Allen, Roger MacBride - Die Heimgesuchte Erde 01 - Der Ring Von Charon

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Herausgegeben von Wolfgang Jeschke

Von ROGER MACBRIDE ALLEN erschien in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY:Die Laserfaust 06/5083 Der Ring von Charon 06/5912 Die zerschmetterte Sphre 06/5913 Die Waisen der Schpfung (in Vorb.)

ROGER MACBRIDE ALLEN

DER RING VON CHARON

Roman Aus dem Amerikanischen von MARTIN GILBERT

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG MNCHEN

HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/5912

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http://www.heyne.deTitel der amerikanischen Originalausgabe

THE RING

OF

CHARON

Deutsche bersetzung von Martin Gilbert Das Umschlagbild ist von Zoltan Boros

Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlor- und surefreiem Papier gedruckt.

Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright 1990 by Roger MacBride Allen Amerikanische Erstausgabe 1990: A TOR Book, published by Tom Doherty Associates, Inc., New York Mit freundlicher Genehmigung des Autors und Thomas Schlck, Literarische Agentur, Garbsen (# T 33270) Copyright 1997 der deutschen bersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, Mnchen Printed in Germany November 1997 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schtz, Mnchen Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin ISBN 3-453-13294-7

Scan, Layout & Korrektur von LuTech 11/2004

Gewidmet Charles Sheffield Freund, Kollege und der beste Mann in diesem Geschft

Danksagung

Ich mchte einer Reihe von Personen meinen Dank aussprechen, die mir bei diesem Buch wertvolle Hilfe stellung geleistet haben. Vor allem bedanke ich mich bei Charles Sheffield, dem dieses Buch gewidmet ist. Er hat den Ring von Charon korrekturgelesen, doch damit hat es lngst nicht sein Bewenden. Fr das Wohlwollen, das er mir im Laufe der Jahre entgegengebracht hat, htte er viel mehr verdient als eine bloe Widmung in einem Buch. Er ist ein guter Mensch und ein guter Freund. Lest seine Bcher. Dank an Debbie Notkin, meine Lektorin, die mir auf die Sprnge geholfen und den Spagat vollbracht hat, den Lektoren beherrschen mssen: Sie hat mich er muntert, meiner Vision des Buchs treu zu bleiben, ohne mir ihre Sichtweise aufzuzwingen. Sie war die treibende Kraft. Dank an meinen Vater, Thomas B. Allen, der die not wendigen Krzungen vorgenommen hat und wesent lich zur Verbesserung des Buchs beigetragen hat, das Sie nun in Hnden halten. Dank an alle Mitarbeiter von Tor Books Ellie Lang, Patrick Nielsen Hayden, Heather Wood und Tom Do herty. Sie haben mehr getan, als das Buch nur heraus zugeben. Sie haben dahintergestanden. Und zuletzt Dank an all die anderen, die die Entste hung dieses Buchs kritisch begleitet haben meine Mutter Scottie Allen und meine Freundin Rachel Rus sell. Eine letzte Bemerkung. Dieses Buch trgt den Unter titel Das Erste Buch der Heimgesuchten Erde; ja, weitere werden folgen. Doch dieses Buch und das nchste, berhaupt alle Bcher, die ich je geschrieben habe oder-7-

noch schreiben werde, haben eine abgeschlossene Handlung. Wenn Sie ein Buch von mir lesen, werden Sie es verstehen, auch ohne ein Dutzend anderer Titel gelesen zu haben. Das ist ein Versprechen. ROGER MACBRIDE ALLEN

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Inhalt

Personenregister TEIL EINS Eins Zwei Drei Vier Fnf TEIL ZWEI Sechs Sieben Acht Neun TEIL DREI Zehn Elf Zwlf Dreizehn Vierzehn Fnfzehn TEIL VIER Sechzehn Siebzehn Achtzehn Neunzehn Zwanzig Die Namen der Heiligen Das Auge im Stein Grover's Mill, New Jersey Der Kaninchenbau Kontakt mit den Nackten Purpurnen-9-

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Das Ende Offene Rechnungen Von der Reservebank zum Feldspieler Den Finger am Abzug Ergebnisse Der Bernstein der Zeit Schockwellen Trnen fr die Erde Der Fall von Luzifer Die Logik der Nackten Purpurnen Tanz der Teufel Nach dem Fall Wurmloch Reich der Sonnen Die zerschmetterte Sphre

17 43 56 69 89 111 133 158 173 189 207 237 253 278 303 323 342 356 383 415

TEIL FNF Einundzwanzig Zweiundzwanzig Dreiundzwanzig Vierundzwanzig Fnfundzwanzig Sechsundzwanzig ANHANG Anmerkungen zur charonischen Terminologie Anmerkungen zur Terminologie der Nackten Purpurnen Glossar Der Lebenszyklus der Charonier Die Phasen des charonischen Bionik-Zyklus 543 544 545 553 555 Gedankenkette Der Zyklus von Leben und Tod Realitts-Test Verwandlung in Shiva Ein halber Laib Vor der Jagd 433 451 470 492 520 535

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Personenregister

Hinweis: Ein Glossar der im Der Ring von Charon verwendeten Terminologie findet sich im Anhang des Buchs. JANSEN ALTER. Eine Mars-Geologin. SONDRA BERGHOFF. Eine junge Gravitations-Wissen schaftlerin in der Gravitations-Forschungsstation Pluto. WOLF BERNHARDT. Wissenschaftlicher Leiter der Nachtschicht am Jet Propulsion Laboratory, spter Leiter des UN-Direktorats fr Weltraumforschung (DWF). LARRY O'SHAWNESSY CHAO. Junior-Forscher in der Gravitations-Forschungsstation Pluto. CHELATED EXTREMER VERZERRER, auch bekannt als Frank Barlow. Funktechniker bei den Nackten Purpur nen. LUCIAN DREYFUSS. Techniker im Kontrollzentrum der Mond-Flugsicherung. GERALD MACDOUGAL. Ehemann von Marcia MacDou gal. Wiedergeborener kanadischer Exobiologe. MARCIA MACDOUGAL. Ehefrau von Gerald MacDou gal. Planeten-Ingenieurin in der Venus-Initial-Station fr Operationale Forschung (VISOR). Als Teenager vor der Bewegung der Nackten Purpurnen im Purpur nen Straflager Tycho geflohen. HIRAM MCGILLICUTTY. Dyspeptischer Physiker bei VISOR.- 11 -

OHIO TEMPLATE WINDBEUTEL. Grter Windbeutel beziehungsweise Fhrer des Habitats der Nackten Purpurnen (NaPurHab). DR. SIMON RAPHAEL. ltlicher und verbitterter Direk tor der Gravitations-Forschungsstation Pluto. MERCER SANCHEZ. Eine Mars-Geologin. DIANNE STEIGER. Pilotin des Frachtraumschiffs Pack Rat. Spter Kapitnin der Terra Nova. TYRONE VESPASIAN. Direktor der Mond-Flugsiche rung. DR. JANE WEBLING. Wissenschaftliche Leiterin der Gravitations-Forschungsstation Pluto. COYOTE WESTLAKE. Selbstndige Asteroiden-Mineu rin, Eignerin des Bergbau-Schiffs Vegas Girl.

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Manchmal habe ich schon vor dem Frhstck an ein halbes Dutzend unglaublicher Dinge geglaubt.White Queen in Unter der Lupe von LEWIS CARROLL

Kapitel Eins

Das Ende

Eine Million Gravitten, mit steigender Tendenz. Larry O'Shawnessy Chao grinste siegesbewut und lehnte sich zurck, um das Schauspiel zu beobachten. Sie hat ten den Ring nicht deaktiviert, noch nicht. Vielleicht wrde das bei einigen Leuten einen Denkproze ein leiten. Eine Million und zehntausend Gravitten. Eine Mil lion zwanzig. Eine Million fnfundzwanzig. Pegelte sich auf diesem Niveau ein. Stirnrunzelnd beugte Larry sich vor und schob den Vernier-Regler eine Idee nach vorn, wobei er sich eher vom Gefhl und der Intuition leiten lie als vom Verstand. Es herrschte Totenstille im Zwielicht des Leitstands Eins der Schwerkraft-Forschungsstation. Doch diese Ruhe lag auch ber dem ganzen Planeten Pluto. Larry ignorierte die Stille, den knurrenden Magen und kmpfte gegen die Mdigkeit an, die ihn zu berwlti gen drohte. Essen und Schlafen konnte er spter immer noch. Die Werte auf der Anzeige waren fr einen Moment rcklufig und stiegen dann wieder an. Eine Million fnfzig, sechzig, siebzig, achtzig, neunzig... Eine Million einhunderttausend Gravitten. Elfhundert tausendmal strker als die irdische Schwerkraft. Larry sah auf die auf der Konsole leuchtende Zahl: 1.100.000. Er schaute auf, als ob er durch die Decke des Leit stands, die Druckkuppel der Station und den kalten Raum den massiven Ring sehen konnte, der am Him mel hing. Der Ring war nmlich Schauplatz der Ereig nisse und nicht dieser Leitstand. Er bettigte nur Schal ter und berwachte Skalen. Es war dort drauen, auf- 17 -

dem Ring, der den Plutomond Charon umkreiste, wo die eigentliche Arbeit geleistet wurde. Ein Gefhl des Triumphs wallte in ihm auf. Der Ring hatte ihm zu diesem Erfolg verholfen. Er hatte zwar nur einen Wirkbereich von wenigen Mikron, und obendrein war das Ding nicht einmal stabil, aber egal. Die Erzeugung eines derart starken Felds stellte einen Motivationsschub fr das ganze Team dar. Nun wrde sogar Dr. Raphael eingestehen mssen, da sie auf dem besten Wege waren, Virtuelle Schwarze Lcher und Wurmlcher zu erzeugen und auch zu benutzen. Der unmittelbare Nutzen eines funktionsfhigen VSL bestand indes darin, da es zum Abbau des Haus haltsdefizits beitragen wrde. Vielleicht sogar in einem solchen Umfang, da selbst Raphael zufriedengestellt wurde. Obwohl Larry den Direktor im Grunde nur als distanziert, kalt und unwirsch in Erinnerung hatte. Larrys Vater war genauso gewesen. Er hatte es ihm nie recht machen knnen, und trotz aller Erfolge hatte sein Vater ihm stets die Anerkennung versagt. Doch alles war mglich falls Larry ein Virtuelles Schwarzes Loch erschuf. Doch selbst mit diesem 1,1-Millionen-Feld war es noch ein weiter Weg. Gre und Stabilitt des Feldes waren nach wie vor das Hauptproblem. Die Zahlen auf dem Gravitationsmes ser flackerten und wurden abrupt auf Null zurck gesetzt. Das mikroskopisch kleine Feld war instabil geworden und zusammengebrochen. Larry schttelte den Kopf und seufzte. Wieder ein masseloses Schwerefeld verpufft. Diesmal hatte es allerdings phantastische 1,1 Millionen Gravos erreicht und immerhin fr dreiig Sekunden Bestand gehabt. Dies war ein Durchbruch, eine magische Zahl, trotz der vielen Arbeit, die noch vor ihm lag. Zu dumm, da das brige Personal schlief. Das war eben das Problem, wenn man um 01:00 Uhr eine Stern stunde hatte: es gab keine Zeugen, niemanden, mit- 18 -

dem man feiern konnte, und niemanden, der von die sem Erfolg inspiriert wurde und mit der nchsten ver rckten Idee aufwartete. Allerdings kannte er auch kaum jemanden. Selbst nach fnf Monaten vor Ort und mit einem solchen Anla kannte er niemanden, den zu dieser Stunde aufzuwecken er sich getraut htte. Er war ein einsamer Mann an einem einsamen Ort. Sei's drum. Morgen war auch noch ein Tag. Und vielleicht wrde dieser Erfolg ihm so viel Aufmerk samkeit zuteil werden lassen, da er ein paar Leute kennenlernte. Larry stand auf, streckte sich und ber zeugte sich davon, da das Computer-Logbuch smtli che Daten und Prozeduren aufgezeichnet hatte. Dann wies er den Rechner an, einen Ausdruck fr die am nchsten Tag stattfindende Besprechung zu erstellen und schaltete das System ab. Der Beobachter sprte etwas. Kurz, weit entfernt und qulend. Schwach, nicht mehr als ein Hauch. Dennoch war dieses Gefhl existent. Zum er stenmal seit unzhligen Jahren sprte er die Berhrung, die er erwartet hatte. Der Beobachter hatte keine Augen, und die Energie war kein Licht, aber die Wahrnehmung des Beobachters erfolgte analog zum Sehen. Fr eine lange Zeit hatte er im Bereit schaftszustand verharrt. Das Etwas, das er sprte, war ein leuchtender Punkt in der Dunkelheit, eine helle, aber weit entfernte Boje. Daraus zog er den richtigen Schlu, da es sich um eine kleine, starke Energiequelle in groer Entfer nung handelte. Der Beobachter wurde von Erregung ergriffen. Dies war das Signal, auf das er so lange gewartet hatte. Und doch war es nicht das exakte Signal. Es war zu schwach und ungerichtet. Der Beobachter beruhigte sich wieder. Er wollte auf das Signal antworten, das tun, wozu man- 19 -

ihn erschaffen hatte, doch der Stimulus war nicht stark genug. Er stand unter der Kontrolle dessen, was er in Er mangelung einer besseren Definition als Instinkt oder viel leicht auch Programmierung bezeichnete und es stand nicht in seinem Ermessen, ob er reagierte oder nicht. Er hatte auf den richtigen Stimulus zu reagieren und auf kei nen andern. Schaudernd kmpfte er gegen die ihm innewohnenden Zwnge an. Aber der Zeitpunkt war noch nicht gekommen. Noch nicht. Zumindest war es noch nicht an der Zeit zu handeln. Allerdings war es an der Zeit, aufzuwachen und die Beob achtung zu intensivieren. Vielleicht wrde er bald handeln mssen. Er richtete alle Sinne auf die Energiequelle und beobach tete sie konzentriert. Zehn Minuten nach Beendigung des Tests war Larry drauen im Korridor; er war hundemde und fhlte sich einsam. Nachdem er die Idee erfolgreich in die Praxis umgesetzt hatte, lie die Euphorie nun allmh lich nach. Larry war nach einem Sieg immer in Kater stimmung. Vielleicht lag es daran, da selbst seine grten Siege nur schwer zu erklren waren. In der Welt der Teil chenphysik waren die Probleme so diffus und die L sungen so bruchstckhaft und kompliziert, da Larry fast niemanden hatte, mit dem er sich austauschen konnte. Das Schicksal des Genies, sagte er sich mit einem stummen Lachen. Larry war fnfundzwanzig und kam sich mittlerweile zu alt fr ein Wunderkind vor. Er wirkte indes jnger, und seine Gesichtszge wurden weitaus mehr durch den chinesischen Anteil seiner Herkunft geprgt als durch den irischen. Er war ein kleiner, schlanker und zerbrechlich wirkender Mann,- 20 -

mit einem blassen Teint, kurzem schwarzem Haar und groen, ausdrucksvollen Mandelaugen. Er gehrte zu den wenigen Leuten in der Station, die gelegentlich die Zivilkleidung mit den Standard-Kombis vertauschten. Die grauen Overalls waren etwas zu gro fr ihn und lieen ihn noch jnger und kleiner erscheinen, als er ohnehin schon war. Durch die Hawaii-Hemden, fr die er nach Dienstschlu eine Vorliebe hatte, wirkte er indes auch nicht reifer. Es war Larry noch nie in den Sinn gekommen, da die anderen ihn aufgrund seines Erscheinungsbilds vielleicht unterschtzten. Vorsichtig stellte er die Fe auf den Velcro-Teppich und ging los. Die Schwerkraft von Pluto, die nur vier Prozent der irdischen betrug, war tckisch, wenn man mde war. Die Schwerkraft-Forschungsstation wre deshalb ein idealer Ort fr die Nutzbarmachung knstlicher Schwerkraft, falls eine solche phantastische Technik jemals angewandt wrde. Und die Chancen standen gut zumal die Medien die Finanzierung der Station auch damit rechtfertigten, indem sie stndig auf den Nutzen der knstlichen Schwerkraft fr das alltgliche Leben hinwiesen. Es waren alle mglichen Knstler-Entwrfe in Umlauf gebracht worden, darunter auch eine Forschungssta tion, die auf Antigrav-Kissen ber der Jupiterober flche schwebte sowie Raumhabitate mit irdischer Schwerkraft, bei denen Rotation zum Ausgleich der niedrigen Gravitation nicht mehr erforderlich war. Diese Entwrfe waren im besten Fall Trumereien, im schlimmsten utopischer Unsinn, und wo sich nun her ausstellte, da sie nicht zu verwirklichen waren, stan den ihre Urheber als Trottel da. Den Forschern war es noch nicht einmal gelungen, ein stabiles Punktquellen-Schwerefeld zu erschaffen. Woher nahmen sie dann die Hoffnung, in der JupiterAtmosphre ein isoliertes Ein-Gravo-Feld zu erzeu gen?- 21 -

So unsinnig diese Vorstellung auch war, Larry htte in diesem Moment nichts gegen ein knstliches Schwe refeld einzuwenden gehabt. Er war es nmlich leid, ber den Velcro-Lufer zu schlurfen. Vierprozentige Gravitation war ein rgernis, denn sie vereinte die Nachteile von Schwerelosigkeit und irdischer Schwer kraft, ohne deren Vorteile aufzuweisen. In der Schwe relosigkeit konnte man nicht strzen, und bei einer ausreichenden Schwerkraft kippte man nicht um. Hier indes traf keins von beiden zu. Pltzlich sprte Larry eine starke Erschpfung. Er wurde sich bewut, da es halb vier morgens war und er sich Milliarden Kilometer von der Heimat entfernt befand. Die Bilder seiner Heimatstadt Scranton, Penn sylvania, erschienen vor seinem geistigen Auge, und er sprte ein Gefhl der Niedergeschlagenheit. Nur wenn er mitten in einem Problem steckte, war er glcklich. Wenn er die Lsung gefunden hatte, war das Spiel vorbei. Es war wie die Matheaufgaben in der Schule. Mathematik war schon immer sein Lieb lingsfach gewesen. Algebra, Trigonometrie, Differen tialrechnung und dergleichen. Larry hatte sich frm lich hineingesteigert. Als er zum erstenmal einen Nachweis gefhrt und eine Funktion ermittelt hatte, war es noch eine Herausforderung gewesen und hatte Spa gemacht. Die anfngliche Ratlosigkeit wich dem Verstehen und zuletzt dem Triumph. Doch danach danach waren die Probleme ihm nur noch statisch und monoton erschienen. Er wute, wie es funktio nierte. Von da an war die Arbeit am ganzen Problem typ antiklimaktisch und redundant. Es war, als ob er dazu verurteilt worden wre, immer wieder densel ben Roman zu lesen, obwohl er den Schlu lngst kannte. Whrend seine Klassenkameraden eine Aufgabe nach der andern bewltigten und ihre Fhigkeiten all mhlich steigerten, langweilte er sich nur noch und- 22 -

hatte schon das hundertste Problem gelst, wo die an deren noch beim zehnten waren. Erst wenn der Lehrer im Lehrstoff fortfuhr, fhlte Larry erneut einen Anflug von Begeisterung. Whrend der Promotion hatte er sich mit dem Feld der Hochenergie-Physik befat, was ihm neue Frei rume erffnete. Hier wurden nicht nur er, sondern auch alle anderen mit neuen Problemen konfrontiert. Hier hatte er nicht mehr die Gewiheit, da die Ant worten im Anhang zu finden waren. Allerdings ber kam ihn auch hier wieder Katerstimmung, sobald er die Nu geknackt hatte. Larry neigte nicht zu Nabelschau, und schon die Identifizierung eines solch offensichtlichen Verhaltens musters stellte eine Leistung fr ihn dar. Dennoch mute jeder, der zum Pluto geschickt wurde, zuvor an einem Intensivlehrgang in Psychologie teilnehmen. Weniger formell ausgedrckt hie das, die Psycholo gen sorgten dafr, da man auf Pluto nicht durch drehte. Man achtete auf Pluto genauso auf den Geistes zustand der Leute, wie der Trger eines Druckanzugs die Luftreserve im Auge behielt. Der kleinste Ri im Anzug konnte tdliche Folgen haben, und das galt auch fr das menschliche Bewut sein auf Pluto. Auch nur die geringste Schwche, ein mikroskopisch feiner Ri in der Wand zwischen den Menschen und der Klte und der Dunkelheit wrde schon gengen, gute Mnner und Frauen in den Wahnsinn zu treiben. Geistige Gesundheit war ein knappes Gut auf Pluto; sie war schnell aufgebraucht und wurde deshalb sorg fltig rationiert. Das bedrckende Gefhl der Isolie rung die Vorstellung, an diesem einsamen Ort mit 120 anderen Sonderlingen eingesperrt zu sein machte den Geist mrbe. Nicht nur die Unwirtlichkeit des Planeten, sondern auch die Gewiheit, fr die nchsten Monate oder gar- 23 -

Jahre von der Heimat abgeschnitten zu sein, verur sachte vielen Menschen hier Alptrume. Jedes halbe Jahr traf zwar das Versorgungsschiff ein. Aber nach seinem Abflug war die Besatzung der Sta tion wieder fr ein halbes Jahr auf sich allein gestellt. Es gab sage und schreibe ein Schiff, das imstande war, das vor Pluto stationierte Innere System zu erreichen. Im Bedarfsfall war die Nenya zwar in der Lage, die gesamte Besatzung zu evakuieren, aber es wrde ein monatelanger, hchst unangenehmer Flug werden. Die Alternative bestand darin, zur Erde zu transitieren. Das wrde sechzehn Tage dauern, wobei jedoch nur fnf Leute mitfliegen konnten; die anderen wren dann vllig abgeschnitten. Die Nenya stellte also eine Versicherung dar, die bisher noch niemand in An spruch genommen hatte. Auerdem konnte das Schiff als Hilfs-Leitstelle fr den Ring eingesetzt werden. Doch ohne eine Veranke rung mit Pluto, dessen Masse zur Kalibrierung diente, war die Zentrale der Nenya nicht imstande, Messungen mit der gleichen Genauigkeit wie die Station durchzu fhren. Der eigentliche Nutzen der Nenya war psycho logischer Natur. Sie stellte die Verbindung zur Heimat dar und vermittelte den Leuten die Gewiheit, da eine Rckkehr zur Erde mglich war. Die Schwerkraft-Forschungsstation war im Umkreis von einer Milliarde Kilometern das einzige menschli che Habitat, und jedes Besatzungsmitglied der Station war sich dieser Tatsache in jedem Augenblick bewut. In der Stille der Pluto-Nacht hatte Larry den Ein druck, da der Planet die Anwesenheit von Menschen regelrecht ablehnte. Leben, Licht, Wrme und Bewe gung waren in diesem vor Frost erstarrten Land nicht willkommen. Schon beim Gedanken an die eisige Klte auerhalb der Station schauderte Larry. Ohne da er diese Entscheidung bewut getroffen htte, machte er sich auf den Weg zur Beobachtungs- 24 -

kuppel. Er mute einen Blick auf den Himmel wer fen. Die Dunkelheit, die Leere und die Klte, von der die fensterlose Station umgeben war, stellte eine seelische Belastung fr die ganze Besatzung dar. Die Designer der Station hatten das bercksichtigt und die Station farbenfroh gestaltet. Sie hatten aber auch gewut, da es wichtig fr das Personal war, die unwirtliche Land schaft und den dunklen Himmel zu sehen; und was vielleicht noch wichtiger war, die Besatzung mute in der Lage sein, die entfernte Sonne zu sehen und mit dem im Observatorium befindlichen Teleskop die Erde auszumachen. Die Leute muten die Gewiheit haben, da sie nicht vom Licht und Leben und der Heimat welt abgeschnitten waren. Und vom ganzen Irrsinn, sagte Larry sich. All die kon kurrierenden Interessengruppen, die zwar nicht wu ten, was sie wollten, dafr aber genau wuten, was sie nicht wollten. Sie hatten seine Zeit am MIT mageblich geprgt. Er hatte Angst vor ihnen gehabt, vor allem, als sie auch in seinem Heimatort in Pennsylvania auf getaucht waren. Doch er war bei weitem nicht der ein zige gewesen, der sich vor ihnen gefrchtet hatte. Und nach dem halbvirtuellen Wissens-Crash gewannen die Radikalen weiter an Einflu. Larry ging durch den verdunkelten Verbindungstun nel zum Kuppelbau. Es war ein weiter Weg, und er mute sich mit dem Tastsinn orientieren. Der Tunnel war bewut unbeleuchtet, damit die Augen genug Zeit hatten, sich an das Zwielicht auf der Oberflche von Pluto zu gewhnen. Schlielich betrat er den groen Kuppelbau. Er war so gerumig, da die gesamte Belegschaft dort Platz fand. Larry ging zur Wand und blickte durch die transpa rente Kuppel auf die ihn umgebende Welt. Die triste, graue Landschaft von Pluto, vom trben Sternenlicht schwach erhellt, breitete sich vor ihm aus.- 25 -

Das ganze Land htte sich unter irdischen Bedingun gen im flssigen oder gasfrmigen Zustand befun den. Die Oberflche von Pluto bestand aus gefrorenem Gas Methan, Stickstoff und Spurenelementen. Die in diffuses Licht getauchte Landschaft wies niedrige, runde Konturen auf. Im Westen erhob sich eine gelbli che Hgelkette aus gefrorenem Ammoniak. Pluto war mit einem dnnen berzug aus gefrore nem Methan bedeckt. Nur im Perihel, das erst in hun dert Jahren wieder erreicht werden wrde, nherte der Planet sich so weit der Sonne, da ein Teil des Methans wieder in Gas sublimiert wurde. Doch hier, auf dieser Ebene, schmolz der MethanSchnee in der Wrme der Station und legte den grau braunen, aus Wassereis, Kohlenstoffverbindungen, Adern aus gefrorenem Ammoniak und Gestein beste henden Boden frei, der von der Zusammensetzung her dem Planeteninnern entsprach. Bisher hatte niemand eine plausible Erklrung fr die Struktur von Pluto oder die Existenz seines Mondes Charon gefunden. Larry lie den Blick ber das erstarrte Land schwei fen. Die Isolierung der Kuppel war nicht perfekt. Er. frstelte, und beim Ausatmen lagerten sich Eiskristalle an der Innenwand der Kuppel ab. Die Landschaft war indes nicht mehr unberhrt. Am Horizont zeichneten sich die Trmmer der ersten bei den Stationen ab. Larry wute auch von der Existenz des kleinen Friedhofs, der sich jedoch dem Blick des Betrachters entzog. Die Design-Psychologen hatten zwar vehement da gegen protestiert, die Station in Sichtweite der Trm mer zu errichten, doch eine Alternative hatte im Grunde nicht bestanden. Die beiden frheren Stationen waren abgestrzt und zerschellt und lagen nun wie rote Murmeln im Wassereis. Die Bergung der Trmmer wre extrem teuer und gefhrlich gewesen falls nicht berhaupt unmglich.- 26 -

Dieses kleine Tal war der einzig geothermisch stabile Ort, von dem eine direkte Sichtlinie zum Ring fhrte. Die Station ruhte auf einem Felsen, der im Gegensatz zum Wassereis und Methan das Gewicht der Station trug, ohne da die Gefahr des Abschmelzens bestan den htte. Trotz der bestmglichen Isolierung und La serkhlung betrug die Temperatur an der Auenwand der Station hundert Kelvin. Das htte gengt, um einen Menschen binnen weniger Sekunden zu tten und ihm das Blut in den Adern gefrieren zu lassen aber diese Temperatur war noch immer glhend hei im Vergleich zur Planetenoberflche und htte ausge reicht, die Hgel zu verdampfen. Diese Stelle war die einzige, wo die Felsschicht so dicht unter der Oberflche lag, da sie als Fundament dienen konnte. berall sonst wre die Station auf grund der Abwrme in den Boden eingesunken. Falls diese Station nicht vorher schon auseinandergebro chen wre, sagte Larry sich. Die ersten beiden hatten es je denfalls nicht ausgehalten. Doch diese Station hatte schon seit fnfzehn Jahren Bestand. Beim drittenmal hatten sie bisher Glck ge habt. Bisher. Larry ri sich vom Anblick der ber die Landschaft verstreuten Trmmer los und wandte sich dem Tele skop zu. Es hatte einen Dreiig-Zentimeter-Spiegel und verfgte ber eine Automatik, die es auf die win zige blaue Erde ausrichtete, sobald der Planet ber den Pluto-Horizont stieg. Das Bild wurde zwar per Video in die Station bertragen, doch sprte fast jeder ab und zu das Bedrfnis, selbst hierher zu kommen und die Heimatwelt mit eigenen Augen zu sehen. Es hatte etwas Trstliches, die Erde unmittelbar, ohne elektronische Verstrker, zu sehen und sich davon zu berzeugen, da sie und alles, wofr sie stand, wirklich existierte und nicht nur eine Fiktion- 27 -

war, um den Aufenthalt auf Pluto ertrglich zu ma chen. Larry beugte sich vor und schaute durch das Tele skop. Es war auf geringe Vergrerung eingestellt. Dort stand die Erde, ein winziger blauer Fleck, wobei der helle Funken des Erdmonds zu klein war, um als Scheibe abgebildet zu werden. Dann trat Larry wieder vom Teleskop zurck. Heute nacht suchte er nach etwas anderem. Er mute den Ring sehen. Den mchti gen Ring von Charon. Pluto selbst verlt nicht den ueren Bereich des Sonnensystems. Der Eismond Charon ist nach einem Gott der Unterwelt benannt. Mit einem Durchmes ser von 1250 Kilometern ist Charon in Relation zum Planeten, den er umkreist, der grte Mond des Sonnensystems. Er kreist in einem sehr engen Orbit um Pluto, wobei er fr einen Umlauf 6,4 Tage be ntigt. Die Rotation des Mondes und des Planeten ist gebunden: wie der Erdmond immer mit derselben Seite der Oberflche zur Erde gewandt ist, zeigt auch Charon Pluto stets dieselbe Seite. Der einzige Unter schied besteht darin, da die Rotation von Pluto mit dem Orbit von Charon synchron ist. Fr einen Betrach ter auf Charon dreht Pluto sich scheinbar nicht, son dern zeigt ihm stndig dieselbe Hemisphre. Deshalb hngt Charon relativ zu den Punkten auf der Oberflche von Pluto, von denen aus er berhaupt zu sehen ist, reglos am Himmel. Der Mond kreist in einem derart geringen Abstand um Pluto, da er nicht einmal von der Hlfte der Planetenoberflche aus zu sehen ist. Aber das interessierte Larry alles nicht. Er nahm nicht einmal den Schatten von Charon zur Kenntnis, der die Sterne ausblendete. Er hatte nur Augen fr ein Objekt am Himmel. Umkreist wurde Charon vom Ring, dessen Lichter- 28 -

am dunklen Himmel strahlten und den Anschein er weckten, da Plutos Mond mit einem Diadem gekrnt sei. Mit einem Durchmesser von sechzehnhundert Ki lometern rotierte das grte Objekt, das jemals von Menschenhand erschaffen worden war, um den Mond Charon. Erneut geriet Larry angesichts der Gre des Rings ins Staunen. Er stellte eine bemerkenswerte Ingeni eursleistung dar. Es hatte viel Zeit, Geld, Mhe und Menschenleben gekostet, die Schwerkraft-Forschungs station auf Pluto zu verankern und in Betrieb zu neh men. Im Vergleich zu den Kosten des Rings war der Aufwand fr die Verankerung der Station auf Pluto ein Taschengeld. Eine Orbitalstation wre billiger gewe sen, doch wegen der hohen Anforderungen an die Gte der Messungen war es erforderlich gewesen, den Ring von einer Planetenoberflche, einem stabilen Be zugspunkt aus zu kontrollieren. Der Ring wies mit der Oberflche auf Pluto und zeichnete sich als perfekter Kreis um den aschgrau glhenden Charon ab; er spannte sich als goldenes Band um eine de Welt, die so klein und leicht war, da sie nicht einmal eine richtige Kugelform angenom men hatte. Statt dessen war sie durch die Gravitations wirkung von Pluto zu einem eifrmigen Gebilde ver zerrt worden, dessen langes Ende auf den Planeten ge richtet war. Der Ring war der grte Teilchenbeschleuniger, der jemals gebaut worden war und der jemals gebaut wer den wrde. Um die subtilsten Wechselwirkungen zwi schen Materie und Energie zu ergrnden, mute er so gro und leistungsfhig sein, da als Standort nur die Peripherie des Sonnensystems in Frage kam. Man hatte Charon nicht nur deshalb ausgewhlt, um die stren den Einflsse der Sonnenstrahlung und die starken, wechselwirkenden Schwerefelder des Inneren Systems zu vermeiden, sondern auch, um eine Beeintrchtigung- 29 -

der inneren Welten durch die gigantischen Energien zu verhindern, die im Ring freigesetzt wurden. Und wie Larry in dieser Nacht erneut bewiesen hatte, war der Ring auch in der Lage, Gravitation zu erzeugen und sie zu manipulieren. Keine andere bisher gebaute Maschine war im stande, das zu leisten. Die Fhigkeit, die Schwerkraft zu beeinflussen, htte an sich schon Grund genug fr den weiteren Betrieb der Station sein sollen. Hier konnte Grundlagenforschung betrieben werden, die andernorts unmglich war. Aber das mute man erst einmal den Sponsoren der Astrophysikalischen Stiftung der UN beibringen. Dort hing man nmlich Trumen von einer kurzfristigen Gravitations-Kontrolle nach. Und dafr machte Larry Dr. Simon Raphael ver antwortlich. Als Larry noch in der Grundschule war, hatte man Raphael zum Direktor ernannt, worauf die ser einige haltlose Versprechungen abgegeben hatte. Die meisten dieser verdammten knstlerischen Ent wrfe basierten nmlich auf Raphaels Prognosen der Mglichkeiten, die sich ergeben wrden, nachdem die Forschungsgruppe auf Pluto das Geheimnis der Schwerkraft gelst hatte. Raphael hatte nichts weniger versprochen, als die Knstliche Schwerkraft zur An wendungsreife zu bringen und nun dmmerte es ihm und den Sponsoren, da das noch in den Sternen stand. Bis zum vorigen Abend hatte der Ring ein Schwere feld mit einem Maximum von nur einem Gravo aus gebildet, und selbst dieses Feld hatte nur einen Durch messer von zehn Metern gehabt. Und was noch schlimmer war, das Feld war schon nach wenigen Mil lisekunden zusammengebrochen. Wenn es, wie die Astrophysikalische Stiftung der UN zu bedenken gab, einer Maschine mit einem Durchmesser von 1,6 Kilometern bedurfte, um eine- 30 -

schwache, instabile Gravitationsquelle mit einigen Me tern Durchmesser zu erzeugen, zumal dieser giganti sche Generator so empfindlich war, da er ber dem Pluto stationiert werden mute, um berhaupt zu funktionieren, welchen potentiellen Nutzen sollte dann die Knstliche Schwerkraft haben? Welchem Zweck sollten Gravitationswellen dienen, wenn sie in der Nhe des Pluto erzeugt werden muten? Und Raphael wollte nach Hause. Jeder wute das. Larry Chao hegte die Befrchtung, da der gute Dok tor zum Schlu gekommen war, je eher er die ver dammte Station dichtmachte, desto frher wrde er zu Hause sein. Eine Million einhunderttausend Gravitten ber einen Zeitraum von dreiig Sekunden. Larry musterte den ber ihm hngenden Ring und fhlte Stolz. Er hatte diesem Monster gleichsam in den Schwanz gekniffen und ihm sehr viel Energie entzogen. Ein gewichtigeres Argu ment fr die Fortsetzung der Forschungsarbeiten wrde es sicher nicht geben. Die Besatzung der Schwerkraft-Forschungsstation war an diesem Morgen nicht in Topform. Vielleicht war es eine Konditionierung aus alten Tagen, als die Ttigkeit der Astronomen noch auf die Erde beschrnkt war und sie nachts arbeiten muten. Woran auch immer es lag, morgens war die Be legschaft ziemlich deprimiert. Vielleicht beraumte Raphael die Besprechung der Wissenschaftlichen Mit arbeiter gerade deshalb immer um 09:00 Uhr an. Viel leicht geno er den Anblick von zwanzig Morgenmuf feln. Die hundert Mitarbeiter der Bereiche Verwaltung, Instandhaltung und Technik hatten sicher nicht das Gefhl, etwas zu verpassen. Mit einem mden Seufzer ffnete Dr. Simon Raphael die Tr zum Konferenzraum und nahm am Kopfende des Tisches Platz. Es wrde seine letzte Mitarbeiterver- 31 -

sammlung sein. Mechanisch erwiderte er die Gre der Leute. Er breitete die Unterlagen vor sich aus, wobei ein widerstreitender Ausdruck aus Erleichte rung und Bedauern in seinem Gesicht lag. Es war ein merkwrdiges Gefhl, schon in diesen fi nalen Kategorien zu denken. Die letzte Besprechung, die Vorbereitung des letzten Experiments und die Ab fassung des letzten wissenschaftlichen Berichts. Dann wre es an der Zeit, zusammenzupacken, den Strom abzustellen, abzuschlieen und nach Hause zu gehen. Bald wrde alles vorbei sein. Seine Hnde ballten sich zu Fusten, und er zwang sich, sie wieder zu ffnen. Langsam legte er die flachen Hnde auf den Tisch. Die Runde verstummte in Er wartung seiner Erffnungsrede, doch er ignorierte das erwartungsvolle Schweigen. Ein paar ganz Verwegene nahmen die Unterhaltung wieder auf. Bald war der Raum wieder mit gedmpfter Konversation erfllt. Ra phael starrte schier ein Loch in ein vor ihm auf dem Tisch liegendes Memo, ein Blatt Papier voller Worte, die ihm nichts bedeuteten. Tief im Innern sprte er einen dumpfen Zorn, der wie eine materielle Brde auf seiner Seele lastete. Eine Last, die im Lauf der Jahre immer schwerer geworden war, ohne da er es bemerkt htte. Er wute, da es Ha war. Ha und Wut auf alles. Ha auf die Station, die sich whrend der sinnlosen Suche nach der Schwerkraftkontrolle zu einem Gefng nis entwickelt hatte, Wut wegen der vergeudeten Le benszeit und seines persnlichen Versagens. Ha auf die Sponsoren, die ihn nun zur Aufgabe zwangen, Wut auf die Leute am Tisch, die so dumm gewesen waren, ihm zu vertrauen. Ha auf den verdammten gefrore nen Planeten und den verdammten Ring, der ihm die Lebenskraft ausgesaugt und die Karriere zerstrt hatte. Und Ha auf den Wissens-Crash. Falls man etwas hassen konnte, das vielleicht nicht einmal geschehen- 32 -

war. Darin lag wohl auch die Ironie: niemand wute, ob der Wissens-Crash berhaupt stattgefunden hatte. Manche argumentierten, da allein schon die Unge wiheit, ob der Crash stattgefunden hatte oder nicht, ein Beweis fr seine Existenz war. Kurz gesagt, die W-Crash-Theorie behauptete, da die Erde an einem Punkt angelangt war, wo mehr Wis sen, verbesserte (und teurere) Technik, genauere Infor mationen und schnellere Kommunikation kontrapro duktiv wurden. Wenn, so besagte die Theorie, es keinen WissensCrash gegeben htte, liee sich schon anhand des geordneten Zustands der globalen Informationswirt schaft auf die Nonexistenz dieses Ereignisses schlie en. Da indes Chaos und Ungewiheit an der Tages ordnung waren, war ein Beleg dafr, da die richtigen Informationen nicht richtig ausgewertet wurden. QED, der Crash war eine Tatsache. Die Wirtschaft war zusammengebrochen, soviel war sicher. Nun herrschte ein konomisches Chaos, und die Volkswirte bemhten sich anhand von Grafiken und Diagrammen, den Kollaps zu erklren. Wo er nun geschehen war, htte jeder ihn vorhersagen knnen, und es gab ebensoviele Theorien wie Prognosen, von denen der Wissens-Crash lediglich die populrste war. Ob sie nun stimmte oder nicht, die W-Crash-Theorie war so gut wie jede andere Erklrung fr den Kollaps der Weltwirtschaft. Natrlich mute es einen Grund fr den globalen Abschwung geben. Auerdem mu ten viele Leute von vielen Quellen vorgewarnt worden sein, und zwar ber einen langen Zeitraum hinweg. Die Kultur-Radikalen die Nackten Purpurnen, der Finale Clan und wie sie alle hieen waren alle Resul tat derselben Info-Neurose, die schlielich auch den Crash verursacht hatte. Viele Menschen lehnten inzwi schen den mit Informationen bersttigten Lebensstil der Erde ab und suchten nach irgendwelchen - 33 -

Alternativen, solange es sich nur um Alternativen han delte. Raphael war kein Freund der Radikalen. Aber er gestand ihnen durchaus zu, Opfer der gesamtgesell schaftlichen Neurose geworden zu sein. Die psychiatrischen Einrichtungen der Erde waren voller Info-Neurotiker, von Leuten, die schlicht ber fordert worden waren von all dem, was sie wissen muten. Informations-Psychose war eine offiziell aner kannte und weitverbreitete geistige Strung. Das Leben in der modernen Welt erforderte einfach mehr Wissen, als manche Menschen aufzunehmen imstande waren. Die uralten Mechanismen von Verdrngung, Rckzug, Phobien und Regression kamen als Reaktion auf die aktuellen mentalen Krisen voll zum Tragen. Man wute also, da zu viele Daten bei manchen Menschen einen Nervenzusammenbruch zur Folge hatten. Konnte das auch auf einen ganzen Planeten zu treffen? Die Zeit, die fr das Erlernen eines mittleren techni schen Berufs erforderlich war, fehlte anschlieend fr die Ausbung besagten Berufs. Es gab Flle, und zwar viel zu viele, in denen Arbeiter nach der Ausbildung direkt in Rente gingen, ohne da sie auch nur einen Tag produktiv gearbeitet htten. Dabei handelte es sich zwar um Extremflle, doch in vielen Sparten dauerte die Ausbildung wesentlich lnger als die sich daran anschlieende Berufsausbung und die Notwendig keit, das Wissen periodisch aufzufrischen, trug nur zu einer Verschlechterung der Lage bei. Nicht nur die Zeit, sondern auch die Ausbildungs kosten explodierten. Ob nun Stipendien gewhrt oder die Kosten anderweitig bernommen wurden, die Ausbildung war teuer und stellte eine erhebliche Bela stung fr das Planetarische Sozialprodukt dar. Die mit Informationen gesttigte Weltwirtschaft be fand sich im Wrgegriff einer weltweiten Brokratie, die zur Erfassung und Verwertung der Informationen- 34 -

erforderlich war. Zudem war sie in ein System aus Daten-Sicherungen eingesponnen, das dafr sorgte, da das Wissen nicht in falsche Hnde geriet und die bentigten Daten bereitstellte. Unter diesen Umstn den mute die Wirtschaft der Erde einfach zum Still stand kommen. Die Welt war so sehr mit der Ausbil dung beschftigt, da sie berhaupt nicht mehr dazu kam, dieses Wissen auch anzuwenden. Der Planet ver lor so viel Zeit mit der Sammlung wichtiger Daten, da er keine Gelegenheit mehr hatte, diese Daten auch zu verwerten. Die Weltwirtschaft lag in den letzten Zgen. Der Planet im allgemeinen und die Astrophysi kalische Stiftung der UN im besonderen konnten sich gerade noch das Notwendigste leisten. Fr Luxus war da kein Raum mehr und schon gar nicht fr solchen Luxus, der die Wissenslast noch verstrkte. Wie der Ring von Charon. Raphaels Herz pochte heftig, und fr einen Moment verschwamm das Bild vor seinen Augen. Mit leerem Blick sah er auf das zusammengeknllte Papier. Er empfand Wut und Ha. Auf den Crash, den Vorstand, den Ring, die Mitarbeiter ... Und natrlich auf sich selbst. Die ganze Zeit hatte er hier drauen festgesessen, auf dieser verdammten Eiskugel, und alle Jubeljahre hatte man ihm einen kurzen Heimaturlaub gewhrt. Die ganze Zeit hatte er auf den verdammten Ring ge starrt, der den Mond Charon einfate, die dunkle Pu pille eines blinden Auges, dessen starrer Blick ihn an diesem Ort festgenagelt und stndig an sein Versagen erinnert hatte. Das Projekt, die Station und der Ring hatten das Pro blem nicht gelst, mit dem er seine Reputation verbun den hatte. Gravitations-Kontrolle war schlechterdings unmglich. Dessen war er sich sicher. Und fr diese Erkenntnis hatte er reichlich Lehrgeld bezahlt. Mit sei ner Lebensleistung.- 35 -

Er zwang sich zur Ruhe und lie den Blick ber die um den Tisch versammelten Leute schweifen. Er wute, da er sie im Grunde als seine Leute htte be trachten mssen; er hatte das auch lange versucht. Doch sie waren diejenigen, die er, Raphael, im Stich ge lassen hatte. Sie waren die Ursache seiner Schuld, und er hate sie dafr. Denn auf der Jagd nach der knstli chen Schwerkraft hatte er auch ihr Leben verpfuscht. Sie waren die eigentlichen Leidtragenden seines Ver sagens. Als vor fnf Monaten das letzte Versorgungs schiff eingetroffen war, hatte es neue Mitarbeiter abge liefert, ein paar glckliche Abgnger an Bord genom men und war gleich wieder abgeflogen. Es gab kaum etwas, woran Raphael sich so genau erinnerte wie an die Gesichter der brigen Leute, die dem Schiff nach schauten. Sie waren bis zur Ankunft des nchsten Schiffs auf Pluto gestrandet und warfen der im Orbit parkenden Nenya sehnschtige Blicke zu. Nun wrden sie alle nach Hause gehen. Den Heimweg traten sie als geschlagene Truppe an, wobei sie whrend des viermonatigen Flugs mehr als genug Zeit haben wrden, darber nachzudenken. Erneut wurde er von einer Zorneswoge berrollt und rief die Versammlung zur Ordnung. Meine Da men und Herren, wenn wir bitte anfangen knnten, sagte er. Neben der reinen Aufforderung, sich wieder den dienstlichen Obliegenheiten zu widmen, schwang die Bitte um Nachsicht in seiner Stimme mit, als ob er die Leute schon viel zu lange htte gewhren lassen. Die um den Tisch versammelte Belegschaft unterbrach die leise gefhrte Unterhaltung. Sondra Berghoff lehnte sich zurck und betrachtete den Mann. Raphael-Betrachten war eine Art Hobby von ihr. Sie wute, was kommen wrde, oder zumin dest ahnte sie es. Interessiert fragte sie sich, wie Ra phael die Dinge handhaben und die Versammlung beherrschen wrde. Der Mann war ein Meister der- 36 -

emotionalen Erpressung, ein begnadeter Agitator daran bestand kein Zweifel. Ich schlage vor, heute auf das bliche Prozedere zu verzichten, falls Sie dem zustimmen, sagte Raphael, worauf er eine Pause einlegte, die indes etwas zu kurz war, als da jemand einen Einwand htte vorbringen knnen. Ich habe eine wichtige Mitteilung zu machen, die meines Erachtens Prioritt gegenber dem Tages geschft hat. Aus dem Lasergramm, das ich heute mor gen von der Erde erhalten habe, geht hervor, da ich Sie anweisen soll, diese Einrichtung zu schlieen. Nachdem die Leute den anfnglichen Schock ber wunden hatten, machten sie ihrem Unmut Luft. Sondra seufzte. Sie hatte mit diesem Schritt gerechnet, war aber nicht glcklich darber. Unvermittelt ergriff Dr. Ra phael wieder das Wort, bevor seine Mitarbeiter sich so weit gesammelt hatten, um Einwnde zu formulieren. Wenn ich fortfahren drfte, fuhr er mit einem war nenden Unterton in der Stimme fort. Wie Sie alle wis sen, ist eine Schlieung schon seit einiger Zeit ernsthaft erwogen worden, und ich habe alles in meiner Macht Stehende unternommen, das zu verhindern. Doch die wirtschaftlichen Probleme zu Hause und die Unruhe, die durch gewisse politische Bewegungen im ErdeMond-System hervorgerufen wurde bersteigen ein fach unsere Krfte. Die Sponsoren vertreten die An sicht, da die hohen Kosten fr diese Station weder durch den Umfang noch die Qualitt Ihrer Arbeit un serer Arbeit zu rechtfertigen seien. Er korrigierte sich mit gromtiger Attitde, wobei ein schmerzlicher Ausdruck in sein Gesicht trat. Sondra fiel die Interpre tation nicht schwer. Als euer Chef mu ich mich natrlich mit euch solidarisch erklren, und wenn eure Leistungen auch noch so miserabel sind. Das ist ein Grundsatz der Mit arbeiterfhrung. Jeder im Raum verstand diese Impli kation. Die Leute zu Hause haben einfach zuviel er wartet. Es wurden unrealistische Versprechungen ge- 37 -

macht. Ein paar Leute rutschten unbehaglich auf ihren Sthlen herum, und man sah mehr als nur ein grimmiges Gesicht. Sondra mute an sich halten, um sich nicht ber den Tisch zu beugen und ihm eine runterzuhauen. Wer hat diese Versprechungen denn gemacht, Herzchen? fragte sie sich. Raphael lie den Blick in die Runde schweifen und fuhr dann fort: Natrlich handelt der Vorstand unfair und kurzsichtig. Wir haben groe Leistungen erbracht, und in der Wissenschaftsgeschichte dieses Jahrhun derts wird der Ring gebhrend gewrdigt werden. Schne Verschleierungstaktik, sagte sich Sondra. Gib den Sponsoren die Schuld und den Mitarbeitern, aber nur nicht dir selbst, Raffy. Raphael wollte sie offensichtlich verunsichern und somit eine kritische Debatte und offene Diskussion un terbinden, whrend er gleichzeitig den Anschein er weckte, ebendiese Aussprache wrde stattfinden. Wir alle drfen stolz sein auf das, was wir geleistet haben. Sondra stellte fest, da Raphael von der Station bereits in der Vergangenheit sprach. Es war also vorbei. Ei nige hatten den Traum, die Schwerkraft zu bndigen und sie nutzbar zu machen, wie auch die Elektrizitt, Kernspaltung und -fusion nutzbar gemacht wurden. Aber es sollte nicht sein. Du warst es nun wirklich nicht, der uns diesen Traum verkaufen wollte. Sondra wurde dieser Scharade allmh lich berdrssig. Ohne Zweifel war es ein von Rapha els Unterbewutsein gesteuerter Reflex, die Leute ein zuseifen. Dennoch mute er auf irgendeiner Ebene wissen, was er tat. Er mute wissen, da eine derartige Sprcheklopferei unfair war. Sondra lie den Blick durch den Raum schweifen. Die Mnner und Frauen, die so intelligent waren, da sie einen Teilchenbeschleuniger mit den Ausmaen eines Kleinplaneten betrieben, muten doch wenig- 38 -

stens ahnen, da sie manipuliert wurden, auch wenn sie es geschehen lieen. Raphael war sich sicher darber im klaren, da sie es wuten, und mit der gleichen Gewiheit war auch den meisten Mitarbeitern klar, da Raphael wute, da sie es wuten; man htte die Spirale endlos verlngern knnen. Dennoch brachte dieses Bewutsein Raphael an scheinend nicht aus dem Konzept. Weshalb auch? Die Mitarbeiter fgten sich und lieen sich von Raphael manipulieren. Dr. Simon Raphael hatte diese Station schon seit dem ersten Tag auf diese Art und Weise ge leitet, und es hatte immer funktioniert. Ohne Zweifel war diese Methode bei den anderen Projekten, die er geleitet hatte, genauso erfolgreich gewesen. Raphael verfgte ber eine jahrzehntelange Praxis in Unter drckung und Manipulation. Doch die Frage blieb: weshalb lieen die Leute sich das gefallen? Vielleicht kooperierten manche lieber, als sich gegen schlpfrige Anspielungen zu wehren. An dere hatten auf die harte Art gelernt, da es einfacher war, sich zu fgen, als sich mit einer in wehleidigem Ton vorgetragenen Bitte auseinanderzusetzen oder einen sinnlosen Befehl zu diskutieren, der im Bewut sein absoluter Autoritt erteilt worden war. Wahrscheinlich reagierten die meisten von ihnen schlicht mit dem Schuldgefhl eines kleinen Kindes, das von den Eltern irgendwelcher, nicht nher bezeich neter Snden bezichtigt wurde. Es liegt in der Natur der Menschen, da sie sich eine gerechte Autoritt wnschen. Es ist leichter, sich selbst imaginre Fehler zu bescheinigen, als wirkliche Schwchen bei Leuten zu akzeptieren, auf die man angewiesen ist. Wie viele Kinder sich wohl selbst die Schuld an der Scheidung ihrer Eltern geben? Doch nur die wenigsten Erwachse nen versuchen, diese Schuldgefhle als Instrument der Machtausbung zu nutzen wie eben Raphael. Wir mssen die Tatsache zur Kenntnis nehmen, da- 39 -

wir uns in einer Sackgasse befinden. Und deshalb, sprach Raphael, ist es an der Zeit, einen geordneten Rckzug anzutreten und sich mit anderen Dingen zu beschftigen. h... Sir, vielleicht doch nicht, meldete sich da je mand zu Wort. Ich glaube, ich habe eine Lsung ge funden. berrascht schaute Sondra sich um und machte den Sprecher am anderen Ende des Tischs aus. Es war der Neue, Larry Chao. Smtliche Kpfe schwenkten zu der Person herum, die es gewagt hatte, sich zu uern. Dr. Raphael quol len schier die Augen aus den Hhlen, und er wurde bleich vor Zorn. Nun, das heit, bisher habe ich nur eine Teillsung, aber vergangene Nacht habe ich ein Experiment durch gefhrt und nun, vielleicht... Der arme Junge sprte alle Blicke auf sich ruhen. Es war ihm schreck lich peinlich, und er verlor die Courage. Ich dachte nur, vielleicht sind die Ergebnisse so gut, da der Vor stand davon beeindruckt ist und uns weitermachen lt... Dann verstummte Larry und schaute Raphael hilflos an. Chao, nicht wahr? fragte Raphael im verrgerten Tonfall eines Schulmeisters, der von einem ungezoge nen Bengel unterbrochen wurde. Ich wei nichts von einem fr vergangene Nacht geplanten Experiment. Es... es war auch nicht geplant, Sir, sagte Larry. Mitten in der Nacht hatte ich eine Idee. Ich habe es ausprobiert, und es hat funktioniert. Chao, sind Ihnen die Bestimmungen bezglich der unerlaubten Nutzung der Einrichtung der Station be kannt? Nein? Dachte ich mir. Sie werden mir eine voll stndige Liste der benutzten Ausrstung und des Ma terials vorlegen sowie die genaue Nutzungsdauer die ser Ausrstung. Die Kosten Ihres Experiments werden auf der Standardbasis kalkuliert, und der Gesamtbe trag wird Ihnen vom Gehalt abgezogen. Falls diese- 40 -

Summe die Hhe Ihres Gehalts bersteigt was mich nicht wundern sollte , wird ein angemessener Raten plan fr die Rckzahlung erstellt. Larry errtete und gestikulierte hilflos. Aber Sir, die Ergebnisse! Sie werden ausreichen, um sie zu berzeu gen. Ich hege ernsthafte Zweifel daran, da die Sponso ren, die sich aus wirtschaftlichen Erwgungen zur Schlieung dieser Einrichtung entschlossen haben, ihre Meinung ndern werden, nur weil ein Nachwuchsfor scher es fr angezeigt hielt, noch mehr Geld zu ver schwenden. Ich will jetzt nichts mehr von Ihnen hren, Mr. Chao. Weit du, was er dir damit sagen will, Larry? sagte Son dra sich. Du bist nur ein Mister. Wutest du denn nicht, da man erst dann in der Lage ist, richtig zu denken, wenn man mindestens einen Doktortitel besitzt? Mit wildem Blick schaute Raphael in die Runde. Sofern nicht noch jemand mit einem derart fundierten Beitrag aufzuwarten hat, mssen wir uns nun mit den logistischen Vorbereitungen fr die Schlieung befas sen. Das Evakuierungsschiff wird sptestens in einem Monat starten. Ich schlage vor, da die Abteilungsleiter mir in drei Tagen Bericht erstatten und in der Zwi schenzeit die Prioritten fr die Arbeit setzen. Der Vor stand hat uns angewiesen, die Station, den Ring und die anderen Einrichtungen im Bereitschaftszustand zu belassen. Wir sollen die Station einmotten, wie es im Lasergramm heit, fr den Fall, da sie eines Tages wieder in Betrieb genommen wird. Weil wir sehr viel zu tun haben und unsere Zeit uerst knapp bemessen ist, sollten wir diese Besprechung nun beenden und die Arbeiten planen. Raphael zgerte fr einen Mo ment, als ob auch nur die geringste Wahrscheinlichkeit eines Widerspruchs bestanden htte. Nun gut. Die Abteilungsleiter treffen sich hier in drei Tagen um 09:00 und legen mir die vorlufigen Ablaufplne vor.- 41 -

Die Versammlung lste sich auf, doch Sondra Berg hoff blieb sitzen und beobachtete den Auszug der Leute, die sich in der niedrigen Schwerkraft vorsichtig bewegten. Niemand hatte sich zu Wort gemeldet. Das ganze Projekt stand kurz vor dem Scheitern, und sie hatten nicht einmal protestiert. Was hatten sie denn zu verlieren, wenn die Station ohnehin verloren war? Und wie konnte man nur so verrckt sein, die Einlassungen des jungen Chao zu ignorieren? Sicher, es war weit hergeholt, aber man htte ihm wenigstens einmal zuhren knnen. Wahrscheinlich htten Chaos Verbesserungsvor schlge die Situation auch nicht mehr gerettet. Es war ihm gelungen, die Strke des Schwerefelds geringfgig auf zwei oder drei Gravitten zu erhhen und das Feld etwas lnger als die bisherigen zehn Sekunden zu sta bilisieren. Nun, wenn das stimmte, dann war das eine schne persnliche Leistung und wrde ihm als An sporn dienen. Die Einstellung der Sponsoren htte sich dadurch zwar auch nicht gendert, aber weshalb hatte niemand fr ihn Partei ergriffen und verlangt, da er zumindest angehrt wurde? Sondra trommelte mit den Fingern auf der Tisch platte. Nur um ein Beispiel zu nennen, weshalb hatte sie sich nicht selbst zu Wort gemeldet?

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Kapitel Zwei

Offene Rechnungen

Verschwunden. Die helle Boje in der Dunkelheit war nach kurzer Zeit wieder verschwunden. Der Beobachter sphte nach dem Signal, doch es war nicht mehr da. Wie war das mglich? Er fhlte Trauer und Einsamkeit. Allein. Nach dieser langen Zeit wieder allein. Er zwang sich zur Ruhe und versuchte, wieder in den onenlangen Schlaf zurckzufallen. Doch ein Teil von ihm wollte nicht zur Ruhe kommen. Ein Teil von ihm beobachtete weiter. Und hoffte. Sondra stand vor dem Spiegel. Pummelige Figur, paus bckiges Gesicht und einen roten Lockenkopf. Sie war wie immer gekleidet: eine zerknitterte Bluse von unde finierbarer Farbe, eine ausgebeulte Hose und Slipper mit Velcro-Sohle. Doch sie stand nicht vorm Spiegel, um ihr Aussehen zu berprfen. Sie machte einen ur alten Test. Was die meisten Leute im bertragenen Sinn verstanden, hatte man in ihrer Familie wrtlich ge nommen. Sie versuchte, sich in die Augen zu sehen. Und scheiterte. Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie das ver sucht hatte. Damals war sie fnf gewesen und hatte ge leugnet, sich aus der Keksdose bedient zu haben. Ihr Vater hatte sie ins Bad geschleppt und sie gezwungen, die Lge vor dem Spiegel zu wiederholen. Weder da mals noch heute war sie dazu imstande. Natrlich hatte sie diesmal nicht gelogen. Aber sie hatte etwas un terlassen, das sie als notwendig erkannt hatte und das kam auf dasselbe heraus.- 43 -

Sie drehte sich um und verlie die Kabine, ent schlossen, das Versumnis wiedergutzumachen. Fnf Minuten spter klopfte Sondra an Larrys Tr; sie war mehr als nur leicht verlegen und wute nicht so recht, weshalb sie berhaupt hier war. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, und sie war so erzogen worden, ihr Gewissen zu erleichtern. Jeder Versuch der Wieder gutmachung, und sei er auch noch so vergebens, war besser, als unter Schuldgefhlen zu leiden. Sie htte sich bei der Besprechung zu Wort melden sollen, und sie hatte es nicht getan. Sie mute das irgendwie wiedergutmachen, auch wenn sie nicht wute, wie sie das anstellen sollte. Herein, drang eine Stimme durch die dnne Tr. Sie stie die Tr auf und betrat den kleinen Raum. Larry sa auf dem Bett und hatte ein Notebook auf dem Scho. berrascht blickte er auf. h, hallo, Dr. Berghoff. Hallo, Larry. Er legte den Computer beiseite und stand auf, wobei er sich nicht sicher war, wie er seinen Gast begren sollte. Hm, ich beschaffe Ihnen eine Sitzgelegenheit, sagte er und klappte einen Sitz aus der Wand. Dann setzte Larry sich wieder auf das Bett, und Sondra nahm ihm gegenber Platz. Sie hatte ihn sich immer als Kind mit groen Augen vorgestellt. Vielleicht traf das auch zu; fair war es jedenfalls nicht. Sondra war selbst erst sechsundzwanzig, und Larry war hchstens ein, zwei Jahre jnger. Sondra hatte ihn fr siebzehn gehalten. Das war vllig unmglich, sagte sie sich nun. Die Station war eine Domne hochspezialisierter Forscher. Im Fachbereich der Hochenergie-Physik tum melten sich lauter Wunderkinder doch selbst hier mute ein Wunderkind mindestens vierundzwanzig sein. Und dann mute man immer noch ein wahres Genie sein, ein berflieger, um schon in diesem Alter- 44 -

hierher versetzt zu werden. Sondra war die jngste Nachwuchskraft in der Station gewesen, als sie vor zwei Jahren hier eintraf. Und nun erkannte sie, da Larry ungefhr genauso alt war wie sie, als sie hier an gefangen hatte. War sie damals auch noch so unschuldig gewe sen? Sie unterzog ihn einer eingehenden Betrachtung. Er wirkte jnger, als er eigentlich war. Die groen Augen, das im auf der Station blichen Schsselschnitt frisierte schwarze Haar, die glatte Haut und der zu weite Over all verstrkten diesen Eindruck noch. Sondra htte ge wettet, da er sich nur einmal pro Woche rasieren mute. Doch das war noch nicht alles. Das Leben hatte bis her keine Spuren in seinem Gesicht hinterlassen, und in seinen Augen spiegelten sich keine Anzeichen irgendwelcher Tragdien oder schmerzlicher Erfahrun gen wider. Seine Seele war noch rein. Sie hatte keine Ahnung, wo er herkam. Er sprach mit starkem amerikanischen Akzent, aber das mute nichts bedeuten. War er dort geboren oder hatte er le diglich bei einem amerikanischen Dozenten Englisch gelernt? Sie wute es nicht. Auerdem gehrte er zu den nur 120 Menschen in einem Umkreis von Milliarden Kilometern! Er war einer von nur zwanzig Wissenschaftlern, die bei diesen verdammten wchentlichen Besprechungen am Tisch saen. Wie war es mglich, da sie schon so lange in dieser kleinen Gemeinschaft lebte und so wenig von den anderen wute? Fr einen Moment rief Sondra sich ein paar andere Kollegen in der Station in Erinne rung und wurde sich bewut, da ihr zu einigen Ge sichtern die Namen fehlten. Dabei war sie frher ein so geselliger Mensch gewe sen. Pluto hatte sie in eine Eigenbrtlerin verwandelt, genauso wie er auch Raphael verkorkst hatte. Doch- 45 -

Larry Chao schien davon berhaupt nicht betroffen zu sein. Sie sah ihn an und suchte nach Worten. Ich versuche gerade, die Kosten fr die Benutzung des Rings zu ermitteln, sagte Larry, um das Schwei gen zu brechen. Er klang unglcklich. Es sieht so aus, als ob ich seit letzter Nacht genauso hoch verschuldet wre wie die ganze Erde. Ich wei nicht, was ich tun soll. Das kann ich mir vorstellen. Darf ich mir die Zah len einmal ansehen? fragte Sondra. Sie war dankbar fr die Vorlage, die Larry ihr geliefert hatte. , Larry zuckte die Achseln. Sicher. Schlimmer kann es gar nicht kommen. Sondra hob eine Braue und sah ihn fragend an. Wie meinen Sie das? Nun, der Direktor hat Sie doch geschickt, oder? Um mich zu kontrollieren. berrascht ffnete Sondra den Mund und schlo ihn wieder. Erst dann war sie imstande, etwas zu sagen. Er soll mich geschickt haben? Raphael soll mich ge schickt haben? Wenn er mich irgendwohin schicken wrde, dann nach drauen, und zwar ohne Schutzan zug. Nun war es an Larry, berrascht dreinzuschauen. Ich dachte, Sie seien seine Favoritin. Schlielich sitzen Sie bei den Besprechungen immer neben ihm. Sondra grinste schelmisch. Neben ihm sind so viele Pltze frei, da immer jemand neben ihm sitzt. Auerdem habe ich ihn so besser im Blick. Ich habe nmlich ein Hobby daraus gemacht, ihn dabei zu be obachten, wie er seinen Job erledigt. Mich hat er auch erledigt, sagte Larry deprimiert. Und nun wei ich nicht, was ich tun soll. Ich werde die Schulden nie zurckzahlen knnen. Soviel werde ich in meinem ganzen Leben nicht verdienen. Teufel, ich habe noch nicht einmal das Darlehen an das MIT zurckgezahlt.- 46 -

Lassen Sie mich mal sehen, wieviel es ist, sagte Sondra. Larry gab ihr den Computer. Sie warf einen Blick auf die Zahlen und schnappte nach Luft. Fnf Millionen Britische Pfund! Wie, zum Teufel, haben Sie das nur geschafft? Das bersteigt ja das Monatsbudget fr die ganze Station. Larry war ein Hufchen Elend. Ich wei. Es ist alles aufgefhrt. Nachdem Sondra die Aufstellung durchgegangen war, fhlte sie sich etwas besser. Dieser Junge mochte auf seinem Gebiet ein Genie sein, aber von Kostenrech nung hatte er keine Ahnung. Die einzelnen Posten waren astronomisch hoch angesetzt, selbst fr eine korrekte Abrechnung obwohl Sondra nicht vorhatte, Raphael eine korrekte Abrechnung vorzulegen. Das stimmt nicht. Nach dem, was hier steht, haben Sie den Ring fr volle sechs Stunden benutzt. So lange habe ich letzte Nacht daran gearbeitet. Die Ring-Zeit macht den grten Teil der Kosten aus. Ich habe die Tarife im Grorechner abgefragt. Eine Stunde Ring-Zeit schlgt mit siebenhunderttausend Pfund zu Buche. Zunchst einmal ist das der Stundensatz, den wir einem externen Benutzer in Rechnung stellen. Lassen Sie mich den Satz fr Mitarbeiter berechnen. Sondra schaltete eine drahtlose Fernbertragung vom Note book zum Hauptrechner und rief die Daten ab. Wute ich's doch. Der interne Tarif betrgt fnfhunderttau send. Auerdem handelt es sich um einen kalkulatori schen Verrechnungssatz, der mit den realen Kosten nichts zu tun hat. Super. Das vermindert die Zeche um eins komma zwei Millionen, sagte Larry. Er warf sich aufs Bett und seufzte. Und die anderen vier komma acht Mil lionen werde ich schon irgendwo auftreiben. Ha, ha. Was haben wir gelacht. Lchelnd schaute Sondra vom Computer auf. Der- 47 -

Witz war zwar nicht lustig, aber allein der Versuch war schon ein gutes Zeichen. Zweitens, sagte sie, haben Sie sich Strom und Material in Rechnung gestellt, die eigentlich schon im Stundensatz enthalten sind. Das macht zwar nicht viel aus, aber immerhin. Drittens be ziehen die sechs Stunden sich laut Logbucheintrag nicht auf die Betriebsdauer des Rings, sondern auf die Verweildauer im Leitstand. Zumal es unmglich gewe sen wre, den Ring ununterbrochen fr sechs Stunden zu betreiben. Das htte nmlich den Energiebedarf fr einen Monat erfordert. Ich wette, da fnfundneunzig Prozent der Zeit fr die Benutzung des Rechners und die Vorbereitung des Experiments in Anspruch genom men wurden, stimmt's? Ja, das glaube ich auch. Gut, wie lang war der Ring also effektiv in Betrieb und nicht nur im Bereitschaftsmodus? Larry berlegte kurz. Sieben, vielleicht auch acht Minuten. Ich mte das Protokoll einsehen. Das werden wir gleich tun, aber gehen wir zu nchst einmal von acht Minuten aus. Beim internen Stundensatz von fnfhunderttausend Pfund wren das 66 666 Britische Pfund. Das sind immer noch zwei Jahresgehlter! rief Larry. Dann reichen wir eben einen Ratenplan mit einer Laufzeit von zehn Jahren ein, sagte Sondra. Sie zah len brav die erste Monatsrate und im zweiten Monat wird das Institut ohnehin geschlossen. Wenn die Sta tion dichtmacht, wie soll sie dann noch Forderungen an Sie richten, zumal Sie von ihr auch kein Gehalt mehr bekommen. Und wo wir schon dabei sind, erfolgt die Rckzahlung in israelischen Schekel. Das ist momen tan die Whrung mit der hchsten Inflationsrate. Die Schuld wird in einem Jahr nur noch halb so hoch sein. Larry lie sich das durch den Kopf gehen und run zelte dann die Stirn. Das ist aber Betrug.- 48 -

Sondra fluchte leise. Es ist schon schlimm genug, da Raphael Sie dafr bestraft, da Sie Initiative ge zeigt und mitgedacht haben. Sie schulden ihm wirklich keine Loyalitt. Aber er hat recht. Ich habe den Test ohne Erlaubnis durchgefhrt. Ich habe ihn nicht angemeldet. Die Leute wollen eine gerechte Autoritt, sagte Sondra sich. Drei Viertel der Experimente werden nicht ange meldet. Diese Vorschrift soll lediglich verhindern, da die Leute Nebenttigkeiten fr kommerzielle Labors ausben. Wir sind eine ffentliche Einrichtung und stellen die Daten der Allgemeinheit zur Verfgung. Ohne eine entsprechende Vorschrift wrden Privatun ternehmen Forscher fr geheime Tests anheuern. Diese Bestimmung soll die Leute aber nicht frs Nachdenken bestrafen, und Raphael hat kein Recht, sie gegen Sie anzuwenden. Also mssen wir die Vorschrift irgendwie umgehen. Ich bin sicher, da ich die Belastung noch weiter vermindern kann, wenn Sie damit einver standen sind. Teufel, ich werde demnchst eh zahlungsunfhig sein, sagte Larry schlielich. In Ordnung. Tun wir es auf Ihre Art. Groartig. Schn zu hren. Sondra legte den Com puter beiseite. Eigentlich bin ich gekommen, weil ich mich dafr entschuldigen wollte, da ich Sie heute nicht untersttzt habe. Lassen Sie mich als Wiedergut machung die Zahlen schnen. Weshalb htten Sie mich heute denn untersttzen sollen? Sie kennen mich doch kaum. Ja, aber ich mte Sie kennen. Ich als alter Hase sollte mich um den Neuling kmmern. Auerdem htte jeder am Tisch sich zu Wort melden mssen, aber niemand hat sich geuert. Wir lassen uns alle von Ra phael einschchtern. Larry setzte sich auf. Das glaube ich Ihnen. Er erin nert mich an meinen Onkel Tal. Tal hat mir immer vor- 49 -

gehalten, wie undankbar ich gegenber meinen Eltern wre. Ich habe es ihm nie recht machen knnen. Ich wei nicht, wie oft ich ihm schon Kontra geben wollte, doch ich hatte mich nie getraut. Und Dr. Raphael ist noch viel schlimmer. Erneut sprte Sondra ein Schuldgefhl, nur da es diesmal berechtigt war. So sehr es ihr auch mifiel, ein Teil von ihr bewunderte Raphaels Chuzpe und hegte Sympathie fr ihn. Gehen Sie nicht so hart mit ihm ins Gericht. Er hat es auch nicht leicht. Er hat praktisch sein ganzes Leben damit verbracht, als alter Mann an einem Spiel teilzunehmen, das von jungen Leuten ge spielt wird. Aus irgendeinem Grund hatte die Promo tion bei ihm ein paar Jahre lnger gedauert. Er hat den Anschlu an die Entwicklung in der Forschung verlo ren und diesen Rckstand nie wieder aufgeholt. Das war vor fnfundzwanzig Jahren. Und seitdem mute er mitansehen, wie solche Wunderkinder wie wir Kar riere gemacht haben. Stellen Sie sich vor, was fr ein Leben das gewesen sein mu immer eine Lnge zurck und als fhiger Mann zur Arbeit in einer Branche verdammt, wo selbst der durchschnittliche Arbeiter ein Genie ist. Kein Wun der, da er frustriert ist. Sie verstummte und zuckte die Achseln. Dennoch sollte er seinen Frust nicht an uns auslassen. Und wir sollten ihm das auch nicht durchgehen las sen, sagte Larry mit erstaunlichem Nachdruck. Er wird uns immer herumschubsen, wenn wir uns nicht dagegen wehren. Das habe ich mir auch schon gesagt, pflichtete Sondra ihm bei. Doch wenn wir den Laden schon in einem Monat schlieen, ist es etwas zu spt fr eine Rebellion. Ein scheues Lcheln spielte um Larrys Lippen. Wir haben immer noch meine Ergebnisse. Damit mte sich doch etwas machen lassen.- 50 -

Sondra lchelte milde. Es bedurfte schon magischer Zahlen, um etwas zu bewirken. Bloe Kosmetik wrde da nicht helfen. Doch das wrde sie Larry nicht sagen. Welchen Sinn htte es, all seine Hoffnungen zunichte zu machen? Ja, Sie haben recht. Damit mte sich etwas machen lassen. Wollen Sie sie sehen? fragte Larry. Ohne Sondras Antwort abzuwarten, stie er sich vom Bett ab, scho zu ihrer Verblffung ber ihren Kopf hinweg und stie sich an der Decke ab. Vor dem Schreibtisch legte er eine perfekte Landung hin und schlang die Beine um die Stuhlbeine. Offensichtlich hatte er in der niedrigen Gravitation von Pluto intensiv trainiert. Er whlte in den am Schreibtisch befestigten Unterlagen und zog schlielich ein Blatt aus dem Stapel. Das ist der vor lufige Bericht, sagte er. Der Computer fhrt noch ein paar Berechnungen durch. Sondra nahm das Blatt, ohne einen Blick darauf zu werfen. Weshalb dauert die Berechnung so lange? fragte sie. Larry zuckte die Achseln. Ich bin erst nach der Be sprechung dazu gekommen, die Zahlen einzugeben, und es ist ein komplexes Problem, das viel Rechenzeit bentigt. Zu viel fr eine Nebenstelle. Zwischen der of fiziellen Arbeit fttere ich den Ring-Computer hpp chenweise mit meinen Daten; die Mengen sind so ge ring, da es nicht auffllt. Ich will nmlich nicht, da Raphael mich auch noch wegen der Inanspruchnahme von Rechenzeit drankriegt. Er grinste verstohlen. Sondra lachte. Sie lernen schnell, sagte sie und warf einen flchtigen Blick auf das Blatt. Sie mute zweimal hinsehen, ehe sie sicher war, da sie die Zah len auch richtig erfat hatte. Sie konnten nicht stim men. Sie konnten nicht stimmen. Das mu falsch sein, sagte sie. Es ist unmglich, da Sie ein derart starkes Schwerefeld erzeugt haben. Selbst wenn wir wten, wie es geht, htten wir gar nicht soviel Energie, um- 51 -

auch nur ein Zehntel dieser Feldstrke zu produzie ren. Die Zahlen sind richtig, sagte Larry. Und ich habe dieses Schwerefeld auch nicht erzeugt ich habe ein bereits existierendes Schwerefeld gebndelt und verstrkt. Das Schwerefeld von Charon. Sondra musterte ihn. Seine Stimme war ruhig und fest. Er erweckte nicht den Anschein, sich rechtfertigen zu mssen, sondern sah ihr offen ins Gesicht. Er glaubte an die Richtigkeit der Zahlen. Erneut berflog sie das Blatt und berprfte die Zeitsignatur des Expe riments. Stunden, bevor Raphael die Bombe hatte plat zen lassen. Nein, Larry konnte die Zahlen nicht frisiert haben, um die Schlieung mit einer spektakulren Ak tion zu verhindern. Auerdem waren diese Zahlen zu spektakulr. Sie waren zu gut, als da jemand versucht haben knnte, sie zu flschen. Niemand wrde das glauben. Sie muten authentisch sein. Schlielich wurde ihr bewut, da sie die ganze Zeit auf das Blatt gestarrt hatte. Sie legte es weg und un terzog Larry einer grndlichen Musterung. Er war kein guter Lgner. Wenn es sich um eine Flschung gehandelt htte, dann wre er errtet, htte herumge stottert und wre sicher nicht in der Lage gewesen, ihr in die Augen zu sehen. Entweder waren die Daten korrekt, oder Larry war ein gravierender Fehler unter laufen. Er glaubte an das Ergebnis. Aber damit stand er allein. Hat Raphael das schon gesehen? fragte sie und tippte auf das Blatt. Ich habe mich noch nicht getraut, die Daten an sei nen Rechner zu schicken. Ich wollte sie bei der Bespre chung prsentieren, aber dann habe ich es doch nicht getan, gestand Larry kleinlaut. Verdammt. Wenn Larry die Zahlen vor der Be sprechung vorgelegt htte, wrden sie nun glaubwr- 52 -

diger wirken. Schicken Sie sie sofort ab. Nicht nur an seinen Computer, sondern an alle Forscher in der Sta tion. Sofort. Aber... Kein aber, Larry. Wenn diese Zahlen erst verf fentlicht werden, nachdem die Schlieung der Station angekndigt wurde, wird jeder glauben, Sie htten sie fingiert, um die Schlieung zu verhindern. Wenn wir sie jetzt prsentieren, wird zumindest dieses Argument hinfllig. Je lnger Sie warten, desto grer wird die Gefahr, da man Ihnen eine Flschung unterstellt. Die Zahlen stimmen aber, wand Larry ein. Sie sind nicht fingiert. Ich wei das, und Sie wissen das aber wird es Ihnen sonst jemand abnehmen? Diese Zahlen bertref fen die Sollwerte um den Faktor fnfhunderttausend. Was wre wohl die plausibelste Erklrung Durch bruch in letzter Minute oder Betrug? Larry lie sich das durch den Kopf gehen; dann nahm er das Notebook und gab ein paar Befehle ein. Fr einen langen Moment hrte man nichts im Raum auer dem leisen Klicken der Tastatur. Sondra sah Larry an und sprte pltzlich, da sie Herzrasen hatte und der Schwei ihr auf der Stirn stand. Ich habe Angst, sagte sie sich, wobei sie sich gleich zeitig fragte, wovor, in aller Welt, sie sich berhaupt frchtete. Und dann wute sie die Antwort. Sie frchtete sich vor den Urgewalten, die Larry entfesselt hatte. Zwar nur in einem mikroskopisch kleinen Bereich und fr wenige Sekunden. Aber innerhalb dieser winzigen Raumzeit hatte er ein Schwerefeld erzeugt, das tau sendmal strker war als das der Sonne. Er hatte eine Kraft erschaffen, die imstande war, ganze Welten zu zertrmmern. Da mute wohl jeder Angst bekommen.- 53 -

Ich komme nach Hause, Jesse. Nach Hause. Simon Raphael griff zum altmodischen Fllfederhalter und sprte, wie die Augen fr einen Moment feucht wurden. Die Tr nen eines nrrischen alten Mannes. Er hatte aber kei nen Grund, sich zu schmen. Das war schlielich Sinn und Zweck eines Tagebuchs. Ihm konnte er seine Gefhle diskret anvertrauen und der einzigen Frau, die er je geliebt hatte, alles erzhlen. Mehr als einmal hatte er sich gefragt, ob es nicht ver rckt sei, ein Tagebuch in Form von Briefen an seine verstorbene Frau zu fhren. Doch auf Pluto lauerte der Wahnsinn eh an jeder Ecke. Da war es sinnvoller, den letzten Rest von Verstand nicht fr persnliche Pro bleme zu vergeuden, sondern ihn fr den Umgang mit den Mitarbeitern zu reservieren. Der Rumungsbefehl kam gestern abend per Laser gramm, schrieb er. Bald, sehr bald werde ich wieder unter einem blauen Himmel Spazierengehen. Bald, sehr bald werde ich dich besuchen. Ihr Grab befand sich an der Flanke eines stillen Hgels mit Blick auf die grnen Felder des Shenandoah-Tals und die Hochebenen der Blue Ridge Mountains. Ich werde diesen Ort verlassen und zu dir nach Hause kommen. Seufzend legte er den Fllfederhalter nieder und schlo die Augen. Er stellte sich vor, den Duft des Waldes zu riechen, der das Tal durchzog. Fr ihn war es unfabar, da es Leute gab, die hierbleiben wollten. Sie suchten allen Ernstes nach Grnden zu bleiben und konstruierten sogar welche. Vielleicht war dieser Chao wirklich der Ansicht, eine wichtige Entdeckung gemacht zu haben. Vielleicht lag gar keine vorstzliche Flschung vor. Zu dumm. Er hatte leider keine Zeit mehr, sich mit hanebchenen Theorien zu befassen. Raphael wute, da Chao sich irrte. Chao konnte nichts gefunden haben, weil es nmlich nichts zu fin den gab. Die Gravitationsforschung war eine Sack- 54 -

gasse. Simon Raphael gab auf, weil nun alles gesagt und getan war. Ein resigniertes Lcheln spielte um seine Lippen, und dann nahm er den Fllfederhalter wieder auf. Ich scheide ohne Bedauern von diesem Ort, schrieb er. Ich habe alles getan, was in meiner Macht stand. Nun gibt es nichts mehr zu tun, als des berhmten Ausspruchs von W. C. Fields zu gedenken. Jesse hatte die alten Komdien ge liebt, im Gegensatz zu Raphael. Wenn du beim ersten mal keinen Erfolg hast, versuch es ein zweitesmal. Und ein drittesmal. Dann gib auf. Es hat nmlich keinen Sinn, sich zum Narren zu machen.

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Kapitel Drei

Von der Reservebank zum Feldspieler

Der Jahrtausende whrende Schlaf des Beobachters wurde nun endgltig unterbrochen. Schlaf und Ruhe waren ihm nicht mehr vergnnt. Der Hoffnungsschimmer verblate. Der Beobachter bewegte sich rastlos. Er war nicht lnger in der Lage, die qulenden Energien zu ignorieren, die er sprte. Etwas ging in den Tiefen des Alls vor. Nun, da er durch das nicht-ganz-korrekte-Signal geweckt worden war, hatte seine Sensibilitt sich erhht. Er entdeckte viele schwache Signale und vernahm ein Wispern aus dem weit entfernten Sonnensystem, von einer Quelle, die sich langsam in einem weiten Orbit bewegte. Er formte eine erste Theorie, obwohl der zugrundeliegende Proze nicht unbedingt als Denken bezeichnet werden konnte. Vielmehr handelte es sich um eine Speicherabfrage, einen Versuch, neue Daten mit frheren Erfahrungswerten abzugleichen. Er berprfte die Speicherinhalte, wobei er nicht nur die eigenen umfangreichen, wenn auch ziemlich belanglosen Er fahrungswerte abfragte, sondern auch die Erinnerungen all seiner Vorfahren. Dann stie er im Leben eines seiner Ahnen auf einen Vorgang, der eine betrchtliche hnlichkeit mit dem aktuellen Ereignis aufwies. Vielleicht dienten die Para meter dieses alten Vorgangs als Erklrungsansatz fr die ge genwrtige unklare Lage. Mit einem Anflug von Enttuschung lie er das alte Ereignis ablaufen. Wenn es sich hierbei wirklich um einen Przedenzfall handelte, dann hatte dieser Strom von Gravi- 56 -

tations-Signalen keine grere Bedeutung als die Streu signale, die er selbst abstrahlte. Wenn man seine Schlufolgerungen in zwei mensch liche Analogien berfhren wollte, die zwar nicht vllig przise, dafr aber anschaulich waren, vermutete er, da ein identischer Phnotyp seines Genotyps entartet war. Oder da ein entferntes Subsystem, eine andere Kompo nente derselben Maschine, zu der auch er gehrte, einen Defekt hatte. Befand sich vielleicht einer seiner Art in diesem Raumsek tor? Er fhrte eine Abfrage bezglich dieses Raumabschnitts durch. Er hatte eigentlich erwartet, dort einen kleinen Krper von der Gre eines Asteroiden zu finden, einen weiteren im Orbit stationierten Subtyp seiner Art. Schockiert mute er feststellen, da er statt dessen auf Daten ber einen natrli chen Krper gestoen war, einen gefrorenen Planeten mit einem bergroen Mond. Ein planetarischer Krper, der modulierte Gravitations wellen aussandte? Das konnte nicht sein. Dieses Phnomen lag nicht nur auerhalb seiner eigenen Erfahrung, sondern es war auch noch nie in den Berichten seiner Artgenossen erwhnt worden. Seine Verdrngungskunst berstieg jede menschliche Fhigkeit, Fakten nicht zur Kenntnis zu neh men. Was im Universum des Beobachters bisher nicht statt gefunden hatte, wrde sich auch jetzt nicht ereignen. Das war physikalisch unmglich. Diese Anomalie mute untersucht werden. Er fokussierte die Sinne so przise wie mglich und berprfte den Ziel planeten. Der nchste Schock. Unglaublich. Der Satellit des Plane ten wurde nun von einem Ring umgeben, der im Speicher nicht enthalten war. Ein Ring, der in allen mglichen Ener giezustnden flimmerte. Ein Ring, der ein Zwilling des Beobachters htte sein kn nen.- 57 -

Larry wartete schweigebadet vor Raphaels Bro. Die Einladung zu einem Treffen mit dem Stationsleiter war bereits vor einer halben Stunde ergangen, doch an scheinend wollte Raphael seinem renitenten Unterge benen noch etwas Zeit zum Abregen geben, bevor er ihm eine Audienz gewhrte. Nervs knetete Larry die Finger. Er hatte durchaus gewut, was er tat, als er das Millionen-Gravo-Experi ment durchfhrte. Es handelte sich um eine Naturwis senschaft, um angewandte Physik in einem kontrollier ten und nachprfbaren Rahmen. Er mute nur auf die Inspiration warten, sich das Ergebnis vorstellen und den Versuchsaufbau korrekt arrangieren dann wrde es auf jeden Fall funktionieren. Daran fhrte kein Weg vorbei. Das Experiment mute mit der glei chen Zwangslufigkeit glcken, wie allmorgendlich die Sonne aufging. Was er indes berhaupt nicht verstand, war der emotionale Aufruhr, den sein Experiment bei den Menschen verursacht hatte. Vier Stunden, nachdem er den Bericht ins Datennetz eingespeist hatte, stand die ganze Station Kopf. Er hatte den Ring benutzt, um gigantische Krfte zu entfesseln, doch diese Krfte waren unter Kontrolle. Er brauchte nur den Stecker zu ziehen, und der Spuk htte ein Ende. Nicht so dieser Aufruhr. Er glich einem Geist, den er nicht wieder in die Flasche zwngen konnte. Jeder in der Station war aufgeregt oder erzrnt oder beides. Jeder bezog Stellung, und niemand hatte Be denken, Larry seine oder ihre Gefhle direkt mitzutei len. Er war ein Held. Er war ein Schwindler. Er war ein Genie. Er war ein Narr. Der Nobelpreis war nicht gut genug fr ihn. Man sollte das Gefngnis auf Tycho wiedererffnen, denn lebenslnglich in einem anderen Knast wre eine zu milde Strafe gewesen. Sowohl die Lobhudelei als auch die Verunglimpfungen empfand Larry als beraus irritierend.- 58 -

Die ganze Station befand sich in Aufruhr und ver nachlssigte vor lauter Aufregung das Tagesgeschft. Larrys komplette Analyse des Experiments lief noch immer, doch sie wurde nun von anderen Forschern aus der Warteschlange des Hauptrechners verdrngt, die unter Berufung auf ihren bergangsstatus eigene Si mulationen durchfhrten. Raphael genehmigte persnlich eine von zwei altge dienten Forschern beantragte Computer-Simulation. Larry war nicht im geringsten berrascht, als er erfuhr, da Raphaels Simulation bewiesen hatte, da Larrys Ergebnisse falsch waren. Eine parallel durchgefhrte Simulation jngerer Wissenschaftler (wobei Sondra durch Abwesenheit glnzte) dokumentierte hingegen die Echtheit des Chao-Effekts. (Larry wute zwar nicht genau, wer diesen Begriff geprgt hatte, aber er hatte Sondra in Verdacht.) Larry enthielt sich jeglichen Kommentars, erkannte aber, da beide Simulationen auf falschen Annahmen beruhten. Doch die Frage, wessen Daten richtig waren, war lange nicht ausschlaggebend. Fronten wurden abge steckt. Die Leute wurden aufgefordert, Stellung zu be ziehen und nicht nur mit Blick auf die objektive Frage, ob Larry recht hatte oder nicht. Andere Fragen wurden aufgeworfen. Bist du fr oder gegen Raphael? Bist du fr oder gegen die Schlieung der Station? Bist du auf unserer Seite oder auf ihrer? Binnen weniger Stunden waren die Ergebnisse eines wissenschaftlichen Experiments zu einer politischen Angelegenheit ge worden, und all die komplexen Antagonismen und persnlichen Konflikte, all die moralischen Probleme der Station hatten sich zu einer einzigen Frage verdich tet: Glaubst du? Ein wissenschaftliches Problem war auf eine Glaubensfrage reduziert worden, wobei man nur noch die Wahl zwischen Orthodoxie und Hresie hatte. Womit auch der wissenschaftliche Aspekt hinfllig- 59 -

geworden war, sagte Larry sich. Das alles hatte nur noch sehr wenig mit Erkenntnisgewinnung zu tun. Der Interkom klickte. Reinkommen, sagte Raphael mit berheblicher Attitde. Larry erhob sich unsicher. Der Mann hatte nicht einmal nachgesehen, ob er ber haupt da war. Larry schaute nach oben und suchte nach einer Kamera. Wenn es eine gab, dann war sie versteckt. Oder wollte Raphael mit dieser bung die berzeugung demonstrieren, da seine Befehle unbe dingt befolgt wrden? Raphaels Wort war Gesetz, und deshalb war Larry hier. Auch wenn er nicht gekommen wre, sagte Larry sich, htte Raphael dieses Machtspielchen nicht ver loren, weil es nmlich keine Zeugen gab. Fast war er versucht, sitzen zu bleiben und zu sehen, was Raphael dann tun wrde. Doch das wre keine gute Strate gie. Also stand er auf, ffnete die Tr und betrat Ra phaels Bro. Raphael sa am Schreibtisch und war scheinbar in einen Bericht auf dem Computerbildschirm vertieft. Er schaute nicht auf und nahm auch sonst nicht die ge ringste Notiz von Larry. Larry blieb vor dem Schreib tisch stehen und zgerte fr einen Moment. Doch nun hatte Larry genug. Wenn Raphael ein Spiel mit ihm trieb, dann wrde er lieber aktiv eingrei fen, als nur zu reagieren. Mit einem theatralischen Seufzer setzte er sich und packte sein Notebook aus. Er hatte auch noch Arbeit zu erledigen. Oder zumindest wrde er so tun. Er klappte das Notebook auf, schaltete es ein und rief eine Datei auf. uerlich wirkte er ruhig, aber das Herz schlug ihm bis zum Hals. Sein Verhalten war an Dreistigkeit kaum zu berbieten. Noch nie in seinem Leben hatte Larry einen Vorgesetzten derart miachtet. Sein Vater htte wohl gesagt, da nun einer der selte nen Anlsse war, wo das irische Temperament seiner- 60 -

Mutter durchbrach, und vielleicht htte er damit gar nicht so falsch gelegen. Es gab einen Augenblick, wo Raphael das Spiel zu seinen Gunsten htte entscheiden knnen, wenn er von der Arbeit aufgesehen und den Besucher mit einer t zenden Bemerkung zur Schnecke gemacht htte. Doch dieser Augenblick verstrich, und der Direktor erweckte weiterhin den Anschein, sich mit seinen Da teien zu beschftigen, whrend Larry auf dem Besu cherstuhl sa und seinerseits den Anschein erweckte, in seine Arbeit vertieft zu sein. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde es schwieri ger fr Raphael, das Spiel in der ursprnglich geplan ten Version weiterzufhren. Larry glaubte wahrzunehmen, wie Raphael ihn aus dem Augenwinkel musterte, doch er wagte es nicht, vom Notebook aufzuschauen, um sich davon zu ber zeugen. Er fragte sich, welche Vergeltung der alte Mann wohl ben wrde. Schlielich erhob Raphael sich, ergriff ein Buch und ging damit zum Bcherre gal hinber. Er stellte das Buch ins Regal. Zweifellos gehrte das Buch gar nicht dorthin, aber zumindest wurde durch diese Geste die Pattsituation durchbro chen. Dann ging er zum Schreibtisch zurck und setzte sich auf die Ecke, was eine hchst informelle Pose fr Raphael war. Larry war sich durchaus bewut, da Ra phael sich damit in eine Position gebracht hatte, in der er auf ihn herabblickte. Mr. Chao? sagte er mit ruhi ger, wenn auch metallischer Stimme. Larry klappte das Notebook zu und schaute zu Ra phael auf, der ihn mit finsterem Blick musterte. Der ltere Mann nickte, erhob sich und setzte sich wieder auf seinen alten Platz. Nachdem er nun Larrys Aufmerksamkeit errungen hatte, war es egal, wo er sa. Ich wte nicht, weshalb wir mit irgendwelchen Hflichkeitsfloskeln Zeit vergeuden sollten, sagte Ra phael. Seit vierundzwanzig Stunden legen Sie diese- 61 -

Station lahm. Ich kann keine weitere Unterbrechung mehr zulassen. Anhand einer Computersimulation ha ben wir Ihr sogenanntes Experiment als Betrug ent larvt, womit wir unserer Verpflichtung, Ihre absurden Behauptungen zu berprfen, in vollem Umfang nach gekommen sind. Ich habe keine Veranlassung, weitere Arbeitszeit in die Jagd nach dieser Schimre zu investieren, ganz zu schweigen von der Genehmigung von Ring-Zeit oder Zugang zu experimentellen Einrichtungen. Ich habe angeordnet, alle Arbeiten, die dem Nachweis Ihrer Be hauptungen dienen, unverzglich einzustellen, damit diese Station wieder zur Tagesordnung bergeht. Ich mchte hinzufgen, da ich noch nicht wei, welche Behrden fr die Verfolgung solcher Betrugsflle zu stndig sind, aber ich beabsichtige es herauszufinden und die zustndigen Stellen von Ihrer Handlungsweise in Kenntnis zu setzen. Larry wollte etwas sagen. Doch ihm fehlten die Worte. Sein Chef, sein eigener Chef, bezichtigte ihn der Lge und drohte damit, ihn wegen des Kapitalverbre chens eines wissenschaftlichen Durchbruchs ins Ge fngnis zu bringen. Sie wollen also, da diese Station wieder zur Tages ordnung bergeht? fragte Larry. Und was heit das konkret? Da die Schlieung vorbereitet wird? Kon sterniert schttelte Larry den Kopf. Weshalb fllt Ihnen die Vorstellung leichter, da ein Mitarbeiter, den Sie selbst eingestellt haben, ein Lgner und Betrger ist, als zu akzeptieren, da ich wirklich etwas entdeckt habe? Haben Sie sich die Daten berhaupt schon ein mal angesehen, und zwar die Originaldaten und nicht die Ergebnisse Ihrer Simulationen? Raphael lchelte verchtlich. Die einzige Ent deckung, die Sie gemacht haben, Mr. Chao, ist das Ende Ihrer Karriere. Unsere Simulationen haben be sttigt, da Ihre Ergebnisse vllig unmglich sind.- 62 -

Zumal die Energiequelle des Rings berhaupt nicht in der Lage gewesen wre, die bentigte Leistung zu er zeugen. Ich habe Ihre Simulations-Gleichungen gesehen, erwiderte Larry in scharfem Ton. Er stand auf und beugte sich ber Raphaels Schreibtisch. Sie berck sichtigen nicht einmal ansatzweise den Effekt der Ver strkung und Bndelung externer Schwerefelder. Na trlich stammte diese Energie nicht von der internen Energiequelle des Rings ich hatte nmlich das Gravi tationsfeld von Charon angezapft! Ich habe einen Aus schnitt des Schwerefelds von Charon komprimiert. Die Gravitationsgleichungen stimmen nach wie vor. Das war doch der Witz bei dem Test. Da knnte man genauso gut ein Funkgert simulieren, ohne das Funk signal zu bercksichtigen. Zu einem Test gehrt offen sichtlich auch ein Testgegenstand. Die Ergebnisse mei nes Tests werden jeder Prfung standhalten. Sie haben schlampig gearbeitet, Doktor. Larry sah in die vor Zorn flammenden Augen des alten Manns. Dann drehte er sich um und verlie wort los das Bro des Direktors, ohne Raphaels Reaktion ab zuwarten. Zum erstenmal in seinem Leben hatte ihn Zorn gepackt, wirklicher Zorn, der kalte Zorn eines Er wachsenen. Ihm wurde bewut, da er sich nicht ber Raphaels grundlose Anschuldigungen rgerte, sondern ber die Borniertheit des Manns. Es war die Miachtung der Wahrheit und der Ent deckungen, deretwegen sie alle hier waren, die Larry so erzrnte. Larry hatte die Daten und Prfprotokolle, die seine Angaben belegten. Doch davon wrde er auf der Milliarden Kilometer vom Ring entfernten Erde nichts mehr haben. Es wre alles umsonst gewesen, wenn der Ring fr eine Generation eingemottet wrde, zumal es keine andere Einrichtung gab, wo er auf den Ergebnissen htte aufbauen knnen.- 63 -

Das war es, was Larry rgerte die sinnlose Ver schwendung, die vertane Chance. Wenn Larrys Testergebnisse besttigt wrden, wre es unmglich, den Ring zu deaktivieren. Selbst ange sichts der irdischen Rezession mte das Komitee ein Budget bereitstellen. Vielleicht wrden auch die Sied lungen auf dem Mars und den ueren Satelliten etwas beisteuern. Teufel, wie kleinmtig. Jeder wrde fr den Ring spenden, in der Hoffnung, ein Stck vom Kuchen abzubekommen. Ungeahnte Mglichkei ten wrden sich ergeben, wenn man die Knstliche Schwerkraft zur Anwendungsreife brachte. Wo nun die Initialzndung erfolgt war, wrden Larry sich vl lig neue Forschungsgebiete und Perspektiven erffnen. Und alles, was zwischen ihm und dieser ver heiungsvollen Zukunft stand, war das gekrnkte Ego eines alten Sonderlings. Er hatte das Bedrfnis, Sondra zu suchen und sie um Rat zu fragen. Doch wenn er sie vorschickte, wre das genauso schlecht, als wenn er sich von Raphael ber rollen lie. Er mute die Entscheidung selbst treffen. Erst nachdem er diese Entscheidung getroffen hatte, wrde er sie um Untersttzung bitten. Doch Larry wute, da er selbstndig handeln mute, wenn er die Selbstachtung nicht verlieren wollte. Ohne den Weg bewut eingeschlagen zu haben, stand er pltzlich vor seiner Kabinentr. Er stie die Tr auf, ging hinein und schlo die Tr ab. Er brauchte jetzt etwas Ruhe. Zeit zum Nachdenken. Zeit, um das weitere Vorgehen zu planen. Larry brauchte ein weiteres Experiment, ein Blitz experiment, und zwar nicht nur aus akademischen Grnden, sondern um sich Publizitt zu verschaffen und seiner Karriere auf die Sprnge zu helfen. Eine spektakulre Aktion, welche die Schlieung der Sta tion verhinderte. Und wenn sich das doch nicht verhindern lie,- 64 -

mute er an seine eigene Karriere denken. So spekta kulr der Millionen-Gravo-Ring auch war, die Astro physikalische Stiftung der UN wrde ihn auch nicht mehr zu schtzen wissen als Raphael. Auf der Erde htte Raphael mehr Einflu als Larry. Wenn die Dinge sich zu seinen Ungunsten ent wickelten, wenn Raphael ihm wirklich Schwierigkeiten machte, mute Larry mehr als ein einmaliges Experi ment vorweisen. Er bentigte etwas, das er zur Erde mitnehmen und worauf zuknftige Forschung auf bauen konnte. Teufel, er mute ein Experiment durch fhren, das ihm einen Job verschaffte. Er schaute mimutig drein. Politik. Wenn er sich als naiver kleiner Wissenschaftler pr sentierte, der nur an der Wahrheitsfindung interessiert war, wrde seine Entdeckung mit Sicherheit im Mll landen. Nur in der Politik konnte er seine Interessen durchsetzen. In dieser Situation war Raffinesse gefragt, kein Idealismus. Irgendwann gelangt jeder zu der Erkenntnis, da der Zweck die Mittel heiligt, sagte Larry sich mit leichtem Unbehagen. Nun gut. Er hatte ein taktisches und ein strategi sches Ziel: die Rettung der Station und/oder seiner Karriere. Nun mute er diese Ziele nur noch verwirkli chen. Zunchst mute er sich eine Lagebersicht verschaf fen. War der Test vollstndig gelscht worden? Er glaubte nicht, da alle Forscher der Aufforderung ge folgt waren, die Arbeit einzustellen. Andererseits rech nete Raphael zweifellos damit, da einige seiner Mitar beiter gegen die Anordnung verstieen. Um den Test zu wiederholen, mute man ihn also unter einer Tarn bezeichnung laufen lassen. Mit Hilfe des Notebooks fragte Larry den Zeitplan fr die Experimente ab. Es fanden rund um die Uhr Versuche statt, was die Lage erschwerte. Wahrschein- 65 -

lich lag es daran, da die Leute angesichts der bevor stehenden Schlieung noch schnell ihre Versuche durchfhren wollten doch vielleicht war ein Teil der Zeit wirklich dafr vorgesehen, Larrys Theorie zu berprfen. Die mit dem Chao-Effekt beschftigten Leute wrden wohl darauf achten, da Raphael nichts davon erfuhr. Und es waren