und Aufgabe der Sozialen Arbeit

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„Sozialarbeiter_innen haben eine Verpflichtung, soziale Gerechtigkeit zu fördern in Bezug auf die Gesellschaft im Allgemeinen und in Bezug auf die Person, mit der sie arbeiten“ (IFSW 2004, 3)

Verteilungs- und Befähigungsgerechtigkeit als ethisches Prinzip und Aufgabe der Sozialen Arbeit

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Verteilungs- und Befähigungsgerechtigkeit als ethisches Prinzip und Aufgabe der Sozialen Arbeit

Martha C. Nussbaum ist Professorin für Recht und Ethik an der University of Chicago. Von Anfang an war Aristoteles ihr philosophischer Leitstern; seine Lehre vom guten Leben bildet auch das ethische „Herz“ ihrer eigenen Gerechtigkeits-philosophie. 1986 Begegnung mit Amartya Sen aus Indien, der 1998 den Wirtschaftsnobelpreis für seine Arbeiten zur Wohlfahrtsökonomie erhielt. Nussbaum entwickelte den sog. „capability approach“ auf philosophischer Seite, Sen auf ökonomischer Seite. In diesem Fähigkeitenansatz geht es beiden um grundlegende menschliche Ansprüche, die von allen Regierungen als von der Menschenwürde gefordertes absolutes Minimum geachtet und umgesetzt werden sollten.

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Verteilungs- und Befähigungsgerechtigkeit als ethisches Prinzip und Aufgabe der Sozialen Arbeit

Capability kann mit Entfaltungsmöglichkeiten, Handlungsbefähigungen oder Verwirklichungschancen übersetzt werden.

Dreiklang von Befähigungen, Infrastrukturen und Berechtigungen.

Befähigungen sind auf klare Konkretisierungen im Alltag angewiesen

Beispiele: Arbeit, Gesundheit, Freundschaften, Alphabetisierung

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„Auf der Grundlage eines modernen Gerechtigkeitsmodells kommt der Sozialen Arbeit gemäß des Capability Ansatzes die gesellschaftliche Aufgabe zu, Menschen zu befähigen respektive dabei zu unterstützen ihre zentralen menschlichen Bedürfnisse, Bedarfe autonom zu befrieden sowie die Zugänge zu den gesellschaftlich notwendigen Ressourcen durch selbstständiges und eigenverantwortliches Handeln zu erschließen und zu verwirklichen.“(Hunold, 2010, 95)

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Kann Gemeinschaft ein Weg zur sozialen Gerechtigkeit sein?

„Gerechtigkeit setzt verantwortliche Individuen in einer aufgeschlossenen Gesellschaft voraus. Die ausschließliche Verfolgung eigener Interessen ist noch nicht einmal für den Marktplatz eine gute Empfehlung, denn keine soziale, politische, wirtschaftliche oder moralische Ordnung kann auf diese Weise überleben.“ (Kommunitarisches Manifest)

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„Soziale Arbeit ist daher nicht Güte, nicht Wohltun, sondern nur gerechtes Handeln“

(Alice Salomon)

„Gerechtigkeit ist eine Hoffnung und ein Ideal, nach dem zu streben durchaus realistisch ist“(Martha Nussbaum)

„Wir bezeichnen also in einer Hinsicht als gerecht ein Handeln, welches den Zweck hat, das Glück sowie dessen Kompo-nenten für das Gemeinwesen hervorzubringen und zu erhalten“(Aristoteles)

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Literaturhinweise• Hemel, U./ Fritzsche, A./ Manemann J. (Hg.): Habituelle

Unternehmensethik. Von der Ethik zum Ethos. Baden-Baden 2012

• Hoye, William J.: Tugenden. Was sie wert sind, warum wir sie brauchen. Ostfildern 2010

• Maaser, Wolfgang: Lehrbuch Ethik. Grundlagen, Problemfelder und Perspektiven. Weinheim/München 2010

• Nussbaum, Martha C.: Gerechtigkeit oder das gute Leben. Frankfurt a. Main 1999

• Schmid, Wilhelm: Mit sich selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst. Frankfurt a. Main 2004

• www.schloss-tempelhof.de – hier Film von Susanna Bausch und Beitrag im SZ-Magazin