Alt werden will jeder, alt sein keiner… · 1 von 20 bis 100 Sturzereignissen im Alter führt...

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Alt werden will jeder, alt sein keiner… Was leistet die moderne Altersmedizin? Aachener Ärztekanzel Der Traum vom ewigen Leben 14. April 2016 Medizin im Dialog 17. Oktober 2017 Cornelius Bollheimer Lehrstuhl für Altersmedizin der RWTH Aachen mit Klinik für Innere Medizin und Geriatrie am Franziskushospital Aachen

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Alt werden will jeder, alt sein keiner…

Was leistet die moderne Altersmedizin?

Aachener Ärztekanzel Der Traum vom ewigen Leben 14. April 2016

Medizin im Dialog

17. Oktober 2017

Cornelius Bollheimer

Lehrstuhl für Altersmedizin der RWTH Aachen mit

Klinik für Innere Medizin und Geriatrie am Franziskushospital Aachen

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► Mühsal des Alters

► Altersmedizin im Krankenhaus

► Das Alter als Lebensphase

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Seite 3Uniklinik RWTH Aachen

Rota Fortunae (Schicksalsrad)

Illustration aus: Codex Buranus, um 1230

Bayerische Staatsbibliothek, München

regnabo regnavi

sum sine regno

regno „alt sein“

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Fridolin Leiber :

Das Stufenalter (Hebdomaden) des Mannes und der Frau, um 1900

Verlag Gustav May & Söhne, Frankfurt

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30 40 50 60 702010* 80 115

Deutschland 39 J.

Europaweite Umfrage (2012) : Special Eurobarometer 378 - Active Ageing

70 J. NiederlandeZypern 51 J.

… am längsten jung – zum spätesten Zeitpunkt alt

jung bis >>> alt ab >>>

60 J.

Gerontologie (Alterswissenschaft)

Geriatrie (Altersmedizin)

60 J. 70 J. 80 J.

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Malta 37 J. 58 J. Ungarn

… am kürzesten jung – zum frühesten Zeitpunkt alt

*1 6 10 18/19

Neugeb. Säuglingsalter Älterer Mensch

Kleinkindalter Alter Mensch

Frühes Schulalter Hochbetagte(r)

Adoleszenz Langlebige(r) / Centenarian

Jugendalter Super-Centenarian

60 75 90 100 115

Kinder- und

JugendmedizinGeriatrie

Altersbezogene Fachdisziplinen

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*

† † † † †

****

60 75 90 100

Intakte Körperfunktionen / -strukturen

Aktivität / Teilhabe

Entwicklung / Altern = zunehmende Heterogenität

!

1 6 10 18

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Lebensspanne

*

Großlebensphase Alter:

Dritte und Vierte Lebensphase

Romirer-Maierhofer [2005] GRIN-Verlag, München // Wenzke [2007] URL http://opus.kobv.de/btu/volltexte/2007/313

Rückzug aus dem

Erwerb

Ende des direkten

Zusammenlebens mit

den eigenen Kindern

Persönliche

Erfüllung

Rückzug aus dem

gesellschaftlichen Leben

Altersschwäche

Autonomieverlust

Nach Baltes

aktiv - autonom ontogenetisch-unvollkommen

nach Laslett

60 75 80 90 100 115

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„ Wenn Sie einmal alles in allem nehmen,

wie zufrieden sind Sie insgesamt

zurzeit mit Ihrem Leben? “

Generali Deutschland AG, Hsrg. (2017) Generali Altersstudie 2017. Wie ältere Menschne in Deutschland leben und denken.

Springer Deutschland S 342 ff. ISBN-13: 978-3662503942)

10

25

53

7181

90 95 98 99 100

Prozentualer Anteil

derjenigen, die

mindestens….

völlig

zufrieden

überhaupt nicht

zufrieden(Ordinalskala von 10 bis 0)

Deutschland, Privathaushalte, 65 bis 85 Jahre

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Stone AA et al (2010) PNAS 107:9985

Gefühltes (globales) Wohlergehen

über das gesamte Leben hinweg

20 30 40 807050 60

6,2

7,0

7,2

6,6

6,8

6,4

Ergebnis aus rund 350.000 Telefoninterviews in den USA

mit Personen zwischen 18 und 85 Jahren im Jahre 2008

Relatives Mass fürWohlergehen

Alter

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60 70 80 90 100

+ 16,4 J (w)

+ 13,6 J (m)

+ 9,0 J (w)

+ 7,7 J (m)

+ 4,3 J (w)

+ 3,9 J (m)

Ø Lebenserwartung

80,25 2,5 Jahre

Lebensspanne

115 Jahre

fernere Lebenserwartung

* 21. Februar 1875

† 04. August 1997

Jeanne-Louise

Calment

Demographie…

Dong X et al (2016) Nature 538:257

Hughes BG u Hekimi S (2017) Nature 546:E8

Einmahl J (2017) https://www.tilburguniversity.edu/current/news/press-release-oldest-human/ (Pressemitteilung vom 31.08.2017)

https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Sterbefaelle/AktuellPeriodensterbetafeln.html

Saparman Sodimejo

alias Mbah Gotho

* 31. Dezember 1870

† 30. April 2017

► 147 Jahre

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… not years to life

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„74 + 16“

Boanlkramer

Brandner Kasper

Franz von Kobell (1871)

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Zugewinn krankheits- und

behinderungsfreier Lebenserwartung

100 –

90 –

80 –

70 –

60 –

50 –

40 –

30 –

20 –

10 –

Nicht-Betroffene [%]

70 90 100 110 115 Jahre 80

Fries JF (1980) N EJM 303:130

90

Sterblichkeit

Krankheit

compression

of morbidity

Fries JF (1980) NEJM 303:130

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► Immobilität / Instabilität mit Sturzneigung und Sarkopenie

► Intellektueller Abbau mit Demenz und Delir (sc.l. Depression)

► Inkontinenz (Harn- und Stuhlinkontinenz)

► Iatrogenität mit Polypharmazie

► Mangelernährung / Störungen des Flüssigkeitshaushalts

Geriatrische Syndrome

- Mühsal des Alters

Crome P & Lally F (2011) CMAJ 183:889

v. Renteln-Kruse W et al (2009) In: v. Renteln-Kruse W (Hrsg) Medizin des Alterns und des alten Menschen. Steinkopff-Verlag, Darmstadt, S. 63 ff.

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Keine kraftbedingte Gangunsicherheit anzunehmen ≤ 10 sec

> 10 secGangunsicherheit (wg. Muskelschwäche) anzunehmen

Guralnik J et al 1994 J Gerontol 49:M85 / / Lee J et al (2013) PM&R 5:609

Kraftbedingte Gangunsicherheit:

Chair-Rising-Test

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Keine Gleichgewichtsstörung anzunehmen

Gleichgewichtsstörung und Sturzgefährdung anzunehmen

Guralnik J et al 1994 J Gerontol 49:M85 / Guralnik JM et al (1995) NEJM 332:556 / Ganz DA et al (2007) JAMA 297:77

Statische Balance:

Tandem-Stand

> 10 sec

≤ 10 sec

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Kleine Sturzkunde

Definition

Zahlen

Konsequenz für den Arzt

► Ab einem Alter von 70 Jahren obligate Sturzanamnese !

►► ≥1 in den letzten 12 Monaten ?

► Ab einem Alter von 65 Jahren stürzt jede(r) Dritte mindestens 1 mal jährlich !

Ab einem Alter von 85 Jahren stürzt jede(r) Zweite mindestens 1 mal jährlich !

► 1 von 20 bis 100 Sturzereignissen im Alter führt statistisch zu einer Fraktur !

(v.a. nichtvertebrale Hüft - #, aber auch vertebrale # [v.a. bei ])

Rubenstein LZ et al (1990) Ann Intern Med 113:308 / Lamb SE et al (2005) JAGS 53:1618 // Vondracek SAF u.

Linnebur SA (2009) Clin Interv Aging 4:121 / Close JC et al (2005) Best Pract Res Clin Rheumatol 19:913 //

Costa AG et al (2013) PLoS One 8: e83306 / Freitas SS et al (2008) Osteoporos Int 19:615

► Ein Sturz ist ein Ereignis,

in dessen Folge eine Person unbeabsichtigt

auf dem Boden oder auf einer tieferen Ebene zu liegen kommt.

!

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Fenster-Putzen

150 kcal/hGärtnern

200 kcal/h

Spazierengehen 100 kcal/hBewegung (physical acitivty)

Jedwede durch Muskelkontraktionen

ausgelöste Körperbewegung mit Energieverbrauch

Training – Übungen

Geplante, strukturierte und wiederholte Bewegung,

um die körperliche Fitness zu erhalten oder zu verbessern

Ausdauertraining Krafttraining

Flexibiltätstraining /

Balancetraining

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Bewegungsprogramme gegen Sturz

Balance-

FlexibilitätstrainingKrafttraining

Ausdauertraining

1.2. 3.Kraftmaschinen

2 - 3 / Woche;

8 – 10 Übungen (ganzer Körper)

Intensität 65-75% RM (≈10-15 Repet.)

Steigerung hinsichtlich

- Anzahl der Sets / Muskelgr. 3

- Intensität 85% RM; (≈ 6 Repet.)

Standübungen, Tai-Chi

bei Sturzgefahr bis zu 2 h pro Woche

z.B. Wandern, Schwimmen

Moderates aerobes Training

5 30 min / Woche moderat

Peterson MD et al (2011) Am J Med 124: 194

Nelson ME et al (2007) Circulation 116:1094

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Auto Blume Kerze

Zeichnen Sie

vor Ihrem geistigen Auge

das analoge Zifferblatt einer Uhr

und

tragen sie die Uhrzeit

„10 nach 11“ ein…

Shulman KI et al (1986) Int J Geriatr Psychiatry 1:135

1906: „eine eigenartige Erkrankung der Hirnrinde“

* 14. Juni 1864

† 19. Dezember 1915

Maurer K et al (1997) Lancet 349: 1546 (Bildnachweis)

Alois Alzheimer

Auguste Deter (52jährig)

* 16. Mai 1850

† 08. April 1906

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Nicht jede Demenz ist „Alzheimer“!

► „Reine“ vaskuläre Demenz [VaD] [5%]

► Mix aus AD und VaD [20- 55%]

► Sonstige Demenzformen:

►► Lewy-Körperchen-Demenzen [LBD] / Parkinson-assoziierte Demenzen [PDD]

►► Frontotemporale Lobärdegenerationen (FTLD) [5%]

Agüero-Torres H et al (2006) Dement Geriat Cogn Disord 22:244

► „Reine“ Alzheimer Demenz (AD) [35 – 70%]

100 %

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Was versteht der Arzt unter Demenz ?

ICD 10 (Version 2012): International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems

► 1. Störung höherer kortikaler Funktionen (kognitive Defizite):

1a) (Allen voran) Gedächtnisstörungen

“Informationsaufnahme und -speicherung” (vgl. “Auto / Blume / Kerze”)

1b) (Aber auch) Probleme im

Denkvermögen, in der Urteilsbildung und in den Exekutivfunktionen

“Informationsverarbeitung” (vgl. “Uhrentest”)

► 2. Oben genannte Störungen beeinträchtigen wesentlich die Alltagsfähigkeiten.

MCI (mild cognitive impairment)

► 3. Oben genannte Störungen halten über mindestens ein halbes Jahr an.

► 4. Nicht-kognitive Störungen wie Verminderung der Affektkontrolle,

Veränderung des Antriebs und des Sozialverhaltens können hinzutreten.

BPSDs (Behavioural and Psychological Symptoms of Dementia)

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10

20

30

40

50

60

65 70 75 80 85 90 95 100

Demenz-Vorkommen [%]

Alter

1%2% 4%

8%

16%

32%

>50%

Seshadri S u Wolf PA 2007 Lancet Neurol 6:1106 / Ziegler U u Doblhammer G (2009) Gesundheitswesen 71:281

Lebensrisiko für Demenz bei 65-Jährigen

(21,7 %)

(14,3 %)

Lebensrisiko für Demenz bei 65-Jährigen

Demenz: Begrenzung

erfolgreichen Alterns

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9%

Kindheit /

junges Erwachsenenalter

* †Midlife Alter

14%

20 %

niedrige Bildung / geringe kognitive Stimulation

Nikotinkonsum

Bewegungsmangel

Depression

Hochdruck / Übergewicht / T2DM

13%

11%

Demenz - vermeidbar ?

Population Attributable Risk:

Anteil, der bei postulierter Kausalität auf einen bestimmten Risikofaktor zurückzuführen ist

Barnes DE u Yaffe K (2011) Lancet Neurol 10:819

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Phase III

Phase II

Phase I

Präklinisch

Minocyclin

Nicotinamide

MTC/LMT

AL-108

NP12

LithiumValproate

AL-208

Statins

Dimebon

Phenserin

Huperzine-A

NGF

TTP-488

SB742457

PRX03140

AF102B

Talsaclidin

M30

Memoquin

BDNF

AF267B

Ladostigil

ACI-24

V950

AFFITOPE AD01

AFFITOPE AD02

GSK933776

R1450

MABT5102A

AN-1792

CAD-106

ACC-001

PF04360365

Solane-

zumab

Bapineu-

zumab

IVIg

Tramiprosat

EGCg

PBT1

PBT2

ELND005

Exebryl-1

SEN1269

RS-0406

SP-233

BBS1

BACE1-mAb

Rosiglitazon

Semagacestat

Tarenflurbil

CTS21166

Begacestat

PF3084014

MK0752

E2012

CHF 5074Pioglitazone

BMS-708163

NIC5-15

EHT-0202

Bryostatin-1

AntioxidantsPUFAs

Anti-Tau Ab

N744

Rhodanine

Phenylthiazolylhydrazid

NGXsc

GSM-1

EVP6124

AZD3480

ABT089

PF04447943

UB311

Vareniclin

AZD1446

MEM3454bivalente

β-Carboline

Tacrin-

Hybride

TAK-070

L-NBP

proteolytic

nanobodies

Acitretin

Thalidomid

BAN2401

A-887755

IMX

Benfotiamin

Lu AE58054

Anti-Aβ Ab

Peptidic

anti-

aggregants

Mangialasche F et al (2010) Lancet Neurol 9:702

Cholinergika

Anderer Wirkansatz

↑ Aβ Clearance

↓ Aβ Aggregation

↓ Aβ Bildung

↓ Tau-Aggregation /

Phosphorylierung

Demenztherapie 2017: Noch immer nicht viel in Sicht…

Galantamin

Rivastigmin

Donepezil

Memantin

Phase IV

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Notfallzentrum ► Unfallchirurgie ► Geriatrie

Patient B. - 79 J.

Internistische Vorerkrankungen:

► Nächtlicher Sturz mit Schenkelhalsfraktur rechts,

► Notfallmäßige Versorgung mit künstlichem Hüftgelenk

► Zuckerkrankheit (… wie 25% aller Über-70-Jährigen)

► Herzinsuffizienz bei:

► Bluthochdruck (… wie 70% aller Über-70-Jährigen)

► Vorhofflimmern (… wie 5-10% aller Über-70-Jährigen)

► Aortenklappenstenose (AKS)

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Patient B. - 79 J.

Geriatrische Warnzeichen

► Polymedikation (> 5) : ja

► Chronische Schmerzen : ja

► Inkontinenz (Harn- / Stuhl-) : nein

► Mangelernährung : ja, Gewicht in letzten 3 Monaten >5 kg

► Kürzliche Sturzereignisse : ja, im letzten Jahr; mindestens 3mal

► Kürzlich im Krankenhaus : ja, vor 8 Wochen Notaufnahme Angina pectoris

► „3D“ (Demenz, Depression, Delir) : Freudlosigkeit (Anhedonie)

► Seit 6 Monaten verwitwet

► Lebt seit jeher eher zurückgezogen … auch vor dem Tod der Ehefrau

► Lebt in eigener Wohnung …. mehr schlecht als recht - laut Tochter

► Geht kaum mehr außer Haus …. wöchentlicher Einkauf durch Tochter

Relevante sozialmedizinische Zusatzinformationen► Partnerschaft ► Peer-Group ►Wohnsituation ► Mobilität

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Stressoren

Kompensationsmechanismen

Seelisch-sozialer ProblemkreisImmobilität Sturzneigung

Patient B. - 79 J.

Herzz-

klappeOsteo-

porose

Depres-

sionHerz-

insuf-

fizienz

Fraktur

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… hier beginnt

Geriatrie

… „herkömmliche“

Krankenhausmedizin

Körperliches

Wohlergehen

Seelisch /

geistiges

Wohlergehen

Soziales /

materielles

Wohlergehen

Störungen im

► Denken (Kognition)

► Fühlen (Affektbildung)

►Wollen (Konation)

Organpathologien

Störung sozialer

Determianten der

► Lebensweise /

► -bedingungen

"Der Hasen und der Löffel drei, und doch hat jeder Hase zwei.“

(Künstler unbekannt) Hasen-Fenster, frühes 16. Jhdt., Dom zu Paderborn

Geriatrie

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13 Medikamente

18 Einnahmen!R

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Patient B. - 79 J.

„Die schwierige Entscheidung ist häufig nicht,

welche Therapie gewählt wird,

sondern:

worauf verzichtet werden kann.“

Prof. Ertl - DGIM Präsident 2007/2008

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Hans Baldung Grien:

Die sieben Lebensalter der Frau, 1544

Museum der bildenden Künste, Leipzig