AMNOG-Report 2020 - DAK

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Beiträge zur Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung (Band 32) Andreas Storm (Herausgeber) AMNOG-Report 2020

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Beiträge zur Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung (Band 32)

Andreas Storm (Herausgeber)

AMNOG-Report 2020

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Beiträge zur Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung (Band 32)

AMNOG-Report 202010 Jahre AMNOG – Rückblick und Ausblick

Herausgeber:Andreas Storm, Vorsitzender des Vorstandes der DAK-Gesundheit Nagelsweg 27–31, D-20097 Hamburg

Autoren:Prof. Dr. Wolfgang Greiner, Julian Witte, Daniel Gensorowsky und Sophie Pauge

Mit Beiträgen von:

Carolin Brinkmann Dr. Thomas Kaiser Tina Ploner

Claus Burgardt Maximilian Kuhn John Rother

Dr. Daniel Erdmann PD Dr. Stefan Lange Dr. Anja Schwalm

Dr. Andreas Gassen Prof. Dr. Karl Lauterbach Dr. Anja Tebinka-Olbrich

Dr. Holger Gothe Dr. Jörg Lauterberg Christoph Ohlmeier

Dr. Antje Haas Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig Dr. Sabine Vogler

Prof. Josef Hecken Prof. Dr. Diana Lüftner Valeria Weber

Susanne Henck Andreas Nickel Prof. Dr. Jürgen Windeler

Dr. Ariane Höer

Unter Mitarbeit von:Dr. Cordula Riederer (DAK-Gesundheit)

Bielefeld & HamburgSeptember 2020

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Bibliografische Informationen der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio-grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 medhochzwei Verlag GmbH, Heidelberg www.medhochzwei-verlag.de

ISBN 978-3-86216-722-7

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro-verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Druck: mediaprint solutions GmbH, PaderbornTitelbilder: Regal: iStock/#878852718/MJ_Prototype; Paragraph: iStock/#1013425248/Andrey-PopovTitelbildgestaltung: Natalia DegenhardtPrinted in Germany

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V

Vorwort

Vor zehn Jahren, am 22. Dezember 2010, hat der Deutsche Bun-destag das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung – kurz AMNOG – beschlossen – Zeit Bilanz zu ziehen. Das AMNOG war eines der letzten großen „Spargesetze“ innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung. Durch eine systematische Bewertung des Zusatznutzens gegen-über dem Therapiestandard sollte unmittelbar nach Markteintritt neuer Arzneimittel die Grundlage für Preisverhandlungen zwischen dem Hersteller und dem GKV-Spitzenverband geschaffen werden. Das Ziel: Der Preis für die GKV sollte zukünftig dem tatsächlichen Mehrwert folgen. Trotz oder gerade wegen stets offen geführter Dis-kussionen und einiger gesetzlicher Korrekturen ist das AMNOG heute eine Erfolgsgeschichte. Bis Ende 2019 wurden 265 Arzneimit-tel in 439 Verfahren einer frühen Nutzenbewertung unterzogen; in 57 Prozent aller Verfahren konnte dabei ein Zusatznutzen belegt wer-den.

Dabei läuft diese Bewertung nicht immer widerspruchsfrei ab. Mit verschiedenen Konfliktsituationen, zum Beispiel der Differenzierung von Subgruppen oder der Akzeptanz von Lebensqualitätsdaten, hat sich der AMNOG-Report in den vergangenen Jahren intensiv ausei-nandergesetzt. Auch die Erstattungsbetragsverhandlungen sind überwiegend erfolgreich: Für den überwiegenden Teil aller neuen Arzneimitteln konnte bis heute ein Preis verhandelt oder festgesetzt werden, der auf den vorliegenden Nutzeninformationen basiert. Zu häufigen Marktaustritten oder ausbleibenden Markteinführungen ist es, anders als bei Einführung des AMNOG befürchtet, nicht gekom-men. Allerdings ist inzwischen zu beobachten, dass die Steuerungs-möglichkeit über die Preisverhandlungen begrenzt ist. Bei Arznei-mitteln mit belegtem Zusatznutzen haben sich die Rabatte auf den Einstiegspreis des Herstellers auf durchschnittlich knapp unter 20 Prozent eingependelt. Wahrscheinlich ist, dass die tatsächlichen Verordnungsmengen und Versorgungseffekte nachträglich mit im Preis abgebildet werden sollen. Denn für 31 Prozent aller Arzneimit-tel mit Erstattungsbetrag wurden bislang weitere Preissenkungen beobachtet, die nicht unmittelbar mit einem Bewertungsverfahren zusammenhingen.

Das AMNOG hat sich in den letzten zehn Jahren als lernendes Sys-tem bewährt – das zeigt auch unser diesjähriger Report. Eine große Herausforderung für unser Solidarsystem ist dabei allerdings die Fi-nanzierung fortlaufend neuer, früh eingesetzter und extrem hoch-preisiger Therapieoptionen, deren Gabe häufig mit hohen Einmal-kosten, aber unsicheren Langzeiteffekten einhergeht. Es wird zu-künftig also noch mehr darum gehen, geeignete Modelle für faire Arzneimittelpreise zu finden. Dazu braucht es aussagekräftige Da-ten. Wie und mit welchen Daten Preise am tatsächlichen innerhalb der Versorgung gemessenen Nutzen orientiert werden können, ist

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VI Vorwort

ein zentrales Thema der kommenden Jahre. Zur Beantwortung die-ser und anderer Zukunftsfragen zum AMNOG haben wir 100 direkt am Verfahren beteiligten Parteien, darunter Vertreter der gemeinsa-men Selbstverwaltung, des Gesundheitsausschusses des Deut-schen Bundestages, der Krankenkassen, der Kassenärztlichen Ver-einigungen sowie der Industrie, befragt.

Der erste Abschnitt des Buches gibt zunächst ein kurzes politisches Update. Wir werfen dabei erneut einen Blick nach Brüssel und dis-kutieren Herausforderungen einer zukünftig europäisch harmoni-sierten Nutzenbewertung. Auf nationaler Ebene ist insbesondere die Frage von Bedeutung, inwiefern der geplante Aufbau eines GKV-Datenpools zukünftig auch für die Bewertung und Preisfindung neu-er Arzneimittel genutzt werden kann (Kapitel 1). Zusätzlich haben wir enge Wegbegleiter des AMNOG aus der Politik, der Selbstver-waltung sowie weiteren am Verfahren beteiligten Parteien eingela-den, einen Rück- und Ausblick auf die vergangenen und kommen-den zehn Jahre AMNOG zu wagen (Kapitel 3). Die genannten Zu-kunftsthemen sind dabei häufig übereinstimmend und behandeln im Wesentlichen Fragen nach einer fairen Preisgestaltung. Einen Blick von außen auf das AMNOG werfen zudem Dr. Sabine Vogler (Öster-reich) und John Rother (USA). In ihren Gastbeiträgen stellen sie heraus, was andere Länder vom AMNOG lernen können und wo sie Schwachstellen sehen (Kapitel 4).

Wie in den vorherigen Reporten geben wir mit einer systematischen Analyse der bis Ende 2019 abgeschlossenen Nutzenbewertungs-verfahren sowie einer Aufstellung der abgeschlossenen Erstattungs-betragsverhandlungen, Schiedsverfahren und Marktrücknahmen einen umfassenden Überblick über alle wesentlichen Fakten zur Nutzenbewertung (Kapitel 5). Im letzten Abschnitt des Reportes nut-zen wir die Gelegenheit des Jubiläums, verschiedenen AMNOG-Mythen nachzugehen. Dabei beleuchten wir unter anderem, welche Themen zu Beginn der Nutzenbewertung kontrovers diskutiert wur-den, im Nachhinein jedoch keine große Rolle in der Nutzenbewer-tung spielten. Oder auch andersherum: welche aktuelle Diskussi-onsthemen zu Anfangszeiten des AMNOG noch nicht auf der Tages-ordnung standen.

Wir hoffen, wie in den Vorjahren, auf breites Interesse an den vorlie-genden Ergebnissen und freuen uns auf weitere spannende Diskus-sionen.

Prof. Dr. Wolfgang Greiner und Andreas Storm

Bielefeld und Hamburg, den 10. September 2020

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VII

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX

Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI

Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV

Executive Summary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVII

1. Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Rückblick: der Entwicklungsprozess des AMNOG . . . . . 11.2 Gegenwart: Aktuelle Gesetzgebungsverfahren mit

Bezug zur Nutzenbewertung und Preisbildung neuer Arzneimittel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

1.3 Ausblick: die nächsten Reformprojekte im AMNOG . . . 341.4 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

2. Note „gut“ für das AMNOG – Ergebnisse einer Stakeholderbefragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512.1 Qualitative und quantitative Aspekte des AMNOG-

Reportings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512.2 Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522.3 Rückblick: Ziele und Charakteristika des AMNOG . . . . 522.4 Gegenwart: Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren . . . . . . 552.5 Ausblick: Reformbedarf und kommende Streitthemen . . 58

3. Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613.1 Meinungsbeiträge im AMNOG-Report 2015 bis 2020 . . 613.2 Rückblick und Ausblick aus Sicht der Politik . . . . . . . 67 Ein Gastbeitrag von: Prof. Dr. Karl Lauterbach MdB,

SPD-Bundestagsfraktion3.3 Rückblick und Ausblick aus Sicht des GBA . . . . . . . 74 Ein Gastbeitrag von: Prof. Josef Hecken, Unparteii-

scher Vorsitzender des GBA3.4 Rückblick und Ausblick aus Sicht des GKV-Spitzen-

verbandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Ein Gastbeitrag von: Dr. Antje Haas, Dr. Anja Tebin-

ka-Olbrich, Dr. Daniel Erdmann, Susanne Henck, Maximilian Kuhn, Andreas Nickel, Abteilung Arznei- und Heilmittel im GKV-Spitzenverband

3.5 Rückblick und Ausblick aus Sicht des IQWiG . . . . . .105 Ein Gastbeitrag von: Prof. Dr. Jürgen Windeler,

Dr. Jörg Lauterberg, Dr. Thomas Kaiser, Dr. Anja Schwalm, PD Dr. Stefan Lange, Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)

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VIII Inhaltsverzeichnis

3.6 Rückblick und Ausblick aus Sicht der KBV. . . . . . . .124 Ein Gastbeitrag von: Dr. Andreas Gassen, Vorsitzen-

der des Vorstandes der Kassenärztlichen Bundesver-einigung (KBV)

3.7 Rückblick und Ausblick aus Sicht der Arzneimittel-kommission der deutschen Ärzteschaft . . . . . . . . .134

Ein Gastbeitrag von: Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig, Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft

3.8 Rückblick und Ausblick aus Sicht der Versorgungs-forschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .156

Ein Gastbeitrag von: Dr. Holger Gothe, Valeria We-ber, Carolin Brinkmann, Tina Ploner, Christoph Ohl-meier, Dr. Ariane Höer, Prof. Dr. Diana Lüftner

3.9 Rückblick und Ausblick aus juristischer Sicht . . . . . .169 Ein Gastbeitrag von: Claus Burgardt, Sträter Rechts-

anwälte

4. Zehn Jahre AMNOG: Der Blick von außen . . . . . . . . .1874.1 The Pharmaceutical Pricing Debate in the U. S.:

Comparing the Current U. S. situation to Germany . . .1874.2 Gratulation mit Wunschliste – Europäischer Blick aus

dem Nachbarland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .196 Ein Gastbeitrag von: Dr. Sabine Vogler, WHO-Koope-

rationszentrum für Arzneimittelpreisbildung und –Er-stattung, Abteilung Pharmaökonomie, Gesundheit Österreich GmbH (GÖG), Wien

5. Zahlen, Daten, Fakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .2135.1 Anzahl und Art abgeschlossener Nutzenbewertungen .2135.2 Ergebnisse der Bewertung des Zusatznutzens . . . . .2175.3 Erstattungsbeträge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .2255.4 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .232

6. AMNOG Fakten-Check . . . . . . . . . . . . . . . . . . .2336.1 Das AMNOG ist in bestimmten Konstellationen nicht

fair . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .2336.2 Die Evidenz für Orphan Drugs ist in der Regel

schlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .2366.3 Die Preise neuer Arzneimittel steigen kontinuier-

lich an . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .2386.4 Das AMNOG generiert keine Einsparungen . . . . . . .2416.5 Die Verschreibungspraxis folgt nicht den Nutzenbe-

wertungsergebnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . .2436.6 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .246

Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .249

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IX

Abkürzungsverzeichnis

AIS ArztinformationssystemAKdÄ Arzneimittelkommission der deutschen Ärzte-

schaftAMNOG ArzneimittelmarktneuordnungsgesetzAM-NutzenV Verordnung über die Nutzenbewertung von Arz-

neimitteln nach § 35a Absatz 1 SGB V für Er-stattungsvereinbarungen nach § 130b SGB V

AM-RL Arzneimittel-RichtlinieAMVSG ArzneimittelversorgungsstärkungsgesetzApU Netto-HerstellerabgabepreisAV außer VertriebAVR Arzneiverordnungs-ReportAWG AnwendungsgebietBfArM Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinpro-

dukteBMG Bundesministerium für GesundheitBMSGPK Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Ge-

sundheit und Konsumentenschutz (Österreich)BPI Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie

e.V.BSC Best Supportive CareBSG BundessozialgerichtDDD Defined daily dose; definierte TagesdosenDGHO Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und On-

kologie e.V.DiGA Digitale GesundheitsanwendungDIMDI Deutsches Institut für Medizinische Dokumenta-

tion und InformationDPtV Deutsche Psychotherapeuten VereinigungDVG Digitale-Versorgung-GesetzEAMIV Elektronische Arzneimittelinformations-Verord-

nungEBM Evidenzbasierte MedizinEGKuaÄndG Gesetz für sichere digitale Komunikation und

Anwendungen im Gesundheitswesen sowie zur Änderung weiterer Gesetze

EMA European Medicines AgencyePA Elektronische PatientenakteEPAR European public assessment reportG-BA Gemeinsamer BundesausschussGKV Gesetzliche Krankenversicherung

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X Abkürzungsverzeichnis

GKV-FKG Fairer-Kassenwettbewerb-GesetzGKV-SV Spitzenverband der KrankenkassenGKV-VSG GKV-VersorgungsstärkungsgesetzGKV-VStg GKV-VersorgungsstrukturgesetzGKV-WSG GKV-WettbewerbsstärkungsgesetzGSAV Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittel-

versorgungHTA Health Technology AssessmentIQWiG Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Ge-

sundheitswesenJTK JahrestherapiekostenKBV Kassenärztliche BundesvereinigungKV Kassenärztliche VereinigungLSG LandessozialgerichtPDSG Patientendaten-Schutz-GesetzPKV Private KrankenversicherungPVS PraxisinformationssystemePZN PharmazentralnummerQALY quality adjusted life yearRahmenV Rahmenvereinbarung nach § 130b Abs. 9 SGB

VRCT Randomized controlled trial; randomisierte kont-

rollierte StudieSGB V Fünftes Buch SozialgesetzbuchTSVG Terminservice und VersorgungsgesetzVerfO Verfahrensordnungvfa Verband forschender ArzneimittelherstellerZi Zentralinstitut für die kassenärztliche Versor-

gung in DeutschlandzVT zweckmäßige Vergleichstherapie2. AMGuaÄndG Zweites Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher

und anderer Vorschriften

3. AMGuaÄndG Drittes Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften

14. SGB VÄnd-G 14. SGB V Änderungsgesetz

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XI

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Anteil der nutzenbewerteten Wirkstoffe mit besonderer Zulassung nach Jahr der Erstbe-wertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

Abbildung 2: Hürden im Marktzugangsprozess neuer Arz-neimittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

Abbildung 3: Welche Schulnote geben Sie dem AMNOG? (n = 39) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

Abbildung 4: Charakterisierung des AMNOG (n = 39). . . . . 55

Abbildung 5: Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren des AM-NOG (n = 38 bzw. n = 37, Mehrfachnennung möglich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

Abbildung 6: Die rückblickend größten Streitthemen des AMNOG (n = 39, Mehrfachnennung möglich) . . 58

Abbildung 7: Entwicklung der Arzneimittel-Ausgaben der GKV (Insgesamt, in Mrd. €) im Vergleich zur Inflationsrate, . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

Abbildung 8: Erfolgsabhängiges Ratenmodell . . . . . . . . 95

Abbildung 9: Rückerstattungsmodell . . . . . . . . . . . . . 96

Abbildung 10: Schiedsspruch-Klage-Ratio . . . . . . . . . . . 98

Abbildung 11: Schiedssprüche unter Zipperer . . . . . . . . . 99

Abbildung 12: Schiedssprüche unter Wasem . . . . . . . . .100

Abbildung 13: Gesamtergebnisse [N = 366; 2011 – 01.04.2020] zum Zusatznutzen über alle Indikationsgebiete nach Addendum. . . . . . .105

Abbildung 14: Zusatznutzen aller bewerteten Onkologika [n = 152; 2011–01.04.2020] . . . . . . . . . . .106

Abbildung 15: Zusatznutzen im Jahresverlauf [2011–2019] . .107

Abbildung 16: Informationsgehalt AMNOG-Dossier im Ver-gleich zu anderen Quellen . . . . . . . . . . .111

Abbildung 17: Gesamtbewertung (Angaben in %) der in den Herstellerdossiers genannten Patienten-zahlen für die interessierenden GKV-Zielpo-pulationen [N = 744; 2011–2019] . . . . . . . .115

Abbildung 18: Bewertungen des GBA . . . . . . . . . . . . .124

Abbildung 19: Therapiegebiete, in denen die bislang be-werteten Wirkstoffe eingesetzt werden . . . . .125

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XII Abbildungsverzeichnis

Abbildung 20: Anteil der Praxen mit mindestens 5 AMNOG-Verordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .125

Abbildung 22: AMNOG – Nutzenbewertung nach § 35 a SGB V (Ausmaß des Zusatznutzens) . . . . . .142

Abbildung 23: AkdÄ-Bewertung: Ausmaß des Zusatznutzens .142

Abbildung 24: AMNOG – Nutzenbewertung nach § 35 a SGB V (Ausmaß des Zusatznutzens – onko-logische Erkrankungen) . . . . . . . . . . . . .143

Abbildung 25: AkdÄ-Bewertung: Ausmaß des Zusatznut-zens – onkologische Erkrankungen . . . . . . .144

Abbildung 26: Zulassungsstatus der identifizierten Wirk-stoffkombi-nationen im Jahre 2018 (n = 222). . .161

Abbildung 27: Patentschutz bei Wirkstoffkombinationen im Jahre 2018 (n = 222). . . . . . . . . . . . . . .162

Abbildung 28: Mittlere Kosten der OKT pro behandelten Patient im Zeitverlauf (2012–2018). . . . . . . .166

Abbildung 29: Express Scripts prescription price index, 2014–2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .188

Abbildung 30: Costly new drugs were a major driver of a recent spike in health spending . . . . . . . . .189

Abbildung 31: Half of Adults say it is extremly important for congress to work on prescription drug costs, pre-existing consitions protections . . . . . . .190

Abbildung 32: Overlap in Federal Legislative Proposals . . . .192

Abbildung 33: Erstattungsfähige Arzneimittel in Österreich (Boxensystem) . . . . . . . . . . . . . . . . .199

Abbildung 34: External Pricing Referencing (internationaler Preisvergleich) als Methodik für die Preis-festsetzung von Arzneimitteln 2020 . . . . . . .204

Abbildung 35: Entwicklung der Erstbewertungen und Re-Evaluationen, 2011 bis 2019 . . . . . . . . . .216

Abbildung 36: Anzahl der Nutzenbewertungen je Anwen-dungsgebiet.. . . . . . . . . . . . . . . . . . .217

Abbildung 37: Ausmaß des Zusatznutzens auf Verfahren-sebene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .219

Abbildung 38: Ausmaß des Zusatznutzens auf Verfahren-sebene nach Jahr der Nutzenbewertung. . . . .220

Abbildung 39: Nutzenbewertungsergebnis in Abhängigkeit der Bewertungsperspektive.. . . . . . . . . . .221

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XIIIAbbildungsverzeichnis

Abbildung 40: Nutzenbewertungsergebnisse von Orphan Drugs auf Ebene bewerteter Teilpopulationen. .222

Abbildung 41: Gründe eines nicht belegten Zusatznutzens auf Ebene bewerteter Teilpopulationen.. . . . .224

Abbildung 42: Zeitliche Entwicklung der durchschnittlichen Preisabschläge nach Erstbewertung . . . . . .228

Abbildung 43: Durchschnittliche Nutzenbewertungsrabatte in Abhängigkeit des Anwendungsgebietes nach Erstbewertung . . . . . . . . . . . . . . .230

Abbildung 44: Durchschnittliche (ungewichtete) Preisauf-schläge auf die zVT in Abhängigkeit des Anwendungsgebietes . . . . . . . . . . . . . .231

Abbildung 45: Ergebnisse der Nutzenbewertung in Abhän-gigkeit des Anwendungsgebietes . . . . . . . .234

Abbildung 46: Entwicklung der durchschnittlichen Jahres-therapiekosten zum Zeitpunkt des Markt-eintrittes bzw. der Bewertung eines neuen Anwendungsgebietes . . . . . . . . . . . . . .239

Abbildung 47: Entwicklung der durchschnittlichen Jahres-therapiekosten unter Markteintrittspreisen im Vergleich zu verhandelten Erstattungs-beträgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .240

Abbildung 48: Sicherheit der vom GBA genannten Präva-lenzschätzungen je Teilpopulation. . . . . . . .244

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XV

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Regulatorische Ereignisse seit Einführung des AMNOGs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Tabelle 2: Änderungsgesetze der maßgeblichen Para-graphen des AMNOG . . . . . . . . . . . . . . . 2

Tabelle 3: Kleine Anfragen zum AMNOG in der 17. Le-gislaturperiode . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

Tabelle 4: Kleine Anfragen zum AMNOG in der 18. Le-gislaturperiode . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Tabelle 5: Kleine Anfragen zum AMNOG in der 19. Le-gislaturperiode . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Tabelle 6: Datenverfügbarkeit in Nutzenbewertungen von Arzneimitteln mit alternativer Zulassung. . . 27

Tabelle 7: Zielsetzung des AMNOG . . . . . . . . . . . . 54

Tabelle 8: Ist das AMNOG in seiner jetzigen Form zu-kunftsfähig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

Tabelle 9: An welcher Stelle hat das AMNOG aus Ihrer Sicht den größten Veränderungsbedarf? . . . . 59

Tabelle 10: Scherpunktthemen der AMNOG-Reporte 2015 bis 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

Tabelle 12: IQWiG und GBA im Vergleich – alle Indikati-onsgebiete [2011–01.04.2020] . . . . . . . . .109

Tabelle 13: Darstellung der Evidenzlücken je Endpunkt-kategorie – Orphan Drugs mit Marktzugang 2014 bis 2018, Fragestellungen mit nicht quantifizierbarem Zusatznutzen. . . . . . . . .113

Tabelle 14: Patientenfluss im Zeitraum 2012–2018.. . . . .159

Tabelle 15: Top-10 der am häufigsten verschriebenen Wirkstoff-kombinationen in 2018, anteilig an allen OKT-Verschreibungen (n = 43.493) . . . .163

Tabelle 16: Top-20 der am häufigsten kombiniert ver-schriebenen Wirkstoffen in 2018, anteilig an allen OKT-Verschreibungen (n = 43.493) . . . .164

Tabelle 17: Preisregulierung in den Mitgliedsländern der Europäischen Union, der Europäischen Frei-handelsassoziation (exkl. Lichtenstein) und Großbritannien 2020 . . . . . . . . . . . . . .200

Tabelle 18: Anzahl und Grundlage der vom GBA abge-schlossenen Nutzenbewertungsverfahren . . .214

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XVI Tabellenverzeichnis

Tabelle 19: Zusatznutzen auf Verfahrensebene . . . . . . .218

Tabelle 20: Zusatznutzenanteil nach Bewertungspers-pektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .220

Tabelle 21: Begründungsmuster eines nicht belegten Zusatznutzens. . . . . . . . . . . . . . . . . .224

Tabelle 22: Ergebnis der Erstattungsbetragsver-handlungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .227

Tabelle 24: Nutzenbewertungsrabatte nach Erstbewer-tung in Abhängigkeit des Nutzenbewer-tungsergebnisses . . . . . . . . . . . . . . . .229

Tabelle 25: Relation Studiendesign und Evidenzlücke von Orphan Drug-Beschlüssen 2014–2018. . .237

Tabelle 26: Geschätzte Einsparungen durch § 130 b-Erstattungsbeträge . . . . . . . . . . . . . . .242

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XVII

Executive Summary

Politisches Update 2019/2020

Zahlen prägen das AMNOG, nicht nur auf wissenschaftlicher, son-dern auch auf politischer Ebene. Vier Kennzahlen verleihen dem re-gen politischen Diskurs seit Einführung des AMNOG besonders Ausdruck: Vor 10 Jahren wurde das AMNOG-Gesetz verabschiedet. Seitdem sind im parlamentarischen Diskussionsprozess 22 Klei-ne Anfragen zum AMNOG an die Bundesregierung gestellt worden, 5 Urteile des Bundessozialgerichtes gefällt und 11 Änderungsge-setze verabschiedet worden.

Viele der in den Einführungsjahren des AMNOG kontrovers disku-tierten Grundsatzthemen sind im Zuge der Weiterentwicklung des Verfahrens weitestgehend von der Agenda verschwunden, neue Themen sind mit fortlaufender Anwendungserfahrung hinzugekom-men. Aktuell bestimmen insbesondere die mit dem GSAV angesto-ßenen anwendungsbegleitenden Datenerhebungen den Diskurs. Inwieweit die 2019 bzw. 2020 durch das Digitale-Versorgungsgesetz und das Patientendaten-Schutz-Gesetz in Aussicht gestellte, besse-re Verfügbarkeit versorgungsnaher Daten über ein zentrales For-schungsdatenzentrum zukünftig auch Auswirkungen auf den AMNOG-Prozess haben wird, bleibt abzuwarten.

Versorgungsnahe Daten sind (bislang) jedoch weniger zum Nutzen-nachweis einer neuen Therapie als vielmehr für nachgelagerte Ver-fahrens- und Versorgungsprozesse geeignet. Dazu zählen insbe-sondere die Berechnung potenzieller Patientenzahlen („GKV-Ziel-population“), die Monitorierung von Versorgungsanteilen in Teilindi-kationen oder -populationen zum Beispiel für preisadjustierende Verträge. Dadurch wird deutlich, dass das mit dem AMNOG vorge-gebene Ziel einer nutzenbasierten Preisbildung neuer Arzneimittel zukünftig noch stärker auf einem hinreichenden Datenfundament stehen wird.

„Welche Schulnote geben Sie dem AMNOG?“

Im Rahmen des Reportes wurde eine (nicht-repräsentative) Online-Befragung mit 45 Expertinnen und Experten von Krankenkassen(-verbänden), Kassenärztlichen Vereinigungen, Industrie(-verbände), weiteren Institutionen der Selbstverwaltung und der Politik durchge-führt, aus denen sich wichtige Trendaussagen ableiten lassen.

Das Ergebnis: Über 70 Prozent aller Befragten vergaben dem AMNOG mindestens die Note „gut“; kein/-e Teilnehmer/-in ließ das Verfahren durchfallen. Die hohe Akzeptanz über alle Stakeholder-Gruppen hinweg spiegelt sich auch in der charakteristischen Zu-schreibung des AMNOG als wissenschaftlich (92 %), transparent (92 %) und fair wider.

10, 22, 5, 11?

Zukunft: Versor-gungsdaten

Datenbasierte Preisbildung

Note „gut“ für das AMNOG

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XVIII Executive Summary

Kritisch aufgefasst wurden Detailfragen des Gesetzes, wie zum Bei-spiel die Bildung von Mischpreisen oder die Preisfreiheit im ersten Jahr. Auch methodische Fragen, unter anderem hinsichtlich der Ak-zeptanz von Endpunkten oder der Differenzierung von Subgruppen, bieten nach wie vor Ansatzpunkte für Diskussionen.

Insgesamt steht AMNOG vor bekannten, aber auch neuen Heraus-forderungen. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Verfügbarkeit neuartiger, vielfach extrem hochpreisiger Therapieoptionen sehen die Befragten Verbesserungspotenzial bei der Ausgestaltung der Preisverhandlungen sowie der Bewertungsmethodik. Ob das AM-NOG die richtigen Methoden bereithält, um auch zukünftig einen fairen Interessensausgleich zwischen pharmazeutischen Unterneh-men und den gesetzlichen Krankenkassen zu ermöglichen, wird zum Teil in Frage gestellt.

Dass das AMNOG an sich zukunftsfähig ist, ist jedoch weitgehend unstrittig. Die Experten vertrauen offensichtlich darauf, dass sich das AMNOG wie bislang auch an sich verändernde Rahmenbedin-gungen anpasst, also ein „lernendes System“ darstellt.

Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick verschiedener Stakeholder

Seit seiner Einführung versteht sich das AMNOG als „lernendes System“. Dafür braucht es aber nicht nur kontinuierliches Monito-ring, sondern auch konstruktive Vorschläge zur Verbesserung und Weiterentwicklung des Verfahrens. Neben einer systematischen Zu-sammenstellung aktueller Verfahrensergebnisse sollte der AMNOG-Report deshalb immer auch eine Plattform für Diskussionsbeiträge über aktuelle Herausforderungen der frühen Nutzenbewertung und Preisbildung neuer Arzneimittel sein. Um nachhaltige Reformimpul-se zu setzen, ist es wichtig, dass ein solcher Diskurs fair und ausge-wogen stattfindet. Wir haben deshalb verschiedene nationale Exper-ten gebeten, einen Blick zurück, aber vor allem einen Blick auf die kommenden Herausforderungen der frühen Nutzenbewertung zu werden. Zu diesen Autoren zählen:

• SPD-Bundestagsfraktion: Prof. Dr. Karl Lauterbach

• GBA: Prof. Josef Hecken

• GKV-Spitzenverband: Dr. Antje Haas et al.

• IQWiG: Prof. Dr. Jürgen Windeler et al.

• KBV: Dr. Andreas Gassen

• AkdÄ: Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig

• IGES/Charité: Dr. Holger Gothe et al.

• Sträter Rechtsanwälte: Claus Burgardt

„Alte Probleme“

Herausforderung „Faire Preise“

„Zukunftsfähig, wenn…“

Ausblick nationaler Experten

Page 19: AMNOG-Report 2020 - DAK

XIXExecutive Summary

Zehn Jahre AMNOG: Der Blick von außen

Der Prozess der frühen Nutzenbewertung und Preisbildung neuer Arzneimittel ist inzwischen nicht nur Blaupause für die Etablierung anderer nationaler Bewertungsverfahren wie dem von Medizinpro-dukten oder digitalen Gesundheitsanwendungen, sondern wird auch im Ausland mit Interesse verfolgt. Einen Blick von außen auf das AMNOG werfen für uns in diesem Jahr:

• National Coalition for Health Care (USA): John Rother

• Gesundheit Österreich GmbH: Dr. Sabine Vogler

Zahlen, Daten, Fakten zum AMNOG 2011 bis 2019

Datenzeitraum 2011–2018 2011–2019

Nutzenbewertungsverfahren

Bewertete Wirkstoffe 224 265

Abgeschlossene Nutzenbewertungsverfah-ren

349 439

Erneute Nutzenbewertungsverfahren 35 % 39 %

Verfahren ohne Herstellerdossier 5 % 5 %

Orphan-Drug-Verfahren 20 % 24 %

Verfahren mit Teilpopulationen 48 % 50 %

Ø Anzahl gebildeter Teilpopulationen 3,1 3,1

Zusatznutzen

Wirkstoffe mit Zusatznutzen 59 % 64 %

Verfahren mit Zusatznutzen 57 % 57 %

Teilpopulationen mit Zusatznutzen 38 % 38 %

Erstattungsbeträge

Vereinbarte Erstattungsbeträge 79 % 83 %

Festgesetzte Erstattungsbeträge 10 % 6 %

Marktrücknahmen 12 % 11 %

Durchschnittliche Preisabschlag nach Erst-bewertung

21,2 % 21,4 %

Bis Ende 2019 wurden 259 neue Wirkstoffe in 439 Verfahren einer frühen Nutzenbewertung durch den GBA unterzogen. Nach einem Rückgang der Anzahl der abgeschlossenen Nutzenbewertungsver-fahren im Jahr 2017 hat die Anzahl der Beschlüsse des GBA im Jahr 2019 (n = 90) einen neuen Höchstwert erreicht.

Einblicke internationaler Beobachter

Abgeschlossene Verfahren

Page 20: AMNOG-Report 2020 - DAK

XX Executive Summary

Die Ergebnisse der Nutzenbewertung sind inzwischen im Zeitver-lauf stabil. 64 % aller bislang nutzenbewerteten Wirkstoffe konnten in wenigstens einem Teilanwendungsgebiet einen Zusatznutzen be-legen. Dies gilt analog für die abgeschlossenen Nutzenbewertungs-verfahren (57 %). Schlechter fällt die Bilanz auf Ebene der bewerte-ten Teilpopulationen aus. Lediglich in 38 % der bewerteten Patien-tengruppen stellte der GBA einen Zusatznutzen gegenüber den im Markt bereits verfügbaren relevanten Therapiealternativen fest.

In 50 % der Verfahren bewertet der GBA das Ausmaß des Zusatz-nutzens differenziert nach Untergruppen im Anwendungsgebiet. Im Durchschnitt bildet der GBA in diesen Verfahren 3,1 Teilpopulatio-nen. In 31 % dieser Teilpopulationen befinden sich laut Schätzung des GBA weniger als 1.000 Patienten in Deutschland. Dieser Anteil ist in den vergangenen Jahren konstant angestiegen und hat im Jahr 2019 mit 41 % an allen Verfahren einen Höchstwert eingenom-men. In mehr als der Hälfte aller bewerteten Anwendungs- oder Teil-anwendungsgebiete ist die Schätzung der Prävalenz zudem sehr unsicher.

Das Ergebnis „Zusatznutzen ist nicht belegt“ hat verschiedene Gründe. Umstritten sind jene Konstellationen, in denen zur Beant-wortung der Fragestellung innerhalb der Nutzenbewertung zwar Da-ten aus Studien vorliegen, diese jedoch unter verschiedenen Ge-sichtspunkten (z. B. abweichende zVT) nicht zum Zusatznutzen-nachweis geeignet und deshalb vom GBA nicht herangezogen wer-den. In 40 % der Fälle lag aus Sicht des GBAs keine geeignete Studie vor oder die Fragestellung wurde vom Hersteller im Dossier nicht bearbeitet. Ob sich diese Quote durch die Öffnung des Verfah-rens für Versorgungsdaten zukünftig verringern lässt, werden die kommenden Jahre zeigen.

AMNOG Fakten-Check

Das AMNOG wird von vielen Mythen umgeben. Folgende Fragestel-lungen bzw. Aussagen haben wir im diesjährigen Report einem Fak-ten-Check unterzogen:

AMNOG-Mythos Fakten-Check

Das AMNOG ist in bestimmten Konstellationen nicht fair.

Stimmt eher nicht

Die Evidenz für Orphan Drugs ist in der Regel schlecht.

Stimmt zum Teil

Die Preise neuer Arzneimittel steigen kontinuierlich an. Stimmt

Das AMNOG generiert keine Einsparungen. Stimmt nicht

Die Verschreibungspraxis folgt nicht den Nutzenbewer-tungsergebnissen.

Stimmt zum Teil

Zusatznutzen

Teilpopulationen

Zusatznutzen nicht belegt

Page 21: AMNOG-Report 2020 - DAK

1

1. Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020

1.1 Rückblick: der Entwicklungsprozess des AMNOG

1.1.1 Anpassungen der Verfahrensgrundzüge

Seit Einführung des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AM-NOG) haben sich verschiedene politische und interessensverbands-gestützte Diskussions- und Austauschforen rund um die Themen der frühen Arzneimittelnutzenbewertung entwickelt. Dies hat nicht nur dazu geführt, dass es umfangreiche wissenschaftliche und ver-fahrensbegleitende Literatur in Form von Stellungnahmen und Ar-beitspapieren gibt; auch der Gesetzgeber hat Impulse aus den un-terschiedlichen Diskussionsforen aufgegriffen und das AMNOG in vielen Detailfragen überarbeitet und weiterentwickelt.

Die Konzeption des AMNOG sowie die maßgeblichen Paragraphen im SGB V sind seit Inkrafttreten des AMNOG vielfach Teil des parla-mentarischen Gesetzgebungsprozesses gewesen (vgl. Tab. 2). So ist § 35 a SGB V zur frühen Nutzenbewertung insgesamt acht Mal und § 130 b SGB V zur Erstattungsbetragsbildung bislang zehn Mal durch Gesetzgebungsverfahren geändert worden (vgl. Tab. 3). Viele Verfahrensgegenstände des AMNOG sind zudem einer gerichtli-chen Prüfung bzw. Entscheidung zugeführt worden. Mittlerweile lie-gen 13 Entscheidungen des LSG Berlin-Brandenburg und fünf Ur-teile des BSG vor, die sich mit einigen grundlegenden Fragen des AMNOG-Verfahrens, insbesondere zur Preisbildung neuer Arznei-mittel, beschäftigt haben (vgl. hierzu ausführlich die Gastbeiträge in Kap. 3.3 und 3.9 des vorliegenden Reportes).

Tabelle 1: Regulatorische Ereignisse seit Einführung des AMNOG

Ebene Anzahl

Änderungsgesetze des AMNOG 11

Kleine Anfragen an die Bundesregierung 22

Urteile des Bundessozialgerichts 5

Urteile des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg 13

Quelle: Eigene Darstellung, Stand: 01.07.2020

In bislang elf Gesetzgebungsverfahren wurde das AMNOG in klei-neren und größeren Detailfragen überarbeitet (vgl. Tab. 3). Die be-deutendsten Veränderungen gehen dabei sicherlich auf drei Ge-setzgebungsverfahren zurückzuführen:

Regulatorische Ereignisse

Änderungsgesetze

Page 22: AMNOG-Report 2020 - DAK

2 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020 1

1. 14. SGB V-Änderungsgesetz (Aufhebung des Bestandsmarkt-aufrufes).

2. Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz (Einführung des AM-NOG-Arztinformationssystems).

3. Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (Ein-führung der Anwendungsbegleitenden Datenerhebung).

Tabelle 2: Änderungsgesetze der maßgeblichen Paragraphen des AM-NOG

Änderungs-gesetz Datum

§ 35 a SGB VFrühe Nutzenbe-wertung

§ 130 b SGB VErstattungs-betrags-verhandlungen

GKV-FKG 22.03.2020 X X

DVG 09.12.2019 X –

GSAV 09.09.2019 X X

TSVG 06.05.2019 X X

AMVSG 04.05.2017 X X

EGKuaÄndG 21.12.2015 – X

GKV-VSG 16.07.2015 – X

14. SGB V-Änd-G

27.03.2014 X X

3. AMGu-aÄndG

07.08.2013 X X

2. AMGu-aÄndG

19.10.2012 X X

GKV-VStG 22.12.2011 – X

GKV-FKG: Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz; DVG: Digitale-Versorgung-Gesetz; GSAV: Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung; TSVG: Terminservice- und Versorgungsgesetz; AMVSG: GKV-Arzneimit-telversorgungsstärkungsgesetz; EGKuaÄndG: Gesetz für sichere digita-le Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen sowie zur Änderung weiterer Gesetze; GKV-VSG: GKV-Versorgungsstärkungsge-setz; 14. SGB V-Änd-G: 14. SGB V-Änderungsgesetz; 3. AM-GuaÄndG: Drittes Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vor-schriften; 2. AM-GuaÄndG: Zweites Gesetz zur Änderung arzneimittel-rechtlicher und anderer Vorschriften; GKV-VStG: GKV-Versorgungsstruk-turgesetz

Quelle: Eigene Darstellung, Stand: 01.07.2020.

Page 23: AMNOG-Report 2020 - DAK

31 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020

1.1.2 Kleine Anfragen an die Bundesregierung

Das AMNOG ist inzwischen seit drei Legislaturperioden des Deut-schen Bundestages gültig. Sowohl in der 17. Legislaturperiode, in welcher der Gesetzgebungsprozess stattfand, als auch in den bei-den darauffolgenden Legislaturperioden war das AMNOG und seine Ausgestaltung Bestandteil zahlreicher, intensiver Debatten. So wur-de die Bundesregierung bis heute mittels 22 Kleiner Anfragen auf-gefordert, Fragen zum AMNOG schriftlich zu beantworten.

Als Kleine Anfrage auf Bundesebene bezeichnet man die Möglich-keit, eine begrenzte Anzahl an Fragen von einer bestimmten Anzahl an Parlamentariern (5 % der Abgeordneten des Bundestages oder eine Fraktion) an die Bundesregierung zu stellen und diese schrift-lich binnen vierzehn Tagen beantworten zu lassen.1 Sie stellt somit ein wichtiges Instrument der parlamentarischen Kontrolle dar, wel-ches in der tagespolitischen Praxis häufig eingesetzt wird. Eine Aus-wertung dieser Kleinen Anfragen kann damit zumindest einen Teil der (deutlichen umfassenderen) parlamentarischen Diskussionen nachzeichnen. Interessant sind dabei drei Aspekte: Wie entwickelt sich die Anzahl kleiner Anfragen? Wie entwickeln sich die darin be-handelten thematischen Schwerpunkte? Wie relevant waren die dis-kutierten Themen im Rückblick für Weiterentwicklung des AMNOG-Prozesses? Während die ersten beiden Fragen objektivierbar sind, stellt die Bewertung der Verfahrensrelevanz kleiner Anfragen eine subjektive Einschätzung der Autoren dar.

Die parlamentarischen Anfragen in der Legislaturperiode der AM-NOG-Einführung bezogen sich primär auf praktische Implikationen und Umsetzungsfragen des Gesetzes selbst (vgl. Tab. 4). Beson-ders relevant erscheinen dabei die Anfragen aus den Monaten Ok-tober (Fraktion DIE LINKE) und Dezember (Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 2012.

1 § 104 Abs. 1 Geschäftsordnung des Bundestages.

Parlamentarische Diskussionen

Erste AMNOG-Phase

Page 24: AMNOG-Report 2020 - DAK

4 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020 1

Tabelle 3: Kleine Anfragen zum AMNOG in der 17. Legislaturperiode

DatumDruck-sache Gegenstand der Anfrage Relevanz*

14.09.2010 17/2929 Schätzungen zu den Aufwendun-gen durch zusätzliche Aufgaben der GKV durch das AMNOG.

Niedrig

21.10.2010 17/3350 Abschätzung des Risikos der Einflussnahme pharmazeuti-scher Unternehmer auf integrier-te Versorgungsverträge.

Niedrig

08.08.2012 17/10440 Registrierung und Veröffentli-chung von Anwendungsbeob-achtungsstudien

Niedrig

22.08.2012 17/10531 Auswirkungen des AMNOG auf die Apotheken

Niedrig

02.10.2012 17/10912 Regulierungsmöglichkeit des AMNOG bei Marktrücknahme und Neuzulassung für ein ande-res Anwendungsgebiet („Fall MabCampath®“)

Mittel

14.12.2012 17/11917 Abwicklungsprobleme des Er-stattungsbetrages

Hoch

* Relevanz für die Weiterentwicklung des AMNOG-Verfahrens.

Quelle: Eigene Darstellung.

Die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE ging auf eine Marktrück-nahme und gleichzeitige Neueinführung des Arzneimittels Mab-Campath® zu einem bedeutend höheren Preis zurück.2 Das AM-NOG-Verfahren sieht grundsätzlich eine strikte Regulierung aller neuzugelassenen Wirkstoffe vor. Auch eine Zulassungserweiterung bereits nutzenbewerteter Präparate stößt einen erneuten Nutzenbe-wertungsprozess an. Ausgenommen von dieser Regelung sind je-doch Bestandsmarktpräparate, die für ein neues Anwendungsge-biet „neu“ in die Erstattungssystematik kommen. Bei diesen Wirk-stoffen genießt der pharmazeutische Unternehmer nach wie vor die Möglichkeit zur freien Preisfestsetzung. Beispielhaft für diese Aus-nahmeregelung ist die Marktrücknahme und erneute Vermarktung des Wirkstoffes Alemtuzumab unter anderem Label. Alemtuzumab war seit 2001 zur Behandlung von Patienten mit chronischer lym-phatischer Leukämie vom B-Zell-Typ (B-CLL) zugelassen, für die eine Fludarabin-Kombinationschemotherapie unangemessen ist. Die jährliche Inzidenz von CLL liegt weltweit bei etwa 3 bis 4 Fällen pro 100.000 Einwohner, sodass in Deutschland ca. 3.200 inzidente

2 BT-Drs. 17/10912.

Umgehung der Nutzenbewertung

beklagt

Page 25: AMNOG-Report 2020 - DAK

51 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020

Fälle pro Jahr erwartet werden können.3 Alemtuzumab wurde als Erstlinientherapie bei Patienten mit seltenen, besonders aggressi-ven Formen der CLL eingesetzt und ist in dieser kleinen Gruppe von Patienten besonders gut wirksam. Bei weiteren Subgruppen der CLL kommt Alemtuzumab in der Regel erst als Zweitlinientherapie zur Anwendung.4 Die Zulassung unter dem Handelsnamen Mab-Campath® lag zum damaligen Zeitpunkt über zehn Jahre zurück, Unterlagenschutz bestand nicht mehr. Innerhalb der onkologischen Anwendung wurden Effekte abseits des eigentlichen („off“) Labels festgestellt – und zwar in der Behandlung von Multiplen Sklerose. Rechtskonform meldete der Hersteller im Mai 2012, dass MabCam-path® zur Behandlung der CLL in Deutschland ab August nicht mehr zur Verfügung stehen werde. Als Begründung gab der Herstel-ler an, sich zukünftig auf die Entwicklung von Alemtuzumab zur The-rapie der Multiplen Sklerose zu fokussieren. Die niedrigere Dosie-rung bei Multipler Sklerose sollte dabei ggf. zu einem höheren Abga-bepreis führen.

Rechtlich war diese Marktrücknahme und Neuzulassung nicht zu beanstanden, wie das Bundesministerium für Gesundheit als Reak-tion auf die Anfrage mitteilte.5 Eine gesetzliche Neuausrichtung ist damals nicht erfolgt. Der GBA hat jedoch im Rahmen des Stellung-nahmeverfahrens zum 14. SGB V-ÄndG 2014 auf eine Schließung dieser Verfahrenslücke gedrängt.6 Demnach sollte entweder im SGB V oder in der AM-NutzenV geregelt werden, dass auch Be-standsmarktprodukte, die eine neue oder erweiterte Zulassung für ein neues Anwendungsgebiet und insoweit neuen Unterlagenschutz (und ggf. einen neuen Abgabepreis) erhalten, mit Blick auf die we-sentliche Veränderung des Anwendungsgebietes von der obligatori-schen Nutzenbewertung nach § 35 a SGB V erfasst werden. Diese Fertigarzneimittel seien in der Regel hochpreisig und bedürfen aus Sicht des GBA systematisch einer zusatznutzenorientierten Erstat-tungsbetragsverhandlung. Mit dem Arzneimittelversorgungsstär-kungsgesetz (AMVSG) hat der Gesetzgeber die 2014 aufgehobene Bestandsmarktbewertung 2017 in Teilen wieder in § 35 a Abs. 6 SGB V eingeführt, indem er dem GBA ermöglicht, zukünftig eine Nutzenbewertung für solche Arzneimittel zu veranlassen, die bereits vor 2011 erstmalig in Deutschland in Verkehr gebracht und für die ein neues Anwendungsgebiet zugelassen wurden. Offen bleibt, in-wieweit eine Nutzenbewertung von Bestandsmarktpräparten zum heutigen Zeitpunkt relevant ist, da davon auszugehen ist, dass be-reits die meisten Produkte ohnehin ihren Patentschutz verloren ha-ben und primär mit Biosimilars bzw. Generika substituierbar sind. Darauf verwies die Bundesregierung bereits 2014 in ihrer Antwort

3 Wobei gerade einmal 70 Patienten in Deutschland mit MabCampath® behandelt wurden. Laschet (2012).

4 Wendtner et al. (2012).5 BT-Drs. 18/260, S. 2.6 GBA (2014).

Rechtliche Anpassungen

Page 26: AMNOG-Report 2020 - DAK

6 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020 1

auf die Kleine Anfrage der Grünen (18/2264) aus der 18. Legislatur-periode.

Eine weitere Herausforderung zu Beginn des AMNOG stellte die Ab-wicklung des Erstattungsbeitrages dar, welche die Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN in einer Kleinen Anfrage kritisch ansprachen. Zwar waren die pharmazeutischen Unternehmen mit Einführung des AMNOG nach § 131 Abs. 4 SGB V verpflichtet, die für die Ab-rechnung von Fertigarzneimitteln erforderlichen Preis- und Produkt-angaben an die relevanten Datenbanken zu übermitteln. Doch die technischen Voraussetzungen wurden aufgrund unterschiedlicher Ansichten zur Berechnung der Handelszuschläge für die Ermittlung des Apothekenabgabepreises nicht direkt festgesetzt. Im Gesetzes-text wurde zunächst angegeben, dass der Erstattungsbetrag ein Ra-batt auf den Abgabepreis des pharmazeutischen Unternehmens sei, woraus sich ursprünglich eine Berechnung des Apothekenver-kaufspreises auf Basis des Herstellerabgabepreises und nicht des Erstattungsbetrags ergab. Dies führte dazu, dass zunächst die zur Markteinführung festgesetzten Herstellerpreise zugrunde gelegt wurden, sodass Apothekeneinkaufspreise und Apothekenverkaufs-preise höhere Mehrwertsteuerbelastungen aber auch größere Ver-dienstspannen aufwiesen, als nach dem tatsächlich gezahlten Her-stellerabgabepreis (= Erstattungsbetrag) korrekt gewesen wäre. Wie aus der Antwort zu der Kleinen Anfrage hervorgeht, forderte das Bundesministerium für Gesundheit daher in einem Brief im Novem-ber 2012 im Sinne des im AMNOG formulierten Ziels der Kostenein-sparung dazu auf, die Margen von Apotheken und Großhändlern auf den Erstattungsbetrag und nicht auf den Herstellerpreis zu bezie-hen7. Seit dem 1. Februar 2013 wurde eine einheitliche Rechtsauf-fassung zum Erstattungsbetrag zugrunde gelegt und die Herausfor-derung dieses Abwicklungsproblems überwunden. In einem Kom-promiss einigten sich die beteiligten Akteure darauf, dass die Erstat-tungsbeträge auch bei der Berechnung der Mehrwertsteuer berücksichtigt werden. Somit konnten größere Einsparungen für die Krankenkassen ermöglicht werden. Diese Rechtsauffassung wurde 2014 mittels des 14. SGB V-Änderungsgesetzes festgesetzt, wo-nach der Erstattungsbetrag nach § 78 Abs. 3a AMG als Abgabe-preis des pharmazeutischen Unternehmens zu interpretieren ist.

Mit Beginn der 18. Legislaturperiode 2013 nahmen die Kleinen An-fragen zum AMNOG deutlich zu. Da bereits erste Erfahrungen zum AMNOG-Verfahren vorlagen, verschob sich die thematische Aus-richtung der Fragen deutlich hin zur methodischen Ausgestaltung des Gesetzes und möglichen Veränderungsmaßnahmen. Dabei standen insbesondere erste Ergebnisse der Nutzenbewertung so-wie den sich anschließenden zusatznutzenorientierten Erstattungs-betragsverhandlungen im Vordergrund parlamentarischer Diskussi-onen. In dieser zweiten AMNOG-Phase wurden mit insgesamt zehn Anfragen, die meisten davon im Jahr 2014, überproportional viele

7 BT-Drs. 17/12003, S. 2.

Abwicklung des Erstattungs-

betrages

Zweite AMNOG-Phase

Page 27: AMNOG-Report 2020 - DAK

71 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020

Verfahrensfragen an die Bundesregierung adressiert. Zentral waren dabei die Anfragen der Fraktion DIE LINKE (18/120, 18/2501, 18/2733, 18/11960) sowie der der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN (18/2264).

Tabelle 4: Kleine Anfragen zum AMNOG in der 18. Legislaturperiode

DatumDruck-sache Gegenstand der Anfrage Relevanz*

02.12.2013 18/120 Rolle der nutzenbasierten Preis-findung für die Qualität der Versor-gung

Hoch

Rolle des Bestandsmarktaufrufesfür die Versorgungsqualität

Festlegungen zur zweckmäßigen Vergleichstherapie

Auswirkungen des AMNOG auf die Arzneimittelausgabenentwick-lung

Durchführbarkeit des Bestands-marktaufrufes

Gesetzliche Bewertung des „Opt-Out-modells“

Bewertungskongruenz von GBA und IQWiG

Gerichtsverfahren zu Beschlüssen des GBA

Funktion Deutschlandsals Referenzland für Arzneimittel-preise

Einflussfaktoren und Veröffentli-chung des Erstattungsbetrages

Ergebnisse der Erstattungsbe-tragsverhandlungen

Zusammenhang zwischen Zusatz-nutzen und wirtschaftlicherPlatzierung eines Arzneimittels am Markt

Zusammenhang zwischen Zusatz-nutzen eines Arzneimittels und dem Marketingaufwanddes jeweiligen Herstellers

Freie Preisbildung im ersten Jahr

Page 28: AMNOG-Report 2020 - DAK

8 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020 1

DatumDruck-sache Gegenstand der Anfrage Relevanz*

20.12.2013 18/230 Geltungsbereich der Nutzenbe-wertung bei Arzneimitteln aus dem Bestandsmarkt mit neuer Zulassung („Fall MabCampath®“)

Mittel

15.05.2014 18/1015 Konsequenzen aus der Aufhe-bung der Bestandsmarktbewer-tung

Mittel

Ergebnisse der Erstattungsbe-tragsverhandlungen

31.07.2014 18/2264 Nutzenbewertung von Orphan Drugs

Hoch

Nutzenbewertung rein stationär eingesetzter Arzneimittel

Nutzenbewertung des Bestands-marktes

Verbesserung des Stellenwertes von Kosten-Nutzen-Bewertungen

Europäisch harmonisierte Nutzen-bewertung

08.09.2014 18/2501 Angemessenheit der Preisbildung von Sovaldi®

Hoch

Berücksichtigung von For-schungs- und Entwicklungskosten bei der Preisbildung

Egebnisse/Einflussfaktoren auf die Höhe des Erstattungsbetrages

Bewertungskongruenz von GBA und IQWiG

07.10.2014 18/2733 Unterlassung der Dossiereinrei-chung

Hoch

Ausgaben für Arzneimittel ohne eingereichtes Herstellerdossier

25.03.2015 18/4502 Gründe der Aufhebung der Be-standsmarktbewertung

Niedrig

Stellenwert von Kosten-Nutzen-Bewertungen

17.06.2015 18/5282 Auswirkungen des Freihandelsab-kommens TTIP auf das AMNOG

Niedrig

Page 29: AMNOG-Report 2020 - DAK

91 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020

DatumDruck-sache Gegenstand der Anfrage Relevanz*

22.03.2016 18/7976 Häufigkeit von Anwendungsbeob-achtungsstudien während der frühen Nutzenbewertung

Mittel

06.04.2017 18/11960 Rückwirkung des Erstattungsbe-trages auf den ersten Tag ab Marktverfügbarkeit

Hoch

* Relevanz für die Weiterentwicklung des AMNOG-Verfahrens.

Quelle: Eigene Darstellung.

Kernziel des AMNOG ist es, Erstattungsbeträge maßgeblich am er-mittelten Zusatznutzen zu orientieren. Die in der Erstattungsbetrags-verhandlungen darüber hinaus zugrundeliegenden Faktoren spiel-ten in den parlamentarischen Diskussionen in der 18. Legislaturpe-riode (Kleine Anfrage 18/120, 18/2501) eine bedeutende Rolle, auch wenn die Bundesregierung in ihren Antworten darauf verweist, dass eine Regelung der Erstattungsbetragsverhandlungen abseits der in § 130 b SGB V genannten Faktoren (Zusatznutzen, Preise vergleich-barer Arzneimittel, Abgabe in anderen europäischen Ländern) nicht in ihrer Kompetenz liegt, sondern die konkrete Ausgestaltung in die Verantwortung der Rahmenvertragspartner gem. § 130 b Abs. 9 SGB V fällt. Hintergrund dieser Diskussionen war die Markteinfüh-rung und Preisbildung des Wirkstoffes Sofosbuvir (Sovaldi®) zur Be-handlung der Hepatitis C im Jahr 2014. Je nach Therapieregime fielen gemäß den Berechnungen des GBA zum Zeitpunkt der Nut-zenbewertung für die Behandlung eines Patienten Kosten in Höhe von 60.000 bis 120.000 Euro an. Diskutiert wurde der Markteinfüh-rungspreis von Sovaldi® auch deshalb, weil sich der Preis durch die an die Nutzenbewertung anschließenden Erstattungsbetragsver-handlungen lediglich um 11 Prozent senkte.8 Gleichzeitig ist jedoch zu berücksichtigen, dass kurz nach Markteinführung von Sovaldi® neben dem mit Sofosbuvir kombinierten Nachfolgepräparat Harvo-ni® auch weitere Mitbewerber in den Markt eintraten, was Druck auf die Abgabepreise der pharmazeutischen Unternehmer ausübten. Inwiefern dies zum damaligen Zeitpunkt ein Novum im Markt für pa-tentgeschützte Arzneimittel war, und wie sich die Markteinführungs-preise neuer Arzneimittel seit Einführung des AMNOG entwickelt haben, zeigt Kap. 6.3 des vorliegenden Reportes.

Zudem wurde mehrfach eine Rückwirkung des verhandelten Erstat-tungsbetrags politisch diskutiert. Die Preisfreiheit im ersten Jahr stellt weltweit ein Alleinstellungsmerkmal des deutschen Marktzu-gangssystems für neue Arzneimittel dar. Zwei bei Einführung des AMNOG formulierte Ziele waren, dass Arzneimittel wirtschaftlich und kosteneffizient sein sollten und dass verlässliche Rahmenbe-dingungen für Innovationen und die Versorgung der Versicherten

8 Arzneitelegramm (2015), S. 17.

Wirksamkeit der Preisverhand-lungen

Rückwirkung des Erstattungs-betrages

Page 30: AMNOG-Report 2020 - DAK

10 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020 1

geschaffen sowie die Sicherung von Arbeitsplätzen berücksichtigt werden sollten.9 Die Gewährung einer Phase freier Preisbildung dürfte zum Zeitpunkt der Einführung der frühen Nutzenbewertung ein Kompromiss zwischen der Erschließung von Wirtschaftlichkeits-reserven im patentgeschützten Marktsegment und der Wahrung un-ternehmerischer Freiheit und Planungssicherheit gewesen sein. Kri-tik gab es unter anderem deshalb, weil vermutet wurde, Hersteller könnten spätere Preisnachlässe durch den nutzenbasierten Erstat-tungsbetrag bereits a priori einpreisen und zumindest teilweise in-nerhalb der ersten zwölf Vertriebsmonate kompensieren. Der hohe Einführungspreis von Sovaldi® führte in diesem Kontext zu großer medialer Aufmerksamkeit.10 Wenn sich die Umsätze neuer Arznei-mittel in wesentlichen Therapiegebieten immer weiter nach vorne, das heißt in die Phase kurz nach Markteintritt, verlagerten, müsse diesen Marktveränderungen nach Einschätzung des GKV-Spitzen-verbandes durch eine Anpassung der Erstattungsmodelle Rech-nung getragen werden.11 Im Fall von Sovaldi® kam allerdings bereits vor Ablauf der freien Preisbildung das Folgeprodukt Harvoni® auf den Markt und bot so die Chance, die Umsätze auf dem Niveau der Einführungspreise längerfristig zu sichern. Sovaldi® diente bei der Bewertung von Harvoni® zudem als zweckmäßige Vergleichsthera-pie und damit auch als Preisreferenz.12

Auch im Zuge der 19. Legislaturperiode ab dem Jahr 2017 diskutier-ten die Parlamentarier insbesondere methodische Fragen der Nut-zenbewertung und Preisbildung in den Kleinen Anfragen (vgl. Tab. 6). Allerdings wurden häufiger methodische Detailfragen the-matisiert als noch zuvor. Darüber hinaus griffen die Fragen der Op-position aktuelle Herausforderungen bei der Nutzenbewertung neu-artiger Therapiemöglichkeiten mit verändertem Wirkmechanismus, wie beispielsweise der neuartigen CAR-T Zelltherapien, auf.

9 BT-Drs. 17/3116, S. 1.10 BT-Drs. 18/2673.11 Zentner, Haas (2016), S. 33.12 Kailuweit (2015).

Dritte AMNOG-Phase

Page 31: AMNOG-Report 2020 - DAK

111 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020

Tabelle 5: Kleine Anfragen zum AMNOG in der 19. Legislaturperiode

DatumDruck-sache Gegenstand der Anfrage Relevanz*

02.02.2018 19/688 Entwicklung der Ausgaben für patentgeschützte Arzneimittel seit Einführung des AMNOG

Hoch

Entwicklung der Markteintritts-preise patentgeschützter Arznei-mittel seit Einführung des AM-NOG

Ergebnisse der Erstattungsbe-tragsverhandlungen

Antizipation des Nutzenbewer-tungsrabattes bei Markteintritt

Unterlassung der Dossiereinrei-chung

Ergebnisse der Nutzenbewer-tung

Freistellung von der Nutzenbe-wertung

Jährliche GKV-Ausgaben für Ibrance®

Zusammenhang zwischen Zu-satznutzen eines Arzneimittels und der Marktdurchdringung

Häufigkeit von marktrücknahmen bzw. Vertriebseinstellungen

Häufigkeit und Stellenwert men-genbezogener Erstattungsbe-tragsstaffelungen

Konsequenzen aus der Aufhe-bung der Bestandsmarktbewer-tung

Stellenwert von Kosten-Nutzen-Bewertungen

26.10.2018 19/5309 Jahrestherapiekosten und Erstat-tungsregularien für CAR-T-Zell-Therapien

Mittel

Schwierigkeiten bei der Nutzen-bewertung von CAR-T-Zell-The-rapien

Page 32: AMNOG-Report 2020 - DAK

12 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020 1

DatumDruck-sache Gegenstand der Anfrage Relevanz*

16.04.2019 19/9449 Bewertungsergebnisse neu zu-gelassener Neuroleptika

Hoch

Stellenwert der zweckmäßigen Vergleichstherapie

Stellenwert von nicht primär nut-zenbewertungsrelevanten Fakto-ren einer Therapie

Ergebnisse der Erstattungsbe-tragsverhandlungen

Häufigkeit und Stellenwert men-genbezogener Erstattungsbe-tragsstaffelungen

Verbesserung der Bewertungser-gebnisse von neuen Arzneimit-teln in bestimmten chronischen Indikationen

Regional unterschiedliche Ver-ordnungsquoten

Häufigkeit von Wirtschaftlich-keitsprüfungen bei Neurologien

04.07.2019 19/11398 Auswirkungen einer Neuregelung des Apothekenversandhandels auf die Nutzenbewertung und Preisbildung neuer Arzneimittel

Niedrig

20.09.2019 19/13389 Stellenwert medizinischer Leitli-nien

Hoch

Ergebnisse der Nutzenbewer-tung

Zusammenhang zwischen Zu-satznutzen eines Arzneimittels und der Marktdurchdringung

Rechtssicherheit von Mischprei-sen

Häufigkeit von Praxisbesonder-heiten

Regional unterschiedliche Ver-ordnungsquoten

* Relevanz für die Weiterentwicklung des AMNOG-Verfahrens.

Quelle: Eigene Darstellung.

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131 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020

1.1.3 Methodenpapiere des IQWiG

Auch das IQWiG hat in den vergangenen zehn Jahren wiederholt sein Methodenpapier überarbeitet. Der erste Entwurf der „Allgemei-nen Methoden“ des IQWiG wurde im November 2004 der Fachöf-fentlichkeit zur Diskussion gestellt. Nach Abschluss eines Stellung-nahmeprozesses veröffentlichte das Institut eine erste Version im März 2005. Die Methoden des Instituts werden in der Regel jährlich auf eine notwendige Überarbeitung hin überprüft, es sei denn, Feh-ler im Dokument oder wesentliche Entwicklungen legen eine vorzei-tige Aktualisierung nahe. Eine überarbeite zweite Version wurde im Dezember 2006 publiziert. Eine dritte Version wurde im Mai 2008 durch das IQWiG veröffentlicht. Das IQWiG reagierte mit dieser Me-thodenanpassung auf das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) im Jahr 2007, mit welchem der Gesetzgeber u. a. fest-legte, dass der zu prüfende therapeutische Nutzen als patientenre-levanter Zusatznutzen gegenüber bestehenden Behandlungsmög-lichkeiten zu messen sei.13 Seit dem GKV-WSG kann der GBA das IQWiG, neben der Bewertung des Nutzens von Arzneimitteln, auch mit einer Bewertung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses beauftragen. Eine solche Bewertung kann dann Grundlage für die Festsetzung eines Höchstbetrages für nicht-festbetragsfähige Arzneimittel durch den GKV-Spitzenverband (GKV-SV) sein. Die Neuregelung gab dem GBA zudem die Möglichkeit, eine Kosten-Nutzen-Bewertung in ge-eigneten Fällen auch als Grundlage für Beschlüsse über Verord-nungseinschränkungen und Therapiehinweise zu nutzen. Bislang ist die Option allerdings noch nie genutzt worden. Die Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln gliedert sich in zwei Stufen: die Nut-zenbewertung und die darauf aufbauende eigentliche Kosten-Nut-zen-Bewertung. Die Nutzenbewertung dient der Feststellung, ob ein Arzneimittel einen therapeutischen Zusatznutzen im Vergleich zu anderen Arzneimitteln oder Behandlungsformen hat. Sollte ein sol-cher Zusatznutzen nachgewiesen sein, kann der GBA über die Ein-leitung eines Verfahrens zur Kosten-Nutzen-Bewertung entschei-den.

Zentraler Bestandteil des 2010 verabschiedeten AMNOG bleibt die Bewertung und Quantifizierung des therapeutischen Zusatznutzens. Gleichzeitig verschob der Gesetzgeber die Kosten-Nutzen-Bewer-tung an das Ende des Methodenspektrums zur Bewertung patent-geschützter Arzneimittel und verlagerte die Preisbildung in einen bilateralen Verhandlungsverfahren zwischen Industrie und Kosten-träger. Dessen trug das IQWiG im November 2011 durch die Veröf-fentlichung einer vollständig überarbeiteten vierten Version seiner „Allgemeinen Methoden“ Rechnung. Seit Einführung des AMNOG wurde das Methodenpapier des IQWiG drei weitere Male überarbei-tet (Version 4.1: November 2013, Version 4.2: April 2015, Versi-on 5.0: Juli 2017). Seit Dezember 2019 liegt der Entwurf zur Versi-on 6.0 zur Kommentierung vor.

13 § 139 a Abs. 4 S. 1 SGB V.

Änderungen am IQWiG-Methoden-papier

Allgemeine Methoden 4.0

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14 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020 1

Mit der „Methodik für die Bewertung von Verhältnissen zwischen Nutzen und Kosten im System der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung“14 veröffentlichte das IQWiG im Januar 2008 ein separates zweites Methodenpapier, welches die Durchführung von Kosten-Nutzen-Bewertungen beschreibt. Dieses Dokument er-setzte einen entsprechenden Abschnitt in der bisherigen Version der „Allgemeinen Methoden“. Im März 2009 wurde eine überarbeitete Version („2.0“) veröffentlicht.15 Als Kerngedanke der IQWiG-Metho-dik kann die indikationsspezifische Ermittlung einer Effizienzgrenze angesehen werden. Diese Effizienzgrenze verbindet alle bisherigen Therapien einer Indikation, für die es keine erfolgreicheren und zu-gleich kostengünstigeren Alternativen gibt. Ein angemessener Preis eines neuen Medikaments müsse somit dazu führen, dass dieses graphisch auf oder oberhalb der Effizienzgrenze verzeichnet werde. Im Methodenentwurf 1.0 vom Januar 2008 wurde erläutert, wie die-se Effizienzgrenze extrapoliert werden kann, um für neue, wirksa-mere Arzneimittel akzeptable Therapiekosten und damit letztlich akzeptable Preise ableiten zu können.

Mit der überarbeiteten Version 2.0 knüpfte das IQWiG an die durch das GKV-WSG erforderlichen prozessualen Änderungen hinsicht-lich einer Beauftragung durch den GBA zur Durchführung einer ver-gleichenden Analyse von Nutzen und Kosten von Arzneimitteln an. Auch aufgrund der Einführung des AMNOG im Jahr 2011 sind die Methoden des IQWiG zur Durchführung von Kosten-Nutzen-Bewer-tung in den vergangenen zehn Jahren nicht weiter überarbeitet wor-den. De facto besitzt die Kosten-Nutzen-Bewertung bis heute keine Verfahrensrelevanz im AMNOG-Prozess. Vor dem Hintergrund aktu-ell laufender Diskussionen zur Ausweitung der Bewertungsperspek-tiven im AMNOG, also dem zumindest fakultativen Einbezug von Kosteneffektivität in die Nutzenbewertung, ist jedoch davon auszu-gehen, dass die inzwischen zehn Jahre alten Methodendiskussio-nen über die Eignung des vom IQWiG zur Durchführung von Kos-ten-Nutzen-Bewertungen präferierten Effizienzgrenzkonzeptes in den kommenden Jahren wieder aufgegriffen wird (vgl. hierzu aus-führlich Kap. 1.3.1).

1.1.4 Evolution der AMNOG-begleitenden Diskussion

Nicht nur in parlamentarischen Debatten, sondern auch in der AM-NOG-begleitenden Versorgungsforschung sind im Zeitverlauf verän-dernde Themenschwerpunkte zu beobachten. Die zuvor dargestell-ten gesetzlichen Anpassungen sind Ausdruck eines Lernprozesses und tragen den regen Diskussionen zum AMNOG und seiner kon-kreten Ausgestaltung Rechnung. Dieser Zusammenhang ist jedoch keineswegs mono-, sondern bidirektional. Wie das AMNOG selbst haben auch die begleitenden Diskussionen und wissenschaftlichen

14 IQWiG (2008).15 IQWiG (2009).

Methodik zur Kosten-Nutzen-

Bewertung

Evolution der Diskussions-

themen

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151 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020

Analysen im Laufe der Zeit gewisse Evolutionsstufen durchschritten. Wurde in den Anfangsjahren noch viel über grundsätzliche Auswir-kungen des neu etablierten Bewertungs- und Preisbildungsverfah-rens diskutiert, sind viele der damaligen Streitpunkte heute weitest-gehend überwunden worden. Dazu hat zweifelsohne auch die be-schriebene Anpassungsfähigkeit des AMNOG einen wesentlichen Beitrag geleistet. Zu begrüßen ist, dass auch Ergebnisse der wis-senschaftlichen Begleitforschung zum AMNOG unmittelbar Eingang in diese politischen Diskussionsprozesse finden. Auch Dank der Er-kenntnisse aus der umfassenden Begleitforschung erwiesen sich viele anfängliche Befürchtungen unerwünschter Effekte durch die Einführung des AMNOG als unbegründet.

So konnte beispielsweise in den vergangenen AMNOG-Reporten gezeigt werden, dass sich die Problematik vermehrter Marktrück-nahmen mit wachsender Zahl an Verfahren weitestgehend relativiert hat (vgl. dazu auch ausführlich Kap. 6.6). Auch Erwartungen hin-sichtlich einer regelhaften und strategischen Ausnutzung der freien Preisgestaltung im ersten Jahr durch die pharmazeutischen Unter-nehmer16 haben sich vor dem Hintergrund vielfach nur langsam zu beobachtender Marktdurchdringung neuer Arzneimittel nicht bestä-tigt. Im Zuge des Pharmadialoges im Jahr 2016 formulierte die Re-gierungskoalition das Ziel, zukünftig strategische Preisfestsetzun-gen im ersten Jahr zu vermeiden und Wirtschaftlichkeitsreserven im ersten Jahr nach Markteinführung zu heben.17 Gleichzeitig sollte die freie Preisbildung zum Zeitpunkt des Markteintrittes weiterhin Be-stand haben. Ein Spagat, der durch Einführung einer (arbiträren) Umsatzschwelle gelingen sollte, ab der der Zeitraum freier Preisbil-dung bereits vor Ablauf der ersten zwölf Vertriebsmonate beendet wird. Zur Umsetzung sind bei Beibehaltung freier Preissetzung durch den Unternehmer innerhalb des ersten Jahres nach Marktzu-gang verschiedene Optionen denkbar:

1. Vollständige Rückwirkung des Erstattungsbetrages auf den ers-ten Tag nach Markteinführung,

2. Rückwirkung bis zur Beschlussfassung durch den GBA (ab dem 7. Monat),

3. Rückwirkung des Erstattungsbetrages in bestimmen Konstellati-onen (Überschreitung einer Umsatzschwelle, Nutzenbewer-tungsergebnis),

4. Vorgelagerte Rabattverträge.

16 Eine Rückwirkung des Erstattungsbetrages aufgrund strategische Preisfestset-zungen sowie unwirtschaftlichen Arzneimittelpreisen bei Erstattung eines Arz-neimittels mit nicht belegtem Zusatznutzen in der Phase zwischen Nutzenbewer-tungsbeschluss und dem Ablauf der zwölfmonatigen freien Preisbildung wurde insbesondere vom GKV-Spitzenverband ab dem Jahr 2016 verstärkt politisch gefordert. Vgl. hierzu exemplarisch: Ärzteblatt (2016).

17 Michalk et al. (2016).

„Und täglich grüßt das AMNOG …“

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16 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020 1

Nach Abschluss des Pharmadialogs sah der Gesetzgeber im Ge-setzgebungsverfahren zum AMVSG, auch als Reaktion auf den Markteintritt extrem hochpreisiger Therapieverfahren in den Jahren 2016 bzw. 2017, die Abschaffung der freien Preisbildung durch Rückwirkung des verhandelten Erstattungsbetrages in Abhängigkeit des Umsatzvolumens innerhalb des ersten Jahres nach Markteintritt vor (Option 3). Dieser Vorschlag ist von der grundsätzlichen Arith-metik vergleichbar mit der Aufrufsystematik einer vollständigen Nut-zenbewertung von Orphan Drugs nach Überschreitung der Umsatz-schwelle von 50 Millionen Euro und damit nicht grundsätzlich neu in der Regulierungskonzeption des AMNOG. Im Rahmen des AM-NOG-Reportes 2017 konnte zum damaligen Zeitpunkt jedoch ge-zeigt werden, dass der potenzielle Steuerungseffekt und das zu-sätzliche Einsparpotential unabhängig von der Höhe der Umsatz-schwelle gering wären. Bei einer Umsatzschwelle innerhalb des ersten Jahres von 250 Millionen Euro wären bis Ende 2016 lediglich drei der seit 2011 neu zugelassenen Arzneimittel einer zusätzlichen Ausgabenregulierung in Form einer frühzeitigen Rückwirkung des Erstattungsbetrages erfasst gewesen.18 Vor dem Hintergrund der Markteinführung zahlreicher Hochpreistherapien wird aktuell erneut diskutiert, inwiefern eine Rückwirkung des Erstattungsbetrages wei-tere Einsparpotentiale generieren könnte.19

Je nach Rückwirkungsmodell lassen sich aus der Differenz von Markteintrittspreis und Erstattungsbetrag multipliziert mit den abge-gebenen Mengen unterschiedliche Einsparvolumina generieren, ob-gleich entsprechende Eingriffe in die Arzneimittelversorgung nicht nur an finanziellen Effekten zu messen sind. Vorgelagerte Vereinba-rungen nach § 130 a Abs. 8 SGB V für neue Arzneimittel werden zu-dem bereits in der Praxis umgesetzt, erzielen dann jedoch kassen-spezifische, vertrauliche Einsparvolumina. Da dieses Thema von anhaltender Verfahrensrelevanz ist, legt der vorliegende Report nach 2017 zum zweiten Mal ausführliche Berechnungen zur poten-ziellen Reichweite einer Rückwirkung des § 130 b-Erstattungsbetra-ges vor.

Ein in der Fachöffentlichkeit erstmals im Jahr 2014 umfassend dis-kutiertes Verfahrensproblem des AMNOG war es, unterschiedliche Ausmaße des Zusatznutzens eines neuen Arzneimittels in einem Preis zu berücksichtigen. Bereits unmittelbar nach Einführung des AMNOG im Jahr 2011 hat der damalige stellvertretende Vorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, Johann-Magnus von Stackelberg, dar-auf hingewiesen, dass eine nutzenbasierte Preisbildung für Arznei-mittel mit mehreren zugelassenen Indikationen auf eine Mischpreis-bildung hinauslaufen werde.20 Eben diese Mischpreisbildung, also die Gewichtung unterschiedlicher Nutzenausmaße in einem Preis anhand arbiträrer Gewichtungsfaktoren, ist seit Einführung des AM-

18 Greiner, Witte (2017), S. 25 ff.19 U. a. Haas et al. (2019), S. 171.20 v. Stackelberg (2011), S. 19.

Rückwirkung des Erstattungsbetra-ges bis heute dis-

kutiert

Mischpreise inzwi-schen rechtssicher

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171 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020

NOG jedoch nicht nur bei Indikationserweiterungen, sondern bereits im Rahmen der Erstbewertung gängige Praxis. Dies ist darauf zu-rückzuführen, dass der GBA den Zusatznutzen ggf. differenziert auf Teilpopulationen bezogen bemisst. Eine solche Einteilung in Teilpo-pulationen erfolgt dann, wenn die Zulassung unterschiedliche Pati-entengruppen differenziert, verschiedene zweckmäßige Vergleichs-therapien für unterschiedliche Patientengruppen (zum Beispiel in Abhängigkeit von Vortherapien) in Frage kommen, oder wenn im Rahmen der zulassungsbegründenden Studien relevante Effektmo-difikatoren beobachtet wurden. Deshalb wurden bereits ab dem ers-ten Nutzenbewertungsverfahren (Ticagrelor) Mischpreise verein-bart.

Bis 2014 lief die Bildung von Mischpreisen weitestgehend konfliktfrei ab. Im Rahmen einer GBA-Veranstaltung erwähnten Vertreter des GKV-Spitzenverbandes erstmals Probleme eines Arzneimittels mit Mischpreis bei der Wirtschaftlichkeitsbeurteilung durch einen ver-ordnenden Arzt.21 Von da an, spätestens aber mit der Vorlage eines Konzeptpapiers zur „nutzenorientierten Erstattung“ im Jahr 2016, in welchem der GKV-Spitzenverband Vorschläge für eine verbesserte Mischpreisbildung beschrieb, waren Mischpreise eines der bestim-menden AMNOG-Themen – und sind es bis heute. Trotz einer inzwi-schen gerichtlich beschiedenen Anwendbarkeit der Mischpreisbil-dung werden nach wie vor Optionen und Modelle diskutiert, wie die Mischpreisbildung verbessert werden kann.

„Die Nutzenbewertung und die Vereinbarung eines für die gesetzli-che Krankenversicherung einheitlichen Erstattungsbetrags konkreti-sieren die Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit des Arzneimittels“, heißt es in der Begründung zum Entwurf des AMNOG.22 Die Wirt-schaftlichkeit ist auch sechs Jahre nach Einführung des AMNOG ein wichtiger Aspekt, der weiterhin kontrovers diskutiert wird. Insbeson-dere unterschiedliche Betrachtungsweisen des GKV-Spitzenverban-des, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der pharmazeu-tischen Industrie stoßen hier aufeinander. Dem grundsätzlichen Konflikt zur Beurteilung der Wirtschaftlichkeit einer Verordnung ei-nes Arzneimittels mit Erstattungsbetrag liegt die Frage zugrunde, ob die Vereinbarung eines Erstattungsbetrags zwangsläufig bedeutet, dass dieser auch wirtschaftlich im Sinne des § 12 SGB V ist. In der Vergangenheit gab es diesbezüglich in mehrerer Hinsicht Dissens:

In Konstellationen, in denen aufgrund differenzierter Teilindikationen oder -populationen ein Mischpreis für ein neues Arzneimittel verein-bart wurde, soll eben jener Mischpreis für den verordnenden Arzt pauschal die Wirtschaftlichkeit einer Verordnung sicherstellen. Die Verordnung eines nutzenbewerteten Arzneimittels mit Erstattungs-betrag wäre damit nicht mehr von Wirtschaftlichkeitsprüfungen und damit einem potentiellen Regress bedroht. Die Kassenärztliche

21 Haas (2014), S. 12.22 BT-Drs. 17/2413.

Wirtschaftlichkeit eines Erstattungs-betrages

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18 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020 1

Bundesvereinigung hatte deshalb im Zuge der Einführung des Arzt-informationssystems auf eine gesetzliche Klarstellung dahingehend gehofft, dass ein vereinbarter Erstattungsbetrag nach § 130 b SGB V die wirtschaftliche Verordnung eines neuen Arzneimittels im gesam-ten Anwendungsgebiet ermöglich.23 Auch aus Sicht der Industrie wird dies gefordert. Neben dem Abbau von Verordnungshürden der Vertragsärzte sei zudem eine Ungleichbehandlung von Rabatten nach Nutzenbewertungsverfahren und denen aus Rabattverhand-lungen nach § 130 a Abs. 8 SGB V, welche von Wirtschaftlichkeits-prüfungen ausgenommen sind, nicht gerechtfertigt.24 Das Bundes-sozialgericht zeigte 2018 zwar eine „gewisse Sympathie“ für die Gesamtwirtschaftlichkeit eines Mischpreises für alle umfassten Teil-populationen.25 Allerdings stellte das BSG zuletzt auch klar, dass Ärztinnen und Ärzte für die Wirtschaftlichkeit der Verordnung im Ein-zelfall (und damit auch bei Verordnungen von Arzneimitteln, für die Mischpreise festgelegt wurden) verantwortlich sind. Damit ist eine pauschale Befreiung von AMNOG-Arzneimitteln (ohne Praxisbe-sonderheit) von Wirtschaftlichkeitsprüfungen in absehbarer Zeit nicht zu erwarten.

Darüber hinaus nutzen pharmazeutische Unternehmer den Begriff der Wirtschaftlichkeit auch zur wettbewerblichen Positionierung ih-rer Produkte. Das OLG Hamburg hat 2016 die von einem pharma-zeutischen Unternehmer zu Werbezwecke verwendete Aussage „bei indikationsgerechter Verschreibung wirtschaftlich“ jedoch für rechtswidrig erklärt. Die streitgegenständliche Behauptung einer ge-nerellen Wirtschaftlichkeit des Arzneimittels, wenn nur eine indikati-onsgerechte Verschreibung vorliege, entbehre jeder Grundlage. Es müsse stets eine patientenbezogene Einzelfallüberprüfung erfolgen.

Weitere strittige Punkte wie etwa die Bewertung des Bestandsmark-tes oder eine mögliche späte Nutzenbewertung entschärften sich durch fortlaufende gesetzliche und verfahrenstechnische Anpas-sungen und Klarstellungen weitestgehend. So ebbten etwa die For-derungen nach einer späten Nutzenbewertung vor allem angesichts einer immer häufigeren Befristung von Nutzenbewertungsbeschlüs-sen mit der Zeit ab. Bis Ende 2019 wurden bereits 49 % aller Arznei-mittel innerhalb des erstzugelassenen Anwendungsgebietes erneut durch den GBA bewertet (vgl. Kap. 5.1). Dem liegt in der Regel ein befristeter Beschluss des GBA zum Ausmaß des Zusatznutzen im Rahmen der Erstbewertung nach Markteintritt zugrunde. Diese Be-fristung ist kürzer, wenn in absehbarer Zeit weitere Daten zum Bei-spiel aus noch laufenden Studien zur Verfügung stehen werden, und länger, wenn solche Studien erst noch zu initiieren sind. Da der GBA mit dem Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) 2019 zudem umfassende Befugnisse zur Auflage von Da-tenerhebungen erhalten hat (siehe hierzu Kap. 1.2), ist mit Einfüh-

23 KBV (2019), S. 3.24 BPI (2014).25 Burgardt (2018).

„Späte Nutzen-bewertung“

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191 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020

rung einer obligatorischen „späten“ Nutzenbewertung weiterhin nicht zu rechnen.

Mit dem Ausräumen grundsätzlicher Streitpunkte gelangten in den vergangenen Jahren neue Themen in den Fokus, über die zu An-fangszeiten des AMNOG noch nicht intensiv diskutiert wurde. Ein wichtiger Punkt dabei: die Rolle der gesundheitsbezogenen Lebens-qualität in der frühen Nutzenbewertung. Während anfänglich noch viele Dossiers ohne Lebensqualitätsdaten eingereicht wurden, machten unter anderem Analysen im Rahmen des AMNOG-Reports 2015 die Relevanz dieser Daten für die Zusatznutzenbestimmung deutlich.26 Diese Erkenntnisse und die mit ihnen verbundenen Dis-kussionen scheinen sich auch auf die Einschätzung der pharmazeu-tischen Unternehmer ausgewirkt zu haben. So konnte mit steigen-der Verfahrensanzahl beobachtet werden, dass sich der Anteil von Dossiers mit Lebensqualitätsdaten sukzessiv erhöht hat.

Wichtige Diskussionsimpulse ergaben sich darüber hinaus aus der allgemeinen Weiterentwicklung des Arzneimittelmarktes und den damit einhergehenden regulatorischen Antworten beispielsweise bezüglich der arzneimittelrechtlichen Zulassung. So kamen durch regulatorische Veränderungen des europäischen Zulassungspro-zesses hin zu einer – in bestimmten Konstellationen – früheren arz-neimittelrechtlichen Zulassung („adaptive pathways“) in den vergan-genen Jahren nicht nur vermehrt Fragen nach einer Verbesserung der Datenverfügbarkeit und -reife zum Zweck der Nutzenbewertung auf. Der GKV-Spitzenverband hat in einem 2017 veröffentlichten Pa-pier Vorschläge zu regulativen Anpassungen der Nutzenbewertung und Preisbildung neuer Arzneimittel vor dem Hintergrund der „adap-tive pathways“ gemacht.27 Kern dieses Papiers waren Vorschläge zur verpflichtenden Re-Evaluation aller neuen Wirkstoffe mit alter-nativer Zulassung innerhalb der frühen Nutzenbewertung. Damit sollte zukünftig auch eine „adaptive Erstattung“ einhergehen, wel-che eine gegenüber der zVT bzw. vergleichbaren Arzneimitteln an-gepasste Erstattung nach Abschluss der obligatorischen erneuten Nutzenbewertung vorsieht. Kern dieser Systematik ist dabei nicht nur ein Preisabschlag auf das Preisniveau der zVT bzw. vergleich-bare Arzneimittel bis zum Zeitpunkt der Re-Evaluation, sondern auch therapiebegleitende, qualitätssichernde Maßnahmen, ohne dies inhaltlich zu konkretisieren. Eine entsprechende Abschlagssys-tematik rechtfertige sich der Argumentation des GKV-SV zufolge durch eine zum Zeitpunkt der (ersten) frühen Nutzenbewertung und Preisbildung unsicheren („unreifen“) Datenlage, welche potenziell für Patienten nachteilig sein kann.

Ferner mündete dies in einer anhaltenden Diskussion darum, inwie-fern unmittelbar in der Versorgung generierte Daten als „real-world evidence“ für die frühe Nutzenbewertung erschlossen werden könn-

26 Greiner, Witte (2015), S. 89.27 Haas et al. (2017).

„Neue“ Diskus-sionsthemen

Adaptive Preis bildung

Real-World- Evidence

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20 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020 1

ten. Befürworter von real-world-evidence sehen darin den Nutzen, dass diese Daten deutlich besser den Versorgungskontext abbilden und somit die externe Validität der Ergebnisse erhöhen. Während sich vermehrt Akteure dafür einsetzen, dass real-world-evidence Teil der berücksichtigten Daten in der Nutzenbewertung werden, stehen die evaluierenden Einrichtungen der primären Verwendung der Daten kritisch gegenüber. Bereits 2015 gab das IQWiG an, dass real-world-evidence keine verlässliche Datengrundlage aufgrund der fehlenden Vergleichsgruppe, hohen Fehleranfälligkeiten, der da-mit verbundenen Unsicherheiten sowie des hohen Aufwands zur Ermittlung valider Ergebnisse im Vergleich zu RCTs („randomized controlled trials“) sei.28 Bis heute hält der Vorbehalt, wenn auch in abgeschwächter Form, gegenüber real-world evidence bei den eva-luierenden Einrichtugen ein. Zuletzt führte jedoch das im Jahr 2019 beschlossene GSAV anwendungsbegleitende Datenerhebungen explizit als mögliche Evidenzquelle in das AMNOG-Verfahren (vgl. Kap. 1.2). Angesichts der frühen Zulassung hochpreisiger neuarti-ger Therapien sieht sich das AMNOG zudem seit einiger Zeit mit Fragen hinsichtlich der Bezahlbarkeit von Arzneimittelinnovationen konfrontiert. Diese sogenannte „affordability challenge“ befeuerte unter anderem Diskussionen um die Notwendigkeit von Kosten-Nut-zen-Bewertungen oder die Einführung einer vierten Hürde (vgl. Kap. 1.3).

1.2 Gegenwart: Aktuelle Gesetzgebungsverfahren mit Bezug zur Nutzenbewertung und Preisbildung neuer Arzneimittel

Das AMNOG hat sich in den vergangenen Jahren trotz kleinerer und zum Teil größerer gesetzlicher Korrekturen – zum Beispiel die Auf-hebung des obligatorischen Bestandsmarktaufrufes mit dem 14. SGB V-ÄndG als trag- und konsensfähige Lösung zur Preisregu-lierung des patentgeschützten Arzneimittelmarktes erwiesen. Im vo-rangegangenen Abschnitt konnte gezeigt werden, dass in den An-fangsjahren des AMNOG die Feinjustierung praktischer Umset-zungsprobleme, welche sich erst nach Abschluss einer gewissen Anzahl von Nutzenbewertungsverfahren zeigten, auf der politischen Agenda standen. Aktuell fokussieren sich die AMNOG-begleitenden Diskussionsforen überwiegend auf eine Verbesserung der Datenla-ge zum Zeitpunkt der Nutzenbewertung und Preisbildung. Dies trägt insbesondere dem Umstand Rechnung, dass durch den vermehrt frühzeitigen Markteintritt hochpreisiger Arzneimittel bestehende Re-gulierungsinstrumente bestmöglich ausgebaut werden sollen, um den Patientinnen und Patienten weiterhin schnellstmöglichen Zu-gang zu neuen Arzneimitteltherapien zu gewähren. Das mit dem AMNOG einführte Regulierungsprinzip, dass Arzneimittelpreise dem tatsächlichen Nutzen folgen sollen, benötigt jedoch umfangrei-

28 Windeler (2015).

Verbesserung der Datenlage

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211 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020

che und belastbare Daten über eben diesen Nutzen. Wie diese zu-künftig noch besser erhoben oder den Ärzten für Versorgungsent-scheidungen zur Verfügung gestellt werden können, beschreiben die nachfolgenden aktuellen Gesetzgebungsfahren:

1. EAMIV: Transfer der Nutzenbewertungsergebnisse in die Ver-sorgungspraxis.

2. GSAV: Anwendungsbegleitende Datenerhebungen vor und nach einem Nutzenbewertungsverfahren.

3. DVG und PDSG: Bessere Nutzbarkeit versorgungsnaher Daten.

1.2.1 Elektronische Arzneimittelinformations-Verordnung – EAMIV

Die Feststellung über das Ausmaß des Zusatznutzens eines Arznei-mittels mit neuem Wirkstoff dient dem Zweck der Vereinbarung ei-nes Erstattungsbetrags nach § 130 b SGB V. Neben einer nutzenba-sierten Preisbildung war mit Einführung des AMNOG jedoch auch eine Verbesserung der Qualität der Arzneimittelversorgung durch mehr Transparenz über den Zusatznutzen beabsichtigt. Sowohl von-seiten der Industrie („AMNOG-gerechte Versorgungsquote“29) als auch der Kostenträger („nutzenorientierte Erstattung“30) wurden in den vergangen Jahren allerdings vermehrt Konsequenzen aus der fehlenden Kongruenz von Nutzenbewertung und Verordnungsent-wicklung neuer Arzneimittel diskutiert.31 Ursächlich dafür können verschiedene Faktoren sein. Explorative Untersuchungen deuteten jedoch u. a. auf eine fehlende Praxisreichweite der GBA-Beschluss-informationen hin.32 Die Ergebnisse der Nutzenbewertung sollen deshalb zukünftig so aufbereitet und über ein Arztinformationssys-tem (AIS) innerhalb der Praxis-IT-Systeme zur Verfügung gestellt werden, dass die im Rahmen der Nutzenbewertung gewonnen In-formationen im Praxisalltag einfacher und schneller zugänglich sind und bei der Therapieentscheidung unterstützen können.

Nach vielen Verzögerungen kam die Konzeption eines sog. AM-NOG-AIS, im Herbst 2018 einen Schritt voran. Das Bundesministe-rium für Gesundheit (BMG) hat entsprechend der mit dem Arznei-mittelversorgungsstärkungsgesetz (AMVSG) im Mai 2017 festge-setzten, gesetzlichen Maßgabe einen Rechtsverordnungsentwurf für die Einführung eines Arztinformationssystems vorgelegt (Elekt-

29 Vfa (2015).30 Haas et al. (2016).31 Bemängelt wurde unter anderem, dass bestimmte Arzneimittel mit belegtem Zu-

satznutzen hinter ihrem theoretischen Umsatzpotential zurückblieben. Auf der anderen Seite gab es jedoch auch – gleichwohl sehr strittige – Bedenken, inwie-fern in Fällen, in denen aufgrund differenzierter Nutzenbewertungsbeschlüsse ein Mischpreis gebildet werden musste, eine wirtschaftliche Arzneimittelversor-gung sichergestellt werden könne.

32 Boeschen et al. (2015), S. 155; Greiner, Witte (2016), S. 141 f.

Arztinformations-system

Verordnungsent-wurf zum AIS

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22 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020 1

ronische Arzneimittelinformations-Verordnung – EAMIV).33 Darin werden jene Mindestanforderungen an ein AIS festgelegt, welche der GBA nun in weiteren Schritten konkretisieren muss. Die Fachan-hörung des Ministeriums hat am 19. November 2018 stattgefunden. Insgesamt 19 Stellungnahmen hat das BMG im Anschluss auf sei-ner Homepage veröffentlicht.34

Die Verordnung macht Angaben zur elektronischen Umsetzung der Beschlüsse des GBA über die Nutzenbewertung nach § 35 a SGB V im Hinblick auf:

• Mindestinhalte für die in der Software abzubildenden Informatio-nen.

• Verknüpfung und regelmäßige Aktualisierung der Inhalte der GBA-Beschlüsse.

• Eine Festlegung, ob und in welchen Fällen weitere Informationen und Funktionalitäten in die elektronischen Programme imple-mentiert werden können.

• Technische Festlegungen zur Umsetzung der elektronischen Be-schlüsse.

• Zeitliche Vorgaben für die Umsetzung der vorgesehenen Neue-rungen.

Die „Elektronischen Arzneimittelinformations-Verordnung“ ist am 1. August 2019 in Kraft getreten. Die EAMIV definiert Mindestanfor-derungen für Inhalte und technische Voraussetzungen. Zum 22. No-vember 2019 hat der GBA daraufhin seine Verfahrensordnung ent-sprechend angepasst. Der Gemeinsame Bundesausschuss bereitet in Form einer maschinenlesbaren Fassung die Angaben eines Be-schlusses nach § 35 a Absatz 3 SGB V zukünftig so auf, dass diese unverändert zur Implementierung in die elektronische Praxissoft-ware nach § 73 Absatz 9 SGB V geeignet sind. Gemäß § 2 der EAMIV enthält die Aufbereitung durch den GBA folgende Angaben:

1. die Bezeichnung des Arzneimittels in Form des standardisierten Handelsnamens;

2. den Wirkstoff oder die Wirkstoffe des Arzneimittels;

3. das zugelassene Anwendungsgebiet oder die zugelassenen An-wendungsgebiete gemäß Fachinformation;

4. die Zuordnung des Wirkstoffs oder der Wirkstoffe zur anato-misch-therapeutisch-chemischen Klassifikation (ATC-Code) und zu der im datenbankgestützten Informationssystem nach § 67 a des Arzneimittelgesetzes hinterlegten Arzneistoffkatalognum-mer (ASK-Nummer);

33 Referentenentwurf einer Elektronischen Arzneimittelinformations-Verordnung (EAMIV) vom 24.10.2018.

34 Siehe hierzu www.bundesgesundheitsministerium.de/service/gesetze-und-ver-ordnungen/guv-19-lp/stellungnahmen-refe/eamiv.html.

Verordnungs-inhalte

Verabschiedung der EAMIV

Zukünftiger Infor-mationsumfang in

der Praxissoftware

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231 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020

5. die Patientengruppe oder die Patientengruppen, für die eine Aussage zum Zusatznutzen des Arzneimittels getroffen werden;

6. die Zuordnung zum Krankheitsgebiet gemäß der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD 10) sowie zur Alpha-ID-Iden-tifikationsnummer (Alpha-ID) in der jeweils vom Deutschen Insti-tut für Medizinische Dokumentation und Information im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit herausgegebenen deutschen Fassung;

7. das Ausmaß des Zusatznutzens mit Angabe zur Aussagesicher-heit und den vom GBA zu Grunde gelegten zweckmäßigen Ver-gleichstherapien, sofern zweckmäßige Vergleichstherapien für eine Nutzenbewertung bestimmt worden sind;

8. die zusammenfassende Darstellung der klinischen Ergebnisse der für den Zusatznutzen relevanten klinischen Endpunkte, auch in Form von grafischen Darstellungen;

9. die Angaben zu Anforderungen an die qualitätsgesicherte An-wendung;

10. die Angabe, ob für das Arzneimittel vom GBA die Durchführung einer begleitenden Datenerhebung nach § 35 a Absatz 3b gefor-dert worden ist sowie ob die Befugnis zur Verordnung des Arz-neimittels auf solche Leistungserbringer beschränkt worden ist, die an der Datenerhebung mitwirken;

11. Datum und Geltungsdauer des Beschlusses des GBA;

12. die Zusammenfassung der Tragenden Gründe zum Beschluss des GBA, jeweils zu den Kategorien Mortalität, Morbidität, Le-bensqualität und Nebenwirkungen, sowie zusammenfassend für den Gesamtzusatznutzen je Patientengruppe;

13. die Angabe, ob es sich um ein Arzneimittel zur Behandlung ei-nes seltenen Leidens handelt („Orphan Drug“);

14. die Angabe, ob das Arzneimittel Gegenstand der Richtlinie nach § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 des SGB V zur Anwendung von Arzneimitteln für neuartige Therapien im Sinne von § 4 Absatz 9 des Arzneimittelgesetzes ist (sog. „Advanced Therapy Medicinal Products“, ATMPs)35;

15. den Hyperlink zur Internet-Seite des Gemeinsamen Bundesaus-schusses, auf der die Informationen zu dem betreffenden Arz-neimittel bereitgestellt werden.

Darüber hinaus hat der GBA in seiner Verfahrensordnung Angaben zu weiteren, über die Anforderungen der EAMIV hinausgehenden, Informationsinhalten gemacht. So werde die maschinenlesbare Fas-sung eines GBA-Beschlusses zukünftig auch Angaben zu der vom

35 Arzneimittel für neuartige Therapien sind gem. § 4 Abs. 9 AMG Gentherapeutika, somatische Zelltherapeutika oder biotechnologisch bearbeitete Gewebeproduk-te.

Über die EAMIV hinausgehende Informationen

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24 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020 1

GBA festgelegten zweckmäßigen Vergleichstherapie umfassen, so-wie darauf hinweisen, dass in Verfahren für Orphan Drugs bis zu einer Überschreitung einer Umsatzvolumenschwelle keine zVT be-stimmt wurde.

Kritisch diskutiert wurde bis zuletzt, dass die Verordnung zum inhalt-lichen Mindestumfang des AIS zwar keine Hinweise auf Informatio-nen oder Ableitungen zur Wirtschaftlichkeit eines nutzenbewerteten Arzneimittels machen, diese jedoch auch nicht explizit ausschlie-ßen. Dies war ein wiederholt geäußerter Wunsch der Ärzteschaft.36 Hintergrund ist die Befürchtung, dass nicht nur eine sachliche Infor-mation der Ärzteschaft durch das AIS erfolge, sondern ein weiteres Instrument zur wirtschaftlichen Verordnungssteuerung etabliert wer-de, was die Therapiefreiheit der Ärzte einschränke, den Dokumenta-tionsaufwand – besonders bei hochpreisigen Arzneimitteln – erhöhe und das Regressrisiko zumindest theoretisch vergrößere.

Als vergebene Chance zur systematischen Weiterentwicklung des AIS muss indes gewertet werden, dass der Gesetzgeber keine Ver-pflichtung zur Erprobung oder Evaluation des AMNOG-AIS vorgese-hen hat. So hätten sich Anwendungsdefizite, welche in einer frühen Phase einer Technik- oder Softwareimplementierung regelmäßig vorkommen, überwachen und Anpassungen vor einem flächende-ckenden Roll-out vornehmen lassen können. Dabei ließe sich auch eruieren, ob das Informationssystem mittelfristig als Instrument zur Evidenzgenerierung aus dem Versorgungsalltag genutzt werden kann. Nun bleibt zu hoffen, dass die Implementierungsphase mög-lichst reibungslos und letztlich erfolgreich verläuft, um die Potentiale einer noch besser zugänglichen Datenbasis für die Arzneimittelver-sorgung nicht durch technische oder formale Umsetzungsprobleme zu verpassen.

Ähnlich wie im AMNOG ist davon auszugehen, dass der Gesetzge-ber auch ohne formalen Erprobungsprozess nach einer Einfüh-rungsphase potenzielle Schiefstellen im Informationsprozess des AIS korrigieren wird. Nicht ausgeschlossen ist damit auch, dass das AIS zukünftig schrittweise weg von einem reinen Informations- in Richtung eines Datengenerierungssystems weiterentwickelt wird. Neben anderen Entwicklungen wie der vermehrten Einführung von Hochpreistherapien deuten auch die aktuellen Herausforderungen im Zuge der Covid-19-Pandemie zumindest mittelfristig auf einen erhöhten Kostendruck in der GKV hin. Angesichts dieser Entwick-lungen bleibt es abzuwarten, inwieweit weitere Ausbauelemente des AIS, zum Beispiel durch eine verpflichtende Dokumentation ei-ner Arzneimittelverordnung anhand der vom GBA definierten Teilpo-pulationen, Gegenstand politischer Diskussionen sein werden, um Wirtschaftlichkeitspotenziale zu erschließen, ohne das bewährte Bewertungs- und Preisbildungsverfahren grundsätzlich neu auszu-richten.

36 KBV (2019).

Kritik

Keine verpflichten-de Erprobung/

Evaluation

Zukünftige Weiter-entwicklung?

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251 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020

Zum 1. Juli 2020 sollten Inhalte der GBA-Beschlüsse zur frühen Nutzenbewertung in der Verordnungssoftware strukturiert angezeigt werden. Softwarehersteller haben jedoch im Juni bekannt gegeben, dass die Anpassungen nicht rechtzeitig zu schaffen seien und wahr-scheinlich erst zum 1. Oktober 2020 zur Verfügung stehen werden. Der Grund läge in einer zu späten Lieferung der Datensätze durch den GBA. So wäre es nicht möglich gewesen, die Systeme rechtzei-tig anzupassen und eine Qualitätssicherung zu gewährleisten.37 Bis zur flächendeckenden Umsetzung der Beschlüsse in der Arzneimit-telverordnungssoftware sollen laut KBV weiterhin die PDF-Doku-mente der Beschlüsse zur frühen Nutzenbewertung in der Software hinterlegt sein.38

1.2.2 Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversor-gung (GSAV)

Das „Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung“ stellte 2019 das bislang letzte große arzneimittelpolitische Reform-gesetz, welches zumindest in Teilen in die von der frühen Nutzenbe-wertung abgedeckten Marktsegmente entscheidend eingreift, dar. Die zum Teil weitreichenden Maßnahmen des GSAV umfassen:

• Die Erweiterung der Berechnungsgrundlage für die Umsatz-schwelle für Orphan Drugs.

• Die Auflagenbefugnis des GBAs für anwendungsbegleitende Da-tenerhebungen.

• Die Verknüpfung der Auflagen zur Datengenerierung mit erneu-ten Erstattungsbetragsverhandlungen.

Der Referentenentwurf zum GSAV wurde am 14. November 2018 veröffentlicht. Die Fachanhörung fand am 17. Dezember 2018 statt. Insgesamt 45 Stellungnahmen hat das BMG im Anschluss auf sei-ner Homepage veröffentlicht, wobei sich ein Großteil der Stellung-nahmen mit den nicht unmittelbar nutzenbewertungsbezogenen As-pekten des Gesetzesentwurfes befasst. Am 15. März 2019 durchlief das Gesetz den Bundesrat; am 27. März 2019 wurde der Referen-tenentwurf dem Bundestag zum Beschluss vorgelegt. Das Gesetz trat am 16. August 2019 in Kraft.

In einigen Regelungsbereichen ist das GSAV stark umstritten. Hin-tergrund ist, dass zukünftig die Verordnung bestimmter neuer Arz-neimittel auf einzelne Ärzte oder Krankenhäuser, die sich an der Datenerhebung beteiligen und dazu administrativ auch in der Lage sind, beschränkt werden kann. Dies könnte einen Einstieg in die Rationierung bedeuten, wenn dadurch nicht mehr alle Patienten gleichermaßen Zugang zu solchen Therapien hätten. Fraglich ist in-des, wie groß die Auswirkung der Beschränkung tatsächlich wäre,

37 KV Berlin (2020).38 Ärzte Zeitung (2020b).

Anpassungen der Verordnungssoft-ware erfolgt ver-spätet

GSAV

Beschränkung der Anwendung

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26 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020 1

da bereits heute neuartige Therapien und Orphan Drugs primär durch spezifische Fachärzte bzw. -zentren angewandt werden.

Die von einer Auflage zur anwendungsbegleitenden Datenerhebung potenziell betroffenen Arzneimittel werden solche umfassen, die ei-ne besondere arzneimittelrechtliche Zulassung erhalten haben (Arz-neimittel mit bedingter Zulassung, Arzneimittel mit Zulassung unter außergewöhnlichen Umständen sowie Arzneimittel zur Behandlung eines seltenen Leidens) oder bei denen aufgrund der Seltenheit der Erkrankung nur eine sehr eingeschränkte Datengrundlage zum Zeit-punkt der Zulassung bzw. frühen Nutzenbewertung verfügbar ist. 28 % aller Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen, die seit 2011 im Rah-men der frühen Nutzenbewertung bewertet wurden, kämen auf-grund der Art der Zulassung bislang potenziell für eine solche an-wendungsbegleitende Datenerhebung in Frage.39 Dabei ist die An-zahl entsprechender Neuzulassungen in den vergangenen zwei Jahren rückläufig (vgl. Abb. 1).

Abbildung 1: Anteil der nutzenbewerteten Wirkstoffe mit besonderer Zu-lassung nach Jahr der Erstbewertung

Quelle: Eigene Auswertung aller Erstbewertungsverfahren der seit 2011 neuzuge-lassenen und nutzenbewerteten Arzneimittel, basierend auf Angaben der EMA im EPAR, Stand: 31.12.2019.

Bei diesen Arzneimitteln liegen zum Zeitpunkt der Zulassung zum Teil ggf. noch keine vollständigen klinischen Daten zur Beurteilung des Zusatznutzens vor. Ziel einer vom GBA veranlassten anwen-dungsbegleitenden Datenerhebung wird es deshalb sein, vorhande-ne Evidenzlücken zu schließen und gleichzeitig Patientinnen und Patienten in der GKV die betreffenden Arzneimittel schnell zur Ver-fügung zu stellen, damit möglichst früh eine bessere Datenbasis zur Bewertung des Zusatznutzens geschaffen werden kann.40 Damit er-scheint die Auflage zur Datenerhebung nur dann gerechtfertigt, wenn erwartet werden kann, dass diese Daten grundsätzlich für die

39 Unter neuen Onkologika liegt dieser Anteil mit 43 % bedeutend höher.40 GBA (2020).

Ziele der Datenerhebung

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271 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020

Quantifizierung eines Zusatznutzens verwertbar sind. Hieraus ergibt sich die Frage, welche Arten der Evidenzgenerierung, welche Aus-wertungsmethoden bzw. welche Methoden der Evidenzbewertung geeignet sind, um diese Zielstellung zu erfüllen und welche beglei-tenden beratenden Maßnahmen hierfür notwendig sind. Verstärkt wurde die Diskussion um die Nutzung versorgungsnaher Evidenz zuletzt unter anderem durch die mit dem Digitale-Versorgung-Ge-setz (DVG) in Aussicht gestellte bessere Nutzbarkeit von GKV-Ab-rechnungsdaten über ein neues Forschungsdatenzentrum beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Inwie-weit entsprechende Daten sowie Daten aus elektronischen Patien-tenakten zukünftig im Rahmen der Nutzenbewertung berücksichtigt werden können, ist bislang offen. In einem im Januar 2020 veröffent-lichen Rapid Report äußerte jedoch das IQWiG zuletzt erhebliche Zweifel an der Eignung (siehe hierzu ausführlich Kap. 1.2.3).

Unbestreitbar ist, dass es Verbesserungspotential in der aus GBA-Perspektive verwertbaren Datengrundlage zur Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit besonderer arzneimittelrechtlicher Zulassung gibt. Insbesondere bei Arzneimitteln, die unter „besonderen Um-ständen“ zugelassen wurden, war bislang aus Sicht des GBAs die verfügbare Evidenz fast nie zur Quantifizierung eines Zusatznutzens ausreichend (vgl. Tab. 7). Darüber hinaus hat der GBA bislang die Hälfte aller Nutzenbewertungsbeschlüsse für Arzneimittel mit be-dingter Zulassung befristet, um die Generierung weiterer Evidenz abzuwarten.

Tabelle 6: Datenverfügbarkeit in Nutzenbewertungen von Arzneimitteln mit alternativer Zulassung

Zulassungsverfahren

Quantifizierung des Zusatznutzens mög-lich?

Befristeter GBA-Beschluss

„Accelerated Access“ 67 % (n = 2/3) 0 % (n = 0/3)

„Conditional approval“ 25 % (n = 6/24) 50 % (n = 12/24)

„Exceptional circumstances“ 8 % (n = 1/12) 42 % (n = 5/12)

Orphan-Zulassung* 32 % (24/75) 25 % (19/75)

* 36 % aller Orphan Drugs haben neben einer Zulassung unter „Orphan“-Bedingungen im Rahmen ihrer erstzugelassenen Indikation auch einen weiteren alternativen Zulassungsprozess durchlaufen. Insofern kommt es in der Spalte „Orphan-Zulassung“ zu Doppelzählungen.

Quelle: Eigene Auswertung aller Erstbewertungsverfahren der seit 2011 neuzugelas-senen und nutzenbewerteten Arzneimittel, basierend auf Angaben des GBA und der EMA im EPAR, Stand: 31.12.2019.

Mit den Zulassungsentscheidungen für diese Gruppe von Arzneimit-teln bestätigt die EMA ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis bei Er-füllung eines nicht gedeckten medizinischen Bedarfs in einer Situa-tion, in der die für eine reguläre Zulassung erforderlichen Daten erst

Evidenz alternati-ver Zulassungen

Page 48: AMNOG-Report 2020 - DAK

28 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020 1

zu einem späteren Zeitpunkt erbracht werden können bzw. deren Erbringung unmöglich ist. Neu ist nun, dass aufbauend auf diesen Zulassungsentscheidungen der EMA der Gesetzgeber zukünftig ei-ne Berücksichtigung nicht-randomisierter Daten zur Ableitung eines (quantifizierbaren) Zusatznutzens vorsieht. Mit der Vorgabe, bei der Nutzenbewertung auch Evidenz mit geringerer Sicherheit in der Aussage zu akzeptieren, ermöglicht der Gesetzgeber die in der AM-NutzenV geforderte Kongruenz zwischen Nutzenbewertung und Feststellungen der Zulassungsbehörde.

1.2.3 Versorgungsnahe Daten: Impulse durch das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) und das Patientendaten-Schutz-Gesetz (PDSG)

Mit einem Trend hin zu einer früheren arzneimittelrechtlichen Zulas-sung sowie der Verfügbarkeit extrem hochpreisiger Gentherapien mit bislang unklaren Langzeiteffekten rückt neben klassischer klini-scher Evidenz zunehmend auch Evidenz aus dem Versorgungs-alltag (sog. „real-world evidence“) in den Fokus der Nutzenbewer-tung. Wie zuvor dargestellt hat das GSAV dieser Entwicklung inso-fern Rechnung getragen, dass es für Orphan Drugs sowie Arznei-mittel mit bedingter Zulassung oder Zulassung unter besonderen Umständen anwendungsbegleitende Datenerhebungen als mögli-che neue Evidenzquelle in den AMNOG-Prozess eingeführt hat.41 Zwei Gesetzesvorhaben aus dem Bundesgesundheitsministerium haben seit Redaktionsschluss des AMNOG-Reports 2019 für weite-re Impulse in der Diskussion rund um den Einsatz bzw. die Akzep-tanz von real-world evidence gesorgt. Besonders zu beachten ist dabei das im Dezember 2019 in Kraft getretene „Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation“ (Digitale-Versorgung-Gesetz – DVG).42

Mit dem DVG hat der Gesetzgeber erstmals nach dem E-Health-Gesetz von 2015 weitreichende Neuregelungen für den verbesser-ten Einsatz digitaler Technologien in der Gesundheitsversorgung geschaffen. Diese umfassen unter anderem das verpflichtende An-gebot elektronischer Patientenakten (ePA) durch die gesetzlichen Krankenkassen ab 2021, eine Erweiterung der Telematikinfrastruk-tur sowie die weitere Liberalisierung der telemedizinischen Behand-lung per Videosprechstunde. Die meistbeachtete Anpassung stellt jedoch zweifelsohne die Einführung sogenannter „Digitaler Gesund-heitsanwendungen“ (DiGA) in das Leistungsgeschehen der GKV dar. So haben GKV-Versicherte fortan einen Anspruch auf Versor-gung mit Medizinprodukten niedriger Risikoklasse, deren Haupt-funktion wesentlich auf digitalen Technologien beruht und die dazu bestimmt sind, bei den Versicherten oder in der Versorgung durch Leistungserbringer die Erkennung, Überwachung, Behandlung oder

41 Greiner et al. (2019).42 Ärzteblatt (2019).

Anwendungsbe-gleitende Datener-

hebung durch GSAV

DVG: Digitale Tech-nologien in der

Versorgung

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291 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020

Linderung von Krankheiten oder die Erkennung, Behandlung, Linde-rung oder Kompensierung von Verletzungen oder Behinderungen zu unterstützen“.43 Um in das neugeschaffene DiGA-Verzeichnis und damit in die Erstattungsfähigkeit zu gelangen, durchlaufen die gelegentlich plakativ als „Apps auf Rezept“ bezeichneten DiGA ein Fast-Track-Bewertungsverfahren beim Bundesinstitut für Arzneimit-tel und Medizinprodukt (BfArM). Dabei weist die grundsätzliche Aus-gestaltung des neuen Verfahrens – wie etwa die freie Preisbildung im ersten Jahr sowie anschließende Preisverhandlungen zwischen GKV-Spitzenverband und Anbieter – offensichtliche Parallelen zum AMNOG-Prozess auf.44

Das BfArM entscheidet in diesem Verfahren innerhalb von drei Mo-naten über eingereichte Anträge. Neben der Erfüllung verschiede-ner Grundanforderungen (z. B. an Datenschutz- und Datensicher-heit) ist für eine Listung im DiGA-Verzeichnis insbesondere der Nachweis sogenannter „positiver Versorgungseffekte“ zu erbringen. Diese begriffliche Neuschöpfung umfasst sowohl den klassischen medizinischen Nutzen als auch sogenannte „patientenrelevante Struktur- und Verfahrensverbesserungen in der Versorgung“.45 Unter Letzteren werden beispielsweise Adhärenzsteigerungen, besser ko-ordinierte Behandlungsabläufe oder eine verbesserte Gesundheits-kompetenz subsummiert.46 Dies ist insoweit interessant, da der Leit-faden des BfArM rein präventive DiGAs im Sinne der Risikoklasse I nicht einschließt47, sondern diese weiterhin nach § 20ff SGB V er-stattungsfähig bleiben. Inwiefern rein präventive DiGAs in das Ver-zeichnis aufgenommen werden, bleibt daher weiterhin offen. Somit werden DiGAs mit patientenrelevanter Struktur- und Verfahrensver-besserungen im DiGA-Verzeichnis hinzukommen, die über einen präventiven Ansatz hinausgehen und zu einer Therapieentschei-dung beitragen.

Sollten Anbieter die positiven Versorgungseffekte bei Antragstellung noch nicht nachweisen können, ist eine vorläufige Aufnahme in das Verzeichnis für eine regelhafte Dauer von einem Jahr möglich. Auch temporär gelistete DiGA sind bereits zu Lasten der GKV erstat-tungsfähig. Diese „Erprobungsphase“ soll es Anbietern ermögli-chen, die notwendige Evidenz für den abschließenden Nachweis positiver Versorgungseffekte und damit eine dauerhafte Erstattungs-fähigkeit zu generieren. Die Anforderungen des DVG an das Verfah-ren und die zu erbringenden Nachweise wurden per Rechtsverord-nung des BMGs sowie durch einen vom BfArM herausgegebenen Leitfaden weiter spezifiziert.48 Auffällig sind dabei vor allem die ge-forderten Evidenzstandards. Im Gegensatz zu anderen etablierten Bewertungsverfahren im GKV-Erstattungskontext, wie dem der frü-

43 § 33 a Abs. 1 SGB V.44 Ärzte Zeitung (2020a).45 § 139 e Abs. 2 SGB V.46 BfArM (2020).47 BfArM (2020), S. 21 f.48 BfArM (2020).

DiGA-Verzeichnis

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30 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020 1

hen Arzneimittelnutzenbewertung, sind als Standard für den Nach-weis positiver Versorgungseffekte vergleichende retrospektive Stu-dienformen (z. B. Fall-Kontroll-Studien oder Kohortenstudien) vorge-sehen. Entsprechende Studien sollen „möglichst in der Versor-gungsrealität angesiedelt und mithilfe der Erhebung und Aufbereitung versorgungsnaher Daten durchgeführt werden.“49 Als mögliche Da-tengrundlagen werden unter anderem Daten aus digitalen Patienten-akten oder den DiGA selbst, aber auch Register- und Abrechnungs-daten genannt.

Letztere sollen nach dem Willen des Gesetzgebers in Zukunft deut-lich umfangreicher und in aktuellerer Form für Forschungszwecke zur Verfügung stehen als bisher. Im Kontext der frühen Nutzenbe-wertung trägt dies insbesondere der Forderung des GKV-Spitzen-verbandes nach einer Verbesserung der Datenlage im Rahmen der Erstattungsbetragsverhandlungen Rechnung.50

Um eine bessere Datengrundlage für verschiedenste Forschungs-vorhaben zu schaffen, sieht der Gesetzgeber im DVG auch Überar-beitung der gesetzlichen Aufgaben der Datentransparenz vor. Dem-zufolge wird die bereits bestehende Datenaufbereitungsstelle am Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) zu einem kassenübergreifenden Forschungsdatenzentrum weiterentwickelt.51 In diesem sollen zukünftig die Abrechnungsdaten sämtlicher gesetzlicher Krankenkassen nach vorheriger Sammlung und Pseudonymisierung durch den GKV-SV zusammenfließen. Auf Antrag erhält dann ein eng begrenzter Nutzerkreis, der unter ande-rem Behörden, Forschungseinrichtungen oder Universitätskliniken umfasst, Zugriff auf die im Forschungsdatenzentrum gesammelten Daten, um diese für Forschungsvorhaben zu nutzen. Pharmazeuti-sche Unternehmer sind unter den in § 303 e Abs. 1 SGB V aufge-zählten potenziellen Nutzungsberechtigten nicht genannt.

Der Zugriff zum Forschungsdatenpool ist an strenge Auflagen ge-knüpft. Beispielsweise erhält ein Antragsteller nur dann Zugriff auf pseudonymisierte Einzeldatensätze, wenn er der Geheimhaltung verpflichtet ist und nachvollziehbar darlegt, dass die angeforderten Daten für sein geplantes Forschungsvorhaben auch erforderlich sind.52 Das DVG konkretisiert zudem, dass die Vertrauensstelle beim Robert-Koch-Institut und das Forschungsdatenzentrum selbst beim BfArM angesiedelt werden. Beide Institutionen führen die damit ver-bundenen neuen Aufgaben eigenständig und getrennt von ihren üb-rigen Aufgaben aus. Erstmals sollen im Jahr 2022 (für das Berichts-jahr 2021) Teile des vorgesehenen Datenumfangs von den Kranken-kassen an den GKV-SV als zentrale Sammelstelle übermittelt wer-

49 BfArM (2020).50 Haas et al. (2019), S. 196 f.51 303d SGB V; siehe hierzu www.dimdi.de/dynamic/de/weitere-fachdienste/versor-

gungsdaten/.52 § 303 e Abs. 3 SGB V.

Änderungen der Datentransparenz-

verordnung

Datenzugang

Page 51: AMNOG-Report 2020 - DAK

311 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020

den. Ab 2024 (Berichtsjahr 2023) ist dann eine Bereitstellung des vollständigen Datenumfangs vorgesehen.

Insbesondere der GKV-SV hat in der Vergangenheit mehrfach eine Verbesserung der Datenverfügbarkeit zum Zwecke einer Monitorie-rung nutzenbewerteter Arzneimittel angeregt. Im Rahmen der Er-stattungsbetragsverhandlungen stehen dem GKV-Spitzenverband, und damit analog auch dem pharmazeutischen Unternehmer, gem. § 84 Abs. 5 SGB V Daten aus der Arzneimittelschnellinformation (GAmSi) sowie gem. § 217 f SGB V Daten aus den Datenlieferungen an den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich zur Verfü-gung. Diese verfügen jedoch nur über einen sehr eingeschränkten Informationsumfang und sind in der Regel nicht oder nur sehr einge-schränkt in der Lage, Fragestellungen zur nutzenbasierten Preisbil-dung zu unterstützen.

Diese Fragen zielen wiederum insbesondere darauf ab, zu prüfen, in wie fern eine arbiträre (in der Regel auf epidemiologischen Daten basierende) Gewichtung verschieden bewerteter Teilpopulation ad-äquat in einem Preis abgebildet werden können (sog. Mischpreisbil-dung). Wie im AMNOG-Report 2018 exemplarisch gezeigt, ist es in einigen (gleichwohl nicht allen) bisherigen Mischpreiskonstellatio-nen möglich, auf Basis der Abrechnungsdaten gesetzlicher Kran-kenkassen, das Verordnungsgeschehen entlang der vom GBA diffe-renzierten Teilpopulationen eines Arzneimittels nachzuvollziehen.53 Inwiefern zukünftig Daten des aufzubauenden Forschungspools auch für Analysen dieser Teilpopulationen im Versorgungsgesche-hen genutzt werden, ist abzuwarten. Sicher ist lediglich, dass sich alle Teilpopulationskonstellationen innerhalb der Nutzenbewertung nicht in GKV-Abrechnungsdaten, also auch nicht in einem zukünfti-gen Forschungsdatenpool, abbilden lassen. Es bleibt insofern abzu-warten, inwiefern die Integration weiterer Datenpools (zum Beispiel die ePA) diesen blinden Fleck zukünftig zu beheben vermag.

Auch das unmittelbar vor der parlamentarischen Sommerpause vom Bundestag beschlossene „Gesetz zum Schutz elektronischer Patientendaten in der Telematikinfrastruktur“ (Patientendaten-Schutz-Gesetz – PDSG) setzt am Themenbereich „versorgungsna-he Daten“ an.54 Das Gesetz regelt unter anderem weitere Details der ab 2021 verfügbaren ePA. Neben Festlegungen zu spezifischen In-halten der Akte sieht es unter anderem eine Verpflichtung der Leis-tungserbringer zur Befüllung der Akte, Übertragungsmöglichkeiten bei Kassenwechseln sowie Regelungen zum Zugriffsmanagement vor. Auf besondere Beachtung im Gesetzgebungsprozess stieß zu-dem die Möglichkeit einer Datenspende zu Forschungszwecken. So soll es Versicherten spätestens ab 2023 auf freiwilliger Basis mög-lich sein, die in ihrer ePA gespeicherten Daten pseudonymisiert und verschlüsselt an das neu eingeführte Forschungsdatenzentrum zu

53 Greiner, Witte (2018), S. 189.54 Ärzte Zeitung (2020c).

Bislang verfügba-rer Informations-umfang

Daten nutzbar für Mischpreisproble-matik?

Patientendaten-Schutz-Gesetz

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32 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020 1

übermitteln und der medizinischen Forschung zur Verfügung zu stel-len. In Ergänzung zu dem im Rahmen des DVG reformierten Daten-transparenzverfahrens soll dies dazu beitragen, „eine solide Daten-grundlage für die Forschung, zur Qualitätssicherung und zur Ver-besserung der Gesundheitsversorgung zu generieren.“55 Der Ge-setzesbegründung zufolge könnten die übermittelten Daten etwa zur Untersuchung medizinischer Zusammenhänge sowie der Identi-fikation von innovativen Behandlungsansätzen dienen.

Im Grundsatz stieß die mit den gesetzlichen Neuregelungen inten-dierte bessere Erschließung ohnehin erhobener Abrechnungs- und ePA-Daten zu Forschungszwecken auf weitreichenden Zuspruch. Erwartungsgemäß wurden die Anpassungen der Datentransparenz insbesondere vonseiten der öffentlichen Forschung begrüßt.56 So betonte etwa der Verband der Universitätsklinika, die Erschließung von Routinedaten für die medizinische Forschung stehe in besonde-rem Interesse des Allgemeinwohls und ermögliche die Entwicklung zielgerichteter Therapien und weltmarktfähiger Innovationen. Unter anderem aus der Opposition sowie von Patientenvertretern und Ethikern wurde jedoch auch grundlegende Kritik an fehlenden Wi-derspruchsmöglichkeiten der Versicherten im Zuge der Übermitt-lung ihrer Abrechnungsdaten an das Forschungsdatenzentrum laut.57 Der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Peter Dabrock, stellte diesbezüglich fest, dass die Auswertung von Gesundheitsda-ten zwar massive Fortschritte für Patienten bringen könne, Gesund-heitsminister Spahn das Recht der Patienten auf Datensouveränität und informierte Einwilligung mit den getroffenen Regelungen jedoch nicht ausreichend ernst nähme.58 Das Projekt der Datennutzung sei damit komplett an der Bevölkerung vorbei geplant und verwirklicht worden. Trotz der vorgesehenen Sicherheitsmaßnahmen äußerte auch der Bundesdatenschutzbeauftragte, Ulrich Kelber, Bedenken und plädierte für eine Widerspruchsmöglichkeit der Versicherten ge-gen die Nutzung der persönlichen Abrechnungsdaten.59 Im Hinblick auf die Wahrung der informationellen Selbstbestimmung der Versi-cherten schloss sich neben den Spitzenverbänden der Freien Wohl-fahrtspflege unter anderem auch die Deutsche Psychotherapeuten Vereinigung (DPtV) dieser Forderung an.60

Von Industrieseite wurde darüber hinaus ihre fehlende Berechtigung zur Forschung an den im Forschungsdatenzentrum gespeicherten Daten bemängelt. In einer gemeinsamen Stellungnahme zum PDSG-Entwurf kritisierten mehrere eHealth-Verbände sowie der Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa), dass durch die Nicht-Berücksichtigung der Industrie die leistungsfähigsten Akteure vom Antragsrecht zum Forschungsdatenzentraum ausgeschlossen

55 Bt-Drs. 19/18793.56 Exemplarisch: AWMF (2019).57 Ärzte Zeitung (2019b).58 Ärzteblatt (2019).59 Ärzteblatt (2019).60 BAGFW (2019); DPtV (2019).

Datentransparenz für Forschungs-

zwecke

Industrie und Forschung?

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331 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020

werden würden.61 Nach eigenen Angaben des vfa wurden im Jahr 2018 insgesamt 87 Prozent der klinischen Studien in Deutschland von der Pharmaindustrie initiiert und durchgeführt. „Deshalb ist es falsch, ausgerechnet der Pharmaindustrie in Deutschland die An-tragsberechtigung beim geplanten Forschungsdatenzentrum zu ver-wehren“, so vfa-Präsident Han Steutel.62 Zukünftige Forschungser-gebnisse würden dadurch per se limitiert werden. Der Bundesver-band der Pharmazeutischen Industrie (BPI) wies darauf hin, dass sich als Konsequenz und Zielsetzung des AMNOG zunehmend ein Bedarf in Richtung einer Nutzung der im Forschungsdatenzentrum gespeicherten Daten ergebe.63

Die nun beschlossene Einrichtung eines umfassenden Datenfor-schungszentrums stellt indes einen wichtigen und längst überfälli-gen Schritt hin zu einer verbesserten Dateninfrastruktur für die Ver-sorgungsforschung in Deutschland dar. Entscheidende Impulse in diese Richtung erhoffte man sich bereits mit der nach längeren Dis-kussionen im Jahr 2012 erstmals verabschiedeten Datentranspa-renzverordnung und der anschließenden Einrichtung des Informati-onssystems Versorgungsdaten beim DIMDI.64 Dass die tatsächliche Nutzung des DIMDI-Datenpools weit hinter den ursprünglichen Er-wartungen zurückgeblieben ist, lässt sich nicht zuletzt auf den ho-hen Zeitverzug bei der Bereitstellung der Versorgungsdaten wie auch den eingeschränkten Detaillierungsgrad dieser Daten zurück-zuführen.65 Es ist zu begrüßen, dass der Gesetzgeber diese Defizite mit dem Forschungsdatenzentrum zu beheben versucht. Dabei steht außer Frage, dass Datenschutz- und Datensicherheit bei der Verarbeitung der Sozialdaten höchsten Stellenwert genießen. Die Erfahrungen mit dem DIMDI-Datenpool haben jedoch eindrucksvoll die negativen Auswirkungen der nahezu vollständigen Risikoaversi-on auf Seiten einiger Akteure im Gesundheitssystem aufgezeigt. Für die konkrete Ausgestaltung und zukünftige Weiterentwicklung des Datenforschungszentrums sollte dies eine Mahnung sein, die um-fangreichenden Nutzenpotenziale einer verbesserten medizinischen Forschung nicht wiederum den Bestrebungen zu opfern, selbst die unwahrscheinlichsten Risiken für die Versichertendaten auszu-schließen. Die getroffenen Sicherheitsvorkehrungen stellen insofern einen guten Kompromiss zwischen den konfligierenden Ansprüchen dar.

1.2.4 Perspektive von Versorgungsdaten im AMNOG-Prozess

Inwieweit das Forschungsdatenzentrum neben seiner vorgesehe-nen Rolle in der DiGA-Bewertung zukünftig auch verstärkt in die Arzneimittelnutzenbewertung einbezogen werden wird, dürfte maß-

61 Bio-Deutschland et al. (2020).62 Fricke (2020).63 BPI (2019).64 Krüger-Brand (2013).65 DIMDI (2016).

Forschungsdaten-pool

Zuverlässige Aussagekraft?

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34 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020 1

geblich von der Detailtiefe und Qualität der dort hinterlegten Daten abhängen. Im AMNOG-Prozess finden GKV-Abrechnungsdaten be-reits heute unter anderem zur Ermittlung der Prävalenz einer Er-krankung regelhaft Anwendung. Durch die Einführung möglicher anwendungsbegleitender Datenerhebungen im Zuge des GSAV stellte sich jedoch vermehrt auch die Frage, ob und wie sich aus entsprechenden Daten Aussagen zum Zusatznutzen eines Arznei-mittels ableiten lassen. Der GBA beauftragte daher das IQWiG mit einer wissenschaftlichen Ausarbeitung von Konzepten zur Generie-rung versorgungsnaher Daten und deren Auswertung zum Zwecke der Arzneimittelnutzenbewertung. Der im Januar 2020 veröffentlich-te Bericht kommt zu dem Schluss, dass Analysen auf Grundlage von Abrechnungsdaten oder Daten aus elektronischen Patientenak-ten aufgrund der eingeschränkten Abbildung relevanter Parameter (Patientencharakteristika und Endpunkte) sowie bestehender Män-gel hinsichtlich der Datenqualität derzeit ungeeignet für eine Beur-teilung des Zusatznutzens erscheinen.66 Darüber hinaus betont das IQWiG die Rolle qualitativ hochwertiger Patientenregister hinsicht-lich der vorgesehenen anwendungsbegleitenden Datenerhebungen. Es sei denkbar, Studien auf solchen Registern aufzusetzen und die erhobenen Daten für die erweiterte Nutzenbewertung von Arznei-mitteln zu verwenden. In den Augen des IQWiGs gehe es darum, versorgungsnahe Daten soweit wie möglich an die Evidenzgenie-rung von RCTs anzupassen. Vonseiten der Industrie stießen die Er-gebnisse des Berichts auf wenig Begeisterung. Der vfa kritisierte vielmehr, dass das IQWiG mit seinem Vorschlag seine bekannten Vorbehalte gegen die Nutzung von Versorgungsdaten nicht überwin-den konnte. Schließe sich der GBA diesem Methodenvorschlag an, würden Versorgungsdaten künftig kaum in die Zusatznutzenbewer-tung einfließen.67

1.3 Ausblick: die nächsten Reformprojekte im AMNOG

Die Erwartungshaltung eines unmittelbaren und uneingeschränkten Zugangs zu neuen (innovativen) Arzneimitteln ist bei Patienten, Leistungserbringern und Kostenträgern gleichermaßen vorhanden. Der Gesetzgeber hat diesen Anspruch in der jüngeren Arzneimittel-gesetzgebung untermauert. Ein HTA- und Preisbildungsprozess wie die frühe Nutzenbewertung bewegt sich damit zwangsläufig im Spannungsfeld dieser Erwartungshaltung einerseits und der Sicher-stellung einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung andererseits. Dazu hat sich das AMNOG in den letzten Jahren auch deshalb als tragfähiges Konstrukt erwiesen, weil es sich vonseiten aller am Verfahren beteiligten Parteien als lernfähig und anpassbar dargestellt hat.

66 IQWiG (2020).67 vfa (2020).

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351 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020

Aufgrund der vermehrten Zulassung von Hochpreistherapien hat sich auch international ein Diskurs um die Bezahlbarkeit (sog. „af-fordability challenge“)68 neuer Therapieverfahren entwickelt. Disku-tiert wird dabei, ob es zukünftig einer weiteren Marktzugangshürde bedarf, um die Bezahlbarkeit hochpreisiger Arzneimitteltherapien sicherzustellen. Gleichwohl ist derzeit offen, wie eine solche „fünften Hürde“ ausgestaltet werden könnte.

Abbildung 2: Hürden im Marktzugangsprozess neuer Arzneimittel

Quelle: Eigene Darstellung.

Unter den aktuellen gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen ist eine grundlegende Reform des AMNOG, weg von einem subsidi-ären Bewertungs- und Verhandlungsverfahren hin zu einer staatlich administrierten „harten“ vierten Hürde, also der Verknüpfung des Marktzugangs an ein Bewertungs- und Preisbildungsverfahrens, nur schwer vorstellbar. Eine sinnvolle Alternative könnte indes darin lie-gen, angemessene Höchstbeträge für neue Arzneimittel in einem fairen und transparenten Verfahren zu definieren, welche die Zah-lungsbereitschaft und -fähigkeit der GKV-Versichertengemeinschaft adäquat repräsentiert und gleichzeitig zu einem Interessenaus-gleich mit dem pharmazeutischen Unternehmer in der Lage ist.69 Gegen einen vollständigen Paradigmenwechsel spricht die hohe Akzeptanz und bisherige Flexibilität des AMNOG. Zudem bietet das Verfahren noch verschiedene Ansatzpunkte für gesetzgeberische Justierungen. Eine davon könnte in einer „Renaissance der Kosten-Nutzen-Bewertung“70 liegen.

1.3.1 Neue Vergütungsmodelle?

Die Mittel im Gesundheitswesen sind begrenzt. Den Entwicklungs-möglichkeiten der medizinischen und pharmazeutischen Wissen-schaft und dem steigenden Bedarf aufgrund der Alterung der Bevöl-kerung stehen in der GKV nur begrenzt wachsende oder zukünftig vielleicht sogar sinkende Mittel gegenüber. Daher wird es unver-meidbar sein, zu entscheiden, wie die knappen Ressourcen einge-

68 Exemplarisch: Hampson et al. (2018).69 Kohzer (2020).70 IQWiG (2019), S. 30.

Bezahlbarkeit als „fünfte Hürde?

Nachhaltige GKV-Finanzierung

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36 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020 1

setzt werden. Aus ökonomischer Sicht sollte dabei der Kosten-Nut-zen-Relation von medizinischen Maßnahmen ein wichtiger Stellen-wert zukommen. Denn werden die begrenzten Mittel vorwiegend für solche Verfahren eingesetzt, bei denen mit vergleichsweise wenig Aufwand „viel Gesundheit“ erzielt wird, kann der Gesundheitszu-stand der Bevölkerung stärker verbessert werden, als wenn die glei-chen Mittel für Maßnahmen mit geringen gesundheitlichen Erträgen eingesetzt werden. Ineffiziente Maßnahmen aus der Finanzierung der GKV-Versorgung herauszuhalten, scheint insbesondere vor dem Hintergrund eines solidarisch finanziertem Gesundheitssys-tems ethisch vertretbar, da nur so garantiert werden kann, dass auch langfristig die bestmögliche Versorgung nachhaltig finanzier-bar bleibt.71

Aktuell ist zu beobachten, dass der komparative Ansatz des AM-NOG in der Findung bzw. Aushandlung fairer und nachhaltiger Prei-se nicht hinreichend wirksam ist. Die Zulassung therapeutischer So-listen vergrößert das medikamentös behandelbare Patientenkollek-tiv. Für die GKV problematisch ist, dass trotz AMNOG-induzierter Reduktion des Erstattungsbetrages ein hoher Budgeteffekt entsteht, da keine Substitution bestehender Therapien erfolgt. Die Kosten der neuen Therapie fallen somit primär additiv an. Allerdings nutzt das AMNOG bislang auch nicht alle Instrumente, vorrangig die Kosten-Nutzen-Bewertung aus, um ein möglichst vollständiges Bild der Ef-fekte eines neuen Arzneimittels in der Preisfindung zu berücksichti-gen.

Besonders erfolgreiche neue Therapien haben für das GKV-Budget einen doppelt „negativen“ Effekt: Neben der (in der Regel) Erhöhung des Preisniveaus innerhalb einer Indikation kommt, bei fehlender Heilung, eine Erhöhung der jährlichen potentiellen Patientenzahl mit damit verbundenen Auswirkungen auf das GKV-Budget. Bislang fällt es dem System der nutzenbasierten Preisfindung schwer, Instru-mente zur Anpassung des Erstattungsniveaus an chronische Be-handlungssituationen zu entwickeln. Um den Charakteristiken chro-nischer Erkrankungen in einem solidarischen System gerecht zu werden, wären denkbare Instrumente Kosten-Nutzen-Analysen so-wie degressive Preis-Volumen-Verträge, beides Optionen, welche im bisherigen AMNOG-Kontext auf wenig Akzeptanz stießen.72

Der § 130 b-Erstattungsbetrag selbst ist in gewisser Hinsicht bereits ein zentraler, erfolgsorientierter Vergütungsvertrag. Nur definiert sich der „Erfolg“ dabei über den auf Basis früher klinischer Daten antizipierten Nutzen. Dieser ist mit großer Unsicherheit verbunden. Neben positiven Wettbewerbssignalen haben anschließende dezen-trale Verträge den Vorteil, diese Unsicherheit durch Monitoring be-stimmter patientenbezogener Erfolgsfaktoren wie ausbleibende Krankenhauseinweisungen oder ausbleibende bestimmte weitere

71 Pauge et al. (2020).72 AOK-Bundesverband via Handelsblatt (2018).

Ausbau der Rolle von

Selektivverträgen

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371 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020

Behandlungen zu reduzieren. Dies ist bislang auf Gesamt-GKV-Ebene nicht möglich. Zudem lassen sich durch Selektivverträge wei-tere Einsparungen erzielen. Dies hängt eng an der Bereitschaft pharmazeutischer Unternehmen weitere Preisnachlässe einzuräu-men, wenn entsprechende Rabatte nicht bekannt werden. Vor dem Hintergrund der internationalen Preisreferenzierung ein unter öko-nomischen Gesichtspunkten nachvollziehbares Verhalten.

Kosten-Nutzen-Bewertungen sind in Deutschland indes kein neues Thema. Seit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz aus dem Jahr 2004 sieht das SGB V vor, dass bei bestimmten Arzneimitteln eine „Bewertung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses“ stattfinden kann. Durch das AMNOG wurden diese Bewertungen jedoch an das Ende des Verfahrensprozesses, nach gescheiterten Schiedsverfahren, gestellt. Dann sind in der Regel schon 15 Monate seit Markteinfüh-rung eines neuen Arzneimittels vergangen. Nach aktueller Geset-zeslage können mindestens zwei weitere Jahre bis zum Ergebnis einer solchen Analyse vergehen. In dieser Zeit sind bei Einmalthera-pien für sehr seltene Erkrankungen im Zweifel schon alle Patientin-nen und Patienten einmal behandelt worden. Die Gesundheitsbe-hörde in Schottland (SMC) benötigt dagegen nur 4,5 Monate für die Kosten-Nutzen-Analysen neuer Therapien. Es bedarf deshalb der Initiative des Gesetzgebers, Impulse für eine gemeinsame Diskussi-on von Kosten und Nutzen neuer Therapien in Deutschland zu for-cieren.

Politisch scheint eine verpflichtende Kosten-Nutzen-Bewertung für alle neuen Arzneimittel derzeit hingegen kaum denkbar.73 Insbeson-dere von Seiten einiger Kostenträgern mehren sich jedoch die Stim-men, diese Daten zumindest fakultativ oder in bestimmten Verfah-renskonstellationen (z. B. ATMPs) obligatorisch in die Verfahren ein-zubringen. Dazu bedarf es jedoch zweier Voraussetzungen:

1. Einer offenen Diskussion zwischen GBA, pharmazeutischen Un-ternehmern und dem GKV-Spitzenverband, in welcher Form und vor allem auf welcher Datenbasis Kosten-Nutzen-Bewertungen sinnvoll in die bisherige AMNOG-Systematik als zusätzliche Ent-scheidungsgrundlage eingebunden werden können.

2. Eine offene Diskussion zwischen dem IQWiG und der maßgeb-lich tangierten Fachöffentlichkeit, Medizinern, Ökonomen und Ethikern, über die Methoden der Kosten-Nutzen-Bewertung.

Ob und wann es überhaupt zu einer Etablierung des Instruments kommt, bleibt abzuwarten. Wichtige Stakeholder sprechen sich ge-genwärtig nicht für eine neue „vierte Hürde“ aus, obgleich der aka-demische Diskurs dies nicht widerspiegelt. So hebt der GKV-SV auf einer Tagung hervor, dass erst andere Maßnahmen ausgeschöpft werden sollten, beispielsweise die Erstattungsfähigkeit bei bestimm-ten Indikationen von dem Zusatznutzen abhängig zu machen, bevor

73 Ärzteblatt (2020a).

Kosten-Nutzen-Bewertung theoretisch möglich

Weitere Impulse erforderlich

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38 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020 1

Kosten-Nutzen Bewertungen erwägt würden.74 Auch der GBA lehnt gegenwärtig eine Kosten-Nutzen-Analyse mit Einbezug des Nut-zens gemessen an QALYs (sog. „quality adjusted life years“) ab.75 Das IQWiG hingegen scheint derweil eine Renaissance der Kosten-Nutzen Bewertungen nicht auszuschließen und kündigt an, die Me-thoden hierzu weiterzuentwickeln.76 Es bleibt also spannend, wel-chen Weg das AMNOG zukünftig in dieser Frage einschlägt.

1.3.2 EU-HTA

Um die internationale HTA-Zusammenarbeit auch nach Auslaufen der projektbasierten Kooperation im Rahmen von EUnetHTA zu ver-stetigen und die Arzneimittelbewertung innerhalb der Europäischen Union (EU) stärker zu harmonisieren, legte die EU-Kommission im Januar 2018 einen Vorschlag für eine Verordnung über die Bewer-tung von Gesundheitstechnologien vor. Kern der Regelungsvor-schläge war die Einführung EU-weiter klinischer Bewertungen für zentral zugelassene neue Arzneimittel, bestimmte Hochrisiko-Medi-zinprodukte und In-vitro-Diagnostika (EU-HTA). Aufgrund seiner um-fassenden und in diesem Ausmaß nicht zu erwarteten Eingriffe in die HTA-Kompetenzen der Mitgliedstaaten sorgte der Kommissions-vorschlag im Nachgang seiner Veröffentlichung für rege Diskussio-nen sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene. Den AMNOG-Report beschäftigt das Thema „EU-HTA“ nun bereits das dritte Jahr in Folge. Im vergangenen Jahr informierte der Report ausführlich über die Inhalte des von der Europäischen Kommission initiierten Gesetzesvorhabens, die Positionen der zentralen Akteure hierzu sowie den Werdegang und den aktuellen Stand des Verfah-rens.77

Kurz vor Redaktionsschluss des letztjährigen Reports war der Ver-ordnungsentwurf in erster Lesung vom Parlament verabschiedet worden. Als nächster Meilenstein standen damit die Trilogverhand-lungen zwischen Parlament, Kommission und Rat auf dem Plan. De-ren Beginn war aufgrund der schwierigen Konsensfindung im Rat bis dato jedoch noch nicht absehbar. Trotz Willensbekundung der EU-Gesundheitsministerinnen und -minister zur Weiterentwicklung des Verordnungsvorschlags zeichnete sich bereits früh ab, dass sich die inhaltlichen Auffassungen der Beteiligten, insbesondere hin-sichtlich der Verpflichtung nationaler HTA-Behörden zur Berücksich-tigung der gemeinsamen Bewertungen, deutlich unterschieden. Während sich vor allem größere Mitgliedstaaten gegen eine Ver-bindlichkeit der Bewertungen aussprachen, wurde das Gesetzes-vorhaben gerade von kleineren Staaten ohne eigenes HTA-System unterstützt. Vor diesem Hintergrund sowie aufgrund anderer drän-

74 Ärzteblatt (2020a).75 Handelsblatt (2020).76 IQWiG (2019), S. 30.77 Greiner et al. (2019).

Harmonisierung der Nutzenbewer-

tung auf EU-Ebene

Status Quo

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391 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020

gender Themen auf EU-Ebene (Europawahl im Mai 2019, Brexitver-handlungen etc.) rechneten Experten Anfang des vergangenen Jah-res nicht mit einem Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens vor Antritt der deutschen Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälf-te 2020.78

Die Erwartungen im Hinblick auf ein langsames Fortschreiten des Verfahrens haben sich indes bestätigt. So konnte sich der EU-Rat bis heute noch nicht auf ein abschließendes Verhandlungsmandat für die inter-institutionellen Verhandlungen einigen. Im Jahr 2019 wurde die Entscheidungsfindung im Rat zunächst unter rumäni-scher und anschließend unter finnischer Ratspräsidentschaft mode-riert. Zuletzt legte die kroatische Präsidentschaft in der ersten Jah-reshälfte 2020 einen Kompromissvorschlag zur Schaffung einer Verhandlungsgrundlage für die Trilogverhandlung vor. Der Vorschlag sieht vor, dass die Einführung gemeinsamer europäischer Nutzen-bewertungen schrittweise und damit deutlich langsamer, als von Kommission und Parlament vorgesehen, erfolgen soll.79 So sollen Arzneimittelbewertungen zunächst auf Krebsmedikamente be-schränkt und dann in mehreren Schritten (zwei, fünf, acht Jahre) auf weitere Gruppen ausgedehnt werden. Für Medizinprodukte wird ein einzelfallbezogener Auswahlprozess vorgesehen, der sich an der grenzüberschreitenden Relevanz sowie der Patientenrelevanz des jeweiligen Produktes orientiert. Insgesamt trägt der Kompromissvor-schlag der kroatischen Ratspräsidentschaft damit der Sorge einiger Mitgliedsstaaten um die Entmachtung ihrer nationalen HTA-Behör-den Rechnung.

Auf Seiten von Kommission und Parlament stieß der Vorschlag je-doch auf wenig Zuspruch. Der Parlamentsberichterstatter zur HTA-Verordnung, Tiemo Wölken (SPD), hielt fest, dass die Vorschläge unambitioniert und für das Parlament nicht akzeptabel seien.80 So würden durch die anfängliche Beschränkung auf die Bewertung von Krebsmedikamenten weniger Produkte den neuen europäischen HTA-Prozess durchlaufen als während der freiwilligen Zusammen-arbeit im Rahmen von EUnetHTA. Der EVP-Sprecher im EU-Parla-ment, Peter Liese (CDU), zeigte sich angesichts der bislang verhär-teten Fronten zumindest froh, „dass sich der Ministerrat überhaupt konstruktiv mit dem Thema befasst und Kompromissvorschläge macht“.81 Zeitgleich hält das dritte EU-Arbeitsprogramm im Bereich „Gesundheit“ am kollaborativen Projekt EUnetHTA fest. Zwar endet die dritte Joint Action Ende 2020, doch sollen gemeinsame klinische Bewertungen auch danach weiterhin möglich sein, bis ein rechtli-ches Regelwerk für das EU-HTA in Kraft tritt.82

78 Ärzte Zeitung (2019a).79 Trappe (2020).80 Trappe (2020).81 Trappe (2020).82 Europäische Kommission (2020a).

Verabschiedung weiterhin nicht in Sicht

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40 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020 1

Mit der durch die Covid-19-Pandemie ausgelösten globalen Ge-sundheitskrise verlagerte sich der Fokus der Gesundheitspolitik na-tionaler und europäischer Ebene abermals weg von der Harmoni-sierung der Nutzenbewertung. Dies sowie die mit dem Lockdown einhergehenden Einschränkungen wirkten sich auch auf den Kon-sensprozess im EU-Rat aus. So konnten einem kürzlich veröffent-lichten Sachstandsbericht der kroatischen Präsidentschaft zufolge lediglich zwei der ursprünglich sechs im ersten Halbjahr 2020 ge-planten Arbeitsgruppentreffen zur Abstimmung der Verordnungsde-tails stattfinden.83 Zurückgeführt wird dies unter anderem darauf, dass die HTA-Experten der Mitgliedsstaaten im Zuge der Ausbrei-tung von Covid-19 aktiv Notfallaufgaben übernehmen mussten, so-dass eine weitere Bearbeitung des Verordnungsentwurfs nicht mög-lich gewesen sei. In seinem Bericht ist der kroatische Ratsvorsitz allerdings zuversichtlich, dass die vorgebrachten und in den zwei Arbeitsgruppentreffen erörterten Punkte von einem beträchtlichen Teil der Delegationen positiv aufgenommen wurden, womit eine so-lide Basis für die weitere Konsensbildung geschaffen sei. Der Aus-bruch der Covid-19-Pandemie unterstreiche zudem die Bedeutung eines rechtssicheren und funktionierenden HTA-Systems.

Lehren aus der Pandemie will auch die seit Juli 2020 amtierende deutsche Ratspräsidentschaft ziehen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn kündigte jüngst an, Deutschland strebe eine „Umset-zungspräsidentschaft“ und keine „Ankündigungspräsidentschaft“ an. Zentrales Ziel dabei: „gemeinsames Handeln für eine souveräne europäische Gesundheitspolitik“.84 Anfang Juli stellte Spahn den Ab-geordneten des Gesundheitsausschusses des Europäischen Parla-ments die Eckpunkte seiner Agenda für die deutsche Ratspräsident-schaft vor. Bereits zuvor war von Industrieseite Kritik laut geworden, dass das EU-HTA-Vorhaben in Spahns Plänen nur noch ein Randthema hinter Schwerpunkten wie einer besseren Krisenkoordi-nation oder der Sicherstellung der Arzneimittelversorgung in der EU darstelle. Statt sich in Diskussionen darüber zu verzetteln, Generi-kaproduktionen aus Asien zurück nach Europa zu holen, seien vor allem Fortschritte bei der Innovationsinfrastruktur entscheidend, so der vfa.85 Auch aus Sicht des Bundesverbandes der Arzneimittelher-steller (BAH) gelte es, mit attraktiven Rahmenbedingungen sicher-zustellen, „dass die Produktion, die sich noch in Europa befindet, nicht weiter abwandert“.86 Dabei betonten beide Verbände die Wich-tigkeit einer Weiterverfolgung der Harmonisierungsbestrebungen im Hinblick auf die Nutzenbewertung von Arzneimitteln.

Wenngleich kein explizites Schwerpunktthema bekräftigte Gesund-heitsminister Spahn, dass auch unter deutscher Ratspräsident-schaft aktiv weiter am Gesetzesvorhaben zum EU-HTA gearbeitet

83 https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-8737-2020-INIT/en/pdf.84 Staeck (2020).85 Winnat (2020).86 Winnat (2020).

Deutsche EU-Ratspräsident-

schaft

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411 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020

werden soll.87 Aus dem BMG hieß es hierzu konkret, man werde das Vorhaben im Rahmen der durch die Covid-19-Pandemie einge-schränkten Kapazitäten bestmöglich voranbringen und sich weiter-hin für eine zügige Beratung des Verordnungsvorschlags einset-zen.88 Angesichts der Schwierigkeiten bei der Konsensfindung im Rat bereits vor der Pandemie scheint es derzeit völlig offen, inwie-weit unter deutschem Vorsitz maßgebliche Fortschritte im Verfahren erzielt werden können. Sicher ist nur, dass die EU das Projekt EU-HTA noch nicht „begraben“ hat, da sie die Etablierung einer harmo-nisierten Nutzenbewertung weiterhin in dem Vorschlag zur neuen, vierten Gesundheitsstrategie (2021–2027) als ein Zielvorhaben de-klariert.89

1.3.3 Zukunft der Preistransparenz in Deutschland: Die USA auf dem „Highway to handle drug prices“

Bereits seit seinem ersten Wahlkampf kritisiert der derzeitige US-Präsident Donald Trump die im Vergleich zu anderen Industrienatio-nen hohen Arzneimittelausgaben sowie die im Vergleich zu anderen Industrienationen deutlich höheren Arzneimittelpreise in den USA. Aufgrund der Beschaffenheit des US-Gesundheitssystems führen diese individuell zu teilweise starken finanziellen Belastungen der US-Bevölkerung. Trumps Kritik zielt insbesondere auf die Preispro-gramme von Arzneimitteln ausländischer Regierungen ab. Der im Februar 2020 veröffentlichte Report des White House Council of Economic Advisers (CEA), ein Beratungsorgan des Präsidenten, bezeichnet die Preiskontrollen anderer Länder als ‚free-riding’, wo-durch höhere Preise in den USA zur Amortisierung von Forschungs- und Entwicklungsgelder innovativer Medikamente genutzt werden.90 So zahle beispielsweise Deutschland im Vergleich zu den USA nur rund 43 % des Preises der umsatzstärksten Patent-Medikamenten.

Die Argumentation des Reports beruht auf der ökonomischen An-nahme, dass unter realen Marktgegebenheiten ohne Preisrestriktio-nen in anderen Ländern der Wettbewerb zwischen den pharmazeu-tischen Unternehmen steige. Der Theorie folgend würden dadurch die Preise in ein globales Gleichgewicht gebracht werden und somit die Preise in den USA sinken. Vor dem Hintergrund der Regulie-rungsnotwendigkeit in einem von starken Informationsasymmetrien geprägten Arzneimittelmarkt ist dies ein eher theoretisches Denk-konstrukt. Für die politischen Debatten relevanter erscheint indes, dass neben hohen Marktpreisen in den USA proportional deutlich mehr in die Forschung und Entwicklung pharmazeutischer Produkte investiert wird (US 2016: 52,4 Bio. US-Dollar, Europa 2016: 33,9 Bio. Euro).91

87 Ärzteblatt (2020b).88 Laschet (2020).89 Europäische Kommission (2020b).90 Council Of Economic Adviser (2020).91 EFPIA (2020).

Dank „Freeriding“ zu günstigeren Arzneimittel-preisen?

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42 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020 1

Trump erklärt in seiner Rede zur Lage der Nation Ende Februar 2020 die Bereitschaft, eine Reduktion von Arzneimittelpreisen mit-tels einer überparteilichen Gesetzgebung zu erzielen. Eine stärkere Regulierung der USA durch beispielsweise restriktiveren Preisme-chanismen hätte im Sinne einer global interdependenten Welt auch Folgen für den deutschen Versorgungskontext. Dies könnten insbe-sondere verändernde Strukturen von Beteiligungen an Forschungs- und Entwicklungsgelder bewirken sowie Auswirkungen auf die Preisverhandlungen haben. Damit stünde auch die Diskussion über die Transparenz des Erstattungsbetrages in Deutschland wieder mehr im Vordergrund.

Ein in Deutschland vereinbarter Erstattungsbetrag für ein nutzenbe-wertetes Arzneimittel ist transparent. Dies ist im internationalen Ver-gleich weitestgehend einmalig und auch deshalb in Deutschland fortlaufend auf der gesundheitspolitischen Agenda. Die Diskussion um die Vertraulichkeit von Erstattungsbeträgen geht auf die Anfänge des AMNOG zurück und wurde bereits im Rahmen der 16. AMG-Novelle im Jahr 2012 erörtert.92 Zuletzt wurde im Rahmen des AMVSG 2017 kontrovers darüber diskutiert, ob die Vertraulichkeit des Erstattungsbetrages in Deutschland zu weiteren Preisnachläs-sen führen könnte.93 Damals entschied sich der Gesetzgeber, trotz breiter Initiative durch die pharmazeutische Industrie, für eine Bei-behaltung der Preistransparenz. Hauptargument für vertrauliche Er-stattungsbeträge waren seinerzeit potenziell höhere Preisnachläs-se, wenn Hersteller nicht mehr befürchten müssen, dass ein in Deutschland verhandelter Rabatt in eine Vielzahl von auf den deut-schen Preis referenzierenden Ländern ausstrahlt. Befürworter der Preistransparenz argumentierten jedoch, dass sich Unternehmen bei vertraulichen Erstattungsbeträgen einer gesellschaftlichen De-batte über die Preise von Innovationen94 sowie einem offenen Preis-wettbewerb95 entziehen können.

Gegenwärtig gibt es in beiden Kammern des Kongresses zwei kon-krete Bestrebungen für eine Gesetzgebung mit dem Ziel der Koste-neinsparung für staatlich Versicherte („Medicare“). Große Chancen wurde zunächst dem überparteilichen Gesetzesvorschlag der Se-natoren Charles Grassley (Republikaner) und Ron Wyden (Demo-kraten) zugesprochen. Kernstück des Vorschlages ist die Beschrän-kung von Preiserhöhungen auf die Inflationsrate sowie die Imple-mentierung von Obergrenzen für out-of-pocket-Ausgaben der Medi-care-Versicherten. Wenn die Unternehmen die Preise über die Inflationsrate hinaus anheben würden, wären sie gezwungen, einen Rabatt zu gewährleisten. Dies kommt dem auch in Deutschland im-plementierten Mechanismus des Preismoratoriums gleich.

92 Vfa (2011).93 Greiner, Witte (2017), S. 29–31.94 AOK (2016).95 Ärzteblatt (2016).

Auswirkungen auf den deutschen

Versorgungs-kontext

Zwei Gesetzes-vorhaben und ein

Donald Trump

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431 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020

Nach kleineren Anpassungen des Gesetzesentwurfs zog sich nun jedoch der Demokrat Wyden als Co-Sponsor des Gesetzes zurück; Grund sei laut Grassley, parteiinterne, taktische Bestrebungen der Demokraten.96 Der weitaus ambitioniertere Gesetzesvorschlag der Demokraten (‚Lower Drug Costs Now Act – HR 3’) im Repräsentan-tenhaus wird aufgrund der republikanischen Mehrheit im Senat we-niger Erfolgsaussichten zugerechnet. Zentrale Forderung des HR 3 ist die unmittelbare und verpflichtende Verhandlung des Erstat-tungspreises mit den pharmazeutischen Unternehmen, welche sich an den durchschnittlichen Referenzpreisen aus anderen Industrie-nationen orientieren soll. Die Berater des Präsidenten und Republi-kaner kritisieren hier primär, dass das Anreizsystem zur Entwicklung und Marktdurchdringung von innovativen Medikamenten im ameri-kanischen Markt gehemmt werden würde.97

Wegen des Umgangs mit der Covid-19-Pandemie bleibt abzuwar-ten, inwieweit Gesetzesvorhaben zur Reduktion von Medikamenten-preisen zeitnah verabschiedet werden. Auch Präsident Trump ver-sucht sich indes in der Debatte zu platzieren. So erließ er Ende Juli 2020 vier Dekrete zur Reduktion der Arzneimittelpreise, insbeson-dere durch Unterbindung geheimer Rabatte zwischen pharmazeuti-schen Unternehmen und „pharmacy benefit managers“.98 Der Ver-such jedoch hinkt, da erstens die Dekrete wenig neue Bestimmun-gen beinhalten und zweitens die Formulierung lediglich vage vor-sieht, dass die verhandelten Rabatte bei den Medicare-Beziehern in Form von Rabatten auf den Krankenkassenbeitrag ankommen. Es lässt zudem die hohen Listenpreise von Arzneimitteln außen vor. Darüber hinaus wiederholt er seine Forderung nach internationaler Referenzierung von Arzneimitteln zur Ermittlung angemessener Preise bei Medikamenten von Medicare-Versicherten99 Ob die Punk-te jedoch so umgesetzt werden, bleibt offen, da das Dekret lediglich an das Gesundheitsministerium appelliert, die Punkte umzuset-zen.100 Fakt ist, dass die hohen Arzneimittelpreise einen zentralen Punkt bei der Präsidentschaftswahlen im November 2020 haben könnten oder spätestens in der kommenden Legislaturperiode er-neut auf die Agenda der US-Gesundheitspolitik gesetzt werden.

Neben vorgeschlagenen Preismechanismen könnte auch eine neu etablierte Kooperation bei Zulassungsverfahren von Medikamenten den deutschen und europäischen Versorgungskontext langfristig be-einflussen. Das Project ORBIS, angestoßen von der U. S. Food and Drug Administration (FDA), zielt auf eine Zusammenarbeit bei On-kologika zwischen internationalen Zulassungsbehörden ab. Aktuell beteiligen sich neben der FDA, die australische Therapeutic Goods Administration und Health Canada. Zwei Zulassungen wurden be-

96 Grassley (2020).97 Council Of Economic Adviser (2019).98 APM health europe (2020).99 APM health europe (2020).100 U. S. Department for Health & Human Service (2020).

ORBIS – Die Kon-kurrenz der Zukunft?

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44 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020 1

reits kollaborativ durchgeführt: Lenvima (Lenvatinib) in Kombination mit Keytruda (Pembrolizumab) zur Behandlung des fortgeschritte-nen Endometriumkarzinoma (September 2019) sowie Calquence (Acalabrutinib) als Erst- oder Folgetherapie bei chronischer lympha-tischer Leukämie oder kleinem lymphatischem Lymphom (Novem-ber 2019).101

Weitere Zulassungsbehörden aus Singapur und der Schweiz haben bereits ihr Interesse an einer Beteiligung am Projekt bekundet. Soll-te sich in Folge des vollzogenen Brexits auch Großbritannien am Projekt beteiligen, könnte die Bedeutung des Projektes nochmals deutlich erhöht werden. Durch die Bündelung von Zulassungsbehör-den aus Industrienationen außerhalb der Europäischen Union könn-te es zu einer Verschiebung der Bedeutung von EMA Zulassungs-entscheidungen kommen. In der Praxis suchen zahlreiche marktrei-fe Produkte zunächst eine Zulassung in den USA bevor eine Bewer-bung in weiteren Ländern, insbesondere der EU, stattfindet, ggf. um hier eine zügige Amortisierung ihrer neuen Produkte zu begünsti-gen. Eine schnelle Zulassung in mehreren Industrienationen außer-halb der EU könnten zu einem verzögerten Zugang zu innovativen Medikamenten innerhalb der EU bedeuten, da sich die Priorisierung der pharmazeutischen Unternehmen hin zur Markteinführung der Produkte in den ORBIS Ländern verlagern würde. Dies könnte fer-ner Auswirkungen auf die Anforderungsstandards der Evidenzen des Dossiers sowie auf die Preisverhandlung haben. Die Ambitio-nen der USA in dem Zusammenhang können bereits als Versuch gewertet werden, die Attraktivität und damit mögliche höhere Vergü-tung von innovativen Medikamenten außerhalb der USA zu erzielen, um die Amortisierungskosten auch auf andere Länder zu verteilen.

1.4 Literatur

AOK (2016): Pharmadialog zu Ende – alles offen. Pressemitteilung vom 12.04.2016.

APM health europe (2020): Trump resurrects plans to tackle drug rebates ahead of November election: APM health europe on-line vom 27.07.2020.

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fach-gesellschaften, AWMF (2019): Stellungnahme zum Referen-tenentwurf eines Gesetzes für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation (Digitale Versorgung-Gesetz –DVG) vom 15.05.2019.

Arzneimittelegramm (2015): Weiterhin Mondpreis für Hepatitis-C-Mittel Sofosbuvir (Sovaldi) … Die Mär von 27 % Preisnach-lass. a-t; 46: 17–18.

101 FDA (2020).

Page 65: AMNOG-Report 2020 - DAK

451 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020

Krüger-Brand, HE (2013): Datentransparenz: Einblick ins Versor-gungsgeschehen. Deutsches Ärzteblatt; 110(4): A-120/B-110/C-110.

Ärzteblatt (2016): Pro und Contra: Erstattungsbeträge rückwirkend ab dem ersten Tag? Ärzteblatt online vom 26.02.2016.

Ärzteblatt (2019): Bundestag beschließt Digitalisierungsgesetz für das Gesundheitswesen. Ärzteblatt online vom 07.11.2019.

Ärzteblatt (2020a): Hochpreisige Arzneimittel befeuern Diskussion um Kosten-Nutzen-Bewertung. Ärzteblatt online vom 12.02.2020.

Ärzteblatt (2020b): Spahn will „Umsetzungs präsidentschaft“, keine „Ankündigungs präsidentschaft“. Ärzteblatt online vom 07.07.2020.

Ärzte Zeitung (2019a): EU-Nutzenbewertung könnte 2020 stehen. Ärzte Zeitung online vom 07.01.2019.

Ärzte Zeitung (2019b): Bundesgesundheitsministerium verteidigt Datennutzung. Ärzte Zeitung online vom 04.11.2019.

Ärzte Zeitung (2020a): Broich: Plausible Darlegung positiver App-Effekte sollte reichen. Ärzte Zeitung online vom 22.01.2020.

Ärzte Zeitung (2020b): Software für Infos zum Zusatznutzen von Arzneimitteln erst ab Oktober. Ärzte Zeitung online vom 04.07.2020.

Ärzte Zeitung (2020c): Koalition bringt E-Patientenakte Richtung Versorgung. Ärzte Zeitung online vom 03.07.2020.

Bio-Deutschland, bitkom, bvitg, BVMed, Spectaris, VDGH, vfa, ZVEI (2020): Gesundheitsdaten retten Leben: geregelten Zugang und Nutzung für private Forschung ermöglichen. Positionspa-pier vom 15.05.2020.

Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V., BAGFW (2019): Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Inno-vation (Digitale-Versorgung-Gesetz – DVG)(BT-Drs. 19/13438) sowie zur Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stel-lungnahme des Bundesrats zum DVG (BT-Drs. 19/13548) und dem Antrag von BÜNDNIS 90/Die GRÜNEN (BT-Drs. 19/13539) vom 11.10.2019.

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, BfArM (2020): Das Fast Track Verfahren für digitale Gesundheitsanwendun-gen (DiGA) nach § 139 e SGB V. Ein Leitfaden für Hersteller, Leistungserbringer und Anwender. Stand: 31.07.2020.

Bundesverband der pharmazeutischen Industrie, BPI (2014): Stel-lungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stär-kung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversiche-

Page 66: AMNOG-Report 2020 - DAK

46 Nutzenbewertung von Arzneimitteln – Politisches Update 2020 1

rung (GKV-Versorgungsstärkungsgesetz – GKV-VSG) vom 06.11.2014.

Bundestagsdrucksache, BT-Drs. 17/2413: Gesetzentwurf der Bun-desregierung Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung (Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz – AMNOG) vom 06.07.2010.

Bundestagsdrucksache, BT-Drs. 17/3116: Gesetzentwurf der Bun-desregierung Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung (Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz – AMNOG) vom 01.10.2010.

Bundestagsdrucksache, BT-Drs. 17/10912: Kleine Anfrage vom 02.10.2012, Beeinträchtigung der Arzneimitteltherapie durch wirtschaftliche Interessen der Pharmaindustrie.

Bundestagsdrucksache, BT-Drs. 17/12003: Antwort der Bundesre-gierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Birgitt Ben-der, Dr. Harald Terpe, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Drucksache 17/11917) vom 03.01.2013, Mögliche Umset-zungsprobleme bei der Abwicklung des Erstattungspreises für neue Arzneimittel nach dem Arzneimittelmarktneuord-nungsgesetz.

Bundestagsdrucksache, BT-Drs. 18/260: Antwort der Bundesregie-rung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Kathrin Vogler, Sabine Zimmermann (Zwickau), Harald Weinberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (Drucksache 18/230) vom 08.01.2014, Preispolitik bei dem Arzneimittel Lemtrada® und mögliche Gesetzeslücke.

Bundestagsdrucksache, BT-Drs. 18/2673: Antwort der Bundesregie-rung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Kathrin Vogler, Sabine Zimmermann (Zwickau), Azize Tank, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKE. (Drucksache 18/2501) vom 26.09.2014, Die sogenannte 1000-Dollar-Pille Sovaldi®.

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Page 71: AMNOG-Report 2020 - DAK

51

2. Note „gut“ für das AMNOG – Ergebnisse einer Stakeholderbefragung

2.1 Qualitative und quantitative Aspekte des AMNOG- Reportings

Die Verabschiedung des AMNOG im Jahr 2010 stellte einen Wende-punkt für die Preisbildung neuer Arzneimittel in Deutschland dar. Schon im Gesetzgebungsprozess zeigten sich einmal mehr die tra-ditionell unterschiedlichen Positionen der verschiedenen Stakehol-der im Arzneimittelsektor – die Einschätzungen zum Gesetzesvor-haben reichten von Ablehnung wesentlicher Aspekte bis hin zu gro-ßer Zustimmung.

Um ein umfassendes und möglichst objektives Bild der frühen Arz-neimittelnutzenbewertung und ihrer Implikationen zu erhalten, wur-den seit 2015 für die AMNOG-Reporte die Beschlussdokumente sowie begleitende Daten zu Bewertungsverfahren und den anschlie-ßenden Erstattungsbetragsverhandlungen systematisch zusam-mengetragen und analysiert. Um praktische Herausforderungen der Nutzenbewertung zu identifizieren, wurde für den AMNOG-Report 2016 zudem erstmals eine qualitative Befragung unter niedergelas-senen Ärzten durchgeführt. Diese zeigte, dass die Ergebnisse der frühen Nutzenbewertung unter den teilnehmenden Ärztinnen und Ärzten zum damaligen Zeitpunkt weder bekannt waren, noch be-sonderen Einfluss auf ihre Verordnungsentscheidungen gehabt ha-ben. Ein Befund mit Tragweite, denn auch andere Untersuchungen haben eine mangelnde Kongruenz von Nutzenbewertungsergebnis-sen und Versorgungsgeschehen gezeigt. 2017 entschied sich der Gesetzgeber daher dazu, die Nutzenbewertungsergebnisse in ein Arztinformationssystem einfließen zu lassen und eine zentrale Neu-justierung des AMNOG-Prozess vorzunehmen (vgl. Kap. 1.2.1).

Aufgrund der vermehrten Zulassung von Hochpreistherapien hat sich zuletzt national wie international ein Diskurs um die Bezahlbar-keit neuer Therapieverfahren entwickelt (sog. „affordability challen-ge“). Diskutiert wird, ob es zukünftig einer weiteren Marktzugangs-hürde bedarf, um die Bezahlbarkeit hochpreisiger Arzneimittelthera-pien sicherzustellen. Ein HTA- und Preisbildungsprozess, wie er mit dem AMNOG implementiert wurde, bewegt sich dabei zwangsläufig im Spannungsfeld zwischen der Erwartung eines unmittelbaren und uneingeschränkten Zugangs zu neuen (innovativen) Arzneimitteln einerseits und der Sicherstellung einer ausreichenden, zweckmäßi-gen und wirtschaftlichen Versorgung andererseits. Der AMNOG-Prozess hat sich in den letzten Jahren auch deshalb als tragfähiges Konstrukt erwiesen, welches diesen mitunter konfligierenden An-sprüchen Rechnung trägt, weil es sich als lernfähig und anpas-sungsfähig gezeigt hat.

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52 Note „gut“ für das AMNOG – Ergebnisse einer Stakeholderbefragung 2

Vor diesem Hintergrund haben wir die verschiedenen am Prozess beteiligten Stakeholder für den vorliegen „Jubiläums-Report“ be-fragt, wie sie den implementierten Prozess aus früher Nutzenbewer-tung und anschließenden Erstattungsbetragsverhandlungen rückbli-ckend bewerten, was aus ihrer Sicht die größten Streitthemen der letzten zehn Jahre waren und welchen Herausforderungen sich der AMNOG-Prozess in den kommenden Jahren stellen muss. Die Er-gebnisse dieser Befragung sollen im Folgenden vorgestellt werden.

2.2 Methodik

Grundlage der Befragung war ein webbasierter Fragebogen mit ins-gesamt acht Fragen, unterteilt in drei Themenkomplexe. Der erste Teil dieser Erhebung bildet in zwei Fragen ab, welche Hauptzielset-zung das AMNOG aus Sicht der Teilnehmer verfolgt. Anschließend folgt in drei Fragen eine Rückschau der frühen Nutzenbewertung hinsichtlich Erfolgs-/Misserfolgsfaktoren sowie die Benennung rele-vanter Streitpunkte des Verfahrens. Abschließend beleuchtet die Er-hebung die Zukunftsfähigkeit und Veränderungspotenziale des AM-NOG.

Versendet wurde der Fragebogen an fünf verschiedene Adressaten-gruppen: Krankenkassen(-verbände), Kassenärztliche Vereinigun-gen, Industrie(-verbände), weitere Institutionen der Selbstverwal-tung und Vertreter der Politik. Insgesamt wurden 101 Personen via E-Mail im Mai 2020 angeschrieben. Bis zum Umfrageende am 3. Ju-ni 2020 nahmen 45 Personen teil. Die Angaben von 39 Personen waren verwertbar, sodass sich eine Netto-Rücklaufquote von 40 % ergibt. Eine mögliche Verzerrung hinsichtlich der GKV-Perspektive sollte bei der Interpretation aller Ergebnisse berücksichtigt werden, da unter den Teilnehmenden überproportional viele Krankenkassen-vertreter sind: Bei den insgesamt 39 Teilnehmern der Umfrage han-delt es sich um 17 Krankenkassen(-verbands)vertreter, neun Vertre-ter kassenärztlicher Vereinigungen, sieben Ansprechpartner aus der Arzneimittelindustrie bzw. deren Verbände, zwei Vertreter aus der Politik sowie vier Vertreter weiterer Institutionen der Selbstverwal-tung. Die Befragung sowie die anschließende Auswertung erfolgten anonymisiert, ein Rückschluss auf antwortende Personen oder ein-zelne Institutionen ist nicht möglich, wohl aber Vergleiche zwischen den Teilnehmergruppen.

2.3 Rückblick: Ziele und Charakteristika des AMNOG

Über den Großteil der Teilnehmer hinweg zeichnet sich ein positives Feedback zur frühen Nutzenbewertung ab. So bewerteten mehr als 70 % der Befragten das AMNOG mit der Note gut bzw. sehr gut (sie-he Abbildung 3). Rund ein Viertel der Teilnehmer stufte das AMNOG als befriedigend ein. Lediglich ein Befragter bewertete den Prozess mit ausreichend. Die Noten „mangelhaft“ und „ungenügend“ wurden

Schulnote „Gut“ für das AMNOG

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532 Note „gut“ für das AMNOG – Ergebnisse einer Stakeholderbefragung

nicht vergeben. Es lässt sich zudem keine Stakeholdergruppe aus-machen, die überproportional häufig eine bestimmte Schulnote ver-gab. Trotz aller anfänglichen Bedenken zeigt sich zehn Jahre nach seiner Einführung somit eine hohe Akzeptanz des Verfahrens über alle Stakeholder-Gruppen hinweg.

Abbildung 3: Welche Schulnote geben Sie dem AMNOG? (n = 39)

Quelle: Eigene Erhebung, Stand 03.06.2020

Konsens zeichnet sich auch bei der Bestimmung der Zielsetzung des AMNOG ab (siehe Tabelle 7). Mehr als 60 % der Befragten se-hen das primäre Ziel des AMNOG in der zusatznutzenorientierten Preisbildung bei innovativen Arzneimitteln. Das AMNOG wird inso-fern nicht als isolierter Nutzenbewertungsprozess wahrgenommen, sondern vielmehr auch als ein Katalysator für die anschließende Preisverhandlung (bzw. Festsetzung oder Festbetragsgruppenzu-weisung) verstanden. Es trägt damit der damaligen Gesetzesbe-gründung Rechnung, welche die wirtschaftliche und kosteneffiziente Preisbildung als ein Hauptziel formulierte. Als Problemhintergrund wurden damals die steigenden Ausgaben für patentgeschützte Arz-neimittel in der GKV angeführt. Das AMNOG sollte daher insbeson-dere zur Dämpfung dieses Ausgabenanstieges beitragen. Dies sieht auch heute noch knapp ein Fünftel der Befragten als primäres Ziel des AMNOG-Prozesses. Ein weiteres Fünftel der Teilnehmenden gaben zudem an, dass die generelle Transparenz über den Zusatz-nutzen Kern des AMNOG sei. Das Informieren von Ärztinnen und Ärzten sowie von Patientinnen und Patienten wurde hingegen nicht als primäres Ziel bewertet.

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54 Note „gut“ für das AMNOG – Ergebnisse einer Stakeholderbefragung 2

Tabelle 7: Zielsetzung des AMNOG

Zielsetzung Häufigkeit

Preise am Zusatznutzen orientieren 24 (62 %)

Ausgaben senken bzw. Ausgabensteigerungen abmildern

7 (18 %)

Transparenz über den (Zusatz-)nutzen neuer Arzneimittel schaffen

8 (20 %)

Ärztinnen und Ärzte informieren 0 (0 %)

Patientinnen und Patienten informieren 0 (0 %)

Sonstiges 0 (0 %)

Basis: n = 39.

Quelle: Eigene Erhebung, Stand 03.06.2020.

Um die Wahrnehmung des AMNOG im Detail zu beurteilen, sollten die Teilnehmenden diesem passende Attribute aus mehreren polari-sierenden Begriffspaaren zuzuordnen. Im Ergebnis zeigt sich, dass das AMNOG von fast allen Befragten als wissenschaftlich fundiert und hinsichtlich der Anforderungen und Ergebnisse transparent wahrgenommen wird (vgl. Abbildung 4). Knapp fünf von sechs Teil-nehmern gaben zudem an, dass das Nutzenbewertungsverfahren sowie die anschließenden Erstattungsbetragsverhandlungen plan-bar und fair sind. Eine in internationalen Vergleichsanalysen häufig hervorgehobene Stärke der frühen Nutzenbewertung in Deutsch-land ist, dass das Verfahren eine frühe Marktverfügbarkeit neuer Arzneimittel unterstützt.102 Dafür ist es auch erforderlich, dass das Verfahren möglichst schnell zu einem Bewertungsergebnis führt. Vier von fünf Befragten beurteilen den AMNOG-Prozess rückbli-ckend als „schnell“. Gleichwohl kommen zum Beispiel bei adaptiven Zulassungen und einem auf versorgungsbegleitende Evidenzgene-rierung ausgerichteten Marktzugang neue Herausforderungen auf die abgestimmte Beratung der pharmazeutischen Unternehmer durch Zulassungs- und HTA-Behörden zu. Hier bedarf es der ge-meinsamen Anstrengung aller beteiligten Parteien, auch zukünftig am schnellen Verfahrensablauf festzuhalten. Dies kann nur im ko-operativen Austausch gelingen. An dieser Stelle offenbart die Befra-gung einen gewissen Nachholbedarf. So nehmen lediglich 59 % al-ler Befragten die frühe Nutzenbewertung als kooperativ wahr, wäh-rend 41 % das Verfahren als anordnend beschreiben. Interessant dabei: In dieser Einschätzung zeigen sich keine wesentlichen Unter-schiede zwischen Industrie- und Kassenvertretern.

102 Busse et al. (2018).

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552 Note „gut“ für das AMNOG – Ergebnisse einer Stakeholderbefragung

Abbildung 4: Charakterisierung des AMNOG (n = 39)

Quelle: Eigene Erhebung, Stand 03.06.2020.

2.4 Gegenwart: Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren

In den Augen der Teilnehmenden stellt die Transparenz des Nutzen-bewertungsverfahrens nicht nur ein entscheidendes Ziel sowie ein zentrales Charakteristikum des AMNOG dar; sie wird rückblickend auch als ein wesentlicher Erfolgsfaktor beschrieben. Dabei wird die Transparenz auf verschiedenen Ebenen des AMNOG-Prozesses wahrgenommen. Im Rahmen der Freitextantworten wurden genannt:

• Transparenz über das Ausmaß des Zusatznutzens,

• Transparenz über die Evidenzgrundlage der Bewertung,

• Transparenz über den Prozessablauf,

• Transparenz über den Erstattungsbetrag.

Durch das hohe Transparenzniveau ist das AMNOG-Verfahren für die beteiligten Stakeholder langfristig planbar. Zusätzlich unterstützt der gesetzlich standardisierte Prozess bei nachfolgenden Fragen der nutzenbasierten Preisbildung. Dabei werden insbesondere der umfassende Einbezug verschiedener Stakeholder, der geregelte Prozessverlauf, die strukturierte Berücksichtigung wissenschaftlich-medizinischer Expertise und die inzwischen auch durch gemeinsa-me frühe Beratungen des GBA transparenten Datenanforderungen als vorteilhaft wahrgenommen. Eben jene Datenanforderungen sind es jedoch auch, die zum Teil als nicht flexibel genug bewertet wer-den, um besonderen Konstellationen in bestimmteren Anwendungs-gebieten Rechnung zu tragen.

Erfolgsfaktor Transparenz

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56 Note „gut“ für das AMNOG – Ergebnisse einer Stakeholderbefragung 2

Abbildung 5: Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren des AMNOG (n = 38 bzw. n = 37, Mehrfachnennung möglich)

Quelle: Eigene Erhebung, Stand 03.06.2020.

Die genannten Erfolgsfaktoren spiegeln die grundsätzliche Akzep-tanz aller Stakeholder wider und greifen unmittelbar die bereits iden-tifizierten Ziele und Charakteristika des AMNOG auf. Die grundsätz-lich positive Bewertung des AMNOG spiegelt sich auch in der im Verhältnis deutlich häufigeren Benennung von Erfolgsfaktoren (n = 84, Mehrfachnennungen möglich) gegenüber Misserfolgsfakto-ren (n = 64) wider. Während die Erfolgsfaktoren alle Bereiche des AMNOG-Prozesses tangieren, stellen die genannten Misserfolgs-faktoren nicht auf die grundsätzliche Ausgestaltung des AMNOG ab. Vielmehr umfassen letztere konkrete Detailfragen einzelner The-menbereiche (siehe Abbildung 5).

Kritik an Detailfragen des AMNOG wurde von den Befragten am häufigsten in Bezug auf spezifische methodische Fragestellungen genannt. Die fehlende Kongruenz der Evidenzanforderung von Zu-lassungs- und HTA-Behörden wird hierbei besonders häufig ange-geben. Insbesondere vor dem Hintergrund einer derzeit eher stag-nierenden Diskussion über die Einführung eines EU-HTA (vgl. Kapi-tel 1.2) stellt sich die Frage, inwiefern eine methodische Annähe-rung zur Erhöhung eines effizienten Nutzenbewertungsverfahrens benötigt wird. Der Umgang mit verfügbarer bzw. nicht den Anforde-rungen entsprechender Evidenz wird zudem insbesondere von Sei-ten der Industrievertreter kritisiert. Stakeholderübergreifend wird ferner die fehlende Flexibilität der Bewertungsmaßstäbe, unter an-derem hinsichtlich der Festlegung der zweckmäßigen Vergleichs-therapie, kritisiert.

Weitere Kritik zielt auf die Änderung der Bestandsmarktregelung so-wie die zunächst unflexible Handhabung hinsichtlich Marktrücknah-men ab. So sah das AMNOG bei seiner Verabschiedung 2010 vor, Nutzenbewertungsverfahren auch für den Bestandsmarkt durchzu-

Kritik an Detailfra-gen des AMNOG

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572 Note „gut“ für das AMNOG – Ergebnisse einer Stakeholderbefragung

führen. Im Jahr 2014 wurde diese Regelung jedoch abgeschafft, da trotz erster Bewertungen von Bestandsmarktprodukten unter juristi-schen wie praktischen Abwägungen eine konsekutive Bewertung aller vor AMNOG eingeführten aber noch unter Patentschutz ste-henden Arzneimittel nicht sinnvoll erschien. In den Augen vieler Kos-tenträger stellt die Nicht-Bewertung des Bestandmarktes jedoch bis heute einen Korrekturfehler des AMNOG dar, obwohl mittlerweile wohl fast alle damaligen Bestandsmarktprodukte ihren Patentschutz verloren haben dürften. Zusätzlich kritisieren insbesondere Kosten-träger die gesetzlichen Ausnahmeregelungen für Orphan Drugs im Nutzenbewertungsprozess. So gilt der Zusatznutzen von Orphan Drugs solange als belegt, bis ein jährliches Umsatzvolumen in Höhe von 50 Millionen Euro überschritten wird. Ab diesem Moment sieht das Verfahren auch für Orphan Drugs eine uneingeschränkte Nut-zenbewertung vor, an deren Ende ein nicht belegter Zusatznutzen und damit ein Absenken der Therapiekosten auf das Niveau des Behandlungsstandards, in der Regel „best-supportive care“ stehen kann.

Das Ziel des AMNOG, Arzneimittelpreise an ihren tatsächlichen the-rapeutischen Mehrwert zu knüpfen, ist heute unter allen Verfahrens-beteiligten unumstritten und akzeptiert. In der Praxis gibt es jedoch Optimierungspotential. Konkret betrifft die Kritik sowohl die Misch-preisbildung als auch die Preisfreiheit im ersten Jahr – ein Kritik-punkt, der sowohl von Kostenträgern als auch Leistungserbringern angeführt wird. Der zwischen dem GKV-Spitzenverband und dem pharmazeutischen Unternehmer vereinbarte Erstattungsbetrag gilt seit Einführung des AMNOG ab dem 13. Monat nach Markteinfüh-rung. Der Gesetzesentwurf des AMVSG aus dem Jahr 2016 sah vor, an der freien Arzneimittelpreisbildung auch zukünftig grundsätzlich festzuhalten. Zur Ausgabendämpfung wurde die Einführung einer Umsatzschwelle in Höhe von 250 Millionen Euro diskutiert. Bei de-ren Überschreiten sollte der Erstattungsbetrag bereits vor Ablauf der Jahresfrist ab dem ersten Tag des Monats, der auf den Monat folgt, in dem der Betrag erstmals überschritten wird, gelten. Durch die Ein-führung eines Schwellenwerts zur Begrenzung der Ausgaben für neue Arzneimittel im ersten Jahr nach ihrer Markteinführung rech-nete die Bundesregierung im Durchschnitt mit einer Dämpfung des Ausgabenanstiegs in Höhe eines mittleren zweistelligen Millionen-betrags pro Jahr. Basierend auf eigenen Berechnungen aus dem Jahr 2017 hätte ein solches Rückwirkungsmodell jedoch nur margi-nale Auswirkungen auf die Gesamtausgaben innerhalb des AM-NOG-Marktes gehabt. Eine entsprechende Nachregulierung wurde seinerzeit denn auch letztlich verworfen.

Mischpreise und Preisfreiheit im ersten Jahr als größte Streitthemen finden sich ebenfalls unter den größten Streitthemen der ersten zehn AMNOG-Jahre wieder. Die Mischpreisthematik sowie die Preisfreiheit im ersten Jahr wurden dabei stakeholderübergreifend als die größten Streitthemen des AMNOG (ausgenommen Vertreter

Mischpreise und Preisfreiheit im ersten Jahr als größte Streit-themen

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58 Note „gut“ für das AMNOG – Ergebnisse einer Stakeholderbefragung 2

der pharmazeutischen Industrie) identifiziert. Industrievertreter stell-ten dagegen vor allem methodische Fragen wie Subgruppenbildung, Endpunkte oder das Verhältnis von Zulassung und Zusatznutzenbe-wertung voran. Diese Fragen sehen die anderen befragten Gruppen dagegen eher als weniger wichtiges Streitthema an. Hinzu kommen übergeordnete Fragen wie die Wirtschaftlichkeit einer Erstattung, welche von allen Stakeholdern gleichermaßen angegeben wurden. Hieran werden einmal mehr die unterschiedlichen Perspektiven auf das AMNOG deutlich. Während für die pharmazeutische Industrie das Verfahren der frühen Nutzenbewertung im Zentrum des AM-NOG steht, stellt dieses Verfahren für die anderen Stakeholder le-diglich eine notwendige Teilfunktion dar, um das Ziel zusatznutzeno-rientierter Preise zu erreichen.

Abbildung 6: Die rückblickend größten Streitthemen des AMNOG (n = 39, Mehrfachnennung möglich)

Quelle: Eigene Erhebung, Stand 03.06.2020.

2.5 Ausblick: Reformbedarf und kommende Streitthemen

Alle Befragten geben an, dass das AMNOG zukunftsfähig sei. Knapp drei Viertel der Befragten sehen dabei nur Bedarf für kleinerer An-passungen an der jetzigen Form des AMNOG, während ein Viertel größeren Reformbedarf ausmacht. Keiner der Befragten sieht das AMNOG aber als nicht zukunftsfähig an.

Tabelle 8: Ist das AMNOG in seiner jetzigen Form zukunftsfähig?

Zukunftsfähigkeiten Häufigkeit

Ja, mit ggf. kleineren Anpassungen 29 (74 %)

Ja, mit ggf. größeren Anpassungen 10 (26 %)

Nein 0 (0 %)

Basis: n = 39

Quelle: Eigene Erhebung, Stand 03.06.2020.

Das AMNOG ist offenbar gut für die Zukunft

gerüstet

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592 Note „gut“ für das AMNOG – Ergebnisse einer Stakeholderbefragung

Die Mehrheit der Teilnehmer sieht Verbesserungspotenzial insbe-sondere im Verfahren der Preisbildung. Insgesamt nannten die Be-fragten acht Themenkomplexe für mögliche Verbesserungspotenzi-ale in der offenen Frage: Preisbildung, Bewertungsmethodik, Or-phan Drugs, Kommunikation zwischen den am Verfahren beteiligten Parteien, Gesetzesgrundlage, Entscheidung, EU-HTA und Zulas-sung.

Tabelle 9: An welcher Stelle hat das AMNOG aus Ihrer Sicht den größten Veränderungsbedarf?

Veränderungsbedarf Häufigkeit

Preise 19 (32 %)

Methodik 15 (25 %)

Kommunikation 7 (12 %)

Orphan Drugs 7 (12 %)

Gesetzesgrundlage 4 (7 %)

Entscheidung 3 (5 %)

EU-HTA 2 (3 %)

Zulassung 2 (3 %)

Basis: n = 36 I Mehrfachnennung möglich I Abweichungen von 100 % aufgrund von Rundungen

Quelle: Eigene Erhebung, Stand 03.06.2020.

Den größten Veränderungsbedarf innerhalb des Preisbildungsver-fahrens sahen die Befragten, insbesondere Vertreterinnen und Ver-treter der Krankenkassen und kassenärztlichen Vereinigungen, in der gesetzlich garantierten Preissetzungsfreiheit innovativer Medi-kamente im ersten Jahr. Dies, zusammen mit der Mischpreiskalkula-tion, deckt sich mit den zuvor aufgezeigten Streitthemen des AM-NOG-Verfahrens. Darüber hinaus wird angeregt, eine Änderung der Erstattungspraxis hin zu flexibleren Vertragsmodellen (z. B. Pay-for-performance) zu etablieren. Den zweiten großen Veränderungsbe-darf nehmen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer stakeholderüber-greifend in der Methodik der Nutzenbewertung wahr. In diesem The-menfeld ergibt sich ein differenziertes Bild. Aus Sicht der Industrie-vertreterinnen und -vertreter sollten insbesondere die Rahmenpara-meter der Nutzenbewertung, also die zweckmäßige Vergleichsthe-rapie, patientenrelevante Endpunkte und Surrogate, die Bildung von Subgruppen, die Akzeptanz von Daten aus dem Versorgungsalltag („Real-World-Evidence“) und die Akzeptanz von Lebensqualitätsda-ten, weiter überarbeitet werden. Darüber hinaus werden die Bewer-tung von Medikamenten mit neuartigen Wirkmechanismen (bspw. Gentherapien) sowie Dossiereinreichungen mit unzureichender Evi-denz als zukünftige Diskussionsfelder genannt.

Hohe Marktein-trittspreise werfen neue Regulie-rungsfragen auf

Page 80: AMNOG-Report 2020 - DAK

60 Note „gut“ für das AMNOG – Ergebnisse einer Stakeholderbefragung 2

Somit zeigt sich durch die kurze ad-hoc Befragung, dass zehn Jahre nach Verabschiedung des AMNOG die Weiterentwicklung des Ver-fahrens ein wichtiger Bestandteil des politischen und fachlichen Dis-kurses bleiben muss, um den Veränderungen des Arzneimittelmark-tes gerecht zu werden. Rückblickend steht dabei für viele direkt am Verfahren beteiligte Personen außer Frage, dass das AMNOG eine sinnvolle und effektive Neujustierung der Nutzenbewertung und Er-stattung von Arzneimitteln in Deutschland darstellt, die auch in Zu-kunft Bestand haben muss. Darauf lässt sich auch zukünftig bauen.

Page 81: AMNOG-Report 2020 - DAK

61

3. Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

3.1 Meinungsbeiträge im AMNOG-Report 2015 bis 2020

3.1.1 Gastautoren und Schwerpunktthemen

Seit seiner Einführung versteht sich das AMNOG als lernendes Sys-tem. Dafür braucht es aber nicht nur kontinuierliches Monitoring, sondern auch konstruktive Vorschläge zur Verbesserung und Wei-terentwicklung des Verfahrens. Neben einer systematischen Zusam-menstellung aktueller Verfahrensergebnisse sollte der AMNOG-Re-port deshalb immer auch eine Plattform für Diskussionsbeiträge über aktuelle Herausforderungen der frühen Nutzenbewertung und Preisbildung neuer Arzneimittel sein. Um nachhaltige Reformimpul-se zu setzen, ist es wichtig, dass ein solcher Diskurs fair und ausge-wogen stattfindet. Obwohl dieser Report in Zusammenarbeit mit ei-ner der größten gesetzlichen Krankenkassen Deutschlands erarbei-tet und veröffentlicht wird, gibt er deshalb allen am Verfahren betei-ligten Parteien, darunter den Partnern der Selbstverwaltung, der Ärzteschaft, der Wissenschaft und insbesondere der Industrie, die Möglichkeit, sich kritisch zu verschiedenen Verfahrensfragen zu äu-ßern.

Seit 2015 haben verschiedene Stakeholder in insgesamt 39 Gast-beiträgen ihre Perspektive auf aktuelle und zukünftige Herausforde-rungen des AMNOG beschrieben. Neben jährlich entsprechend den Schwerpunktthemen wechselnden Institutionen und Autoren freuen wir uns sehr, dass allen voran der GKV-Spitzenverband, das IQWiG und zuletzt auch der GBA den Report kontinuierlich mit sachkundi-gen Beiträgen unterstützen.

Mit zunehmender Erfahrung im Hinblick auf die Nutzenbewertung zeichneten sich relevante Verfahrensfragen im Wesentlichen auf zwei verschiedenen Ebenen mit zum Teil unterschiedlichen Adres-saten ab: 1) Nutzenbewertungsverfahren und 2) Versorgungspraxis. Die Bewertung des Zusatznutzens neuer Arzneimittel gegenüber dem aktuellen Therapiestandard erfordert umfangreiche klinische und epidemiologische Daten. Solche Daten sind selten wider-spruchsfrei oder exakt an den Vorgaben der Nutzenbewertung ori-entiert. Aus der daraus folgenden Diskussion, ob die Nutzenbewer-tung auf der „bestmöglichen“ oder „bestverfügbaren“ Datenlage ba-sieren sollte, entwickelten sich in den vergangenen Jahren verschie-dene Diskussionsfelder. Darunter fallen Fragen nach der Umsetz-barkeit indirekter Vergleiche oder der Akzeptanz von Lebensquali-tätsdaten ebenso wie die Grundsatzfrage, was bzw. welche Effekte patientenrelevant sind und welche nicht.

Ziel: Objektive Dis-kussionsbeiträge

39 Gastbeiträge seit 2015

Page 82: AMNOG-Report 2020 - DAK

62 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

Circa drei bis vier Jahre nach Abschluss der ersten Nutzenbewer-tungsverfahren kamen zudem vermehrt versorgungspolitische Dis-kussionen auf, welche sich mit der Übersetzung der Nutzenbewer-tungsergebnisse in die Versorgung befassten. Im Mittelpunkt stan-den dabei zwei Fragestellungen:

1. Ist die auf den Bewertungsergebnissen basierende Preisbildung fair und gelingt es, die vom Gesetzgeber 2010 avisierten Ein-sparpotentiale durch die Erstattungsbetragsverhandlungen zu realisieren?

2. Haben die Bewertungsergebnisse einen Einfluss auf die Patien-tenversorgung?

Eine Antwort auf solche komplexen Fragen ist in der Regel auch durch eine versorgungsbegleitende Datenanalyse nur eingeschränkt möglich. Der AMNOG-Report hat diese Themen daher umfangreich aufgegriffen und seit 2016 jährlich verschiedene Gastautoren zu ei-nem eher an den methodischen und einem eher an den versor-gungspolitischen Fragen orientierten Schwerpunktthema eingela-den (vgl. Tabelle 10).

Tabelle 10: Schwerpunktthemen der AMNOG-Reporte 2015 bis 2020

Report Schwerpunktthema

2015 Abschätzung von Effekten der frühen Nutzenbewertung

2016 Ergebnisse der Schiedsverfahren

Umsetzung des AMNOG in der Verordnungspraxis

2017 Zulassungs- vs. Nutzenbewertungsevidenz

Mischpreise

2018 Indirekte Vergleiche

Arztinformationssystem

2019 Lebensqualität

Erstattungsmodelle

2020 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick

Zehn Jahre AMNOG: Der Blick von außen

Quelle: Eigene Darstellung.

3.1.2 Zukünftige AMNOG-Agenda

Auch zehn Jahre nach Beginn der frühen Nutzenbewertung und trotz unzähliger Diskussionsforen und politischer Änderungsgesetze sind viele dieser Fragen nicht abschließend beantwortet. Vielmehr befindet sich das AMNOG in einem an volatilen Rahmenbedingun-

Schwerpunkt-themen der

AMNOG-Reporte

Page 83: AMNOG-Report 2020 - DAK

633 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

gen orientierenden Anpassungsprozess. Vor dem Hintergrund des zehnjährigen Jubiläums seit Einführung des AMNOG steht im vorlie-genden Report deshalb neben einem Fazit des bislang Erreichten insbesondere eine Prognose der zukünftigen Herausforderungen der Nutzenbewertung und Preisbildung neuer Arzneimittel im Mittel-punkt. Um diese abzuschätzen, beschreiben in den nachfolgenden Kapiteln acht verschiedene Autorinnen und Autoren bzw. Autoren-gruppen ihre Anwendungserfahrungen der vergangenen Jahre, zei-gen nach wie vor offene Problemstellungen auf und leiten auch vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungstrends (insbesondere hin zu einer hochpreisigen Präzisionsmedizin) die AMNOG-Agenda der kommenden Jahre ab.

Um einen systematischen Überblick über diese zentralen Agenda-Punkte zu geben, haben wir die Gastautorinnen und Gastautoren zusätzlich zu ihrem Gastbeitrag gebeten, die drei aus ihrer Sicht dringendsten Zukunftsthemen der frühen Nutzenbewertung zu nen-nen. Dabei zeigt sich eine große Spannweite verschiedener Frage-stellungen und Spannungsfelder, welche auch zukünftig die AM-NOG-Debatten begleiten werden. Gleichzeitig wird die Vereinbarung nachhaltiger und rationaler Preise bzw. die damit verbundene Etab-lierung funktionaler Bewertungs- und Erstattungsmodelle übergrei-fend als Kernthema für die kommenden Jahre genannt. So werden derzeit zwei bereits zu Beginn der 2000er Jahre, also deutlich vor Einführung des AMNOG, diskutierte politische Steuerungsinstru-mente als Optionen diskutiert, um die nutzenbasierten Erstattungs-betragsverhandlungen in der Bildung fairer und nachhaltiger Arznei-mittelpreise sinnvoll zu unterstützen: die Kosten-Nutzen-Bewertung sowie am Ergebnis einer Therapie orientierte Vergütungsmodelle (sog. Pay-for-Performance-Verträge).

In den nachfolgenden Kapiteln finden in insgesamt acht Texten kriti-sche Rück- und Ausblicke auf das AMNOG zahlreicher nationaler Experten. Vonseiten der Politik wirft Prof. Dr. Lauterbach, Bundes-tagsabgeordneter, gesundheitspolitischer Experte und ehemaliger Vize-Fraktionsvorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, einen Blick auf die Entstehungsgeschichte des AMNOG und diskutiert, welchen Stellenwert die Nutzenbewertung und Preisbildung neuer Arzneimit-tel im aktuellen reformpolitischen Kanon hat (Kapitel 3.2). Prof. He-cken, unparteiischer Vorsitzender des GBA, beschreibt anschlie-ßend die in den vergangenen Jahren vorgenommenen Justierungen am AMNOG und nennt zentrale Diskussionsthemen und Herausfor-derungen der Nutzenbewertung (Kapitel 3.3). Änderungsbedarf am der Nutzenbewertung und nachgelagerten Prozess der Erstattungs-betragsverhandlungen beschreiben Dr. Haas und Kolleginnen und Kollegen der Abteilung Arznei- und Heilmittel des GKV-Spitzenver-bandes (Kapitel 3.4). Unterstützt durch zahlreiche Daten aus der Erstellung von über 300 Nutzenbewertungen diskutieren Prof. Dr. Windeler und seine Kolleginnen und Kollegen des IQWiGs methodi-

Zukunftsthemen des AMNOG

Herausforderun-gen aus Sicht der Politik und Selbst-verwaltung

Page 84: AMNOG-Report 2020 - DAK

64 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

sche Herausforderungen insbesondere hinsichtlich der Evidenzan-forderungen im AMNOG (Kapitel 3.5).

Die Versorgungsperspektive nehmen anschließend Dr. Gassen, Vor-standsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (Kapi-tel 3.6) und Prof. Dr. Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommissi-on der deutschen Ärzteschaft (Kapitel 3.7) unter die Lupe. Eine Au-torengruppe beschreibt darüber hinaus die AMNOG-Agenda aus Sicht der Versorgungsforschung. Diese sieht sich aktuell besonders mit der Notwendigkeit der Etablierung neuer Preismodelle vor dem Hintergrund der Zunahme von Einmal- und Kombinationstherapien konfrontiert. Dabei zeichnet dieser Betrag insbesondere nach, wel-che Rolle Kombinationstherapien aktuell in der Patientenversorgung spielen (Kapitel 3.8).

Kommt in den sich an die frühe Nutzenbewertung anschließenden Erstattungsbetragsverhandlungen keine Einigung zwischen dem pharmazeutischen Unternehmer und dem GKV-Spitzenverband zu-stande, kann (und wird) eine eigens eingerichtete AMNOG-Schieds-stelle aufgerufen. Der letzte AMNOG-Report konnte zeigen, dass es in den vergangenen Jahren zu einer Änderung der Spruchpraxis der Schiedsstelle dahingehend gekommen ist, dass inzwischen deutlich weniger Arzneimittel nach einem Schiedsspruch herstellerseitig vom Markt genommen werden. Wie es dazu gekommen ist und wel-che Herausforderungen ein Schiedsverfahren aktuell und zukünftig mit sich bringt, diskutiert Claus Burgardt, als Fachanwalt bei Sträter Rechtsanwälte in einer großen Anzahl der bislang abgeschlossenen Schiedsverfahren direkt involviert, in seinem Beitrag (Kapitel 3.9).

3.1.3 Internationale Perspektive auf das AMNOG

Der Prozess der frühen Nutzenbewertung und Preisbildung neuer Arzneimittel ist inzwischen nicht nur Blaupause für die Etablierung anderer nationaler Bewertungsverfahren wie dem von Medizinpro-dukten oder digitalen Gesundheitsanwendungen, sondern wird auch im Ausland mit Interesse verfolgt. In den USA wird aktuell bei-spielsweise diskutiert, Arzneimittelpreise stärker an das europäi-sche Preisniveau anzupassen. Anlass hierfür gab nicht zuletzt die vor längerer Zeit von US-Präsident Donald Trump geäußerte Kritik an der starken finanziellen Belastung amerikanischer Patienten in Folge hohe Arzneimittelausgaben. Einer Analyse des Common-wealth Fund zufolge zahlt jeder US-Bürger durchschnittlich mehr als 1.000 US-Dollar pro Jahr für Arzneimittel – Deutsche kommen dage-gen auf knapp 700 US-Dollar pro Kopf und in Schweden sind es nicht einmal 400 US-Dollar.103 Ursächlich hierfür ist insbesondere das im internationalen Vergleich hohe Preisniveau von Arzneimittel im amerikanischen Versorgungssystem. Nach Angaben des US-Gesundheitsministeriums zahlt die staatliche Krankenversicherung

103 Sarnak et al. (2017).

Die Perspektive der Versorgung

und Versorgungs-forschung

Wie bewerten in-ternationale Exper-

ten das AMNOG? Einblicke aus den

USA

Page 85: AMNOG-Report 2020 - DAK

653 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Medicare in den USA im Schnitt 180 % dessen, was die gleichen Präparate in anderen Industrienationen kosten. Zurückzuführen sind die internationalen Preisdifferenzen sowohl auf den geringen Regu-lierungsgrad des amerikanischen Gesundheitssystems als auch auf die restriktiveren Preisregulierungen vor allem im europäischen Er-stattungskontext, welche dazu führen, dass Arzneimittelhersteller versuchen, ihre Forschungs- und Entwicklungsausgaben insbeson-dere auf dem amerikanischen Markt zu amortisieren – ein Kern-punkt von Präsident Trumps Kritik, der bemängelt: „Amerikaner be-zahlen mehr, damit andere Länder weniger bezahlen müssen“.104

Im Oktober 2018 kündigte Trump die Einführung eines internationa-len Preisindexes (IPI) an. Medicare-Erstattungssummen sollen sich zukünftig nach einem im IPI festgelegten Zielpreis richten, welcher auf Grundlage der Rabatte berechnet wird, die Hersteller in anderen Ländern einräumen. Das angedachte Preisfindungsmodell erntete Kritik sowohl von Seiten der Industrie, welche von den hohen Prei-sen unter dem bisherigen System profitiert, als auch aus konserva-tiven Kreisen, die Trump vorwarfen, ausländische Preiskontrollen importieren zu wollen.105 Je nach konkreter Ausgestaltung der neu-en Preisregulierungsmechanismen in den USA ist allerdings von Effekten für den deutschen Versorgungskontext auszugehen (vgl. Kap. 1.3). Insbesondere die Frage der Preistransparenz dürfte dabei in Deutschland wieder in den Fokus der politischen Diskussion rü-cken. John Rother zeichnet in einem englischsprachigen Gastbei-trag die US-amerikanischen Debatten zur Preisregulierung nach und diskutiert, inwiefern das deutsche AMNOG Vorbild-Charakter für andere Länder hat (siehe Kapitel 4.1). Er ist Präsident der Natio-nal Coalition for Health Care, zu deren Mitgliedern mehr als 80 Or-ganisationen, darunter medizinische Fachgesellschaften, Unterneh-men, Gewerkschaften, Gesundheitsdienstleister, kirchliche Vereini-gungen, Renten- und Krankenkassen, Versicherer und Gruppen, die Verbraucher, Patienten, Frauen, Minderheiten und Menschen mit Behinderungen vertreten, gehören.

In Österreich ist die Preisbildung von Arzneimitteln gesetzlich gere-gelt. Zuständig für Arzneimittelpreise ist die Preiskommission des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsu-mentenschutz (BMSGPK). Die Preisbasis eines Medikamentes bil-det der Fabrik- oder Depotabgabepreis, welcher durch den pharma-zeutischen Unternehmer festgelegt wird. Für jene Medikamente, die in die Liste der erstattungsfähigen Arzneimittel, den Erstattungsko-dex (EKO), aufgenommen werden sollen, ist in Österreich jedoch der EU-Durchschnittspreis maßgebend für den Erstattungsbetrag.106 Dieser Durchschnittspreis bildet den maximal möglichen Abgabe-preis für erstattungsfähige Medikamente. Die erstmalige Feststel-lung des EU-Durchschnittspreises durch die Preiskommission er-

104 Lau (2018).105 Pear (2018).106 WHO (2018).

Bewertung des AMNOG aus einem Nachbarland

Page 86: AMNOG-Report 2020 - DAK

66 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

folgt 6 Monate nach Antragstellung und wird nach 24 und 48 Mona-ten nach Antragstellung wiederholt. Bei Bedarf kann die Preiskom-mission 66 Monate nach Antragstellung eine erneute Preisfeststel-lung veranlassen.107

In den 28 EU-Ländern ist die Preisbildung und Erstattung unter-schiedlich festgelegt. So variieren die Preise von Arzneimitteln, die von der Krankenversicherung beziehungsweise der öffentlichen Hand erstattet werden, zum Teil beträchtlich. In fast allen europäi-schen Ländern sind die tatsächlich durch die Kostenträger erstatte-ten Arzneimittelpreise jedoch geheim, sodass für diese Preisrefe-renzierung nur die Listenpreise abzüglich der obligatorischen Ra-batte herangezogen werden können. Welche Auswirkungen dies auf die Arzneimittelpreisbildung in Österreich hat, diskutiert Dr. Vogler, Leiterin der Abteilung für Pharmaökonomie bei der Gesundheit Ös-terreich GmbH, dem nationalen Forschungs- und Planungsinstitut für das Gesundheitswesen sowie zentrale Stelle für Gesundheitsför-derung in Österreich.

3.1.4 Literatur

Lau, T. (2018): Trump stellt Preisbremse für Arzneimittel vor. Apothe-ke adhoc online vom 29.10.2018.

Pear, R. (2018): Trump Officials Say Drug Prices Are Inflated. So Are Some of Their Claims on a Solution. NY Times online vom 16.12.2018.

Sarnak, D. O., Squires, D., Bishop, S. (2017): Paying for Prescription Drugs Around the World: Why Is the U. S. an Outlier? The Commonwealth Fund, 05.10.2017. URL: www.common-wealthfund.org/publications/issue-briefs/2017/oct/paying-prescription-drugs-around-world-why-us-outlier?redirect_source = /publications/issue-briefs/2017/oct/prescription-drug-costs-us-outlier.

WHO (2018): Medicines reimbursement policies in Europe. WHO Regional Office for Europe, Copenhagen. Online unter: www.euro.who.int.

Zimmermann, N., Habimana, K. (2017): Arzneimittelausgaben in Österreich. Gesundheit Österreich. Wien. Online unter: jas-min.goeg.at.

107 Zimmermann, Habimana (2017).

Page 87: AMNOG-Report 2020 - DAK

673 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

3.2 Rückblick und Ausblick aus Sicht der Politik

Ein Gastbeitrag von: Prof. Dr. Karl Lauterbach MdB, SPD-Bundes-tagsfraktion

3.2.1 Rückblick auf die Einführung des AMNOG

Im Sommer 2010 legte die damalige Regierung, bestehend aus ei-ner Koalition von CDU/CSU und FDP, mit dem „Gesetz zur Neuord-nung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversiche-rung (Arzneimittelmarkt Neuordnungsgesetz – AMNOG“) ein weite-res Instrument vor, unter den damals seit 30 Jahren andauernden, mal mehr, mal weniger erfolgreichen politischen Maßnahmen vieler Regierungen, den Anstieg der Arzneimittelausgaben in der GKV zu begrenzen.

Der jahrelange politische Streit über die Einführung einer Positivlis-te, die alle zu Lasten der GKV abzugebenden Arzneimittel aufführt, ist ein besonders negatives Beispiel, wie die Politik an solchen Be-mühungen scheitern kann. Nach über zehn Jahren wurde die Posi-tivliste schließlich aufgegeben, da die Union dies zur Vorbedingung machte, um überhaupt in die Verhandlungen mit der SPD und Bünd-nis90/Grüne zum GKV-Modernisierungsgesetz – GMG einzutreten. Gelöst wurde dort das Problem im Übrigen auf dem Rücken der Patientinnen und Patienten, in dem alle verschreibungsfreien Medi-kamente, die sogenannten „Over-the-counter-Medikamente“ (OTC), aus der Erstattungsfähigkeit der GKV gestrichen wurden, von weni-gen Ausnahmen, bspw. für unter 18-Jährige, abgesehen.

Positive Beispiele für erfolgreiche politische Maßnahmen sind z. B. die Einführung von Rabattverträgen, bei denen Krankenkassen über Ausschreibungen für einzelne Wirkstoffe mit pharmazeutischen Un-ternehmern Verträge über rabattierte Preise aushandeln für Medika-mente des Unternehmers, die dann für einen bestimmten Zeitraum exklusiv für die Versicherten dieser Kasse verordnet werden. Dies führte dazu, dass die Preise für Generika stabil blieben und gleich-zeitig der Anteil der Generika an allen Verordnungen auf über 75 Prozent anstieg, wobei der Anteil am Gesamtumsatz im GKV-Arzneimittelmarkt bei etwa 30 Prozent stabil blieb. Dennoch erziel-ten die Krankenkassen im Jahr 2018 Rabatterlöse von 4,5 Mrd. Eu-ro.

Ein weiteres positives Beispiel für gelungene politische Maßnahmen ist die Einführung des Festbetragssystems für Arzneimittel. Dabei werden vom GBA Gruppen für Arzneimittel mit denselben Wirkstof-fen, pharmakologisch-therapeutisch vergleichbaren Wirkstoffen, insbesondere chemisch verwandten Stoffen, und mit therapeutisch vergleichbaren Wirkungen, insbesondere Wirkstoffkombinationen festgelegt. Der GKV-Spitzenverband setzt dann für diese Gruppen Festbeträge fest, bis zu denen die Arzneimittel von der GKV erstat-tet werden. Somit ist dies kein Preissystem. Der pharmazeutische

Gescheiterte Regulierungs-konzepte

Positive Regulie-rungsbeispiele

Page 88: AMNOG-Report 2020 - DAK

68 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

Unternehmer kann entscheiden ob er den Festbetrag aufgreift oder einen höheren Preis ansetzt. Allerdings besteht dann für das Unter-nehmen das Risiko, dass Ärzte das Medikament weniger häufig ver-ordnen, zum einen wegen des Wirtschaftlichkeitsgebotes, zum an-deren weil die Patientinnen und Patienten nicht gewillt sind, die Dif-ferenz zwischen Festbetrag und höherem Preis aus der eigenen Tasche zu bezahlen. So erging es der Firma Pfizer 2004 mit ihrem Statin Sortis, dass nach Eingruppierung in die neugebildete Festbe-tragsgruppe vom umsatzstärksten Medikament im GKV-Arzneimit-telmarkt in die Bedeutungslosigkeit absank, nachdem die Firma den Preis nicht senkte.

Nicht vom Festbetragssystem erfasst wurden patentgeschützte In-novationen, deren Anteil im GKV-Markt wuchs und noch wächst. Dieses Problem adressierte u. a. das AMNOG.

Dass das AMNOG ausgerechnet von einem Gesundheitsminister der FDP, einer Partei die durchaus industrieaffin ist, vorgelegt wur-de, hat manche verwundert. Welche Auswirkungen es hat und wel-che Konsequenzen zu ziehen sind, soll im Folgenden beleuchtet werden.

3.2.2 Auswirkungen und Konsequenzen des AMNOG

Zum Zeitpunkt der Vorlage des AMNOG-Entwurfs im Sommer 2010 waren im Jahr 2009 die Arzneimittelausgaben der GKV um 5,3 Pro-zent je Versicherten gestiegen, entsprechend einem Zuwachs von 1,5 Mrd. Euro. Somit betrugen die Gesamtausgeben für Arzneimittel der GKV einschließlich der Zuzahlungen für Versicherte im Jahr 2009 32 Mrd. Euro. Dabei wurden als Wachstumstreiber die Arznei-mittel ohne Festbetrag mit einem Plus von 8,9 Prozent ausgemacht, insbesondere kostenintensive Spezialpräparate mit hohen Zu-wachsraten. Deren Anteil am GKV-Arzneimittelumsatz betrug 2009 rund 26 Prozent bei einem Anteil an den Verordnungen von nur 2 Prozent. Um dieser Problematik zu begegnen und den Menschen die besten und wirksamsten Arzneimittel zur Verfügung zu stellen, gleichzeitig Arzneimittelpreise und Verordnungen wirtschaftlich und kosteneffizient zu gestalten und auch verlässliche Rahmenbedin-gungen für Innovationen zu schaffen, wurden im AMNOG eine Rei-he von Maßnahmen aufgeführt.

Herzstück des Gesetzentwurfs war die Neufassung des § 35 a SGB V „Bewertung des Nutzens von Arzneimitteln mit neuen Wirk-stoffen“, in dem die erstmals eingeführte Nutzenbewertung durch den GBA für Arzneimittel nach der Zulassung geregelt wurde in Ver-bindung mit dem neuen § 130 b SGB V, der Preisverhandlungen zwi-schen den pharmazeutischen Unternehmern und dem GKV-Spit-zenverband samt einem Schiedsstellenverfahren regelt.

Neben diesem neuen Preisfindungsmodell für neue Arzneimittel enthielt der AMNOG-Entwurf noch eine Reihe weiterer unabhängige

Steigende Arznei-mittelausgaben

Page 89: AMNOG-Report 2020 - DAK

693 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Maßnahmen, wie z. B. eine Neuregelung der Rabattverträge, die un-ter anderem eine neue Rechtszuweisung von der Sozial- in die Zivil-gerichtsbarkeit vorsah sowie die sehr umstrittene Mehrkostenrege-lung, bei der die Patienten ein anderes als das Rabattpräparat der Kasse wählen können, die Mehrkosten aber selber tragen müssen.

Weiterhin wurde die Zweitmeinungsregelung, nach der bei der Ver-ordnung von besonderen Arzneimitteln ein Spezialist konsultiert werden musste, aufgehoben. Auch die Regelungen zu den Richt-größenprüfungen wurden gelockert, indem beispielsweise die Ra-battverträge der Kassen in die Prüfung der Ärzte einbezogen wer-den müssen. Die Großhandelsspanne bei Fertigarzneimitteln wurde neugefasst und beträgt seither 70 Cent pro Packung und einem Zu-schlag von 3,15 Prozent, begrenzt auf höchstens 37,80 Euro.

Daneben wurde die Unabhängige Patientenberatung Deutschlands, die bis dahin ein Modellversuch war, in die Regelversorgung über-führt.

Im weiteren parlamentarischen Verfahren im Bundestag kamen über Änderungsanträge weitere bedeutsame Maßnahmen hinzu, wie die Anhebung des Herstellerrabatts, die die pharmazeutischen Unter-nehmer den gesetzlichen Krankenkassen gewähren müssen, von 6 auf 16 Prozent, befristet bis Ende 2013 sowie die Einsetzung eines Preismoratoriums für im Markt befindliche Arzneimittel auf die Prei-se vor dem 1. August 2009, das mit kleinen Veränderungen bis heu-te Bestand hat.

Darüber hinaus wurde auch über einen Änderungsantrag die mittler-weile umstrittene Ausnahmeregelung vom Nutzenbewertungs- und Preisfindungsverfahren umgesetzt, nach der Medikamente für selte-ne Erkrankungen mit maximal 5 Patientinnen und Patienten auf 10.000 Einwohner, den sogenannten „Orphan Drugs“, die Zulas-sung selbst schon als Zusatznutzen zu bewerten. Erst wenn der pharmazeutische Unternehmer mit dem Medikament einen Umsatz von 50 Millionen in den letzten 12 Monaten im GKV-Arzneimittel-markt erzielt, muss er dem GBA ein Dossier vorlegen und das Me-dikament einer Nutzenbewertung unterziehen.

Die Bundesregierung schätzte im Gesetzentwurf insgesamt die fi-nanziellen Einsparungen für die GKV beim neuen Verfahren der frü-hen Nutzenbewertung und den Preisverhandlungen aufsteigend ab 2012 auf 2 Mrd. Euro, aufgeteilt auf 1,7 Mrd. Euro für die Medika-mente, bei denen Preisverhandlungen wegen eines festgestellten Zusatznutzens stattfinden und 300 Mio. Euro für Medikamente, die keinen Zusatznutzen aufweisen und direkt einer Festbetragsgruppe zugeordnet werden.

In den Folgejahren wurde das Gesetz von den nachfolgenden Re-gierungen an einigen Stellen geändert. So wurde von der Koalition aus Union und SPD mit dem „Vierzehnten Gesetz zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetz (14. SGB V ÄndG)“ 2014 der Be-

Änderungsanträge

Erwartungshal-tung des Gesetz-gebers

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70 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

standsmarktaufruf, also die Nutzenbewertung im Bestandsmarkt, aufgehoben und der befristet erhöhte Herstellerrabatt bei 7 Prozent festgelegt.

Im Frühjahr 2017 wurde mit dem Gesetz zur Stärkung der Arzneimit-telversorgung in der GKV (AMVSG) beschlossen, dass Ärztinnen und Ärzte über ein Informationssystem besser über Fragen des Zu-satznutzens in Kenntnis gesetzt und damit deren Therapieentschei-dungen verbessert werden sollen. 2019 wurde im Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV)“ beschlossen, dass bei der Berechnung der 50 Millionen Euro-Schwelle für „Or-phan Drugs“ auch Umsätze außerhalb der vertragsärztlichen Ver-sorgung, wie z. B. im Rahmen einer stationären Behandlung im Krankenhaus, berücksichtigt werden sollen.

Erwartbar kam nach Vorlage des Gesetzentwurfs von den meisten Akteuren des Gesundheitssystems, Verbänden der pharmazeuti-schen Industrie, der Apotheker, der Krankenkassen erhebliche Kritik uvm. Deren Argumente sollen hier nicht noch einmal nachvollzogen werden. Wer daran interessiert ist, kann diese beispielsweise auf der Website des Deutschen Bundestages in den Stellungnahmen zur AMNOG-Anhörung im September 2010 nachlesen. Allgemein gilt aber in der Gesundheitspolitik, wenn ein Gesetz von möglichst vielen Akteuren außer den Patientinnen und Patienten kritisiert wird, hat der Gesetzgeber vieles richtiggemacht.

Auch die SPD-Bundestagsfraktion, als damals größte Oppositions-fraktion im Bundestag, sparte nicht mit Kritik. In einem Entschlie-ßungsantrag zur 2./3. Lesung des Gesetzentwurfs fasste sie ihre Kritikpunkte zusammen. Unter anderem kritisierte sie die Übertra-gung des Rechtswegs von der Sozial- zur Zivilgerichtsbarkeit bei Streitigkeiten über Rabattverträge der Krankenkassen als sachwid-rige und ineffektive Regelung, die zukünftige Einsparungen gefähr-den werde. Besonders scharf kritisierte sie die Mehrkostenregelung bei rabattvertragsgeregelten Verordnungen. Sie sei der Einstieg in ein System von Grund- und Wahlleistungen und ein Mosaikstein auf dem Weg zur Privatisierung der GKV, hebele sowohl das Solidar- und Bedarfsprinzip als auch das Sachleistungsprinzip aus. Diese Vorhersage traf zum Glück für die Versicherten so nicht ein. Weiter kritisierte sie, dass künftig Hersteller von Arzneimitteln und Medizin-produkten Vertragspartner in der integrierten Versorgung werden können. Es bestehe die Gefahr, dass die Behandlung in solchen Verträgen nicht mehr von medizinischen Erwägungen geleitet wer-de, sondern von unternehmerischen Interessen. Außerdem hätten Erfahrungen aus den Vereinigten Staaten gezeigt, dass insbesonde-re bei sehr teuren Arzneimitteln aufgrund von Fehlanreizen keine Einsparungen erzielt würden.

Insbesondere kritisierte die SPD-Bundestagsfraktion drei weitere Punkte an dem Gesetzentwurf. Zum einen, dass die frühe Nutzen-bewertung in erster Linie zur Preisfindung dient, Aussagen über den

Kritik am AMNOG

Kritik an fehlender Kosten-Nutzen-

Bewertung

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713 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

tatsächlichen Nutzen aber nur durch Nutzen- und Kosten-Nutzen-Bewertungen zu einem späteren Zeitpunkt zu treffen sind, die im Gesetzentwurf aber nur in Ausnahmefällen vorgesehen seien. Da-durch würde sich die Qualität der Versorgung verschlechtern. Zum anderen lehnte sie die 50-Millionen Euro Umsatzschwelle für „Or-phan Drugs“ ab. Sie sei geeignet, insbesondere Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen risikoreichen Therapien aus-zusetzen, da bei diesen Arzneimitteln auf jegliche Nutzenbewertung verzichtet werde und der Nutzen schon mit der Zulassung belegt sei. Hersteller hätten bereits in den Jahren zuvor verstärkt auf Arzneimit-tel für kleine Patientengruppen gesetzt, nach und nach die Indikati-onen erweitert und so in einigen Fällen aus „Orphan Drugs“ Block-buster gemacht. Diese Strategien der Industrie erhielten nun Rü-ckenwind mit fatalen Folgen für die Entwicklung der GKV-Arzneimit-telausgaben.

Im Zentrum der Kritik der SPD-Bundestagsfraktion stand, dass wei-terhin im ersten Jahr nach der Zulassung eines Arzneimittels der vom Hersteller diktierte Preis gelten sollte und dieser der Ausgangs-punkt für die Verhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband wäre. Hersteller würden die zu gewährenden Rabatte bei den Ausgangs-preisen berücksichtigen. In der Öffentlichkeit war in diesem Zusam-menhang schnell von „Mondpreisen“ und vom „Teppichhändler-Ef-fekt“ die Rede. Ein Begriff der bei dieser Branche erheblichen Unmut auslöste, da sie nicht auf eine Stufe mit der Pharmaindustrie gestellt werden wollte.

Die freie Preissetzung im ersten Jahr nach Markteintritt, die fehlen-de Nutzenbewertung bei „Orphan Drugs“ und die Mehrkostenrege-lung waren auch die tragenden Gründe, warum die SPD-Bundes-tagsfraktion – ebenso wie die Fraktionen von Bündnis90/Grüne und Linke – den Gesetzentwurf in der abschließenden Sitzung des Ge-sundheitsausschusses ablehnte. Das geplante Einsparziel bei den GKV-Arzneimittelausgaben sei durch das Gesetz nicht zu erreichen.

3.2.3 Wie hat sich nun der GKV-Arzneimittelmarkt in den 10 Jahren nach dem AMNOG-Beschluss entwickelt?

Nach der Statistik des Bundesgesundheitsministeriums sind die GKV-Ausgaben nach einem leichten Rückgang im Jahr 2011 auf 29,12 Mrd. Euro, der im Wesentlichen dem erhöhten Herstellerra-batt und dem Preismoratorium zu verdanken ist, kontinuierlich jedes Jahr angestiegen auf 41,04 Mrd. Euro im Jahr 2019. Seit 2011 sind die Ausgaben um etwa 40 Prozent gestiegen, im Durchschnitt jedes Jahr um die fünf Prozent, die im Gesetzentwurf als Begründung für das AMNOG angeführt wurden. Die Arzneimittelausgaben sind da-mit nach dem Krankenhaus und beinahe gleichauf mit den Ausga-ben für ärztliche Behandlung der drittgrößte Ausgabenblock.

Unverständnis: Freie Preise im ersten Jahr

Nicht erreichbare Einsparziele

Stetig steigende Arzneimittel-ausgaben

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72 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

Dabei durchliefen nach dem WIdO Bericht zum GKV-Arzneimittel-markt 2020 bis Ende 2019 insgesamt 273 neue Arzneimittel die frü-he Nutzenbewertung, von denen immerhin 172 einen Zusatznutzen zumindest in einer Teilpopulation aufwiesen. Bei 101 neuen Arznei-mitteln ließ sich kein Zusatznutzen gegenüber der Vergleichsthera-pie finden. Somit hat das AMNOG kaum Einfluss auf die Ausgaben-entwicklung, schafft aber eine erhöhte Transparenz für Patientinnen und Patienten und Ärztinnen und Ärzte über den Nutzen neuer Arz-neimittel. 46 Arzneimittel wurden sogar ganz oder zumindest zeit-weise von den pharmazeutischen Unternehmern vom Markt genom-men. Da diese wahrscheinlich ohne frühe Nutzenbewertung zu zu-sätzlichen unnötigen Ausgaben geführt hätten, kann man das durchaus dem Erfolg des AMNOG zurechnen.

Hauptursache für den unverminderten Ausgabenanstieg im GKV-Arzneimittelmarkt bleiben dennoch auch weiterhin die patentge-schützten Arzneimittel und hier insbesondere die neuen Arzneimit-tel, da die Bestandsmarktmedikamente weiterhin dem Preismorato-rium unterliegen, auch wenn die Hersteller seit 2018 einen Inflati-onsausgleich ansetzen können. Ursache dafür ist die Strukturkom-ponente des GKV-Arzneimittelmarktes, insbesondere der Intermedi-kamenteneffekt, bei dem die Verordnung älterer durch neue, patent-geschützte Arzneimittel abgelöst wird. Ein neues patentgeschütztes Arzneimittel, das in den letzten drei Jahren auf den Markt gekom-men ist, kostet laut WiDO mit 14.000 Euro dreimal so viel wie eines aus dem Bestandsmarkt. Der Anteil am Arzneimittel-Gesamtumsatz der GKV der patentgeschützten Arzneimittel beträgt im Jahr 2019 mittlerweile 47 Prozent bei einem Anteil von 7 Prozent der Verord-nungen. Die umsatzstärkste Arzneimittelgruppe sind dabei Onkolo-gika, die mittlerweile für rund 7 Mrd. Euro Umsatz stehen und über beschleunigte Zulassungsverfahren der EMA zudem immer schnel-ler in den Markt gelangen.

Auch wenn laut „Arzneiverordnungs-Report 2019“ im Jahr 2018 das erste Mal das Einsparziel des AMNOG von 2 Mrd. Euro mit Einspa-rungen durch Erstattungsbeträge nach § 130 b SGB V von 2,650 Mrd. Euro erreicht wurde und von 2012 bis 2018 Einsparungen von ins-gesamt 7,293 Mrd. Euro zu Buche standen, sind die Ziele des AM-NOG nur zum Teil erreicht.

3.2.4 Fazit und Ausblick

Es besteht nach wie vor Handlungsbedarf, um das Ziel einer effizi-enten Arzneimittelversorgung zu erreichen.

In einem ersten Schritt sollten die Regelungen für „Orphan Drugs“ weiterentwickelt werden. Es macht keinen Sinn, dass gerade Medi-kamente für seltene und oft schwere Erkrankungen keine ausrei-chende Nutzenbewertung erfahren und somit für diese besonders vulnerablen Patienten keine Transparenz besteht.

Transparenz und Marktbereinigung

Hochpreisige neue Therapien

Ziel nur zum Teil erreicht

Neuregelung der Orphan Drugs

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733 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Der nach 130b SGB V verhandelte Preis sollte rückwirkend für den Markteintritt des Arzneimittels gelten. Es macht nach wie vor keinen Sinn, dass der „Mondpreis“ ein Jahr lang vom Unternehmer genom-men wird, wenn durch ein mittlerweile bewährtes, klar geregeltes Preisfindungssytem ein anderer Preis ermittelt wurde. Hier wird ein nicht unerhebliches Einsparvolumen nicht realisiert. Darüber hinaus sollte das ganze AMNOG-Verfahren verbessert werden, indem man es entbürokratisiert und beschleunigt. Hier könnte man Stellungnah-meverfahren straffen und die gesamte Zeitdauer des Prozesses auf sechs bis neun Monate verkürzen.

Sowohl Unternehmer als auch GKV-Spitzenverband können nach dem AMNOG bereits jetzt eine Neubewertung eines AMNOG-Arz-neimittels verlangen. Dies könnte man verpflichtend machen, bei-spielsweise drei oder fünf Jahre nach Markteintritt auf der Basis von Beobachtungsstudien, die das Versorgungsgeschehen abbilden.

Des Weiteren wäre die Einführung von „Risk-Sharing“-Modellen ei-ne Option. Gerade im Bereich der Krebsbehandlung, der in den nächsten Jahren demografiebedingt weiter stark wachsen wird, be-tragen die Therapiekosten zum Teil zwischen 10.000 und über 120.000 Euro pro Patient für besonders innovative Therapiekonzep-te. Die Kosten sollten von den Krankenkassen nur dann übernom-men werden, wenn der Patient auf die Therapie anspricht (Remissi-on). Ohne Wirkung sollten die Kosten vom Hersteller getragen wer-den. So kann sichergestellt werden, dass jeder geeignete Patient die Arzneimittel auch bekommt, die Arzneimittel aber nicht vermark-tet werden für Patientengruppen, die von der Therapie nicht profitie-ren.

Rückwirkung des Erstattungs-betrages

Verpflichtende Re-Evaluation

„Risk-Sharing“

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74 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

3.3 Rückblick und Ausblick aus Sicht des GBA

Ein Gastbeitrag von: Prof. Josef Hecken, Unparteiischer Vorsitzen-der des GBA

3.3.1 Einleitung

„Die frühe Nutzenbewertung: Ausweg oder Holzweg?“ – so titelten Anfang 2011 einschlägige Fachzeitungen108, nachdem am 1. Januar 2011 das Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) in Kraft getreten war. Mittlerweile ist das zu Beginn immer als „lernendes System“ überschriebene Verfahren eine feste Größe auf dem Weg in den Arzneimittelmarkt Deutschlands. Auch wenn das AMNOG pri-mär als Instrument zur fairen Preisgestaltung109 bei patentgeschütz-ten Arzneimitteln geschaffen wurde, führte dieses Gesetz in der Konsequenz zu einer unabhängigen, evidenzbasierten Arzneimittel-bewertung – ohne eine vierte Hürde für den Zugang zu neuen Arz-neimitteln für Patientinnen und Patienten aufzubauen.

Das Prozedere bei der frühen Nutzenbewertung hat sich im Grunde seit der Einführung nicht geändert, auch wenn in regelmäßigen Ab-ständen durch neue Gesetze einzelne Regelungen modifiziert, ab-geschafft oder neu eingeführt wurden. Nach mittlerweile 471 Bewer-tungsverfahren für 271 unterschiedliche Arzneimittel (Stand: 1. Mai 2020) hat sich das Vorgehen etabliert. Zahlreiche Arzneimittel wur-den bereits einer erneuten Bewertung zugeführt, sodass neben der frühen Nutzenbewertung auch spätere Nutzenbewertungen in be-stimmten Indikationen vorliegen. Bei jeder einzelnen Bewertung bleibt jedoch gleich, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) sich mit deren Unsicherheiten und Evidenzlücken erneut auseinandersetzen muss.

Am Ende eines jeden Beschlusses schließt sich in der Regel eine Erstattungsbetragsverhandlung an. Das hat zur Folge, dass inzwi-schen einzelne Arzneimittel in Deutschland nicht mehr per se teurer sind als in anderen europäischen Ländern. Dennoch bleibt Deutsch-land bei patentgeschützten Arzneimitteln nach wie vor ein Hoch-preisland.110

108 Beneker C (2011).109 Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Kranken-

versicherung (Arzneimittelmarktneuord-nungsgesetz – AMNOG) (27.12.2010) Bundesgesetzblatt Teil I.

110 Busse et al. (2016).

AMNOG: Ausweg oder Holzweg?

Page 95: AMNOG-Report 2020 - DAK

753 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

3.3.2 Überblick über wesentliche gesetzliche Anpassungen der frühen Nutzenbewertung in den letzten knapp 10 Jahren

AMG-Novelle 2012

Mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften erhielten pharmazeutische Unternehmen für eine Übergangszeit die Möglichkeit, unvollständige Nutzen-Dossiers nachbessern zu können und ihre Arzneimittel umgehend, anstatt nach einer Wartezeit von einem Jahr, einer erneuten frühen Nutzen-bewertung durch den GBA unterziehen zu lassen. In der Anfangs-phase der frühen Nutzenbewertung waren in sieben Fällen unvoll-ständige Dossiers eingereicht worden, sodass der GBA mangels vollständiger Evidenzaufbereitung gezwungen war, einen Zusatz-nutzen für die betroffenen Präparate zu verneinen. Die Möglichkeit, einen Antrag auf Neubewertung zu stellen, wurde für vier Arzneimit-tel genutzt. Die Neubewertung ergab nur für eines eine andere Be-wertung (Vandetanib, geringer Zusatznutzen111).

Des Weiteren wurde in diesem Gesetz vorgegeben, dass bei Bera-tungen des pharmazeutischen Unternehmers zur Planung klinischer Studien die Zulassungsbehörden beteiligt werden sollen. Die Zu-sammenarbeit zwischen Zulassungsbehörden und GBA hat sich seither intensiviert und mündete 2017 in einer Kooperationsverein-barung zwischen BfArM, PEI und GBA112. Darüber hinaus wurden im § 130 b SGB V die Vorgaben zur Berücksichtigung europäischer Preise in den Erstattungsbetragsverhandlungen ergänzt.

AMG-Novelle 2013

Mit dem Dritten Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und an-derer Vorschriften wurde bei der Bestimmung der zweckmäßigen Vergleichstherapie (zVT) die verpflichtende Vorgabe gestrichen, dass ausschließlich die wirtschaftlichste unter mehreren, evidenz-basiert gleichwertigen Therapiealternativen als Vergleich herange-zogen werden muss. Dadurch wurde die Nutzenbewertung zum Teil von der Frage der Wirtschaftlichkeit entkoppelt und so ein breiterer Evidenzkörper für die Nutzenbewertung zugänglich. Zeitgleich wur-de im § 130 b SGB V angepasst, dass für Arzneimittel ohne nachge-wiesenen Zusatznutzen der Erstattungsbetrag nicht zu höheren Jahrestherapiekosten führen darf als die günstigste der ausgewähl-ten Vergleichstherapien. Die pharmazeutischen Unternehmer, bei

111 Gemeinsamer Bundesausschuss, Vandetanib: Beschluss über eine Ände-rung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL): Anlage XII – Beschlüsse über die Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen nach § 35 a SGB V, [online], 05.09.2013, [letzter Zugriff am 01.05.2020], www.g-ba.de/downloads/39-261-1807/2013-09-05_AM-RL-XII_Vandetanib_BAnz.pdf.

112 Strukturierte Zusammenarbeit zwischen dem Gemeinsamen Bundesausschuss dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte und dem Paul-Ehrlich-Institut, G-BA www.g-ba.de/downloads/17-98-4082/Vereinbarung_G-BA-BfArM-PEI_2016-04-12.pdf [letzter Zugriff am 28.04.2020].

Nachbesserung und erneute frühe Nutzenbewertung

Zusammenarbeit mit EMA

Vorgaben zu zVT und Festbetrags-gruppen

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76 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

denen der Zusatznutzen ausschließlich auf einer Bewertung gegen-über der wirtschaftlichsten zweckmäßigen Vergleichstherapie fußte, hatten die Möglichkeit, eine erneute Nutzenbewertung zu beantra-gen. Diese Option wurde nur für einen Wirkstoff113 genutzt.

14. SGB V-Änderungsgesetz

Mit dem Vierzehnten Gesetz zur Änderung des Fünften Buches So-zialgesetzbuch vom 1. April 2014 wurde rückwirkend zum 1. Januar 2014 der § 35 a Absatz 6 SGB V (Bestandsmarktaufruf) aufgeho-ben. Der GBA hatte bereits im Dezember 2013, im Vorgriff auf ein zu erwartendes Gesetz, die Nutzenbewertung von Arzneimitteln im so-genannten Bestandsmarkt vorläufig ausgesetzt114. Nach Inkrafttre-ten des Gesetzes wurden alle entsprechenden laufenden Verfahren endgültig eingestellt. Nicht eingestellt wurden die abgeschlossenen Verfahren. Dies betraf die Nutzenbewertungen der Gliptine (Antidia-betika, Sitagliptin, Vildagliptin und Saxagliptin sowie deren Wirkstoff-kombinationen mit Metformin), die mit Beschluss vom 7. Juni 2012 zur Dossiereinreichung115 aufgefordert wurden.

Neben den Gliptinen befanden sich unter den aufgerufenen Be-standsmarktarzneimitteln unter anderem Wirkstoffe zur Behandlung von Schmerzen, Osteoporose, Prophylaxe von thromboembolischen Ereignissen aber auch onkologische Arzneimittel116. Diese Arznei-mittel wurden aufgrund ihrer besonderen Bedeutung für die Versor-gung aufgerufen, insbesondere im Hinblick auf die Anzahl der Pati-entinnen und Patienten, die mit dem Arzneimittel versorgt wurden, die Kosten für die gesetzliche Krankenversicherung sowie die Qua-lität der Versorgung in der jeweiligen Indikation. Vom Aufruf ausge-nommen waren grundsätzlich Wirkstoffe, die als zweckmäßige Ver-gleichstherapie bestimmt wurden, die der Festbetragsregelung un-terlagen oder von der Verordnung ausgeschlossen waren.

Mit dem Ende der Bestandsmarktbewertung wurde ein chronischer Konfliktherd beseitigt. Der Aufwand für die Erstellung eines „Be-standsmarkt-Dossiers“ für die frühe Nutzenbewertung war ungleich höher als für neue Arzneimittel, die nach dem 1.1.2011 auf den

113 Gemeinsamer Bundesausschuss, Perampanel: Beschluss über einen Antrag auf erneute Nutzenbewertung nach § 35 a SGB V, [online], 06.02.2014, [letzter Zu-griff am 01.05.2020] www.g-ba.de/bewertungsverfahren/nutzenbewertung/39/#beschluesse.

114 Gemeinsamer Bundesausschuss, Nach Gesetzesreform: G-BA stellt Nut-zenbewertungsverfahren des Bestandsmarktes endgültig ein, Pressemittei-lung, [online] 17.04.2014 [letzter Zugriff am 04.05.2020] www.g-ba.de/presse/pressemitteilungen/532/.

115 Gemeinsamer Bundesausschuss, Veranlassung einer Nutzenbewertung von Arzneimitteln im Bestandsmarkt nach § 35 a Abs. 6 SGB V i. V. m. 5. Kapitel § 16 VerfO, [online], 07.06.2012 [letzter Zugriff am 04.05.2020] www.g-ba.de/beschlu-esse/1499/.

116 Gemeinsamer Bundesausschuss, Veranlassung einer Nutzenbewertung von Arzneimitteln im Bestandsmarkt nach § 35 a Abs. 6 SGB V i. V. m. 5. Kapitel § 16 VerfO, [online], 14.11.2013 [letzter Zugriff am 04.05.2020] www.g-ba.de/beschluesse/1853/.

Ende des Bestandsmarkt-

aufrufs

Welche Wirkstoffe wären bewertet

worden?

Hoher administra-tiver Aufwand

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773 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Markt kamen. Denn für Bestandsmarktarzneimittel existierte in der Regel ein Vielfaches an Studien, die seit der Zulassung dieser Arz-neimittel in den verschiedenen Ländern durchgeführt wurden. Es war zweifelhaft, ob der erhoffte Wissensgewinn für die Öffentlichkeit und das mögliche Einsparpotential für die GKV den erheblichen Mehraufwand, der durch die verpflichtende vollständige Aufberei-tung aller Studien in deutscher oder englischer Sprache sowie durch die Bewertung der zum Teil sehr heterogenen Evidenz entstand, tat-sächlich aufwiegen würde. Zudem war abzusehen, dass die Bewer-tungen aufgrund von Wettbewerbsverzerrungen jahrelange lähmen-de Rechtsstreitigkeiten nach sich ziehen würden.

Das Grundprinzip der frühen Nutzenbewertung, dass nur für Arznei-mittel mit patientenrelevantem Zusatznutzen im Sinne einer qualita-tiv besseren Arzneimittelversorgung, ein höherer Preis bezahlt wer-den soll, ließ sich in der Praxis für Bestandsmarktarzneimittel nicht ohne Weiteres umsetzen. Das entfallene Einsparpotential wurde durch den Gesetzgeber durch die Verlängerung des Preismoratori-ums nach § 130 a Abs. 3a SGB V und der Erhöhung des Hersteller-abschlags nach § 130 a Abs. 1 S. 1 SGB V aufgefangen.

AMVSG

Das im März 2017 verabschiedete Gesetz zur Stärkung der Arznei-mittelversorgung in der GKV (AMVSG) beinhaltete eine Reihe klei-nerer und größerer Anpassungen des AMNOG-Verfahrens, darun-ter die Klarstellung für welche Arzneimittel keine Verpflichtung zur Vorlage eines Dossiers besteht, sowie die Klarstellung, dass ein Antrag auf Freistellung von der Nutzenbewertung nur vor dem erst-maligen Inverkehrbringen möglich ist. Außerdem sollte der GBA festlegen, unter welchen Bedingungen festgestellt wird, dass ein Zu-satznutzen als nicht belegt gilt. Wenn ein Zusatznutzen als nicht be-legt gilt, sollen die Jahrestherapiekosten des zu bewertenden Arz-neimittels geringer als die Jahrestherapiekosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie sein und bei Arzneimitteln ohne Zusatznutzen soll – statt darf – der Erstattungsbetrag die Kosten der zVT nicht übersteigen.

Im Rahmen dieses Gesetzes wurde im § 78 AMG geregelt, dass vereinbarte Erstattungsbeträge auch für den stationären Bereich gelten. In der Regel führte ein rein stationärer Gebrauch von Arznei-mitteln zu einer positiven Freistellungsentscheidung. Die Gesetzes-änderung initiierte im GBA die Diskussion, inwiefern diese Spruch-praxis weiterhin tragbar wäre: da die Erstattungsbeträge auf Basis dieses Gesetzes auch in Krankenhäusern ihre Anwendung finden, wird unterstrichen, dass auch die Feststellung zum Zusatznutzen in diesen Versorgungsbereich hineinreicht. Eine Nutzenbewertung al-lein auf Grundlage des Vertriebsweges zu verneinen, erschien vor dem Hintergrund dieser Gesetzesänderung nicht haltbar. Seit 2018 werden regelhaft auch rein stationär eingesetzte Arzneimittel, so-

Kleinere und größere Anpassungen

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78 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

fern sie nicht unterhalb der 1 Million-Euro-Umsatzgrenze bleiben, bewertet.

Eine besonders wesentliche Neuerung im Rahmen des AMVSG be-traf die Beauftragung des GBA, die Nutzenbewertungsbeschlüsse innerhalb eines Monats nach Beschlussfassung in einer maschinen-lesbaren Fassung für die Abbildung in der Arztsoftware bereitzustel-len. Die Praxissoftware muss diese aufbereiteten Informationen künftig zwingend enthalten. Die Debatte um die Inhalte des Arztin-formationssystems hielt etwa zwei Jahre an, bis im August 2019 die entsprechende Rechtsverordnung in Kraft getreten ist. Die Sorge um eine zu stark steuernde Wirkung der abgebildeten Informationen im Hinblick auf Therapiefreiheit der Ärzte, mögliche Verknüpfungen mit Leitlinien oder Wirtschaftlichkeitshinweise durch den GBA, domi-nierten die Diskussion. Schließlich beschränkte sich die Rechtsver-ordnung auf die wesentlichen Bestandteile eines Beschlusses. Auch auf die Abbildung der Kosten, deren regelhafte Aktualisierung und Anpassung enormen Pflegeaufwand ausgelöst hätte, wurde ver-zichtet.

Durch die explizite Beauftragung, dass in den Praxissoftwarepro-grammen der Ärztinnen und Ärzte die Nutzenbewertungsbeschlüs-se aufbereitet abgebildet werden müssen, kommt der Gesetzgeber einem in den letzten Jahren offensichtlichen Defizit entgegen: Die Informationen aus den Nutzenbewertungen kommen nicht bei den Verordnern an und sind bislang nur einem kleinen Expertenpubli-kum bekannt. Dabei enthalten die veröffentlichten Dokumente eine Extraktion der klinischen Daten, nicht nur aus Zulassungsstudien, sondern auch aus weiteren Unterlagen, und geben Hinweise auf Evidenzlücken und Unsicherheiten in den vorgelegten Daten. Durch eine übersichtliche Aufbereitung der einzelnen Abschnitte soll Abhil-fe geschaffen werden. 2020 wird nun die Umsetzung starten, da-nach muss evaluiert werden, inwiefern die Informationen aus den Nutzenbewertungsbeschlüssen, unterstützt durch das Arztinforma-tionssystem, in der Ärzteschaft angekommen sind bzw. an welchen Stellen möglicherweise nachjustiert werden muss oder welche Infor-mationen möglicherweise zusätzlich gegeben werden müssen und welche eher entbehrlich sind.

GSAV

Das im August 2019 in Kraft getretene Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) enthielt eine Reihe mutiger Neuerungen. Insbesondere die Möglichkeit, dass der GBA anwen-dungsbegleitend bei bestimmten Arzneimitteln weitere Datenerhe-bungen fordern kann, mit der Konsequenz, dass bei Nichterfüllung Abschläge im Erstattungsbetrag zu erwarten sind, ist Chance und Herausforderung zugleich. Zum einen gibt es der pharmazeutischen Industrie die Möglichkeit, noch nicht aussagekräftige Daten zum Zeitpunkt der Nutzenbewertung im Nachgang zu ergänzen und zu bestimmten Fragestellungen weitere Evidenz zu liefern, zum ande-

Digitalisierung der Beschlüsse

Mutige Neuerungen

im AMNOG

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793 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

ren sind die Unternehmer so aber auch in der Pflicht, alles daran zu setzen, diese Daten zu erheben. In der Vergangenheit hat der GBA zwar diverse Beschlüsse befristet, zum Teil mit der Auflage, Evidenz aus Registern vorzulegen oder neue Studien aufzulegen, jedoch wurden diese Forderungen im Rahmen der Befristungsauflagen nicht oder nur mangelhaft erfüllt. Mit diesem Gesetz ist der GBA stärker in die Planung eingebunden und angehalten, konkretere Vor-gaben an Fragestellung und Umsetzung der Forderungen zu formu-lieren. Dies bedeutet wiederum, dass für die Forderung einer an-wendungsbegleitenden Datenerhebung eine frühzeitige Beratung innerhalb des GBA und mit dem pharmazeutischen Unternehmer unter Einbindung von Fachexpertise, Zulassungsbehörden, Regis-terbetreibern und Patientinnen und Patienten erforderlich ist. Da aber die anwendungsbegleitende Datenerhebung nur für ganz be-stimmte Arzneimittel möglich ist, muss auch darauf geachtet wer-den, dass die Anforderungen unter der Prämisse der Verhältnismä-ßigkeit und im Hinblick auf den relevanten Patientennutzen sich auf wesentliche Evidenzlücken und Endpunkte beschränken.

Unbestritten bleibt, dass die Nutzenbewertung eine Zusatznutzen-bewertung ist und eine vergleichende Bewertung die Basis der Ent-scheidung bildet. Vergleichende Daten gegenüber anderen Therapi-en lassen sich am besten im Rahmen von Indikationsregistern er-fassen. Deshalb könnte es ein sinnvoller Weg sein, dass in den Fäl-len, in denen noch keine Indikationsregister etabliert sind, der GBA die zentrale Stelle bildet, um solche Register zu fördern, zu unter-stützen und zu verwalten. Es muss vermieden werden, dass eine kleinteilige, nicht verwertbare Datensammlung in einzelnen Pro-duktregistern der jeweiligen Unternehmen erfolgt. Die Registerland-schaft muss nachhaltig sinnvoll umgestaltet werden, damit das „Nicht-Wissen“ minimiert werden kann.

Eine weitere wesentliche Änderung durch das GSAV bezieht sich auf die Möglichkeit bei Arzneimitteln für neuartige Therapien (soge-nannte ATMPs) eine Richtlinie nach § 136 a Abs. 5 SGB V zu erstel-len, die verpflichtende Maßnahmen für die Qualität der Anwendung von ATMPs bestimmen soll. Bei den ATMPs handelt es sich um hochspezialisierte und komplexe Leistungen, die ein besonders ho-hes Maß an Übung und Erfahrung voraussetzen. Zudem liegen zum Zeitpunkt der Zulassung häufig nur mangelhafte Erkenntnisse zum therapeutischen Stellenwert und zu Langzeitrisiken dieser Arznei-mittel vor, weshalb ihr Einsatz oft besondere Erfahrung in der Be-handlung der Erkrankung, in der Abwägungsentscheidung zu The-rapiealternativen und strukturierter Nachsorge bedarf. Deshalb ist es zu begrüßen, dass ausschließlich solche Leistungserbringer an der Versorgung dieser Patientinnen und Patienten beteiligt sein soll-ten, die eine entsprechende Qualifikation aufweisen.

Indikationsregister als neue Daten-quelle

Herausforderung ATMPs

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80 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

TSVG

Das am 11. Mai 2019 in Kraft getretene Gesetz für schnellere Termi-ne und bessere Versorgung beauftragte den GBA innerhalb eines Monates nach Beschlussfassung den Beschluss und Tragende Gründe zum Beschluss nach § 35 a SGB V in englischer Sprache zu veröffentlichen. Im Rahmen der immer wichtigeren Rolle des GBA in der Europäischen Zusammenarbeit ist die Verfügbarkeit der Infor-mationen und Transparenz der Entscheidungen für die interessierte internationale Öffentlichkeit essentiell.

GKV-FKG

In dem im März 2020 in Kraft getretenen Gesetz für einen fairen Kassenwettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV- FKG) finden sich noch einige klarstellende Regelungen für die frühe Nutzenbewertung. So kann eine anwendungsbegleitende Datener-hebung frühestens mit dem erstmaligen Inverkehrbringen eines Arz-neimittels gefordert werden. Zudem besteht nun für alle Arzneimittel für neuartige Therapien (ATMPs), außer für Gewebeprodukte, die Verpflichtung zur Vorlage eines Nutzenbewertungsdossiers. Bei Ge-webeprodukten muss der GBA weiterhin abwägen, inwiefern der ärztliche Anteil an der Behandlung überwiegt, dass eine Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden nach den §§ 135, 137 c oder 137 h erfolgen sollte. Außerdem können sich pharmazeu-tische Unternehmer von Reserveantibiotika von der Vorlage eines sogenannten „Volldossiers“ freistellen lassen, sofern das Antibioti-kum den (noch vom RKI festzulegenden) Kriterien für ein Reserve-antibiotikum entspricht. Der GBA hat ausschließlich festzustellen, dass ein Zusatznutzen belegt ist, ohne Bewertung des Ausmaßes des Zusatznutzens noch der Aussagekraft.

3.3.3 Rückblick auf knapp 10 Jahre AMNOG – die größten Dis-kussionsthemen

Mischpreis und Vertraulichkeit der Erstattungsbeträge

Die Frage der Preisvertraulichkeit taucht in regelmäßigen Abstän-den immer wieder auf. Aus Sicht der pharmazeutischen Industrie würde durch eine Vertraulichkeit des Preises die deutsche Refe-renzpreiswirkung entfallen und die Abwärtsspirale bei der Preisver-handlung gestoppt werden. Auf Seiten der Krankenkassen wird be-tont, dass Deutschland keinesfalls das einzige Referenzland für die Preisfestlegungen in anderen Ländern sei, sondern eines unter vie-len. Abgesehen von der Referenzpreisdebatte könne man die Betei-ligten des Gesundheitssystems nicht gänzlich aus der Wirtschaft-lichkeitsverantwortung heraushalten, denn ohne eine Vorstellung der Kosten, könnten finanzielle Auswirkungen der Verordnung be-stimmter Arzneimittel nicht mehr abgeschätzt werden.

Beschlüsse für internationale Öffentlichkeit

Weitere Konkretisierungen

der frühen Nutzenbewertung

Referenzpreis- und Wirtschaftlich-

keitsdebatte

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813 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Klar ist, dass wir bei der ganzen Diskussion um die Preistranspa-renz nicht das Ziel aus den Augen verlieren sollten. Wenn wir uns im deutschen Gesundheitssystem eine gute Versorgung mit möglichst breitem Angebot an evidenzbasiert guten Therapiealternativen leis-ten wollen, müssen wir über die Vertraulichkeit der Erstattungsbeträ-ge nachdenken dürfen und an Möglichkeiten arbeiten, wie Ärztinnen und Ärzte dennoch über eine Größenordnung oder das Verhältnis der Preise der unterschiedlichen Therapien untereinander informiert werden könnten. Ein Modell könnte eine temporäre Vertraulichkeit sein, zum Beispiel bei befristeten Beschlüssen zu einem Wirkstoff oder bis zur erneuten Bewertung, wenn noch weitere Datenerhe-bungen beauflagt wurden.

Neben der Diskussion zur Vertraulichkeit der Erstattungsbeträge er-gaben sich kurzzeitig nach einem Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom Juni 2017 Unsicherheiten in Bezug auf die Rechtmäßigkeit der verhandelten Mischpreise. Dabei ermöglicht ge-rade diese Mischkalkulation Kompromisse in den Preisverhandlun-gen zwischen dem pharmazeutischen Unternehmer und dem GKV-Spitzenverband. Würde für jede Teilpopulation eine Preisfestsetzung stattfinden, müsste eine enorme Bürokratie bewältigt werden, da bei jeder Abgabe die Teilindikation, für die das Arzneimittel verordnet wird, dokumentiert werde müsste. Das wäre erstens aufgrund des Datenschutzes nicht möglich und zweitens lassen sich oftmals die genauen Patientenzahlen für die einzelnen Teilpopulationen, die für eine Preisfestsetzung je bestimmten Zusatznutzen erforderlich sind, auf Basis der vorhandenen epidemiologischen Daten überhaupt nicht ermitteln. Insofern ist die Mischpreisbildung bis heute eine ge-lebte Praxis, die derzeit keine Alternative hat.

Teilpopulationen, zweckmäßige Vergleichstherapie, Endpunkte – Herausforderungen bei der Nutzenbewertung

Das Verfahren der Nutzenbewertung hat sich als sehr transparent und produktiv erwiesen. Vor der Dossiereinreichung im GBA finden Beratungsgespräche mit den pharmazeutischen Unternehmen in unterschiedlichen Phasen der Arzneistoffentwicklung statt, mit der Veröffentlichung der Dossierbewertung werden die Module 1–4 des Dossiers des pharmazeutischen Unternehmers und die für das Ver-fahren festgelegte zweckmäßige Vergleichstherapie mit der zu Grunde gelegten Evidenzübersicht veröffentlicht. Die Fachöffentlich-keit und die betroffenen pharmazeutischen Unternehmer haben da-raufhin die Gelegenheit sich schriftlich und anschließend mündlich zu allen Aspekten der Nutzenbewertung zu äußern. Eine besondere Dynamik entsteht bei solchen Anhörungen immer, je mehr klinische Experten anwesend sind. Der GBA kann sich dann auf Basis der Diskussion, auch gern der kontroversen Diskussion, ein besseres Bild zum Stellenwert der Therapien im Vergleich zu bereits bewerte-ten Therapieoptionen machen. Nicht selten führten diese Anhörun-gen zu Modifikationen in der zweckmäßigen Vergleichstherapie,

Modellidee: temporäre Vertraulichkeit

(Juristische) Debatte um Mischpreise

Verfahrenspraxis der Nutzen-bewertung

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82 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

Nachauswertungen zu bestimmten Analysen oder zu lebhaftem Dis-kurs zur Patientenpopulation.

Teilpopulationen

Häufig geäußerter Hauptkritikpunkt bei der Nutzenbewertung ist die Unterscheidung des Zusatznutzens in einer Indikation in verschie-denen Teilpatientengruppen. Dabei handelt es sich bei der Identifi-kation von Patientengruppen mit bedeutsamen therapeutischem Zusatznutzen um einen gesetzlichen Auftrag, der sich aus dem AM-NOG ergibt. Der GBA ist im Laufe der Jahre sehr zurückhaltend geworden in Bezug auf die Unterteilung von Indikationen in ver-schiedene Patientenpopulationen. Hauptgrund für die Unterschei-dung von Teilpopulationen ist oftmals die Zulassung des zu bewer-tenden Arzneimittels selbst oder die Zulassungen der zweckmäßi-gen Vergleichstherapien (zVT). Ist beispielsweise die zVT nur für eine Teilpopulation zugelassen, bestimmt der GBA in der Regel für die nicht von der zVT umfasste Population eine separate Gruppe. Der zweite Grund für die Subgruppeneinteilung ist die Evidenzlage: wenn sich aus dieser ergibt, dass klar voneinander abgrenzbare Po-pulationen hinsichtlich des Schweregrades der Erkrankung, der Prognose, der Diagnostik oder Behandlung existieren, dann werden die Patientenpopulationen in der Regel auch getrennt betrachtet und das Ausmaß des Zusatznutzens differenziert festgestellt. Wenn sich diese Patientenpopulationen nicht in den Studiendaten wider-spiegeln, so drückt sich diese Evidenzlücke in einem nicht belegten Zusatznutzen in einer Teilpopulation aus. Inwiefern sich ggf. den-noch Populationen zusammenfassen lassen, ist Thema in den Stel-lungnahmen.

Zweckmäßige Vergleichstherapie

Sehr kontrovers wurde und wird jeweils die Bestimmung der zVT in den Gremien und in der Öffentlichkeit diskutiert. Einerseits wird kriti-siert, dass der GBA veraltete Therapien als Vergleich heranziehe, gleichzeitig wird andererseits kritisiert, dass die zVT zu schnell ge-wechselt werde.

Per Definition muss die zVT dem aktuellen, anerkannten Stand des medizinischen Wissens entsprechen. Schwierig wird es dann, wenn von neuen Arzneimitteln Therapielinien und -gebiete adressiert wer-den, zu denen auch die Kliniker keine Empfehlungen zu einer Stan-dardbehandlung abgeben können. Welche Therapie ist zweckmäßig nach Versagen von fünf Vortherapien? Was ist die Standardtherapie bei einer Patientenpopulation, die sich heterogen aus den unter-schiedlichsten Schweregraden und Symptomatiken zusammen-setzt? In welchen Fällen kann man einen Off-Label-Use als Kompa-rator akzeptieren und in welchen Fällen ist die vor Jahren bestimmte und in den Studien verwendete Vergleichstherapie nicht mehr geeig-net, die aktuelle Frage nach dem Zusatznutzen für den deutschen Versorgungskontext valide zu beantworten? Es gibt für diese Frage-stellungen nicht eine allgemeingültige Antwort, sondern der GBA

Hauptkritikpunkt Teilpopulationen

zVT als Einzelfall-entscheidung

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833 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

diskutiert jeden Einzelfall unter Berücksichtigung von Evidenz, Ver-sorgung und Verhältnismäßigkeit.

Seit 2020 werden Fachgesellschaften und die Arzneimittelkommis-sion der deutschen Ärzteschaft zu Fragen der zVT hinzugezogen. Dies kann sowohl im Rahmen einer Beratung erfolgen, die zum Zeit-punkt der Studienplanung stattfindet, als auch zu anderen Zeitpunk-ten im Verfahren der Nutzenbewertung. Es bleibt zu hoffen, dass die Hinzuziehung der Experten die Bewertung der Evidenzlage verein-facht. Der Umgang mit der vorgelegten Evidenz wird uns noch die nächsten Jahre beschäftigen. Dabei wird zum einen wichtig sein, wie die Evidenz die Fragestellung der Nutzenbewertung beantwor-ten kann gegenüber einer Planungssicherheit für die Unternehmer, die in eine Studie investieren.

Endpunkte

Auch die Akzeptanz von Endpunkten ist immer wieder Streitpunkt bei den Dossierbewertungen. In diesem Kernpunkt zeigt sich beson-ders, dass die Fragestellungen von „Arzneimittelzulassung“ und „Nutzenbewertung“ unterschiedlich sind: Während bei der Zulas-sung Wirksamkeit und Unbedenklichkeit abgewogen werden, ist es bei der Nutzenbewertung eine Abwägung von Nutzen und Zweck-mäßigkeit bei Berücksichtigung der Verbesserung der Versorgungs-qualität. In der Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung (AM-Nut-zenV) ist definiert: „Der Zusatznutzen eines Arzneimittels ist ein hö-herer Nutzen als die zweckmäßige Vergleichstherapie“ und Nutzen bedeutet: „[…] der patientenrelevante, therapeutische Effekt insbe-sondere hinsichtlich der Verbesserung des Gesundheitszustandes, der Verkürzung der Krankheitsdauer, der Verlängerung des Überle-bens, der Verringerung von Nebenwirkungen oder einer Verbesse-rung der Lebensqualität.“ Deshalb wird unter Umständen der im Zulassungsprozess herangezogene Surrogatendpunkt, wie bei-spielsweise ein bestimmter Blutserumspiegel, in der Nutzenbewer-tung keine Rolle spielen, wenn sich nicht gleichzeitig auch Vorteile in Lebensqualität oder Symptomatik zeigen.

Das zeigt, dass neben der richtigen Patientenauswahl und des opti-malen Komparators auch die Auswahl der relevanten Endpunkte ei-ne große Bedeutung in der Studienplanung haben. Nicht immer ge-lingt es Unternehmen die zu diesen Gesichtspunkten durchgeführte Studienberatung auch in das Entwicklungsprogramm einzubringen. Wir sehen aber, dass die Beratung zu klinischen Studien beim GBA zunehmend in Anspruch genommen werden und fast jedes Produkt in der Nutzenbewertung zuvor zumindest einmal, eher sogar mehr-mals, beraten wurde. Die Einschätzung zur Patientenrelevanz von Endpunkten ist ein konstantes Diskussionsthema in den Dossierbe-ratungen.

Unterschiedliche Anforderungen an Endpunkte

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84 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

3.3.4 Herausforderungen für die Zukunft

Umgang mit abnehmendem Evidenzniveau bei den regulato-risch priorisierten Arzneimitteln, Orphan-Drugs und beschleu-nigte Zulassungen

Wir haben in den letzten Jahren neben eher neutralen Arzneimittel-entwicklungen auch Fälle von bedeutsamen Therapiefortschritten, in Indikationsbereichen wie beispielsweise der Onkologie oder Neu-rologie bewerten können, in denen Arzneimittel erstmals einen tat-sächlichen Therapieerfolg brachten und diesen in sauber durchge-führten Studien nachgewiesen haben. Es gibt aber auch Arzneimit-tel, bei denen wir nicht wissen, ob der erhoffte oder versprochene Erfolg tatsächlich eintritt oder anhält. So stehen insbesondere Zu-lassungsbehörden unter einem enormen Druck durch Industrie, Me-dizin, Patienten oder auch Politik, – und das nicht nur in Zeiten einer Corona-Pandemie – Zulassungen noch schneller zu erteilen und Evidenzansprüche abzusenken. Auch wenn immer wieder von allen Seiten betont wird, dass trotz beschleunigter Zulassung die gleichen Qualitäts- und Sicherheitsstandards eingehalten werden, so geht die Zeitersparnis doch auf Kosten von validen Daten und gesicher-ten Endpunkten. Zulassungserteilungen, die mehr durch das Argu-ment des „medical need“ und weniger auf Basis deutlicher Evidenz getroffen werden, machen auch die Entscheidungsfindung zum Zu-satznutzen schwieriger. Es ist bisweilen unklar, ob eine kontrollierte Studie tatsächlich mehr Zeit in Anspruch genommen hätte oder ob man nicht im Vorfeld bessere Daten zum natürlichen Verlauf hätte generieren können. Ohne einen Vergleich lässt sich das Ausmaß eines Zusatznutzens nur schwer schätzen.

Mit dem Instrument der anwendungsbegleitenden Datenerhebung lassen sich einige Probleme mit den unreifen Daten sicherlich lösen, denn wenn bestimmte patientenrelevante Endpunkte zum Zeitpunkt der Nutzenbewertung noch nicht erhoben werden konnten, lassen diese sich mit einer gut geplanten Registerstudie auch nach der Nutzenbewertung generieren. Das Problem mit den fehlenden Ver-gleichsdaten ist dadurch aber nicht immer in den Griff zu bekom-men. Hier ist es erforderlich, dass bereits während der Arzneimittel-entwicklung an Registern gearbeitet wird, in denen später auch die Ergebnisse der neuen Therapien erfasst werden können. Eine früh-zeitige Konzeption der Datenerhebung, um natürliche Krankheits-verläufe zu erfassen, bei Indikationen, in denen keine Therapiealter-native existiert, wäre wünschenswert.

Die Patienten und Patientinnen sollen möglichst rasch von neuen Therapien profitieren können, dafür ist es aber wichtig, dass die op-timistischen Prognosen, die manchen Arzneimitteln auf Basis von Surrogatparametern vorauseilen, nachhalten. Es ist natürlich wün-schenswert, dass sich die Hoffnungen bestätigen, aber wenn der finale Nachweis des Zusatznutzens nicht erbracht werden kann, könnte das dazu führen, dass ein Zusatznutzen herabgestuft wird.

Druck zu zeitna-hen Zulassungen

Anwendungs-begleitende

Datenerhebung als Lösung?

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853 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Die Interpretation der nach der Nutzenbewertung erhobenen Daten, bei positiven als auch bei negativen Ergebnissen mit Augenmaß aber auch mit gleichem Maßstab zu bewerten, wird eine der größe-ren Herausforderungen der nächsten Jahre werden.

Europa

Die europäische Zusammenarbeit im HTA-Bereich ist von zuneh-mender Bedeutung. Dies wurde insbesondere forciert durch die Eu-ropäischen Kommission mit einem Verordnungsentwurf117 zur Be-wertung von Gesundheitstechnologien vom 31. Januar 2018. Ziel der Verordnung war, Mehrarbeit auf Seiten der pharmazeutischen Industrie als auch in den europäischen Staaten bei der Bewertung von neuen Arzneimitteln zu vermeiden sowie den Zugang zu diesen neuen Arzneimitteln für Patientinnen und Patienten in Europa zu be-schleunigen. Problematisch an dem Entwurf war, dass dieser an entscheidenden Stellen sehr vage und ungenau blieb, die Umset-zung der Vorgaben jedoch, wie beispielsweise die Übernahme der europäischen Nutzenbewertung in nationale Entscheidungen, ver-pflichtend vorgab. In Deutschland gibt es seit 2011 ein etabliertes, transparentes Verfahren der Nutzenbewertung, mit standardmäßi-ger Einbindung von Patientenvertretern und Fachgesellschaften, mit einer auf evidenzbasierter Medizin gründenden Methodik, konkre-ten Vorgaben für die Aufbereitung der Daten und einer willkürfreien Auswahl der zu bewertenden Arzneimittel. Derzeit ist auf europäi-scher Ebene aber noch unklar, nach welcher Methodik die Studien bewertet werden, welches gemeinsames Verständnis von der Qua-lität der einzureichenden Daten und vom Inhalt des finalen Nutzen-bewertungsberichtes besteht und wie die Abläufe koordiniert wer-den.

Bevor also die europäische Nutzenbewertung in die Produktivphase übergeht, muss die Testphase erfolgreich abgeschlossen sein. Bis diese beendet ist, erscheint eine einheitliche europäische Nutzen-bewertung nicht durchsetzbar und die nationalen Bewertungen, mit der für die Zusatznutzenentscheidung erforderlichen Qualität, sind fortzusetzen. Die Herausforderung der nächsten Jahre wird sein, ak-tiv die Erfahrungen aus dem AMNOG-Prozess in die europäische Verfahrensgestaltung einzubringen, um zu erreichen, dass das Po-sitive aus dem AMNOG-Prozess nicht verloren geht – zum Wohl al-ler Patientinnen und Patienten.

117 Vorschlag für eine VERORDNUNG DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES über die Bewertung von Gesundheitstechnologien und zur Änderung der Richtlinie 2011/24/EU, 31.01.2018, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A52018PC0051.

EU-HTA

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86 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

3.3.5 Literatur

Beneker, C. (2011): „Beim AMNOG fehlen noch die Erfahrungswer-te“. Ärztezeitung online vom 02.02.2011.

Busse, R., Panteli, D., Schaufler, J., Schröder, H., Telschow, C., Weiss, J. (2016): Europäischer Preisvergleich für patentge-schützte Arzneimittel. In: Schwabe, U., Paffrath, D. (eds) Arz-neiverordnungs-Report 2016. Springer, Berlin, Heidelberg.

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873 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

3.4 Rückblick und Ausblick aus Sicht des GKV-Spitzenver-bandes

Ein Gastbeitrag von: Dr. Antje Haas, Dr. Anja Tebinka-Olbrich, Dr. Daniel Erdmann, Susanne Henck, Maximilian Kuhn, Andreas Nickel, Abteilung Arznei- und Heilmittel im GKV-Spitzenverband

3.4.1 Entwicklung des Arzneimittelmarktes vor AMNOG bis 2011

Die Entstehung und Entwicklung des AMNOG lässt sich verstehen, wenn man die zugrundeliegenden tiefgreifenden Veränderungen im Arzneimittelmarkt in den letzten 30 Jahren rekapituliert.

Die 1990er Jahre waren gekennzeichnet durch transnationale Be-mühungen um Harmonisierung der Arzneimittel-Entwicklung und -Zulassung118. Das grundsätzlich begrüßenswerte Streben nach ein-fachen und einheitlichen Verfahren hatte jedoch seinen Preis: Viel-fach bedeutete es eine Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Und so gelangten auch in Europa zunehmend Arzneimittel auf den Markt, die intolerabel schwere Nebenwirkungen verursa-chen (bspw. Lipobay®, Vioxx®), die nur Laborwerte beeinflussen und den Patienten dennoch schaden (bspw. Avandia®) oder die sich als unwirksam herausstellen sollten (bspw. Edronax®).

Gleichzeitig verschob sich der Fokus der Forschung zunehmend von Volkskrankheiten auf seltene Erkrankungen und therapeutische Nischen.119 Grund sind vor allem die Erfolge der Vorvergangenheit: Für viele Krankheiten ließ sich das bestehende therapeutische Ar-mamentarium nur noch schwer übertreffen.120,121 Anreize durch den Gesetzgeber (bspw. Orphan-Drug-Regulation, Sonderzulassungen) tragen zur Beschleunigung dieser Entwicklung bei. Beunruhigend ist insbesondere, dass zwar die Anforderungen für die Zulassung neu-er Arzneimittel gesenkt worden, nicht aber in gleichem Maße die Hürden, um bedenkliche Medikamente wieder vom Markt zu neh-men.

Auch bei den Arzneimittelpreisen brachte das ausgehende 20. Jahr-hundert einen Paradigmenwechsel: Während zuvor Preise haupt-sächlich mittels Kostenrechnung kalkuliert wurden, entkoppelten sich die Preise neuer Arzneimittel davon und orientierten sich fortan zunehmend an der (im Gesundheitsbereich fast endlosen) Zah-lungsbereitschaft der Gesellschaft.122, 123 Dies führte zu einem dyna-mischen Anstieg der Arzneimittelausgaben, maßgeblich verursacht durch wenige, sogenannte „Spezialpräparate“ (siehe Abb. 7).

118 Bspw. Gründung der ICH 1990 und der EM(E)A 1993.119 Aitken et al. (2019).120 Scanell et al. (2012).121 Pammoli et al. (2011).122 Gregson et al. (2005).123 Luzzatto et al. (2018).

Hohes Schadens-potenzial früherer Medikamente

Zahlungsbereit-schaft als Faktor zur Ermittlung von Preisen

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88 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

Nutzenbewertung

Als Reaktion auf sinkende Zulassungsanforderungen und sprung-haft steigende Arzneimittelausgaben richteten gegen Ende der 1990er Jahre viele Länder eigene HTA124-Institutionen ein. Deren Aufgabe sollte darin bestehen, auf Grundlage systematischer Be-wertungen unabhängige Information zum Nutzen neuer Arzneimittel sowie Empfehlungen zu Erstattungsfähigkeit und Preissetzung zu erarbeiten.125

Auch in Deutschland wurde schließlich 2004 auf dem Boden des GKV-Modernisierungsgesetzes ein eigenes HTA-Institut gegründet – das IQWiG. Zeitgleich wurde auch die Nutzenbewertung neuer Arzneimittel nach § 35 b SGB V eingeführt. Das Institut und seine Bewertungen vermochten erstmals die Deutungshoheit der phar-mazeutischen Industrie zum Nutzen ihrer Neuentwicklungen in Deutschland zu brechen (bspw. Insulin-Analoga). Verwerfungen auf-grund der Konsequenzen dieser ungewohnten Transparenz blieben nicht aus, sodass schließlich 2010 der damalige IQWiG-Leiter Peter Sawicki im Zusammenhang mit seinen kritischen Bewertungen den Posten räumen musste.

Wenn auch die Nutzenbewertung nach § 35 b SGB V bspw. in Form von Therapiehinweisen bereits deutliche Qualitätsverbesserungen für einige Patienten erreichen konnte, erwies sie sich bei der Steue-rung des Ausgabenanteils der GKV für patentgeschützte Arzneimit-tel letztlich als zahnloser Tiger. Und auch die Einführung der Kosten-Nutzen-Bewertung mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 2007, welche eine Verhandlung oder Festsetzung von Erstattungs-höchstgrenzen erlaubte, war durch methodische Kontroversen und lange Verfahrensdauern geprägt und kam somit nie „ins Fliegen“.

124 Health Technology Assessment.125 Zentner et al. (2006).

Beginn von HTA-Bestrebungen

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893 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Abbildung 7: Entwicklung der Arzneimittel-Ausgaben der GKV (Insge-samt, in Mrd. €) im Vergleich zur Inflationsrate126, 127

Quelle: GKV-Spitzenverband.

3.4.2 Frühe Nutzenbewertung und Erstattungsbetragsver-handlungen im Rahmen von AMNOG

Frühe Nutzenbewertung

In den späten 2000er Jahren mehrten sich die Stimmen, die auf eine Reform der Preis- und Erstattungsregulation patentgeschützter Arz-neimittel drängten. Von besonderer Bedeutung waren und sind da-bei neben den Analogpräparaten („Me-Toos“) vor allem nicht voll-ständig austauschbare Arzneimittel (sog. „Solisten“), für welche teil-weise exorbitante Monopolpreise aufgerufen werden.

Die Vorstellungen von einer Reform gingen jedoch weit auseinan-der: So liefen einige Vorschläge effektiv auf den Erhalt des Preismo-nopols für Solisten hinaus128. Der GKV-Spitzenverband selbst sprach sich für den international üblichen Weg einer der Zulassung nachge-lagerten (Kosten-)Nutzenbewertung und Preisverhandlung bzw. -festsetzung als Voraussetzung für eine Erstattungsfähigkeit aus.129 Weitere Stimmen befürworteten eine Vergütung unter anderem auf Basis des medizinischen Nutzens und der Forschungsaufwendun-gen.130, 131

Mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz bezog der Gesetzge-ber schließlich 2011 Position in der Diskussion:

126 Gesundheitsberichterstattung des Bundes (2020).127 Statista Research Department (2020).128 Wille et al. (2008).129 Lanz et al. (2009).130 Müller et al. (2009).131 Vogler et al. (2010).

Weg zur frühen Nutzenbewertung

Nutzenbewertung im AMNOG

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90 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

Die bestehende Nutzenbewertung sollte zunächst beschleunigt, vereinfacht und standardisiert werden. Gleichzeitig wurde der Fokus der Bewertungen nunmehr auf Einzelwirkstoffe gelegt, wo zuvor auch mehrere Wirkstoffe einer Klasse bewertet werden konnten. Schließlich wurde mit der Gesetzesnovelle die primäre Konsequenz der Nutzenbewertung auf die Preisebene verschoben. An der Er-stattungsfähigkeit zum frei gewählten Listenpreis ab Marktzugang und somit vor Vereinbarung eines angemessenen Preises sollte da-mals weiter nicht gerüttelt werden. Eine weitere, folgenreiche Festle-gung gelangte erst kurz vor Schluss in diese Gesetzgebung hinein: Orphan Drugs wurden von der Verpflichtung zum Nachweis eines Zusatznutzens grundsätzlich ausgenommen. Damit wurde aller-dings das Ziel der Innovationsförderung für diese Arzneimittel in sein Gegenteil verkehrt: Hersteller echter therapeutischer Innovatio-nen gewinnen nicht durch diese Regelung, im Gegenteil, sie sind sogar bei Überschreitung der Umsatzschwelle durch doppelten Auf-wand belastet.

Erstattungsbetragsverhandlungen

Die Erstattungsbetragsverhandlungen weisen ein hohes Maß an fristgebundenen Verfahrensschritten auf. So müssen Verhandlun-gen spätestens sechs Monate nach Veröffentlichung eines GBA-Beschlusses abgeschlossen sein. Sollte nach Ablauf dieser Ver-handlungsfrist keine Einigung erzielt worden sein, setzt die Schieds-stelle wiederum nach maximal drei Monaten den Vertrag und somit auch den neuen Abgabepreis fest. Diese enge zeitliche Taktung unterscheidet Erstattungsbetragsverhandlungen deutlich von ande-ren im SGB V geregelten Verfahren, was vor dem Hintergrund der großen Zahl an Verhandlungsverfahren auch geboten erscheint.

In den AMNOG-Verhandlungen stellt der Zusatznutzen die maßgeb-liche Variable dar. Sofern ein Zusatznutzen gegenüber der zweck-mäßigen Vergleichstherapie besteht, darf diese Innovation auch mehr kosten. Kann dem Produkt hingegen kein Zusatznutzen attes-tiert werden, so sind die Kosten des neuen Produktes gedeckelt. Es gilt der Grundsatz: keine Mehrkosten ohne Mehrnutzen. Dieser Leis-tungsgedanke stellt eine der Stärken des AMNOG-Verfahrens dar, was die Unternehmen zunehmend dazu bewegt, noch aussagekräf-tigere Studien durchzuführen, um den entsprechenden Innovations-bonus auch in den Verhandlungen sicherstellen zu können. Hierbei ist zu bedenken, dass dieser einfache Grundgedanke des Gesetzes in der Praxis zuweilen schwierig umzusetzen ist, bspw. wenn sich nur für einen Teil der zugelassenen und untersuchten Anwendungs-gebiete ein Zusatznutzen zeigt und für andere wiederum nicht. Auch verschiedene Preisniveaus der in den unterschiedlichen Patienten-gruppen maßgeblichen zweckmäßigen Vergleichstherapie können die Bildung eines einheitlichen Mischpreises herausfordernd ma-chen.

Grundgedanke: Am Zusatznutzen orientierte Preise

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913 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Ein weiteres Herausstellungsmerkmal der in Deutschland erzielten Verhandlungsergebnisse ist der Transparenzgrundsatz. So stellen die an die Verzeichnisdienste zu meldenden Abgabepreise regelmä-ßig auch die tatsächliche Grundlage für die Abrechnung dar, wohin-gegen im europäischen Ausland regelhaft nur Schaufensterpreise bekannt sind und im Geheimen niedrigere Preise abgerechnet wer-den. Die Transparenz in Deutschland sichert den Versicherten nied-rige Zuzahlungen und ermöglicht Ärztinnen und Ärzten bei ihrer Ver-ordnungsentscheidung auch die unterschiedlichen Preisniveaus bestehender Behandlungsalternativen bewerten zu können.

3.4.3 Die Entwicklung des AMNOG bis heute

Bis heute folgten bei der Nutzenbewertung wie auch den Erstat-tungsbetragsverhandlungen eine Reihe weiterer, abmildernder und zugleich komplexitätserhöhender Änderungen, von denen hier eini-ge wichtige herausgegriffen werden sollen.

Wirtschaftlichkeitskriterium

Von Beginn an war die zweckmäßige Vergleichstherapie (zVT) ein wiederkehrender Zankapfel. Da bei mehreren Alternativen die wirt-schaftlichste Therapie als zVT durch den GBA zu bestimmen war, mussten teilweise Studien abgelehnt werden, in denen sich ein zu bewertendes Arzneimittel gegen eine andere, höherpreisige Alter-native verglichen hatte. Mit dem Dritten AMG-Änderungsgesetz wur-de 2013 das Wirtschaftlichkeitskriterium für die Bestimmung der zVT durch den GBA abgeschafft. Zwar wurde so die gewünschte Flexibilität beim Heranziehen klinischer Studien erreicht, allerdings zu dem Preis, dass nunmehr auch Vergleiche mit Arzneimitteln ak-zeptiert werden müssen, die für die hiesige Versorgung keine Rele-vanz haben. Im Gegenzug wurde die Preisobergrenze im Fall eines fehlenden Zusatznutzens auf die wirtschaftlichste Alternative in der zVT beschränkt.

Bestandsmarkt

Einigkeit bestand bei Einführung des AMNOG, dass der Geltungs-bereich der Nutzenbewertung möglichst weit gehalten werden sollte – also auch patentgeschützte Arzneimittel einer Nutzenbewertung unterworfen werden sollten, die bereits auf dem Markt verfügbar sind (sog. Bestandsmarkt). Dies gebot schon die Gleichbehandlung im direkten Wettbewerb stehender Arzneimittel.

Wie unverändert notwendig eine Kontrolle der Preiswillkür für diese Arzneimittel ist, bewies sich exemplarisch am Wirkstoff Alemtu-zumab, der 2012 vom Markt zurückgezogen und 2013 zum mehr als 40-fachen seines ursprünglichen Preises unter dem Namen LEMT-RADA® für Multiple Sklerose neu vermarktet wurde. Noch weit über-troffen wurde dieser traurige Rekord zuletzt in einem ähnlichen Fall

Einstellungs-merkmal Preistransparenz

Zankapfel zVT

Preiswillkür im Bestandsmarkt

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92 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

vom Wirkstoff Chenodesoxycholsäure und einer Preissteigerung um unvorstellbare 46.000 %.

Umso erstaunlicher war, dass der Gesetzgeber mit dem 14. SGB V-Änderungsgesetz im Jahr 2014 die Aufhebung der Nutzenbewer-tung für den Bestandsmarkt beschloss. Und auch wenn diese Ent-scheidung mit dem GKV-Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz (AMVSG) 2017 für Neuzulassungen wieder teilweise rückgängig gemacht wurde (sog. kleiner Bestandsmarktaufruf), so hat die Versi-chertengemeinschaft doch weiter die Altlast dieser Arzneimittel zu tragen, die selbst nie unabhängig nutzenbewertet wurden und deren überhöhte Preise aber ein Maßstab für Neueinführungen sind.

„Soll“-Regelung

Auf Drängen der pharmazeutischen Industrie wurde 2017 durch das GKV-Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz (AMVSG) die bis da-to strikte Preisobergrenze im Gesetz für Arzneimittel ohne Zusatz-nutzen aufgelockert. Seitdem wird von Seiten der pharmazeutischen Unternehmer regelmäßig gefordert, das Preisniveau für ihr jeweili-ges Arzneimittel ohne Zusatznutzen oberhalb der Kosten der zweck-mäßigen Vergleichstherapie anzusiedeln. Bereits heute ist anhand einer Analyse der Verhandlungsergebnisse zu erkennen, dass 69 Prozent aller Arzneimittel ohne Zusatznutzen seit Inkrafttreten des AMVSG einen Preis oberhalb der wirtschaftlichsten zweckmä-ßigen Vergleichstherapie aufweisen. Hieraus ergibt sich unweiger-lich ein preislicher Treppenlifteffekt, denn wenn bereits Arzneimittel ohne Zusatznutzen offensichtlich einen preislichen Aufschlag ver-langen dürfen, dann werden Unternehmen für Arzneimittel mit Zu-satznutzen im entsprechenden Anwendungsgebiet erst recht erhöh-te Premiumpreise einfordern, was wiederum das Preisniveau für Arzneimittel ohne Zusatznutzen gegenüber diesen Produkten anhe-ben wird.

3.4.4 Aktuelle Herausforderungen im Rahmen des AMNOG

Arztinformationssystem

Bedauerlicherweise erfüllt die Nutzenbewertung eine ihrer wichtigs-ten Funktionen – die Optimierung der Versorgung durch unabhängi-ge Information – bis heute nicht. Aufgrund des AMVSG 2017 finden die wichtigsten Informationen aus der Nutzenbewertung – anwen-derfreundlich und kontextsensitiv aufbereitet – Eingang in die Ver-ordnungssoftware der Vertragsärzte. Leider wurde aber versäumt, auch im Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit der Verordnung einen Schritt zu mehr Transparenz zu wagen.

Preisaufschläge bei nichtbelegtem

Zusatznutzen

Optimierung der Versorgung?

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933 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Anwendungsbegleitende Datenerhebung und Qualitätssiche-rung von ATMP

Mit dem Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) wurde 2019 dem GBA mit den sogenannten Anwendungs-begleitenden Datenerhebungen (AbD) nunmehr ein Instrument an die Hand gegeben, um die ausgeprägten Informationslücken bei den neuen Arzneimitteln mit beschleunigten Sonderzulassungen zumindest nach Marktzugang zu schließen. Es steht jedoch zu be-fürchten, dass diese nachträgliche Datenerhebung sich als weitaus teurer, aufwändiger und weniger erfolgreich herausstellen wird, als bereits zur Zulassung eine aussagekräftige Datenbasis zu generie-ren. Eine nachhaltige und ökonomische Lösung des Problems der schlechten Datenlage bei Zulassung kann also nur darin liegen, den europäischen HTA-Instituten und Zulassungsbehörden weitreichen-dere Befugnisse bei Beratung zu und Planung von Zulassungsstudi-en einzuräumen. In der Zwischenzeit ist es an der Selbstverwaltung, das Instrument AbD mit Augenmaß einzusetzen.

Uneingeschränkt zu begrüßen ist eine weitere Änderung durch das GSAV. Der GBA erhielt die Ermächtigung, die Qualität der Anwen-dung von Arzneimitteln für neuartige Therapien (ATMP) durch ge-eignete Vorschriften zu sichern.

3.4.5 Einmaltherapien – Herausforderung für den AMNOG-Prozess

Derzeit sind in Deutschland neben zwei CAR T-Zelltherapien drei Gentherapien zugelassen. Weitere vier Gentherapien befinden sich aktuell im Zulassungsprozess. Für die kommenden Jahre wird mit einer noch größeren jährlichen Anzahl an Zulassungen, vor allem für Gentherapien, gerechnet. In Anbetracht der sich bereits abzeich-nenden exorbitant hohen Preise für diese Therapien, bei gleichzeitig zulassungsbedingt unzureichendem Evidenzkörper, stellen sie die etablierten Erstattungs- und Preisfindungsmechanismen vor neue Herausforderungen.

Eine Gemeinsamkeit der Einmaltherapien ist neben den auffälligen Preisvorstellungen der Hersteller auch das damit verbundene Hei-lungsversprechen. Dieses Heilungsversprechen steht allerdings zum Zulassungszeitpunkt in einem Missverhältnis zur Nachweisla-ge. Es sind oft nur Daten über vergleichsweise kurze Zeiträume vor-handen, die zudem auch keinen Vergleich zu bereits vorhandenen Therapiealternativen zulassen und nicht immer die adressierte Zu-lassungspopulation umfassen. Die versprochene Heilung ist damit nicht nachgewiesen.

Als Beispiel sei das Arzneimittel Zolgensma® für die Behandlung der spinalen Muskelatrophie (SMA) genannt. Der Hersteller begründet seinen US-Listenpreis in Höhe von 2,1 Mio. US-Dollar mit den Kos-ten der Therapiealternative Spinraza®. Die Zolgensma®-Kosten er-

Gefahr teuerer Evi-denzgenerierung

Heilungs-versprechen vs. Nachweislage

Fall Zolgensma

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94 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

rechneten sich als die Hälfte der für Spinraza® über 10 Jahre anfal-lenden Kosten in den USA132. Bei Übertragung dieser Rechnung auf Deutschland ergäbe sich aus dem derzeitigen Erstattungsbetrag für Spinraza® ein deutscher Listenpreis für Zolgensma® in Höhe von ca. 1,28 Mio. Euro.

Dabei gibt es aber keine Studien zu Zolgensma®, die eine vergleich-bare Wirksamkeit und Unbedenklichkeit gegenüber Spinraza® zei-gen. Auch für den langen Zeitraum der angegebenen Wirksamkeit gibt es für Zolgensma® keine Studienergebnisse. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass nach Zolgensma® noch eine Folgetherapie mit Spinraza® oder einem weiteren Arzneimittel erfolgt und somit der angestrebte Therapieerfolg erst durch diese Therapiesequenz erreicht wird. Dass aber vergleichende Studien eben auch für kleine Patientenpopulationen mit vulnerablen Probanden möglich sind, hat gerade Spinraza® für die SMA Typ 1 gezeigt.133

Da die EMA offenbar in zunehmendem Maße dazu bereit ist, neuar-tige Arzneimittel immer schneller und auf Basis immer weniger aus-sagekräftiger Daten zuzulassen, stellt sich die entscheidende Fra-ge, wie mit diesen Erkenntnislücken im Rahmen der Versorgung umzugehen ist.

Zusätzliche Evidenz kann seit Inkrafttreten des Gesetzes für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) durch anwen-dungsbegleitende Datenerhebungen während des AMNOG-Prozes-ses generiert werden. Hierbei ist zur Bestimmung des therapeuti-schen Wertes eines Arzneimittels im Anwendungsgebiet besonders wichtig, dass die in diesem Zusammenhang genutzten Register zu einer Vergleichbarkeit mit bereits bestehenden Therapieoptionen führen. Der Zugang zu diesen Registerergebnissen muss dabei im AMNOG-Prozess der pharmazeutischen Industrie, den HTA-Behör-den und den Kostenträgern gleichberechtigt offenstehen und die dort abgetragenen Endpunkte müssen Aussagen zum Therapieer-folg ohne Interpretationsspielraum ermöglichen. Dies würde die Grundlage sowohl für eine valide Therapieentscheidung als auch für eine angemessene Preisbildung bilden.

Neben den Ergebnissen der frühen Nutzenbewertung nach § 35 a SGB V kann für Einmaltherapien auch der tatsächliche, für jeden Patienten individuell messbare Behandlungserfolg zur Bestimmung einer angemessenen Vergütung auf allen Ebenen herangezogen werden.

Auf Ebene der 130 b-Verhandlungen können erfolgsabhängig pros-pektiv adjustierbare Erstattungsbeträge oder der Rahmen für er-folgsorientierte Selektivverträge vereinbart werden. Krankenkas-senindividuell kommen vor allem erfolgsabhängige Ratenmodelle aber auch erfolgsabhängige Rückzahlungsmodelle infrage. Gemein-

132 www.theguard ian.com/soc ie ty /2019/dec/20/ lo t ter y-pr ize-zo lgens-ma-drug-zolgensma-children-muscle-wasting-disease.

133 Finkel et al. (2017).

Evidenz durch an-wendungsbeglei-

tende Daten-erhebung

Alternative Vergü-tungsmodelle

Page 115: AMNOG-Report 2020 - DAK

953 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

sam ist diesen Ansätzen, dass nur im Falle des tatsächlichen Be-handlungserfolgs der vorgesehene Preis für die Intervention gezahlt wird. Parameter, die den Behandlungserfolg überprüfbar machen, müssen dabei für jeden Wirkstoff zwischen den Vertragspartnern einzeln festgelegt werden. Eine wesentliche Herausforderung ist da-her, die Vertragsgestaltung und -umsetzung möglichst einfach zu halten, damit Transaktionskosten nicht den Vertragsbenefit überwie-gen.

Bei einem erfolgsabhängigen Ratenmodell wird die patientenindivi-duelle Gesamtvergütung durch die Summe aus einer Initialrate, die bei erstmaliger Anwendung des Arzneimittels fällig wird, und Er-folgsraten, die in bestimmten zeitlichen Abständen bei gemessenem Erfolg oder ausbleibendem Misserfolg der Behandlung von den Krankenkassen an den jeweiligen pharmazeutischen Unternehmer auszuzahlen sind, bestimmt.

Abbildung 8 zeigt ein erfolgsabhängiges Ratenmodell am Beispiel des Vertrages von BlueBird Bio mit der AOK Rheinland Hamburg zur Gentherapie Zynteglo®134. Hier werden auch die Zahlungsströme und das Abbruchkriterium wiedergegeben. So erhält der Hersteller von Zynteglo® nur maximal so lange zusätzliche Ratenzahlungen, bis der Patient erneut transfusionspflichtig wird.

Beim erfolgsabhängigen Rückerstattungsmodell wird hingegen die maximale Vergütung bereits bei erstmaliger Anwendung des Arznei-mittels ausgezahlt. Erst bei Eintreten eines Misserfolgskriteriums wird die Rückzahlung eines vertraglich vereinbarten Betrages fällig. Je eher der Misserfolg eintritt, desto größer fiele dann die entspre-chende Rückzahlung aus.

Abbildung 8: Erfolgsabhängiges Ratenmodell

Quelle: GKV-Spitzenverband.

Abbildung 9 zeigt ein erfolgsabhängiges Rückerstattungsmodell am Beispiel des Vertrages der GWQ mit Novartis zur CAR T-Zelltherapie Kymriah®135.

134 www.presseportal.de/pm/133038/4490221.135 www.gwq-serviceplus.de/aktuelles/news/novar tis-gwq-car-t-zellthera-

pie-06–03-2019_5178.

Erfolgsabhängiges Ratenmodell

Erfolgsabhängiges Rückerstattungs-modell

Page 116: AMNOG-Report 2020 - DAK

96 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

Abbildung 9: Rückerstattungsmodell

Quelle: GKV-Spitzenverband.

Sofern nicht alle mit dem neuen Arzneimittel behandelten Patienten dauerhaft in ein aussagekräftiges Register eingeschlossen werden, die den bereits beschriebenen Kriterien folgen, bedarf es für die Umsetzung von erfolgsabhängigen Verträgen einer weiteren geeig-neten Datengrundlage, ggf. auf Basis der GKV-Abrechnungsdaten. Überhaupt ist die Schaffung einer für die AMNOG-Verhandlungen geeigneten Datenbasis eine der wesentlichen Anforderungen für die nähere Zukunft. Auf dieser Grundlage könnten regelhaft marktge-rechte Anpassungen der verhandelten Mischpreise erfolgen, die neuen Preis-Mengen-Modelle gemäß § 130 b Abs. 1a SGB V häufi-ger vereinbart werden oder auch die Bepreisung von agnostischen Therapien, die bei der Zulassung gar keine Daten zur Wirksamkeit für Teile ihres Anwendungsgebiets aufweisen, adäquat umgesetzt werden.

Dafür müsste als erstes sichergestellt werden, dass geeignete Da-ten über einen längeren Zeitraum und mit geringerer zeitlicher Ver-zögerung als dies bislang möglich ist von den Vertragsparteien ana-lysiert werden können. So können die AMNOG-Partner Therapie-verläufe von Patienten derzeit gerade einmal über einen Zeitraum von zwei Jahren anhand der Daten nach § 217 f SGB V nachvollzie-hen und dies auch nur mit einer zeitlichen Verzögerung von bis zu 21 Monaten. Beide zeitlichen Hindernisse erschweren vor dem Hin-tergrund der derzeitigen Industrieversprechen (Heilung, lang andau-ernde Freiheit von Transfusionen, nur einmalige Behandlung anstel-le von jahrelanger Dauerbehandlung …) die Vereinbarung erfolgs-abhängiger Vergütungsverträge. Für den Abschluss solcher Verträ-ge für besonders teure Therapien muss es Krankenkassen – analog zur Qualitätssicherung im Krankenhaus –möglich sein, Abrech-nungsdaten länger speichern zu dürfen als dies bislang gestattet ist. Nur so könnte ein Erfolg langfristig nachgewiesen werden und nicht nur ein Ausbleiben eines Misserfolgs für wenige Jahre.

Weiterhin muss auch die Verknüpfung von Abrechnungsdaten der verschiedenen Sektoren verbessert werden. So ist es den AMNOG-

Notwendige Verbesserung der

Datenbasis

Page 117: AMNOG-Report 2020 - DAK

973 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Vertragspartnern aktuell bspw. nicht möglich, anhand der 217f-Da-ten zu untersuchen, ob ein Patient ein bestimmtes Arzneimittel so-wohl im stationären als auch im ambulanten Sektor erhalten hat. Wenn jedoch das Versprechen eines Herstellers lautet, dass Arznei-mittel nur einmalig verabreicht werden, dann wäre eine entspre-chende Überprüfbarkeit besonders wichtig.

Zudem wissen die Verhandlungspartner derzeit i. d. R. nicht, in wel-cher durch den GBA definierten Patientengruppe (eine bestimmte Morbiditätskonstellation innerhalb der Zulassung) ein Patient tat-sächlich behandelt wird. Eine derartige Information ist jedoch not-wendig, wenn für ein neues Arzneimittel – bspw. unter der Annahme einer mehrheitlichen Verordnung in der Gruppe mit besonders ho-hem Zusatznutzen – ein sehr hoher Preis vereinbart wird. Stellt sich jedoch anhand des tatsächlichen Verordnungsgeschehens im Nach-hinein heraus, dass das neue Arzneimittel auch stark in Patienten-gruppen eingesetzt wurde, für die der GBA keinen Zusatznutzen feststellen konnte, müsste der Preis entsprechend nach unten ange-passt werden.

Durch das AMVSG und damit in Verbindung stehend die Elektroni-sche Arzneimittelinformationen-Verordnung (EAMIV) wurden die notwendigen Grundlagen für eine entsprechende Kodierung der Pa-tientengruppen bereits angelegt. Allerdings sind aktuell weder die Hersteller der entsprechenden Arzt-Informations-Systeme zu einer Aufnahme der Patientengruppe in ihre Programme noch die behan-delnden Ärzte (sektorenübergreifend) zu einer entsprechenden Do-kumentation verpflichtet. Eine mögliche Hilfestellung böte hierbei eine flächendeckende Nutzung der im Gesetzentwurf der Bundesre-gierung zum Patientendaten-Schutz-Gesetz (PDSG) geforderten modernen medizinischen Terminologiesysteme, wie z. B. SNOMED CT („Systematized Nomenclature of Medicine Clinical Terms“).

3.4.6 Bilanz der Spruchpraxis der AMNOG-Schiedsstelle von 2012 bis 2019 zu Erstattungsbeträgen

Seit 2012 erlässt die Schiedsstelle nach § 130 b Abs. 4 SGB V Schiedssprüche zu den in den zwischen den Vertragsparteien dis-sent gebliebenen Vertragsinhalten. Die Schiedsstelle ist mit drei ständigen unparteiischen Mitliedern sowie jeweils zwei verfahrens-bezogenen Vertretern der Vertragsparteien besetzt. Vertreter des Bundesministeriums für Gesundheit, des Verbandes der Privaten Krankenversicherungen sowie nach §§ 140 f SGB V legitimierte Pa-tientenorganisationen können an den Verhandlungen teilnehmen, allerdings ohne Stimmrecht. Aus dem Korpus an 46 Schiedssprü-chen bis zum 31.12.2020 wird Bilanz gezogen.

Erweiterung der Abrechnungs daten

Kodierung von Patientengruppen

Aufgabe der Schiedsstelle

Page 118: AMNOG-Report 2020 - DAK

98 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

Schiedssprüche als Interessenausgleich – Klagerate als Maßstab für Akzeptanz der Entscheidung?

Maßstab einer Bilanz der Tätigkeit der Schiedsstelle kann zum ei-nen die Akzeptanz der Entscheidungen sein. Laut Bundessozialge-richt (BSG) führt die Schiedsstelle zunächst als Vermittlerin den Ver-handlungsprozess fort, um noch auf diesem Weg eine einvernehm-liche, d. h. beiderseitig akzeptable Lösung zu erwirken. Scheiterte dies, gewährleistete u. a. die sachkundig und teils paritätisch, teils unparteiische Besetzung der Schiedsstelle, dass es zu akzeptablen Inhalten der Schiedssprüche käme (BSG, Urt. v. 04.07.2018 – B 3 KR 20/17 R, B 3 KR 21/17 R). Die Akzeptanz der Schiedssprü-che könnte durch die Zahl der gerichtlichen Klagen bemessen wer-den. Die Klagerate ist über die bisherigen Amtszeiten annährend stabil geblieben: In der Amtszeit Dr. Zipperers wurde in sieben von 15 Fällen (47 %) Klage erhoben. In der Amtszeit Prof. Wasems wur-de bei 30 Schiedssprüchen in 13 Fällen Klage erhoben (43 %). Sieht man sich die Klagerate im zeitlichen Verlauf an, ergibt sich allerdings eine deutliche Abnahme von Schiedssprüchen wie Klagen seit 2018 (vgl. Abbildung 10).

Abbildung 10: Schiedsspruch-Klage-Ratio

Quelle: Daten aus GKV-SV eigener Statistik zur Schiedsstelle nach § 130 b bis zum 31.12.2019; eigene Darstellung.

Grund hierfür sind sehr wahrscheinlich zwei Urteile des BSG im Jahr 2018 (BSG, Urt. v. 04.07.2018 – B 3 KR 20/17 R, B 3 KR 21/17 R). In diesen Urteilen hat das BSG einerseits klargestellt, dass die Schiedsstelle über einen weiten, gerichtlich nur eingeschränkt über-prüfbaren Beurteilungsspielraum verfüge und ihre Entscheidung nur andeutungsweise zu begründen müsse. Das erhöht den Einigungs-druck auf die Parteien. Andererseits hat das BSG mit den beiden Urteilen Rechtsklarheit für eine zentrale Rechtsfrage der Amtszeit Prof. Wasems geschaffen, nämlich die Zulässigkeit der Mischpreis-methodik zur Bildung eines Erstattungsbetrages. Acht von dreißig Schiedssprüchen in der Amtszeit Wasems hatten die Mischpreisme-thodik zum Gegenstand (26,7 %).

Klagerate der Schiedssprüche

Juristische Bewer-tung der Schieds-

sprüche

Page 119: AMNOG-Report 2020 - DAK

993 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Fazit ist, dass die Klagerate kein Maßstab für die Akzeptanz der Schiedssprüche als solche gibt. Sie wird zusätzlich beeinflusst durch weitere Faktoren wie Erfolgsaussichten, das Bedürfnis nach höchst-richterlicher Klärung der Rechtslage oder auch dem Rechtschutzbe-dürfnis gegenüber Beschlüssen des GBA (vgl. LSG Berlin-Branden-burg, Urteil vom 27.01.2020 – Az. L 9 KR 514/15 KL). Vor diesem Hintergrund bleibt abzuwarten, ob der Trend abnehmender Klage-freudigkeit stabil bleibt.

Dem Einzelfall gerecht werden oder Vorhersehbarkeit?

Neben den im Streitfall gegenläufigen Interessen der Vertragspartei-en steht die Schiedsstelle in einem eigenen Spannungsfeld: Einer-seits hat die Schiedsstelle eine Entscheidung unter Würdigung „aller Umstände des Einzelfalles“ zu treffen. Andererseits ist die Schieds-stelle als Behörde an das Gebot der Gleichbehandlung von wesent-lich Gleichem aus Art. 3 Grundgesetz gebunden. Ein anderer Maß-stab einer Bilanz der Spruchpraxis einer Schiedsstelle kann also sein, inwiefern sich die Schiedsstelle zwischen Einzelfallgerechtig-keit und Gleichbehandlung verortet hat. Eine Gleichheitsbetrach-tung beginnt mit einer Fallgruppenbildung: Das AMNOG kennt drei große Fallgruppen: Arzneimittel einheitlich ohne oder mit Zusatznut-zen oder solche mit teilindikationsbezogen unterschiedlichem Zu-satznutzen („gemischter Zusatznutzen“). Der Schwerpunkt der Schiedsspruchgegenstände in der Amtszeit Zipperer lag bei den Arzneimitteln ohne Zusatznutzen (vgl. Abbildung 11).

Abbildung 11: Schiedssprüche unter Zipperer

Quelle: GKV-Spitzenverband.

In der Amtszeit Prof. Wasem nimmt die Fallzahl zu Arzneimitteln mit Zusatznutzen, insbesondere zur Unterfallgruppe der Orphan Drugs

Kein Maßstab für die Akzeptanz

Einzelfall vs. Gleichbehandlung

Page 120: AMNOG-Report 2020 - DAK

100 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

sowie die Fallgruppe der Arzneimittel mit gemischtem Zusatznutzen zu (vgl. Abbildung 12).

Abbildung 12: Schiedssprüche unter Wasem

Quelle: GKV-Spitzenverband.

Fallgruppe Arzneimittel bzw. Teilindikationen ohne Zusatznut-zen-Fokus: Umsetzung der Preisobergrenze

Gesetzliche Vorgabe für Arzneimittel (oder Teilindikationen) ohne Zusatznutzen ist die sog. „Preisobergrenze“, d. h. dass der Erstat-tungsbetrag nicht zu höheren Jahrestherapiekosten führen darf als die nach § 35 a Absatz 1 Satz 7 bestimmte zVT. Bei mehreren Alter-nativen in der zVT darf der Erstattungsbetrag nicht höher sein als die Jahrestherapiekosten der wirtschaftlichsten Alternative. Man könnte meinen, die Konkretisierung der Preisobergrenze des oder der als zVT(en) benannten Wirkstoffe sei – gleichbehandlungsorien-tiert – stets durch das wirtschaftlichste Arzneimittel vorzunehmen („klassische Umsetzung“, z. B. Bromfenac, 130b-SSt. 1–11). Tat-sächlich zeigt sich die Spruchpraxis der Schiedsstelle hier bis zur Unvorhersehbarkeit einzelfallorientiert: Für die klassische Umset-zung durch die Schiedsstelle kam es darauf an, dass die Alternati-ven der zVT als „gleichermaßen zweckmäßig“ aufgrund einer „oder“-Verknüpfung betrachtet werden konnten (vgl. bspw. 130b-SSt. 5–14, 130b-SSt. 11–17, 3 P 10–18, 4 P 12–18, 8 P 16–18). Von Anfang an prägte die Diskussion, was eben ein Abweichen von der klassischen Umsetzung begründen könnte. Hierzu hat sich das Argument entwi-ckelt, dass einige oder alle Wirkstoffe einer zVT patientenindividuell zu verordnen seien und daher das Abstellen auf den wirtschaftlichs-ten Wirkstoff oder wirtschaftlichste Arzneimittel nicht in Betracht kä-me („patientenindividuelle Therapie“ (PIT)).

Einzelfallbetrach-tung der zVT in Schiedsspruch

Page 121: AMNOG-Report 2020 - DAK

1013 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Die Art, wie eine PIT durch die Schiedsstelle konkretisiert wurde, war höchst variantenreich und unvorhersehbar: Im Verfahren zu Re-tigabin legte die Schiedsstelle die verordnungsgewichteten durch-schnittlichen Kosten pro Jahr und Patient für beide Wirkstoffe der zVT für den Erstattungsbetrag zugrunde (130b-SSt. 3–12; so auch in 130b-SSt. 2–13). Im Schiedsspruch zum Arzneimittel Stribild® ging die Schiedsstelle davon aus, dass „alle […] aufgeführten Wirk-stoffkombinationen als Gesamtheit die zweckmäßige Vergleichsthe-rapie“ zu berücksichtigen seien und daher „eine Wirkstoffkombinati-on gewählt werden kann, die im unteren Bereich der Preisverteilung angesiedelt ist“ (130b-SSt. 6–14, S. 18; zur gerichtlichen Kritik an der Entscheidung vgl. LSG Bbg, L 1 KR 345/15 KL ER). Im Verfah-ren zu lebenden Larven wurde für die Bestimmung der Obergrenze auf die Kosten der günstigeren Therapievariante ein Drittel der Diffe-renz zwischen den Kosten der beiden Therapievarianten addiert (130b-SSt. 8–15). Zum Wirkstoff Fingolimod berücksichtigte die Schiedsstelle für die Patientengruppen ohne Zusatznutzen alle Wirkstoffe mit den Kosten des jeweils kostengünstigsten Arzneimit-tels des jeweiligen Wirkstoffes, gewichtet nach einem „realen Ver-sorgungsmix“ (130b-SSt. 14–16; ähnlich zum Wirkstoff Opicapon, 130b-SSt. 16–17). Im Fall des Wirkstoffes Talimogen Iaherparepvec zog die Schiedsstelle die Kosten des preiswertesten Vertreters einer der drei Wirkstoffklassen als Basis für den Erstattungsbetrag heran (130b-SSt. 11–17). Es ist abzuwarten, ob sich zumindest zukünftig in vergleichbaren Fällen Konkretisierungslinien in dieser Fallgruppe herausbilden.

Fallgruppe Arzneimittel oder Teilindikationen mit Zusatznutzen-Fokus: Die Rolle der EU-Preise für Orphan Drugs

Der überwiegende Teil der Schiedssprüche in der Fallgruppe Arznei-mittel mit Zusatznutzen in allen Teilindikationen ist in der Amtszeit Prof. Wasems zu Orphan Drugs ergangen (8 aus 9). In der Amtszeit Zipperer ist nur eine Schiedsentscheidung zu einem Orphan Drug getroffen worden.

Die minimalen (unter-)gesetzlichen Vorgaben eröffnen einen weiten Beurteilungsspielraum in der Fallgruppe Arzneimittel mit Zusatznut-zen, speziell Orphan Drugs. Gerade hier geht die Schiedsstelle me-thodisch geradezu uniform vor und verortet sich eher zu Gunsten des Prinzips der „methodischen“ Gleichbehandlung: In dieser Fall-gruppe war es der Regelfall, dass das Kriterium „Jahrestherapiekos-ten vergleichbarer Arzneimittel“ zu einem Orphan Drug keine Rolle spielte, auch wenn diese vorhanden waren. Die Schiedsstelle hatte daher in 7 aus 8 Verfahren den Erstattungsbetrag nur auf Basis der Kriterien „Zusatznutzen“ und „EU-Preise“ festzusetzen. Dabei ging die Schiedsstelle geradezu uniform vor: Der Erstattungsbetrag wird aus einer Gewichtung von Monetarisierung des Zusatznutzen und europäischen tatsächlichen Abgabepreisen gebildet (130b-SSt. 15–16, 1–17, 6–17; 130b-SSt. 9–15, S. 13, 130b-SSt. 12–16, S. 11;

Prinzip der Gleich-behandlung bei Orphan Drugs

Page 122: AMNOG-Report 2020 - DAK

102 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

130b-SSt. 15–16, S. 8). Der so ermittelte Erstattungsbetrag wird da-mit gerechtfertigt, dass er sich „im unteren Spektrum des europäi-schen Preisumfeldes“ (130b-SSt. 6–17), „deutlich unterhalb des eu-ropäischen Vergleichsniveaus“ bewege (130b-SSt. 1–17, 130b-SSt. 15–16) oder dem Betrag der durchschnittlichen EU-Preise entsprä-che (130b-SSt. 9–15).

Insgesamt führt dies zu einer fragwürdigen Bedeutungszunahme der EU-Preise für die Erstattungsbetragsermittlung. Bei Orphan Drugs kann der Zusatznutzen aufgrund der Datenlage häufig nur bedingt evidenzbasiert eingeschätzt werden und ist unsicher. Mit der angemessenen Bewertung der Unsicherheit über das Ausmaß und die Nachhaltigkeit des (Zusatz-)nutzens und demgegenüber den unsicheren Nebenwirkungen für die Patienten hat sich bislang keine Schiedsstelle auseinandergesetzt. Das Kriterium der EU-Prei-se ist hingegen durch den pharmazeutischen Unternehmer maß-geblich beeinflussbar: durch seine europäische Preispolitik und/oder Bereitschaft tatsächliche Preise in das Verfahren einzuführen. Nach Auffassung der Schiedsstelle in der Amtszeit Zipperers sei dieses Kriterium nicht geeignet, „den patientenorientierten Wert ei-nes Arzneimittels zu beurteilen“, sondern ließe allenfalls „inputorien-tierte Schlüsse“ für die Angemessenheit des Erstattungsbetrages zu (Vemurafenib, Verfahren 130b-SSt. 1–13). Dass dieses Kriterium bei einem nutzenbezogenen Informationsdefizit eine solche Bedeu-tung erhält, erzeugt ein Störgefühl gemessen an der Gesetzesinten-tion nutzenadäquater Preise. Immerhin: Dafür, dass die Schiedsstel-le hier kein „schematisches Vorgehen“ sieht (130b-SSt. 15–16, 1–17, 130b-SSt. 6–17), war das Vorgehen in der Fallgruppe Orphan Drugs hochgradig vorhersehbar.

3.4.7 Literatur

Aitken, M., Kleinrock M., Nass D. (2019): The Changing Landscape of Research and Development. IQVIA Institute Reports. Ab-rufbar unter: www.iqvia.com/insights/the-iqvia-institute/repor ts / the-changing- landscape-of - research-and-development. Letzter Zugriff vom: 18.03.2020.

bluebird bio (2020,13.Januar): bluebird bio startet in Deutschland mit der weltweit ersten Markteinführung der Gentherapie Zyn-teglo (TM) (autologe CD34+-Zellen, die für das ßA-T87Q-Globin-Gen kodieren). Presseportal. Abrufbar unter: www.presseportal.de/pm/133038/4490221. Letzter Zugriff vom: 23.04.2020.

Boseley, S. (2019, 20. Dezember): Dismay at lottery for $2.1m drug to treat children with muscle-wasting disease. The guardian. Abrufbar unter: www.theguardian.com/society/2019/dec/20/lottery-prize-zolgensma-drug-zolgensma-children-muscle-wasting-disease. Letzter Zugriff vom: 23.04.2020.

EU-Referenzpreise fragwürdig

Page 123: AMNOG-Report 2020 - DAK

1033 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Finkel et al. (2017): Nusinersren versus Sham Control in Infatile-On-set Spinal Muscular Atrophy. New England Journal of Medi-cine. 377;18:1723–1732. doi: 10.1056/NEJMoa1702752.

Gesundheitsberichterstattung des Bundes. (2020). Einnahmen und Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (insgesamt in Mrd. Euro). KJ-1 Statistik. Abrufbar unter: www.gbe.bund.de. Letzter Zugriff vom: 18.03.2020.

Gregson, N., Sparrowhawk, K., Mauskopf, J. (2005). Pricing medi-cines: Theory and practice, challenges and opportunities. Na-ture Reviews Drug Discovery; 4: 121–30.

GWQ ServicePlus AG (2019, 6. März): Novartis Pharma GmbH und GWQ ServicePlus AG schließen Vertrag über ein innovatives Erstattungsmodell für die CAR-T-Zelltherapie. gwq-service-plus. Abrufbar unter: www.gwq-serviceplus.de/aktuelles/news/novartis-gwq-car-t-zelltherapie-06–03-2019_5178. Letzter Zugriff vom: 23.04.2020.

Lanz, F., Meesters, K., Sleeboom, E. (2009). Gesundheitsversor-gung transparent gestalten. Geschäftsbericht des GKV-Spit-zenverbandes 2009. Abrufbar unter: www.gkv-spitzenver-band.de/media/dokumente/presse/publikationen/geschaefts-berichte/GKV-GB2009_05_Einzelseiten_2_12758.pdf. Letz-ter Zugriff vom: 18.03.2020.

Luzzatto, L., Hyry, H., Schieppati, A. (2018): Outrageous prices of orphan drugs: a call for collaboration. Lancet; 392: 791–794.

Müller, T. & Schwalm, A. (2009): Arzneimittelpreise. Am Aufwand und Nutzen orientieren. Deutsches Ärzteblatt; 107/12: A542-8.

Pammoli, F., Magazzini, L., Riccaboni, M. (2011): The productivity crisis in pharmaceutical R&D. Nature Reviews Drug Discov-ery; 10: 428–438.

Scanell, J. W., Blanckley, A., Boldon, H. (2012): Diagnosing the de-cline in pharmaceutical R&D efficiency. Nature Reviews Drug Discovery; 11: 191–200.

Statista Research Department (2020): Inflationsrate (Preissteige-rungsrate) in Deutschland bis 2019. Abrufbar unter: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1046/umfrage/inflati-onsrate-veraenderung-des-verbraucherpreisindexes-zum-vorjahr/. Letzter Zugriff vom: 18.03.2020.

Vogler, K., Bunge, M., Seifert, I. (2010): Für ein modernes Preisbil-dungssystem bei Arzneimitteln. Antrag der Fraktion DIE LIN-KE. Bundestag-Drucksache 17/2324.

Wille, E., Cassel, D., Ulrich, V. (2008): Weiterentwicklung des Ge-sundheitssystems und des Arzneimittelmarktes. Gutachten für den Verband Forschender Arzneimittelhersteller e. V. Ab-

Page 124: AMNOG-Report 2020 - DAK

104 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

rufbar unter: www.vfa.de/de/wirtschaft-politik/positionen/pos-gesundheitssystem. Letzter Zugriff am: 18.03.2020.

Zentner, A., Busse, R. (2006): Den Nutzen der Präparate prüfen. Gesundheit und Gesellschaft; 5/06: 39–44

Page 125: AMNOG-Report 2020 - DAK

1053 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

3.5 Rückblick und Ausblick aus Sicht des IQWiG

Ein Gastbeitrag von: Prof. Dr. Jürgen Windeler, Dr. Jörg Lauterberg, Dr. Thomas Kaiser, Dr. Anja Schwalm, PD Dr. Stefan Lange, Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)

3.5.1 Rückblick – Frühe Nutzenbewertungen durch das IQWiG seit 2011

Die Einführung der frühen Nutzenbewertung von Arzneimitteln wur-de 2011 mit viel Skepsis begleitet. Unter anderem seien die Anfor-derungen an die pharmazeutischen Unternehmer und speziell die für das Dossier einzureichenden Unterlagen so hoch, dass der Nachweis eines Zusatznutzens für ein Medikament kaum mehr ge-lingen könne. Diese Befürchtungen haben sich in der Praxis nicht bewahrheitet. Vielmehr zeigt die Abbildung 13 in einer Gesamtbilanz über alle Indikationsgebiete bis zum Ende des ersten Quartals des Jahres 2020, dass in 40 % der Bewertungen und fallweiser Erstel-lung eines Addendums ein Zusatznutzen erkannt werden konnte, davon in 22 % in beträchtlichem oder erheblichem Ausmaß.

Abbildung 13: Gesamtergebnisse [N = 366; 2011 – 01.04.2020] zum Zu-satznutzen über alle Indikationsgebiete nach Addendum

Quelle: IQWiG, Stand: 01.04.2020.

Dabei differieren die Ergebnisse deutlich über die Indikationsgebie-te hinweg. Abbildung 14 zeigt, dass für Onkologika deutlich häufiger eine Zusatznutzen festgestellt wurde.

Status Quo: Zu-satznutzenzu-schreibung

Zusatz nutzen bei Onkologika häufi-ger

Page 126: AMNOG-Report 2020 - DAK

106 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

Abbildung 14: Zusatznutzen aller bewerteten Onkologika [n = 152; 2011–01.04.2020]

Quelle: IQWiG, Stand: 01.04.2020.

In anderen Indikationsgebieten zeigten neue Medikamente oder be-reits zugelassene Präparate in neuen Anwendungsgebieten deut-lich seltener therapeutische Fortschritte gegenüber den vom GBA bestimmten zweckmäßigen Vergleichstherapien. So wurde bei-spielsweise bei 81 % der Bewertungen zu Anti-Diabetika kein Zu-satznutzen festgestellt, im psychiatrisch-neurologischen Indikati-onsgebiet lag dieser Anteil bei 70 %. Dass in vielen Fällen kein Zu-satznutzen bestätigt werden kann, liegt nach eigenen Analysen (Daten 2011–2017) indikationsübergreifend in fast der Hälfte der Fälle daran, dass mit den Zulassungsstudien, die zumeist auch Grundlage der frühen Nutzenbewertung sind, nur placebo-kontrol-lierte und nicht mit einer aktiven Therapie durchgeführte Vergleichs-studien vorliegen. Oder im Falle aktiver Vergleichstherapien entspre-chen diese häufig nicht den vom GBA bestimmten zweckmäßigen Vergleichstherapien. In nur etwa einem Sechstel der Fälle basiert der Studienvergleich und das Bewertungsergebnis eines fehlenden Zusatznutzens auf einer tatsächlichen Vergleichsprüfung zwischen dem neuen Arzneimittel und der vom GBA bestimmten zweckmäßi-gen Vergleichstherapie136.

Abbildung 15 demonstriert, dass bei Anwendung einer konsistenten Bewertungsmethodik im Rahmen der vom § 35 a und der Arzneimit-telnutzenverordnung (AM-NutzenV) formulierten Eckpunkte sich über die Jahre insgesamt ein stabiles Ergebnisbild der frühen Nut-zenbewertungen durch das IQWiG zeigt.

136 Wieseler et al. (2019).

Placebokontrollier-te Studien als Aus-

schlusskriterium

Page 127: AMNOG-Report 2020 - DAK

1073 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Abbildung 15: Zusatznutzen im Jahresverlauf [2011–2019]

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2019

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Quelle: IQWiG, Stand: 31.12.2019.

Page 128: AMNOG-Report 2020 - DAK

108 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

Trotz unbestreitbarer therapeutischer Fortschritte in einigen klini-schen Bereichen (z. B. Therapie der Hepatitis C, Immunonkologie) spiegelt die in der Abbildung erkennbare Bewertungsbilanz aber auch aus bevölkerungsmedizinischer Sicht nüchtern wider, dass vermutlich im Ergebnis einer unzureichenden Arzneimittelentwick-lungspolitik echte pharmazeutische Innovationen mit deutlichem Zu-satznutzen immer noch eher die Ausnahme als die Regel darstel-len137.

Ein weiterer zentraler Aspekt in einer rückblickenden Verfahrensbi-lanz richtet sich auf die Frage, in welchem Maße der GBA als Auf-traggeber der AMNOG-Bewertungen mit den Ergebnissen der vom IQWiG erstellten Berichte in seinen Beschlüssen über den Zusatz-nutzen eines Medikaments übereinstimmt. Tabelle 13 zeigt für die Bewertungen bis zum Ende des ersten Quartals des Jahres 2020 einen Anteil von 67 % identischer Bewertungsergebnisse (bezogen auf das maximal festgestellte Ausmaß des Zusatznutzens). Die Ab-weichungen des GBA in den übrigen Verfahren gehen gleichverteilt in beide Richtungen. Insgesamt kann ein hohes Maß an Überein-stimmung festgestellt werden, das Akzeptanz und Stabilität des Ver-fahrens gleichermaßen zum Ausdruck bringt.

137 Wieseler et al. (2019).

Entscheidungs-divergenz:

IQWiV vs. G-BA

Page 129: AMNOG-Report 2020 - DAK

1093 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Tabelle 12: IQWiG und GBA im Vergleich – alle Indikationsgebiete [2011–01.04.2020]

Page 130: AMNOG-Report 2020 - DAK

110 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

3.5.2 Transparenz

Eines der herausragenden Merkmale des deutschen AMNOG-Ver-fahrens zur frühen Nutzenbewertung von Arzneimitteln ist im inter-nationalen Vergleich dessen Informationstransparenz. Das gilt zu-nächst für das Verfahren an sich, in dem große Teile des Hersteller-dossiers, die kompletten IQWiG-Berichte, die eingehenden Stel-lungnahmen, das Wortprotokoll der mündlichen Anhörung sowie Beschluss des GBA und dessen Tragende Gründe für seine Ent-scheidungen öffentlich verfügbar gemacht werden. Darüber hinaus haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des IQWiG138 in einer vergleichenden Betrachtung von Zeitschriftenpublikationen, dem öffentlichen Bericht der europäischen Zulassungsbehörde EMA (EPAR – European Public Assessment Report), Studienregis-terberichten und den AMNOG-Dossierunterlagen, deren Informati-onsgehalt zu Ergebnissen und Methoden sowie zur Situation in inte-ressierenden Subpopulationen behandelter Patienten ermittelt.

Wie Abbildung 16 für die untersuchte Gesamtpopulation und hierbei für acht methodische und elf outcome-bezogene Informationen zeigt, sind nur in den Dokumenten der AMNOG-Dossiers diese rele-vanten Informationen annähernd vollständig enthalten, während sie in allen anderen Informationsquellen unzureichend abgebildet sind. Diese Unterschiede in der Vollständigkeit sind für die Ebene der be-trachteten Subpopulationen noch deutlicher ausgeprägt. Der Trans-parenzvorteil im AMNOG-Verfahren liegt nicht zuletzt daran, dass die Hersteller dabei aufgefordert sind, auch die Studienberichte und noch unveröffentlichte Daten einzureichen. Das IQWiG extrahiert die relevanten Daten aus den vertraulichen Unterlagen für seine Be-richte und macht sie damit öffentlich zugänglich. Dieses hohe Gut weitgehender öffentlicher Informationstransparenz gilt es im Hin-blick auf die seit 2019 vorliegenden Pläne der EU-Kommission zu einer gemeinsamen europäischen Nutzenbewertung von Gesund-heitstechnologien aus Sicht des IQWiG mit hoher gesundheitspoliti-scher Priorität zu bewahren.

138 Köhler et al. (2015).

Informations-transparenz des

Verfahrens

Dossiers häufiger vollständig

Page 131: AMNOG-Report 2020 - DAK

1113 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Abbildung 16: Informationsgehalt AMNOG-Dossier im Vergleich zu ande-ren Quellen

0

20

40

60

80

100

AMNOG

komplett berichtet teilweise berichtet nicht berichtet

Europäischer Öffentlicher

Beurteilungsbericht

Register-Bericht

Fachartikel Nicht-AMNOG(total)

Veröffentlichte Resultate bezogen auf die gesamte Studienpopulation

IQWiG-Auswertung vom 18.9.2014

3.5.3 Evidenzlücken in der frühen Nutzenbewertung

Die vergangenen Jahre seit Einführung der frühen Nutzenbewer-tung gemäß AMNOG 2011 sind durch einige aus Sicht der evidenz-basierten Medizin kritisch zu betrachtende Entwicklungen gekenn-zeichnet. Beschleunigte und bedingte Zulassungen mit dem nach-vollziehbar klingenden Ziel, in Bereichen mit dringendem medizini-schen Bedarf den Patienten schnelleren Zugang zu neuen Arzneitherapien zu ermöglichen, sind zunehmend mit dem Preis verbunden, dass zum Zeitpunkt der Zulassung nur wenige oder un-zureichende Daten zu einem Medikament vorliegen, um dessen tat-sächlichen Nutzen und längerfristigen potenziellen Schaden sicher beurteilen zu können. Insbesondere erlauben in diesem Kontext die immer häufigeren einarmigen Studien ohne geeignete Kontrollgrup-pen keine Vergleiche, wie man sie für jedwede Art von (Zusatz-) Nutzenbewertungen braucht. Kleine Patientenzahlen in Zulassungs-studien früher Arzneimittelentwicklungsphasen schwächen zudem die Aussagensicherheit in Bezug auf klinische Effekte. Die bisherige Empirie widerspricht recht klar der von Politik und Zulassungsbehör-den (z. B. FDA, EMA) geäußerten Hoffnung, mittels aussagekräfti-ger Studien nach der Zulassung und damit breiten Anwendung in der Bevölkerung möglichst zeitnah zu den bei beschleunigter Zulas-sung noch fehlenden Erkenntnissen zu (Zusatz-)Nutzen und Scha-

Auslöser: beschleunigte Zulassungen

Page 132: AMNOG-Report 2020 - DAK

112 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

den zu kommen139. Auch unkontrollierte Anwendungsbeobachtun-gen nach Markteinführung erfüllen die ihnen zugedachte Funktion in der Pharmakovigilanz nicht140.

Nicht nur bei beschleunigten Zulassungsverfahren bestehen teilwei-se gravierende Evidenzlücken im Hinblick auf eine Nutzenbewer-tung. Gleiches gilt auch bei neuen Medikamenten im Einsatz gegen seltene Erkrankungen. Um der Forschung und den Herstellern hier trotz der geringen Patientenzahlen Anreize für Forschung und Ent-wicklung zu setzen, hat die Politik solche Therapeutika privilegiert, indem sie Evidenzanforderungen in der Zulassung reduziert hat. Ei-ne aktuelle Analyse des IQWiG141 beschäftigt sich unter anderem mit 67 Beschlüssen und 85 damit verbundenen Fragestellungen des GBA zu „orphan drugs“ mit erstmaligem Marktzugang zwischen 2014–2018 oder zu neuen Anwendungsgebieten in diesem Zeit-raum. Sie kommt zu dem Schluss, dass sich für 61 von 85 Fragestel-lungen zumeist wegen mangelnder wissenschaftlicher Datengrund-lage ein Zusatznutzen durch die neue Arzneitherapie nicht quantifi-zieren lässt. Dabei ist es nicht so, dass für solche Arzneimittel keine randomisierten, kontrollierten Studien durchgeführt werden könn-ten: RCTs lagen in 67 % der 85 Fragestellungen vor. Diese waren jedoch häufig nicht auf versorgungsrelevante Fragestellungen aus-gerichtet. Hierfür verantwortliche Evidenzlücken konnte das IQWiG mittels einer Textanalyse der tragenden Beschlussgründe bei 52 Fragestellungen identifizieren und kategorisieren.

Tabelle 13 zeigt für die Endpunktkategorien Mortalität, Morbidität, Lebensqualität und Nebenwirkungen, dass lückenhafte Evidenz in 40 Fällen in Bezug auf das jeweilig zu bewertende „orphan drug“ gegeben war, aber dies in allen 52 Fällen auf die betrachteten Kon-trollgruppen zutraf, für die grob gemittelt in etwa der Hälfte der Fälle gar keine Daten für die interessierenden Zielgrößen vorlagen. Alle Endpunktkategorien sind gemäß dieser Analyse gleichermaßen von Evidenzlücken betroffen, diese existieren zudem oft in mehreren Be-reichen gleichzeitig.

139 Woloshin et al. (2017); Davis et al. (2017); Naci et al. (2017); Pease et al. (2017); Hoekman et al. (2019).

140 Spelsberg et al. (2017).141 IQWiG (2020) A19-43.

Evidenzlücken bei Orphan Drugs

Page 133: AMNOG-Report 2020 - DAK

1133 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Tabelle 13: Darstellung der Evidenzlücken je Endpunktkategorie – Orphan Drugs mit Marktzugang 2014 bis 2018, Fragestellungen mit nicht quantifizierbarem Zusatznutzen

Gruppe Mortalität MorbiditätLebens-qualität

Neben-wirkungen

Begründung für Evidenzlücke

n (% von N) n (% von N) n (% von N) n (% von N)

Orphan Drugs (N = 40)

20 (50 %) 27 (68 %) 26 (65 %) 18 (45 %)

Daten lagen nicht vor

7 (18 %) 8 (20 %) 16 (40 %) 7 (18 %)

Mängel in der Erhebunga

11 (28 %) 12 (30 %) 5 (13 %) 5 (13 %)

Mängel bei der Auswertung

2 (5 %) 7 (18 %) 5 (13 %) 6 (15 %)

Kontrollgruppen (N = 52)

33 (63 %) 40 (77 %) 35 (67 %) 34 (65 %)

Daten lagen nicht vor

22 (42 %) 27 (52 %) 30 (58 %) 27 (52 %)

Mängel in der Erhebunga

11 (21 %) 8 (15 %) 2 (4 %) 4 (8 %)

Mängel bei der Auswertung

0 (0 %) 5 (10 %) 3 (6 %) 3 (6 %)

a: Einschließlich zu kurzer Beobachtungsdauer oder zu geringer Fallzahl.

Quelle: IQWiG.

Im Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) wurde vor dem Hintergrund der zuvor beschriebenen Situation 2019 die Option für den GBA geschaffen, bei Medikamenten mit be-schleunigten Zulassungsverfahren und orphan drugs vom Hersteller anwendungsbegleitende Datenerhebungen zu fordern. Nach dem 2020 verabschiedeten Faire-Kassenwettbewerb-Gesetz (FKG) soll dies sogar ab dem Zeitpunkt der Markteinführung und nicht erst zum Zeitpunkt der frühen Nutzenbewertung erfolgen können. Das IQWiG hat hierzu im Auftrag des GBA ein methodisches Konzept erstellt, dessen Anregungen in die Verfahrensordnung des GBA Ein-gang finden können142.

3.5.4 Gesundheitsökonomische Bewertungen

Kosten-Nutzen-Bewertungen (KNB) können Informationen zur An-gemessenheit und Zumutbarkeit der Kostenübernahme durch die

142 IQWiG (2020) A19-43.

Anwendungsbe-gleitende Datener-hebung durch GSAV

Renaissance der Kosten-Nutzen-Bewertungen?

Page 134: AMNOG-Report 2020 - DAK

114 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

Versichertengemeinschaft liefern, die sich als begründbare „Relati-on zwischen den Kosten und dem Nutzen des Arzneimittels“ (§ 32 Abs. 3 VerfO des GBA) abbilden lassen143. Obwohl das SGB V seit 2007 im § 35 b die Durchführung von Kosten-Nutzen-Bewertungen von Arzneimitteln vorsieht und das IQWiG eine Methodik entwickelt und erprobt hat144, sind bisher mit einer Ausnahme keine Beauftra-gungen zur KNB durch GBA oder BMG erfolgt. Die Optionen zu de-ren Durchführung sind im AMNOG-Kontext auf die Konstellation gescheiterter Preisverhandlungen und Schlichtungsverfahren nach einer frühen Nutzenbewertung begrenzt und noch nie realisiert wor-den.

Daher liegt die gesundheitsökonomische Hauptaufgabe für das IQWiG derzeit in der Prüfung der Herstellerangaben im AMNOG-Dossier zu Kosten und Patientenzahlen für neue Arzneimittel und deren zweckmäßiger Vergleichstherapie. Besondere Herausforde-rungen ergeben sich dabei durch heterogene Angaben in den Dos-siers zur Zielpopulation im selben Anwendungsgebiet. So schwank-ten beispielsweise in 5 Dossiers (2011–2017) zu neuen Arzneimit-teln für das nicht kleinzellige Lungenkarzinom die angegebenen Anteile für die Subgruppe der Plattenepithelkarzinome zwischen 23,5 % und 36,9 %145. Durch die zwischen den Dossiers variieren-den Ermittlungsmethoden und Datenquellen für die Häufigkeitsbe-stimmung der interessierenden GKV-Zielpopulation ergab sich da-her für das IQWiG in den vergangenen Jahren ein wissenschaftli-cher Fokus in der Bewertung von Datenquellen und entsprechenden Auswertungsansätzen146. Dies ging mit eigenen Forschungsaktivitä-ten unter anderem zu GKV-Routinedaten und Krebsregisterdaten einher147. Abbildung 17 zeigt die Ergebnisse aller 744, zumeist fra-gestellungsbezogenen Prüfungen der epidemiologischen Kennzah-len durch das IQWiG in den Herstellerdossiers von 2011 bis 2019 (Bewertungen A11-02 bis A19-50).

143 Luhnen et al. (2016).144 IQWiG (2017) Allgemeine Methoden 5.0; IQWiG (2013). 145 ten Thoren et al. (2020).146 ten Thoren et al. (2017).147 IQWiG (2019a); IQWiG (2019b).

Wichtiger Schritt: Herstellerangaben

prüfen

Page 135: AMNOG-Report 2020 - DAK

1153 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Abbildung 17: Gesamtbewertung (Angaben in %) der in den Hersteller-dossiers genannten Patientenzahlen für die interessieren-den GKV-Zielpopulationen [N = 744; 2011–2019]

Das Gesamtbild mit nur 15 % als plausibel, 21 % als unsicher und 6 % bzw. 12 % als über- oder unterschätzt eingestuften Angaben zeigt zusammen mit den fast 30 % unterschiedlich148 oder nicht be-werteten149 Zahlen für die GKV-Zielpopulation ein sehr heterogenes und zum Teil verbesserungswürdiges Bild. Eine Orientierung an STROSA150, dem deutschen Berichtsstandard für Routinedatenana-lysen, könnte beispielsweise bei diesen Datenquellen zu einer Transparenzerhöhung beitragen, die die Gründe für unterschiedli-che Analyseergebnisse erkennbar werden ließe und somit die Ver-gleichbarkeit von Häufigkeitsangaben verbesserte.

3.5.5 Fazit

Aus Sicht des IQWiG hat das AMNOG trotz weiterhin fehlender so-genannter 4. Hürde für die Markteinführung neuer Arzneimittel zu einer hoch sinnvollen und international weit beachteten Art der frü-hen Bewertung neuer Medikamente geführt. Der Erkenntniszu-wachs durch die Bewertungen auf Basis einer gesetzlich bestimm-ten, umfassenden Informationsgrundlage zu den neuen Arzneimit-teln ist bemerkenswert. Dies betrifft sowohl das Wissen wie auch das Nicht-Wissen.

148 Patientenzahl mit einer Spanne angegeben, deren Ober- und Untergrenze unter-schiedlich bewertet wurden.

149 Patientenzahl nicht auf Ebene der Fragestellung bewertbar, da z. B. nur kumulier-te Werte für mehrere Fragestellungen vorlagen.

150 Swart et al. (2016).

AMNOG: Sinnvol-ler Erkenntniszu-wachs

Page 136: AMNOG-Report 2020 - DAK

116 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

3.5.6 Ausblick

Klinische Studien während der Arzneimittelentwicklung auch für aussagefähige Vergleiche in der frühen Nutzenbewertung anlegen

Eine an den Grundprinzipien der evidenzbasierten Medizin orien-tierte frühe Nutzenbewertung erfordert die Vergleichsbetrachtung neuer Arzneimittel mit anderen möglichst aktiven Therapien im Rah-men klinischer Studien. Faire und nicht verzerrte Vergleiche der Da-ten zu patientenrelevanten Zielgrößen, bei denen die Strukturgleich-heit der unterschiedlich behandelten Patientengruppen sicherge-stellt ist, lassen sich am ehesten durch qualitativ hochwertige, ran-domisiert kontrollierte Studien (engl.: Randomised Controlled Trials, RCTs) per Zufallszuweisung der Patienten erreichen. Von daher muss es trotz des Trends zu beschleunigten Zulassungsverfahren mit niedrigeren Evidenzanforderungen für den Zeitpunkt des Markt-eintritts übergeordnetes Ziel bleiben, schon zum Zeitpunkt der frü-hen Nutzenbewertung hochwertige Evidenz aus RCTs mit geeigne-ten Komparatoren verfügbar zu haben. Auch indirekte Vergleiche konnten als Behelf im AMNOG-Verfahren bisher nur ganz selten Evidenz für einen Zusatznutzen liefern151. Zwar hat sich inzwischen die Beratung der pharmazeutischen Unternehmer auch durch HTA-Institutionen etabliert. Sie wird teilweise im Rahmen einer gemein-samen Beratung mit der europäischen Zulassungsbehörde (EMA) durchgeführt152. Dennoch ist festzustellen, dass die resultierenden Studien weiterhin primär auf die Anforderungen der Regulatoren (Zulassungsbehörden) ausgerichtet sind und weniger auf versor-gungsrelevante, für die Nutzenbewertung wichtige Fragestellungen.

Perspektivisch ist es darüber hinaus für Nutzenbewertungen von Arzneitherapien wichtig, die nicht kommerzielle klinische Forschung in Deutschland erheblich stärker zu fördern, so wie es der Wissen-schaftsrat153 2018 beschrieben hat und wie es andere Nationen in Europa bereits intensiv betreiben154. Der Wissenschaftsrat sieht in Deutschland insbesondere einen Mangel an Studien, die „die offe-nen komplexen Fragen der medizinischen Versorgung adressieren und zur Entwicklung der wesentlichen Entscheidungsgrundlagen, Standards und Leitlinien der medizinischen Praxis beitragen“, und die mit Fokus auf verbesserte patientenrelevante Zielgrößen „die verschiedenen bereits etablierten Präventionsmaßnahmen, Diagno-severfahren und Therapien miteinander vergleichen.“155 Dies um-fasst auch für Nutzenbewertungen bedeutsame Head-to-Head-Stu-dien im Arzneitherapiebereich.

151 Bender et al. (2018).152 www.eunethta.eu/services/early-dialogues/parallel-consultations/153 Wissenschaftsrat (2018).154 Windeler (2019).155 Wissenschaftsrat (2018), S. 9 und S. 44.

RCTs bleiben Goldstandard

Förderung nicht-kommerzieller

Forschung

Page 137: AMNOG-Report 2020 - DAK

1173 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Ein weiterer Aspekt der klinischen Studien in der Arzneimittelent-wicklung betrifft Lebensqualitätsdaten und von Patienten berichtete Endpunkte (engl.: Patient Reported Outcomes, PROs). Zwar wer-den solche Daten erfreulicherweise zunehmend häufiger in Arznei-mittelstudien erhoben und in AMNOG-Dossiers berichtet, aber we-gen nicht ausreichender Qualität sind sie oft nicht zur Ableitung ei-nes Zusatznutzens geeignet156. Daher wird es künftig z. B. in onkolo-gischen RCTs verstärkt darauf ankommen, entsprechende Empfeh-lungen157 etwa zur einheitlichen Auswertung dieser wichtigen pati-entenrelevanten Endpunkte konsequent umzusetzen.

Indikationsbezogene Patientenregister mit hoher Qualität auf-bauen und nachhaltig fördern

Mit dem Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) hat der Gesetzgeber in 2019 im § 35 a Abs. 3b SGB V für den GBA die Option geschaffen, im Falle neu zugelassener Orphan drugs und von bedingt oder unter ungewöhnlichen Umständen zu-gelassenen Arzneimitteln vom Hersteller zur Zusatznutzenbestim-mung eine anwendungsbegleitende Datenerhebung zu fordern und deren Durchführung und Ergebnisse im Abstand von höchstens 18 Monaten zu überprüfen. Das IQWiG kam in seiner hierzu vom GBA beauftragten methodischen Bewertung158 zur Schlussfolge-rung, dass vor allem krankheitsbezogene Patientenregister von ho-her Qualität eine geeignete Datengrundlage für versorgungsnah zu erhebende Daten sein könnten. Ausgehend von nationalen und in-ternationalen Empfehlungen von Qualitätskriterien für Patientenre-gister und darauf eventuell aufbauende Studien159 hat das IQWiG zentrale Qualitätsanforderungen für Register genannt, die jeweils im Lichte der spezifischen Forschungsfragestellungen des GBA in der Bestimmung eines initial noch unklaren (Zusatz-) Nutzens eines neuen Arzneimittels oder Anwendungsgebietes geprüft werden müssen. In Deutschland existieren aber nur für ganz wenige Erkran-kungen bereits Patientenregister, die die notwendigen Datenumfän-ge und Qualitätsanforderungen zum Beispiel in Hinblick auf Vollzäh-ligkeit, Vollständigkeit und Validität der erhobenen Daten erfüllen können. Daher ist die nachhaltige Förderung des Aufbaus neuer und des Ausbaus vorhandener klinischer Patientenregister guter Qualität eine Voraussetzung dafür, dass registerbasiert belastbare Patientengruppenvergleiche (z. B. registerbasierte RCTs, adjustierte Analysen mit Propensity-Score-Matching-Methodik) in der Nutzen-bewertung zur Anwendung kommen können. Ganz allgemein stel-len hochwertige Patientenregister eine Infrastruktur für die zeitnahe

156 Thomas et al. (2016).157 Coens et al. (2020).158 IQWiG (2020) A19-43.159 Müller et al. (2010); Stausberg et al. (2020); Gliklich et al. (2014); EUnetHTA

(2019); EMA (2018), CTTI (2017).

Qualitätssteige-rung von Lebens-qualitätsdaten

Indikationsregister als geeignete Datengrundlage?

Page 138: AMNOG-Report 2020 - DAK

118 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

Durchführung kontrollierter interventioneller klinischer Studien dar160.

Reguläre frühe Nutzenbewertung auch für Orphan drugs durch-führen

Ein notwendiger, wiederholt dem Gesetzgeber vorgeschlagener Schritt161 in der Weiterentwicklung des AMNOG-Verfahrens ist es, künftig auch bei Arzneimitteln für seltene Erkrankungen eine an den tatsächlich vorhandenen Daten ausgerichtete frühe Nutzenbewer-tung vorzunehmen, ohne dabei deren Privilegierung bei Erstat-tungsbetragsverhandlungen aufzugeben. Für diesen Vorschlag spricht erstens das Ergebnis einer methodischen Expertise und em-pirischen Untersuchung162, nach der bei 59 von 85 betrachteten, in Europa zwischen 2001 und 2013 zugelassenen Orphan drugs (ent-spricht 69 %) Daten aus randomisiert-kontrollierten Studien vorla-gen, also klinische Studien mit einer auf die interne Validität bezo-gen hohen Aussagensicherheit. Interessanterweise zeigten sich bezüglich wesentlicher Studiencharakteristika (z. B. Design, Patien-tenzahlen) keine Unterschiede zwischen seltenen (≤ 5 / 10.000 Ein-wohner) und sehr seltenen Erkrankungen (< 2 / 100.000 Einwohner). Zweitens ergaben auch die IQWiG-Auswertungen163 zu den nach Überschreiten der 50-Millionen-Jahresumsatzgrenze regulär bewer-teten Orphan drugs, dass hier bei 15 von 21 (71 %) Indikationen Evidenz aus RCTs vorlag, aber nur für 10 von 21 (48 %) betrachte-ten Patientengruppen ein Zusatznutzen bestätigt werden konnte. Insoweit ist der Verzicht auf eine reguläre frühe Nutzenbewertung für Orphan drugs und die a priori-Annahme eines fiktiven Zusatznut-zens nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Informationsbedürfnis-ses von betroffenen Patienten und behandelnden Ärzten auf Dauer nicht zu rechtfertigen.

Kosten-Nutzen-Bewertungen für ausgewählte neue Arzneimit-tel etablieren

Um dem Wirtschaftlichkeitsgebot im SGB V noch besser Rechnung tragen zu können, hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen schon 2014 angeregt164, mit statistischen Modellierungen im Rahmen von Kosten-Nutzen-Be-wertungen weitere Informationsgrundlagen für Preisverhandlungen zwischen der GKV und pharmazeutischen Unternehmen bereit zu stellen. Denn in den Preisverhandlungen liegt bislang der Fokus im Wesentlichen auf den reinen Arzneikosten. Effekte einer neuen The-rapie auf Zunahme oder Reduktion notwendiger Folgebehandlun-gen oder Verschiebung von Versorgungsansprüchen in andere Ver-sorgungssektoren finden beim Vergleich von zweckmäßiger Ver-

160 Lauer et al. (2013); Li et al. (2016).161 IQWiG (2016); IQWiG (2018).162 IQWiG (2014); fast identisches Ergebnis in IQWiG (2020) A19-43.163 IQWiG (2018).164 SVR Gesundheit (2014).

Reguläre Nutzen-bewertung bei Orphan Drugs

möglich

Wirtschaftlichkeit darstellen

Page 139: AMNOG-Report 2020 - DAK

1193 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

gleichstherapie und neuem Arzneimittel beispielsweise keine Be-rücksichtigung.165 Die aktuell rasch anwachsende Zahl von extrem hochpreisigen neuen Einmal- oder Kurzzeittherapien zur Behand-lung seltener Leiden (ATMPs – Advanced Therapeutic Medicinal Products) wie z. B. Gentherapien, die trotz bisherigem Mangel an Langzeitbeobachtungen Heilung oder langanhaltend verbesserte Symptomkontrolle versprechen, lässt diese Forderungen nach Kos-ten-Nutzen-Bewertungen sehr sinnvoll erscheinen. Eine entspre-chende Weiterentwicklung der IQWiG-Methodik für eine Kosten-Nutzen-Bewertung, die zeitverzögert nach der frühen klinischen Nutzenbewertung bei Markteinführung stattfinden sollte, ist in die-sem Zusammenhang ebenso angezeigt wie eine vom Gesetzgeber vorgenommene Vereinfachung der Regelungen des derzeitig gülti-gen Verfahrens im GBA für eine Kosten-Nutzen-Bewertung.

Europäische Nutzenbewertung am Qualitätsprofil des AMNOG-Verfahrens ausrichten

Die Europäische Kommission hat Anfang 2018 einen mit Europa-Parlament und Europarat abzustimmenden Vorschlag166 gemacht, wie künftig ein gemeinsames Verfahren zur Erstellung klinischer Nutzenbewertungen gestaltet werden sollte. Ohne hier auf Details des komplexen Regelungsvorschlags und der anschließenden kon-troversen Diskussionen in Deutschland und ganz Europa eingehen zu wollen, gilt es aus Sicht des IQWiG, die mit dem AMNOG verbun-denen wesentlichen Errungenschaften in diesem noch andauern-den politischen Aushandlungsprozess, um ein gemeinsames HTA-Verfahren zu erhalten. Dazu gehört die Sicherstellung, dass künftige europäische klinische Assessments die wesentlichen Nutzenfrage-stellungen des GBA in Deutschland adressieren können oder dies-bezüglich nationale Ergänzungen der Berichte möglich sind, dass Informationsgehalt, Qualität und Transparenz der eingereichten Herstellerdossiers vergleichbar zum AMNOG sind, dass die ge-meinsame Bewertungsmethodik und das Gesamtverfahren konsis-tent, fair und maximal transparent sind und dass auf wissenschaftli-che Unabhängigkeit und Kompetenz der europäischen Assessment-Teams vertraut werden kann. Das AMNOG kann hier für viele Aus-gestaltungsmerkmale als Blaupause für den eventuellen neuen europäischen Prozess gesehen werden.

3.5.7 Literatur

Bender, R., Kromp, M., Sturtz, S., Kiefer, C., Vervölgyi, V., Lange, S. (2018): Stellenwert von indirekten Vergleichen und Netz-werk-Meta-Analysen im Rahmen der frühen Nutzenbewer-tung. In A. Storm (Hrsg.), AMNOG-Report 2018: Nutzenbe-wertung von Arzneimitteln in Deutschland; Schwerpunkt:

165 Luhnen et al. (2016).166 Europäische Kommission (2018).

EU-HTA

Page 140: AMNOG-Report 2020 - DAK

120 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

Arztinformationssystem; wie kommen die Ergebnisse in die Praxis? Heidelberg: medhochzwei, S. 59–70.

Coens, C., Pe, M., Dueck, A. C., Sloan, J., Basch, E., Calvert, M., Bottomley, A. (2020): International standards for the analysis of quality-of-life and patient-reported outcome endpoints in cancer randomised controlled trials: recommendations of the SISAQOL Consortium. Lancet Oncology; 21(2): e83-e96. doi:10.1016/S1470-2045(19)30790-9.

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Page 141: AMNOG-Report 2020 - DAK

1213 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

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Köhler, M., Haag, S., Biester, K., Brockhaus, A. C., McGauran, N., Grouven, U., . . . Wieseler, B. (2015): Information on new drugs at market entry: retrospective analysis of health tech-nology assessment reports versus regulatory reports, journal publications, and registry reports. BMJ; 350: h796. doi:10.1136/bmj.h796.

Lauer, M. S., & D’Agostino, R. B. (2013): The Randomized Registry Trial: the next disruptive technology in clinical research? New

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Page 143: AMNOG-Report 2020 - DAK

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Page 144: AMNOG-Report 2020 - DAK

124 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

3.6 Rückblick und Ausblick aus Sicht der KBV

Ein Gastbeitrag von: Dr. Andreas Gassen, Vorsitzender des Vor-standes der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV)

3.6.1 Das AMNOG-Verfahren aus ärztlicher Sicht

Zehn Jahre AMNOG – das sind zehn Jahre Ringen im Gemeinsa-men Bundesausschuss (GBA), zwischen Ärzten, Krankenkassen, Pharmazeutischer Industrie, Patienten und anderen Akteuren. Die frühe Nutzenbewertung hat sich als ein sinnvolles und wichtiges In-strument erwiesen, um den therapeutischen Stellenwert neuer Arz-neimittel frühzeitiger und besser beurteilen zu können. Bislang hat der GBA 281 neue Wirkstoffe beziehungsweise Wirkstoffkombinati-onen in 477 Verfahren im Hinblick auf ihren Zusatznutzen bewertet (vgl. Abbildung 18).

Abbildung 18: Bewertungen des GBA

Quelle: KBV, Stand: 29. Juni 2020.

Die meisten der bislang bewerteten Wirkstoffe beziehungsweise Wirkstoffkombinationen kommen aus den Gebieten Onkologie, In-fektiologie und Diabetes mellitus (vgl. Abbildung 19).

AMNOG hat sich bewährt

quantifizierbar

Page 145: AMNOG-Report 2020 - DAK

1253 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Abbildung 19: Therapiegebiete, in denen die bislang bewerteten Wirk-stoffe eingesetzt werden

Quelle: KBV.

In fast allen Arztgruppen werden von der Mehrheit der Ärzte AM-NOG-Arzneimittel verordnet. Bei den hausärztlichen Praxen verord-nen 90 % AMNOG-Präparate, davon 93 % fünf oder mehr (vgl. Abb. 20). Die frühe Nutzenbewertung ist demnach nicht nur für die fachärztliche, sondern auch für die hausärztliche Versorgung rele-vant.

Abbildung 20: Anteil der Praxen mit mindestens 5 AMNOG-Verordnun-gen

Quelle: KBV.

Verschreibungs-praxis

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126 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

Problematisch aus vertragsärztlicher Sicht ist nach wie vor die Über-tragbarkeit der Nutzenbewertungsergebnisse in den Versorgungs-alltag, etwa im Hinblick auf selektierte Studienpopulationen, Sub-gruppen, die Bedeutung fehlender Studiendaten etc. Hinzu kommt: Aus der frühen Nutzenbewertung resultierende Beschlüsse sind immer nur Momentaufnahmen der zur Verfügung stehenden Evi-denz. Die Rolle der KBV beziehungsweise ihrer niedergelassenen ärztlichen Vertreter im AMNOG-Verfahren besteht – neben der Be-wertung der Evidenz – daher auch darin, die praktische Erfahrung aus dem ärztlichen Versorgungsalltag einzubringen. Dabei verfolgt die KBV das Ziel, auch für seltene Erkrankungen und kleine Patien-tengruppen differenzierte, patientenindividuelle und vielfältige The-rapieoptionen zu ermöglichen. Aus ärztlicher Sicht stellt sich dabei die Frage, wie wir mit Arzneimitteln umgehen, die keinen nachge-wiesenen Zusatznutzen haben, die aber dennoch für die Patienten-versorgung wichtig sind und deren Verordnung aufgrund des Misch-preises mit einem Regressrisiko für den Arzt verbunden ist. Die Pro-blematik der Mischpreisbildung ist zwar in mehreren Gerichtsurtei-len verhandelt worden, bleibt aber virulent. Ein weiteres Feld sind anwendungsbegleitende Datenerhebungen und die Frage, ob sich aus diesen Daten, wenn sie dann vorliegen, auch ein Zusatznutzen ableiten lässt. Wie gehen wir als Ärzteschaft damit um, dass Patien-ten verpflichtet sind und auch Ärzte verpflichtet werden können, an dieser Datenerhebung teilzunehmen, um das neue Arzneimittel an-wenden zu können?

3.6.2 Mischpreise: ein nach wie vor ungelöstes Problem

Seit Inkrafttreten des AMNOG ist umstritten, ob ein Arzt ein neues Arzneimittel im Rahmen des gesamten Anwendungsgebietes auch dann wirtschaftlich verordnet, wenn er es bei einer Patientengruppe anwendet, für die der GBA keinen Zusatznutzen festgestellt hat.

Bekannt ist, dass der Mischpreis jeweils im Verhältnis zur zweckmä-ßigen Vergleichstherapie bei Patientengruppen mit Zusatznutzen zu einem „zu niedrigen“ Preis und bei Patientengruppen mit nicht be-legtem Zusatznutzen zu einem „zu hohen“ Preis führt. Verschiedene Gerichtsurteile haben sich mit der Problematik befasst. So kam das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg 2017 in einem Eil-verfahren zu dem Schluss, Vertragsärzte würden sich im Regelfall unwirtschaftlich verhalten, wenn sie ein Arzneimittel für Patienten-gruppen ohne Zusatznutzen verordnen, sofern der Mischpreis teu-rer ist als die zweckmäßige Vergleichstherapie.167 Demnach würde den verschreibenden Ärzten ein Regress drohen. Die Folge wäre ein faktischer Verordnungsausschluss für bestimmte Patientengrup-

167 LSG-Beschluss vom 1. März 2017, AZ: L 9 KR 437/16 KL ER, URL: www.ge-richtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de/jportal/?quelle=jlink&docid=JURE170026175&psml=sammlung.psml&max=true&bs=10 (Abgerufen am: 16. Juli 2020).

Nutzenbewer-tungsergebnisse

in die Praxis über-tragbar?

Mischpreise er-schweren Verord-

nungspraxis

Page 147: AMNOG-Report 2020 - DAK

1273 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

pen. Die KBV hatte als Reaktion auf den LSG-Beschluss zum wie-derholten Male gefordert, dass vereinbarte Erstattungsbeiträge für Arzneimittel die Wirtschaftlichkeit über das gesamte Anwendungs-gebiet abdecken müssen. In einem Urteil aus demselben Jahr be-kräftigte das LSG Berlin-Brandenburg im Hauptsacheverfahren sei-ne Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Mischpreisbildung. Diese wür-den keine „nutzenadäquate Vergütung“ darstellen.168 Das Bundesso-zialgericht war ein Jahr später anderer Auffassung und hat in einem Urteil vom 4. Juli 2018 die Rechtmäßigkeit von Mischpreisen bestä-tigt.169 Allerdings bleibe der Grundsatz, dass Vertragsärzte regelmä-ßig das bei gleichem medizinischem Nutzen wirtschaftlichste Arz-neimittel zu verordnen haben, von der Mischpreisbildung unberührt.

In diesem Zusammenhang haben Krankenkassen bereits Prüfanträ-ge gestellt. Die KBV rät verordnenden Ärzten daher, den Behand-lungsfall und die Gründe, die gegen die Verordnung der günstigeren Therapiealternative sprechen, für den Fall einer Wirtschaftlichkeits-prüfung gut zu dokumentieren. Darüber hinaus fordert die KBV nach wie vor eine gesetzliche Klarstellung, wonach die Verordnung von Arzneimitteln mit Mischpreisen auch bei Patientengruppen ohne Zu-satznutzen als wirtschaftlich anerkannt wird. Solange Arzneimittel indikationsgerecht verordnet werden, muss die therapeutische Ent-scheidung des Arztes ausschlaggebend sein.

3.6.3 Leitlinien versus frühe Nutzenbewertung

Bei (Teil-)Anwendungsgebieten, die nur wenige Patienten betreffen, kann der GBA in vielen Fällen aufgrund der unzureichenden Daten-lage keine evidenzbasierte Aussage über einen Zusatznutzen tref-fen. Gleichzeitig werden diese Arzneimittel bisweilen in den Leitlini-en als Mittel der ersten Wahl empfohlen. Ein Beispiel ist Crizotinib bei Lungenkrebs mit ROS1-Translokation (ROS1-positives, fortge-schrittenes nicht kleinzelliges Lungenkarzinom [NSCLC]). Dabei handelt es sich um eine seltene Mutation mit entsprechend schlech-ter Datenlage (nur ca. 1–2 % der NSCLC sind ROS1-positiv). Trotz-dem hat Crizotinib von der europäischen Zulassungsbehörde EMA aufgrund des übergeordnet zu betrachtenden Anwendungsgebietes NSCLC keinen Orphan-Drug-Status zuerkannt bekommen.

Der Zusatznutzen für Crizotinib bei ROS1-positivem, fortgeschritte-nem NSCLC ist nicht belegt, da keine vergleichenden Daten vorla-gen. Die Leitlinien geben basierend auf der klinischen Erfahrung und retrospektiven Vergleichen jedoch eine klare Empfehlung für Crizotinib bei ROS1:

168 LSG-Urteil vom 28. Juni 2017, AZ: L 9 KR 72/16 KL, URL: www.gerichtsentschei-dungen.berlin-brandenburg.de/jportal/?quelle=jlink&docid=JURE170036679&psml=sammlung.psml&max=true&bs=10 (Abgerufen am: 16. Juli 2020).

169 BSG-Urteil vom 4. Juli 2018, AZ: B 3 KR 20/17 R, URL: www.bsg.bund.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2018/2018_07_04_B_03_KR_20_17_R.html (Abgerufen am: 16. Juli 2020).

Prüfanträgeder KBV

Beispiel Crizotinib

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128 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

• S3-Leitlinie, Februar 2018: „Bei Patienten mit ROS1-Fusionsge-nen (ROS1 + NSCLC) soll in der Erstlinientherapie Crizotinib an-geboten werden.“ […] „überragende“ Wirksamkeit im Vergleich zur Chemotherapie.170

• DGHO-Leitlinie, Oktober 2019: „Crizotinib … führt bei über 90 % der Patienten zu Krankheitskontrolle“.171

Aufgrund der Mischpreisproblematik könnte eine Verordnung von Crizotinib in diesem Anwendungsgebiet jedoch gegebenenfalls pro-blematisch werden. Vor diesem Hintergrund konnte in den Tragen-den Gründen zum Beschluss des GBA eine Öffnungsklausel veran-kert werden: „Für nicht-vorbehandelte Patienten mit ROS1-positivem NSCLC kann eine Behandlung (mit Crizotinib) in Einzelfällen eine relevante Therapieoption sein.“172 Auf diese Weise soll, in Analogie zur Sonderregelung für Orphan Drugs im AMNOG-Prozess, der Dis-krepanz zwischen der auf klinischen Erfahrungen und den Leitlinie-nempfehlungen basierenden Verordnungspraxis und der aufgrund der Seltenheit einer Erkrankung für die frühe Nutzenbewertung un-zureichenden Evidenzlage Rechnung getragen werden.

3.6.4 Arzneimittelinformationssystem: ein Mehrwert für Vertragsärzte?

Die am 3. August 2019 in Kraft getretene elektronische Arzneimittel-informationen-Verordnung (EAMIV) hat das Ziel, Vertragsärzte bes-ser als bisher durch ihre Verordnungssoftware über die Beschlüsse zur frühen Nutzenbewertung neuer Arzneimittel zu informieren und dadurch evidenzbasierte Therapieentscheidungen zu fördern. Dies setzt voraus, dass den verordnenden Ärzten die Inhalte der Be-schlüsse des GBA übersichtlich und in gut handhabbarer Form zur Verfügung stehen. Diese Aufgabe kommt dem sogenannten Arznei-mittel-Informationssystem (AIS) als Teil der Arzneimittel-Verord-nungssoftware zu.

Die EAMIV gibt Mindestanforderungen vor, die für die Abbildung der Inhalte der Beschlüsse zur frühen Nutzenbewertung in der Verord-nungssoftware gelten. Der G‐BA hat hierfür die Beschlüsse in einer

170 Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshil-fe, AWMF): Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Lungenkarzi-noms, Langversion 1.0, 2018, AWMF-Registernummer: 020/007OL, URL: http://leitlinienprogramm-onkologie.de/Lungenkarzinom.98.0.html (Abgerufen am: 16.Juli 2020).

171 Griesinger et al. (2019): Leitlinie Lungenkarzinom, nicht-kleinzellig (NSCLC), URL: www.onkopedia.com/de/onkopedia/guidelines/lungenkarzinom-nicht-klein-zellig-nsclc/@@guideline/html/index.html (Abgerufen am 16. Juli 2020).

172 Tragende Gründe zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL): Anlage XII – Beschlüsse über die Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen nach § 35 a SGB V – Crizotinib (neues Anwendungsgebiet: ROS1-positives, fortgeschrittenes nicht kleinzelliges Lungenkarzinom) vom 16. März 2017, URL: www.g-ba.de/down-loads/40-268-4252/2017-03-16_AM-RL-XII_Crizotinib_D-261_TrG.pdf (Abgeru-fen am: 16. Juli 2020).

Mindestanforde-rungen des AIS

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1293 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

maschinenlesbaren Fassung auf seiner Internetseite zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus sieht die EAMIV vor, dass bei der Anzeige des Arzneimittels oder des Wirkstoffes in den Suchergebnissen und Vergleichslisten der Verordnungssoftware ein Hinweis anzuzeigen ist, wenn ein entsprechender Beschluss des G‐BA hierzu vorliegt. Zusätzlich muss die Verordnungssoftware Recherchen nach dem Arzneimittel, dem Wirkstoff sowie dem zugelassenen Anwendungs-gebiet ermöglichen.

Die konkrete Umsetzung der EAMIV-Vorgaben haben die KBV und der GKV-Spitzenverband im Anforderungskatalog für Verordnungs-software nach § 73 SGB V vereinbart. Danach kann der Arzt bei Auswahl eines Arzneimittels, für das ein oder mehrere Beschlüsse zur frühen Nutzenbewertung vorliegen, zunächst eine Beschluss-übersicht mit den jeweils bewerteten Anwendungsgebieten abrufen. Wenn in der Verordnungssoftware ein ICD‐10‐GM‐Kode eines Pati-enten vorliegt, werden im ersten Schritt nur Beschlüsse angezeigt, die dem hinterlegten ICD‐10‐GM‐Kode des Patienten entsprechen. Die weiteren Beschlüsse kann sich der Arzt in einem weiteren Schritt ebenfalls anzeigen lassen. Nach Auswahl eines Beschlusses wer-den ihm die relevanten Informationen angezeigt, so zum Beispiel die vom G‐BA gebildeten Patientengruppen, jeweils mit Ausmaß und Wahrscheinlichkeit des Zusatznutzens gegenüber der zweckmäßi-gen Vergleichstherapie. Zu den anzuzeigenden Beschlussinhalten gehören unter anderem auch eine grafische Darstellung der Studie-nergebnisse in den Endpunktkategorien Mortalität, Morbidität, Le-bensqualität und unerwünschte Ereignisse sowie die vom GBA fest-gelegten Anforderungen an die qualitätsgesicherte Anwendung des neuen Arzneimittels.

In der Verordnungssoftware kann bereits heute unter anderem nach Handelsname und Wirkstoff gesucht werden. Zukünftig werden wei-tere Recherchen möglich sein. So wird danach gesucht werden kön-nen, für welche Arzneimittel ein Beschluss zur frühen Nutzenbewer-tung vorliegt. Diese Arzneimittel können auch über den jeweils hin-terlegten ICD‐10‐GM‐Kode beziehungsweise Namen des ICD‐10‐GM recherchiert werden – als Operationalisierung für das von der EAMIV vorgesehene zugelassene Anwendungsgebiet.

Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens hatte die KBV zu verschie-denen Punkten in den Referentenentwürfen zur EAMIV Kritik geäu-ßert, da sie zu einer Verschärfung des Regressrisikos oder zu einer Überfrachtung des AIS ohne relevanten Nutzen für die Vertragsärzte geführt hätten. Einige dieser Kritikpunkte hat der Verordnungsgeber aufgegriffen und umgesetzt. So ist etwa die Darstellung der Jahres-therapiekosten des bewerteten Arzneimittels im Vergleich zur zweckmäßigen Vergleichstherapie weggefallen. Ebenso ist die Ver-knüpfung der vom G‐BA gebildeten Patientensubgruppen über mehrere Wirkstoffe hinweg einschließlich der Recherchemöglichkeit entfallen, die dafür in der Software verpflichtend vorgesehen war. Nicht berücksichtigt wurde hingegen die Forderung der KBV nach

Praktische Ausge-staltung des AIS

Kritik am EAMIV Referentenentwurf

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130 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

einer Finanzierungsregelung im Hinblick auf zu erwartende Mehr-kosten für die Verordnungssoftware. Das Argument, eine Erhöhung der Preise sei allenfalls geringfügig und nur ein temporärer Effekt, deckt sich nicht mit den Erfahrungen im Zusammenhang mit der Einführung des bundeseinheitlichen Medikationsplans. Hier sind den Vertragsärzten Mehrkosten für die Software von bis zu 1.600 Eu-ro pro Praxis entstanden. Für die KBV ist nicht einsichtig, warum die Ärzteschaft die Kosten für eine gesetzlich gewollte Anpassung der Verordnungssoftware, von der letztendlich die Versorgung insge-samt profitieren soll, alleine tragen soll.

Ursprünglich sollte die EAMIV und damit die Zugriffsmöglichkeit der Ärzte auf die Ergebnisse der frühen Nutzenbewertung mittels ihrer Verordnungssoftware zum 1. Juli 2020 umgesetzt sein. Durch Verzö-gerungen im Verfahrensablauf – so unter anderem bei der Genehmi-gung des Beschlusses des GBA zu den Formaten und der techni-schen Struktur des Datensatzes in maschinenlesbarer Fassung durch das Bundesgesundheitsministerium – werden nach Auskunft der Softwarehersteller die vorgegebenen Informationen in der Ver-ordnungssoftware des Arztes flächendeckend voraussichtlich erst ab dem 1. Oktober 2020 zur Verfügung stehen. Die KBV hat sich beim GKV-Spitzenverband dafür eingesetzt, dass den Vertragsärz-ten keine Sanktionen oder sonstigen Nachteile aus der Verzögerung entstehen. Bis zur Umsetzung der EAMIV-Vorgaben werden weiter-hin die PDF-Dokumente der Beschlüsse der frühen Nutzenbewer-tung in der Software hinterlegt sein.

Maßgeblich aus Sicht der KBV bleibt, dass das AIS den Ärzten auch zukünftig Hilfe bei der Verordnung bietet, ohne steuernd in diese einzugreifen. Aus „Information“ darf keine „kassengesteuerte Ver-ordnungskontrolle“ werden, die zu Verordnungseinschränkungen und einer Regressbedrohung für Ärzte führen würde. Auch die Dar-stellung im AIS darf nicht so erfolgen, dass sie eine Umstellung der Medikation fördert, wenn diese nicht notwendig ist, um eine Ver-schlechterung des Behandlungsergebnisses und der Therapieadhä-renz auszuschließen.

3.6.5 Anwendungsbegleitende Datenerhebungen

In den letzten Jahren sind zunehmend Arzneimittel in Verkehr ge-kommen, die ein beschleunigtes Zulassungsverfahren durchlaufen haben. Mit einer beschleunigten Zulassung ist das Ziel verbunden, schwer oder lebensbedrohlich erkrankten Patienten möglichst schnell eine Therapie zu ermöglichen. Dies betrifft insbesondere Arzneimittel aus dem Bereich der Onkologie, aber auch Gentherapi-en wie beispielsweise zur Behandlung der spinalen Muskelatrophie. Solche Arzneimittel werden häufig bereits nach einer Phase-II-Stu-die zugelassen. Die Datenlage in Bezug auf Wirksamkeit und Si-cherheit ist dabei in der Regel schlechter als bei Arzneimitteln, die den Zulassungsprozess mit einer Phase-III-Studie durchlaufen ha-

Keine Nachteile durch Verzögerung

Therapiefreiheit unabdingbar

Evidenzlücken bei be-

schleunigten Zu-lassungen

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1313 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

ben. Häufig existieren bei diesen Medikamenten keine direkt verglei-chenden Studien, die Zulassung basiert auf einer einarmigen Stu-die. Aus diesen Daten lässt sich daher in der Regel keine valide Aussage darüber treffen, ob die Patienten von einer neuen Therapie besser profitieren als vom bisherigen Therapiestandard. Auch fehlen Informationen über die Nachhaltigkeit des Effektes und die Lang-zeitsicherheit des neuen Präparates. Dies trifft häufig auch auf Or-phan Drugs zu, für die aufgrund der Seltenheit der Erkrankung be-sondere Zulassungsvoraussetzungen gelten. Um bestehende Evi-denzlücken zumindest zum Teil zu schließen, kann der GBA daher bei Orphan Drugs, bei Arzneimitteln mit bedingter Zulassung oder bei Arzneimitteln mit einer Zulassung unter außergewöhnlichen Um-ständen vom pharmazeutischen Unternehmer anwendungsbeglei-tende Datenerhebungen fordern. So sieht es das Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) vor, das am 16. Au-gust 2019 in Kraft getreten ist.

Die KBV begrüßt die Möglichkeit des GBA, weitere Datenerhebun-gen zu fordern, um die Grundlage für eine evidenzbasierte Ent-scheidung bei der Versorgung der Patienten verbessern zu können. Kritisch ist jedoch, dass der GBA die Versorgung der Patienten auf die Ärzte beschränken kann, die an der Datenerhebung mitwirken. Aus ärztlicher Sicht ist das ein Problem, handelt es sich doch um einen Eingriff in die Therapiefreiheit und in das Arzt-Patienten-Ver-hältnis. Die KBV hatte im Rahmen des Stellungnahmeverfahrens zum GSAV deshalb gefordert, dass die Teilnahme an solchen an-wendungsbegleitenden Datenerhebungen für Patienten und Ver-tragsärzte freiwillig bleiben muss.

3.6.6 Europäische Nutzenbewertung: Chancen und Risiken

Die Nutzenbewertung neuer Arzneimittel ist schon seit längerem auch ein Thema auf europäischer Ebene. Die EU-Kommission strebt zukünftig ein einheitliches und für alle Mitgliedstaaten verbindliches Verfahren an, anstelle der bisherigen freiwilligen Zusammenarbeit. Der gemeinsamen Bewertung unterliegen sollen unter anderem in der EU zentral zugelassene Arzneimittel, einschließlich derjenigen Präparate, deren Zulassung um eine Indikation erweitert wird. Auf Basis der Ergebnisse können diese dann die Verfahren zur Erstat-tung und Preisregulierung der Produkte durchführen. Eigene klini-sche Bewertungen auf nationaler Ebene wären damit obsolet.

Die KBV begrüßt grundsätzlich eine Kooperation auf EU-Ebene bei der Nutzenbewertung. Allerdings sollte sich die Zusammenarbeit auf das Sammeln, Teilen und Anwenden gemeinsamer Methoden und Daten beschränken. Bei einer verpflichtenden Nutzung der kli-nischen Bewertungen besteht ein erhebliches Risiko, dass der nati-onale Versorgungskontext unzureichend berücksichtigt wird bezie-hungsweise die Ergebnisse der klinischen Bewertung nicht über-tragbar sind. Zu diesem nationalen Kontext gehören Patientengrup-

EU-HTA

Risiko von Quali-tätseinbußen

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132 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

pen, Versorgungsbedarfe und Versorgungsstrukturen. Eine verpflich-tende Nutzenbewertung und Übernahme der Ergebnisse hätte er-hebliche Auswirkungen auf das etablierte und anerkannte Verfahren der frühen Nutzenbewertung in Deutschland.

Die Verhandlungen über die einheitliche europäische Nutzenbewer-tung laufen seit über zwei Jahren. Durch die Corona-Pandemie ist das Vorhaben ins Stocken geraten. Die kroatische EU-Ratspräsi-dentschaft hat Anfang 2020 einen Kompromiss vorgelegt, der eine schrittweise Einführung der europäischen Nutzenbewertung vor-sieht. Die Kommission betont gleichzeitig, die nationalen Institutio-nen würden lediglich auf die Vorarbeit der europäischen Ebene zu-rückgreifen, Preisgestaltung und Erstattung von Arzneimitteln blie-ben in nationaler Verantwortung. Unklar ist nach wie vor, ob es die Möglichkeit geben soll, auf europäischer Ebene rechtlich gegen die Bewertungsergebnisse vorzugehen. Auch weitere Fragen, etwa zur Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Übernahme der Ergebnisse, sind noch offen. Bundesgesundheitsminister Spahn hat angekün-digt, im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2020 das Thema weiter vorantreiben zu wollen.

3.6.7 Literatur

Bundessozialgericht: Urteil vom 4. Juli 2018, AZ: B 3 KR 20/17 R, URL: www.bsg.bund.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/20 18/2018_07_04_B_03_KR_20_17_R.html (Abgerufen am: 16. Juli 2020)

Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg: Beschluss vom 1. März 2017, AZ: L 9 KR 437/16 KL ER, URL: www.gerichts-entscheidungen.berlin-brandenburg.de/jportal/?quelle=jlink&d o c i d = J U R E 1 7 0 0 2 6 1 7 5 & p s m l = s a m m l u n g .psml&max=true&bs=10 (Abgerufen am: 16. Juli 2020).

Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg: Urteil vom 28. Juni 2017, AZ: L 9 KR 72/16 KL, URL: www.gerichtsentscheidun-gen.berlin-brandenburg.de/jportal/?quelle=jlink&docid=JURE170036679&psml=sammlung.psml&max=true&bs=10 (Abge-rufen am: 16. Juli 2020).

Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deut-sche Krebshilfe, AWMF): Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Lungenkarzinoms, Langversion 1.0, 2018, AWMF-Registernummer: 020/007OL, URL: http://leitli-nienprogramm-onkologie.de/Lungenkarzinom.98.0.html (Ab-gerufen am: 16.07.2020).

Gemeinsamer Bundesausschuss (2017): Tragende Gründe zum Be-schluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL): Anlage XII – Beschlüsse über die Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen nach § 35 a SGB V – Crizotinib (neues An-wendungsgebiet: ROS1-positives, fortgeschrittenes nicht kleinzelliges Lungenkarzinom) vom 16. März 2017, URL:

Umsetzung des Gesetzesvorhaben

in 2020

Page 153: AMNOG-Report 2020 - DAK

1333 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

www.g-ba.de/downloads/40-268-4252/2017-03-16_AM-RL-XII_Crizotinib_D-261_TrG.pdf (Abgerufen am: 16. Juli 2020).

Griesinger et al. (2019): Leitlinie Lungenkarzinom, nicht-kleinzellig (NSCLC), URL: www.onkopedia.com/de/onkopedia/guideli-nes/lungenkarzinom-nicht-kleinzellig-nsclc/@@guideline/ht-ml/index.html (Abgerufen am 16. Juli 2020).

Page 154: AMNOG-Report 2020 - DAK

134 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

3.7 Rückblick und Ausblick aus Sicht der Arzneimittelkom-mission der deutschen Ärzteschaft

Ein Gastbeitrag von: Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig, Arzneimittelkom-mission der deutschen Ärzteschaft

3.7.1 Einleitung

Angesichts der deutlich gestiegenen Arzneimittelausgaben der Ge-setzlichen Krankenversicherung (GKV), die seit dem Jahr 2001 über den Ausgaben für ärztliche Behandlung lagen, wurde am 11. No-vember 2010 das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) verabschiedet, das laut einer Pressemitteilung des Bun-desministeriums für Gesundheit (BMG) einen „Dreiklang aus struk-turellen Veränderungen, dem Abbau von Überregulierung und kurz-fristigen Einsparungen“ zum Ziel hatte.173 Im Rahmen der Regelun-gen im AMNOG wurde ab dem Jahr 2011 die frühe Nutzenbewer-tung (FNB) zur leistungsgerechten Preisfindung von neuen patentgeschützten Arzneimitteln als wichtige Aufgabe des Gemein-samen Bundesausschusses (GBA) etabliert174 mit dem Ziel, eine zweckmäßige, qualitativ hochwertige und wirtschaftliche Arzneimit-telversorgung sicherzustellen.175 Die FNB verpflichtet den pharma-zeutischen Unternehmer (pU) seit dem 1. Januar 2011, unmittelbar nach Markteintritt seines erstattungsfähigen Arzneimittels mit neu-em Wirkstoff den Zusatznutzen gegenüber einer zweckmäßigen Vergleichstherapie nachzuweisen.176

Detaillierte Angaben und Ergebnisse der bisher durchgeführten Ver-fahren der FNB sowie zu den Ergebnissen der AMNOG-Erstattungs-verfahren finden sich auf der Homepage des GBA (www.g-ba.de/). Weitere Analysen sind regelmäßig erschienen u. a. in Buchkapiteln des Arzneiverordnungs-Reports (seit 2012 zur Nutzenbewertung von Arzneimitteln und seit 2016 zu den Ergebnissen des AMNOG-Erstattungsverfahrens) und in den AMNOG-Reporten der DAK-Ge-sundheit. Einen Überblick zu den insgesamt 111 Verfahren der frü-hen Nutzenbewertung (FNB), an denen sich die Arzneimittelkom-mission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) als zur Stellungnahme berechtigte Institution im Zeitraum von 2011 bis 2018 beteiligt hat, gibt ein Artikel, der im März 2019 in dem unabhängigen Informati-onsblatt der AkdÄ veröffentlicht wurde.177

Ziel dieses Buchbeitrags ist es, fast 10 Jahre nach Einführung des AMNOG aus Sicht der AkdÄ anhand der bisher durchgeführten Nut-zenbewertungen zu hinterfragen, ob das übergeordnete Ziel dieses Gesetzes – nämlich die Sicherstellung einer zweckmäßigen, quali-

173 Arzneimittelbrief (2010); Bundesministerium für Gesundheit (2010).174 Hecken (2017).175 von Stackelberg (2016).176 § 35 a SGB V.177 Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (2019).

Relevante AMNOG Analysen

Methodik

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1353 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

tativ hochwertigen und wirtschaftlichen Arzneimittelversorgung in Deutschland – erreicht werden konnte und welche Veränderungen im AMNOG-Verfahren bereits erfolgt bzw. noch notwendig sind.

Für die Bewertung und Interpretation der Ergebnisse der FNB von neuen Arzneimitteln ist es wichtig, zunächst kurz auf die Entwicklun-gen im Arzneimittelmarkt seit 2011 einzugehen, ebenso wie auf die seit 1995 sukzessive in der Europäischen Union (EU) eingeführten beschleunigten Zulassungsverfahren für neue Arzneimittel. Die aus den Trends im Arzneimittelmarkt und beschleunigten Zulassungs-verfahren resultierenden Probleme werden kurz dargestellt und dis-kutiert anhand der Ergebnisse der FNB für die heute unter den neu-en Arzneimitteln stetig ansteigende Zahl der Wirkstoffe zur Behand-lung von Krebserkrankungen (Onkologika) und seltenen Leiden (Orphan-Arzneimittel). Abschließend widmet sich dieser Beitrag Problemen der FNB und häufig geäußerter Kritik am AMNOG-Ver-fahren und stellt Vorschläge vor, welche Änderungen noch erforder-lich sind, um im Sinne eines „lernenden Systems“ das AMNOG-Ver-fahren weiterzuentwickeln.

3.7.2 Aktuelle Entwicklungen im Arzneimittelmarkt und Zulas-sungsverfahren für neue Arzneimittel in Europa

Seit Inkrafttreten des AMNOG im Jahr 2011 sind verschiedene Ent-wicklungen im Arzneimittelmarkt zu beobachten, die für die Interpre-tation der Ergebnisse der FNB relevant sind. Im Jahr 2010 vor Ein-führung des AMNOG wurden 23 Arzneimittel mit neuem Wirkstoff in Deutschland auf den Markt gebracht178, darunter 6 Orphan-Arznei-mittel und 4 Onkologika. Nur drei dieser neuen Arzneimittel wurden nach beschleunigten Verfahren zugelassen. Die Ausgaben der Ge-setzlichen Krankenversicherung (GKV) für patentgeschützte Arznei-mittel betrugen 2010 14,2 Mrd. Euro für insgesamt 72 Mio. Verord-nungen und unter den 30 umsatzstärksten Arzneimitteln befanden sich nur 2 Onkologika: Imatinib und Anastrozol.179 Im Vergleich zu 2010 wurden 2018 37 neue Wirkstoffe in Deutschland auf den Markt gebracht (davon 13 als Orphan-Arzneimittel und 9 Onkologika) und trotz AMNOG sind die Ausgaben der GKV für patentgeschützte Arz-neimittel im Jahr 2018 deutlich gestiegen – auf 19,8 Mrd. Euro – und gleichzeitig haben sich die Verordnungen verringert auf 42 Mio. Um-satzstärkste Arzneimittelgruppe sind seit 2014 die Onkologika mit Kosten im Jahr 2018 von 7,01 Mrd. Euro. Dabei ist zu berücksichti-gen, dass seit 2012 die Umsätze neben Fertigarzneimitteln auch einen größeren Anteil von Rezeptur-Arzneimitteln – häufig Onkolo-gika – enthalten.180 Diese Kostensteigerung bei Onkologika findet sich auch beim Vergleich der 50 umsatzstärksten patentgeschützten Arzneimittel im Jahr 2010 mit den 40 umsatzstärksten Arzneimittel-

178 Fricke, Schwabe (2011).179 Schwabe (2011).180 Schwabe, Ludwig, Paffrath, Klauber (2019).

Steigende, hohe Arzneimittelkosten

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136 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

gruppen im Jahr 2018. Während 2010 nur fünf der insgesamt 50 umsatzstärksten Arzneimittel Onkologika waren, befinden sich 2018 in der Gruppe der führenden 30 Arzneimittel (hinsichtlich Nettokos-ten) jetzt 11 Onkologika. Dabei entfällt der größte Anteil inzwischen auf monoklonale Antikörper sowie Proteinkinase-Inhibitoren (4,3 Mrd. Euro) und die höchste Kostensteigerungsrate wird verur-sacht durch hochpreisige, über längere Zeiträume verabreichte Kombinationstherapien (z. B. zur Behandlung des Multiplen Mye-loms: 687 Millionen Euro). Auch bei den 37 neuen Wirkstoffen, die im Jahr 2018 in Deutschland auf den Markt gebracht wurden, zeigen sich erhebliche Unterschiede gegenüber den Auswertungen im Jahr 2010.181 Für die Behandlung onkologischer bzw. hämatologischer Erkrankungen wurden 14 Arzneimittel und als Orphan-Arzneimittel inzwischen fast ein Drittel der neuen Wirkstoffe (13 von 37) zugelas-sen – häufig nach beschleunigten Verfahren.182

Diese Zahlen belegen einen Trend, der auch in den Jahren vor 2018 bereits zu beobachten war. In der Forschung und Entwicklung neuer Wirkstoffe konzentrieren sich pharmazeutische Unternehmer (pU) heute zunehmend auf Indikationen, die ökonomisch lukrativ für sie sind (neben Krebserkrankungen vor allem chronisch-entzündlich verlaufende Erkrankungen) und aufgrund der demographischen Entwicklung auch künftig häufig auftreten und/oder für deren be-schleunigte Zulassung finanzielle bzw. regulatorische Anreize von der Politik geschaffen wurden (z. B. Verordnung für Orphan-Arznei-mittel: kostenlose wissenschaftliche Beratung, Befreiung oder Er-mäßigung von Gebühren im Zulassungsverfahren, Marktexklusivität für 10 Jahre). Forschung und Entwicklung in anderen Anwendungs-gebieten mit großem Bedarf hinsichtlich besser wirksamer und ver-träglicher medikamentösen Therapieoptionen („unmet medical need“), wie beispielsweise Infektionen mit antibiotikaresistenten Kei-men oder Erkrankungen des zentralen Nervensystems, werden demgegenüber von pU aufgrund aufwendiger Forschung und Ent-wicklung für diese Indikationen meist vernachlässigt.

Die heute von pU vorwiegend entwickelten und von ihnen meist als Innovation bezeichneten Wirkstoffe erfüllen jedoch häufig nicht die Kriterien der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) für ein innovatives Arzneimittel: Es handelt sich um ein neues Arzneimittel zur Behandlung bisher nicht oder nur un-zureichend behandelbarer Krankheiten, das besser wirksam bzw. verträglich ist als die verfügbaren Wirkstoffe oder aber Vorteile für die Patienten bei der Applikation bzw. Einnahme bietet.183 Per se nicht als innovativ bezeichnet werden sollte demgegenüber ein neu-es Arzneimittel, das keinen zusätzlichen Nutzen gegenüber bereits existierenden Therapien aufweist.

181 Fricke, Hein, Schwabe (2019).182 Ludwig (2019a).183 OECD (2018).

Priorisierung von F&E auf lukrative

Indikationen

Me-too Präparate überwiegen

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1373 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Grundsätzlich wird für beschleunigte und reguläre Zulassungen in der EU verlangt, dass wissenschaftliche Nachweise zur pharmazeu-tischen Qualität, Wirksamkeit und medizinischen Unbedenklichkeit (Sicherheit) eines neuen Wirkstoffs zu erbringen sind und die für die Zulassung relevanten klinischen Studien in der Regel als „kontrol-lierte klinische Prüfung“ bzw. – soweit möglich – randomisiert durch-geführt werden sollten.184 Dabei ist im Vergleich mit dem neuen Wirkstoff je nach Einzelfall ein Placebo heranzuziehen oder aber ein bereits bekanntes Arzneimittel mit nachgewiesenermaßen thera-peutischem Wert. Die derzeitige Arzneimittelgesetzgebung in der EU verlangt jedoch nicht explizit, dass neue Arzneimittel verglichen werden mit den häufig bereits auf dem Markt vorhandenen alterna-tiven Wirkstoffen. Der im Zusammenhang mit dem AMNOG-Verfah-ren gelegentlich erhobenen Forderung, nur neue Arzneimittel mit einem bewiesenen Zusatznutzen („added therapeutic benefit“) zu-zulassen, wurde von führenden Vertretern der Europäischen Arznei-mittel-Agentur (EMA) jedoch widersprochen, da dies die wissen-schaftlich gerechtfertigte Flexibilität bei der Entwicklung und Zulas-sung von Arzneimitteln beeinträchtigen würde.185 Stattdessen wurde ein als „evidence by design“ bezeichnetes Vorgehen empfohlen, dass eine Quantifizierung des nachzuweisenden Zusatznutzens vor Beginn der für die Zulassung relevanten Studie vorsieht.

Als Gründe für das Festhalten an den für die Zulassung derzeit gül-tigen regulatorischen Anforderungen – der Nutzen („benefit“) eines neuen Arzneimittels überwiegt dessen Risiken – werden von der EMA vor allem vier Gründe genannt:

• Das Kriterium des belegten Zusatznutzens zum Zeitpunkt der Zu-lassung würde den Markteintritt von sogenannten „me too“ Arz-neimitteln verhindern, die aber aufgrund von Unterschieden im Sicherheitsprofil, in den Arzneimittelinteraktionen und/oder in ih-rer Wirksamkeit im Rahmen der Verordnung neuer Arzneimittel benötigt werden.

• Aufgrund bekannter oder auch noch unbekannter Patientenmerk-male kann sich das Ansprechen individueller Patienten auf unter-schiedliche Arzneimittel einer Wirkstoffklasse unterscheiden.

• Die Patientenpräferenzen (z. B. hinsichtlich Maximierung der Wirksamkeit bzw. Minimierung von Nebenwirkungen) unterschei-den sich und nur ein zugelassenes Arzneimittel einer Wirkstoff-gruppe würde eine individuelle Auswahl für Patienten und Ärzte unmöglich machen.

• Das Kriterium des etablierten Zusatznutzens würde auch dem Ziel, die Kosten für Arzneimittel stärker zu kontrollieren, wider-sprechen, da mehrere ähnliche Arzneimittel auf dem Markt zu

184 Ludwig (2019a).185 Eichler, Enzmann, Rasi (2019).

Gleicher wissen-schaftlicher Anspruch?

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138 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

einer Erniedrigung der Preise beitragen könnten und Monopole verhindern würden.

Von den Zulassungsbehörden – zunächst von der Food and Drug Administration (FDA) in den USA und später auch in Europa von der EMA – wurden in den letzten 25 Jahren mehrere beschleunigte Zu-lassungsverfahren etabliert mit dem Ziel, Patienten mit schweren Erkrankungen einen rechtzeitigen Zugang zu neuen Arzneimitteln zu ermöglichen.186 Die Vorreiterrolle der FDA bei der Etablierung be-schleunigter Zulassungsverfahren resultierte im Wesentlichen aus dem Druck von Interessengruppen, neue Wirkstoffe zur Behandlung von AIDS den Patienten rasch zur Verfügung zu stellen. Dabei sollte jedoch ausreichende klinische Evidenz für die Wirksamkeit eines neuen Arzneimittels – in der Regel aus mehr als einer kontrollierten klinischen Prüfung vor der Zulassung – vorliegen und angesichts des schnelleren Markteintritts vielversprechender Wirkstoffe zur Be-handlung schwerer Erkrankungen nach Zulassung eine kontinuierli-che Überwachung ihrer Wirksamkeit und Sicherheit erfolgen.

In der EU existieren derzeit neben der Verordnung für Orphan-Arz-neimittel187 vier unterschiedliche Verfahren für eine beschleunigte Zulassung neuer Arzneimittel – bedingte Zulassung, Zulassung un-ter außergewöhnlichen Umständen, beschleunigte Beurteilung so-wie PRIME (PRIORITY MEDICINES) –, die zunächst mit der Zulas-sung unter außergewöhnlichen Umständen im Jahr 1995 sukzessi-ve eingeführt wurden. Sehr relevant für die Interpretation der Ergeb-nisse der FNB ist auch die genaue Kenntnis der Anforderungen an Arzneimittel, die nach den derzeit existierenden Verfahren für eine beschleunigte Zulassung bzw. Verordnung für Orphan-Arzneimittel auf den Markt gekommen sind.

Eine ausführliche und aktuelle Darstellung der beschleunigten Zu-lassungsverfahren in der EU, der häufig begrenzten Kenntnisse über Wirksamkeit und Sicherheit der demgemäß zugelassenen neu-en Arzneimittel sowie der Anforderungen an die Ausweisung und Zulassung von Orphan-Arzneimitteln finden sich im Arzneiverord-nungs-Report 2019.188 Ähnliche Ergebnisse zu der zum Zeitpunkt der Zulassung häufig unzureichend belegten Wirksamkeit und Si-cherheit von Orphan-Arzneimitteln finden sich auch in Publikationen aus den USA.189 Der von pU immer wieder reklamierte, angeblich durch die Zulassung bereits belegte Zusatznutzen von Orphan-Arz-neimitteln190 konnte auch in Untersuchungen zehn Jahre nach der Zulassung nicht immer durch aussagekräftige Erkenntnisse aus kli-nischen Studien nachgewiesen werden.191

186 Ludwig (2019a).187 Ludwig (2019b); Ludwig, Schwabe (2019).188 Ludwig (2019b).189 Kesselheim et al. (2011); Sarpatwari, Kesselheim (2019).190 Sydow, Throm (2019).191 Joppi et al. (2013); Joppi et al. (2016).

FDA-Trend be-schleunigter Zulassungen

Beschleunigte Zu-lassungsverfahren

der EMA

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1393 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Die Ursachen für eine unzureichende oder begrenzte Evidenz zur Wirksamkeit und Sicherheit neuer Arzneimittel zum Zeitpunkt der Zulassung werden in kritischen Kommentaren zu den Ergebnissen der frühen Nutzenbewertung in Deutschland (z. B. nicht belegter Zu-satznutzen bzw. nicht quantifizierbar Zusatznutzen) meist ver-schwiegen bzw. nicht ausreichend analysiert. Die Zulassungen in der Onkologie basieren meist auf den Ergebnissen von nur einer, fast immer vom pU gesponserten und konzipierten klinischen Stu-die, die überwiegend als offene und eher selten als doppelblinde, randomisierte, kontrollierte Studie durchgeführt wurde. Bei der Mehrzahl dieser Arzneimittel war zum Zeitpunkt der Zulassung eine Verlängerung des Überlebens oder eine Verbesserung der gesund-heitsbezogenen Lebensqualität nicht belegt. Ein Umdenken bei der Zulassung neuer Arzneimittel in Europa ist deshalb erforderlich, da-mit zum Zeitpunkt der Zulassung ausreichende Evidenz zur Wirk-samkeit und Sicherheit zur Verfügung steht. Es sollten deshalb wie-der vermehrt aktiv-kontrollierte Phase-III-Studien durchgeführt wer-den, in denen – sofern möglich – neue Wirkstoffe mit etablierten medikamentösen Therapien in Phase-III-Studien verglichen werden anhand klinischer Endpunkte, die für Patienten relevant sind. Dies erfordert aber Änderungen sowohl auf Ebene der EU – beispielswei-se durch Beseitigung der offensichtlichen Mängel im derzeitigen Zu-lassungsverfahren und sinnvolle Anpassung der regulatorischen Anforderungen – als auch auf der politischen Ebene durch klare Be-nennung von Indikationen mit fehlenden oder unzureichenden medi-kamentösen Therapiemöglichkeiten und dementsprechend stärke-rer Ausrichtung der Forschung und Entwicklung an diesen Indikatio-nen.

Dies soll im Folgenden kurz am Beispiel der onkologischen Arznei-mittel – darunter auch zahlreiche Orphan-Arzneimittel – erläutert werden. Systematische Übersichtsarbeiten aus den USA und Euro-pa haben wiederholt auf die Mängel hingewiesen in den für Onkolo-gika relevanten („pivotal“) Zulassungsstudien, die die Übertragbar-keit vieler Ergebnisse zu neuen Wirkstoffen auf die Behandlung von Patienten unter Alltagsbedingungen in Klinik oder Praxis (externe Validität) erheblich einschränken. Hierzu zählen vor allem: sehr eng gefasste Ein- und Ausschlusskriterien, die überwiegende Verwen-dung von Surrogat- (z. B. Ansprechrate und progressionsfreies Überleben) bzw. kombinierten Endpunkten statt des Nachweises von Überlegenheit in patientenrelevanten Endpunkten (z. B. Verlän-gerung der Überlebenszeit oder Verbesserung der gesundheitsbe-zogenen Lebensqualität) und die meist sehr kurzen Zeiträume der Behandlung bzw. Nachbeobachtung (z. B. Prasad et al. 192). Infolge dieser beschleunigten Verfahren verkürzen sich die Zeiträume für die klinische Forschung und/oder die Begutachtung der für die Zu-lassung eingereichten Unterlagen und die bei Zulassung vorliegen-de Evidenz zu Wirksamkeit und Sicherheit erlaubt häufig nicht eine

192 Prasad et al. (2015).

Notwendiges Umdenken der Zulassungsanfor-derungen

Beispiel mangeln-der Evidenz bei Onkologika

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140 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

fundierte endgültige Nutzenbewertung neuer Onkologika bzw. Or-phan-Arzneimittel.

Die FNB von Orphan-Arzneimitteln wird in Deutschland maßgeblich durch die gesetzliche Vorgabe geprägt, dass der medizinische Zu-satznutzen gemäß AMNOG durch die europäische Zulassung als belegt gilt.193 Dadurch unterscheiden sich die Nutzenbewertungen bei Orphan-Arzneimitteln deutlich von den Ergebnissen der Nicht-Orphan-Arzneimittel. Bei etwa 25 % der von der EMA im Zeitraum 2011–2018 zugelassenen Orphan-Arzneimittel erfolgte keine FNB, da es sich nicht um Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen gemäß § 35 a SGB V handelte, bei denen also kein Unterlagenschutz für das erst-malig zugelassene Arzneimittel mit dem Wirkstoff besteht.194 Die derzeit vorliegenden 117 Beschlüsse zur FNB von Orphan-Arznei-mitteln zeigen, dass bei mehr als der Hälfte dieser Wirkstoffe ein nicht quantifizierbarer (N = 67) bzw. nicht belegter Zusatznutzen festgestellt wurde und nur bei 20 Arzneimitteln ein beträchtlicher bzw. bei einem Orphan-Arzneimittel sogar ein erheblicher Zusatz-nutzen konstatiert wurde (vgl. Abbildung 21).

Abbildung 21: Ausmaß des Zusatznutzens – Orphan Drugs

Quelle: Eigene Auswertung, Stand 14.05.2020.

Angesichts dieser enttäuschenden Ergebnisse in der FNB von Or-phan-Arzneimitteln, die von pU bereits seit mehreren Jahren auf-grund der erleichterten Anforderungen an die Zulassung (s. o.) und des steten Umsatzwachstums infolge hoher Preise als sehr lukrati-ves Geschäftsfeld entdeckt wurden, gilt es jetzt – auch um einen weiteren Missbrauch der bestehenden Regularien zu verhindern –

193 Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) (2010).194 Ludwig (2019b).

Gesetzliche Ausnahme

Orphan Drugs

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1413 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

wirksame Reformen in Europa (auch den USA) für die Ausweisung und Zulassung von Orphan-Arzneimitteln rasch umzusetzen.195

Weitere Probleme, die derzeit im Rahmen der frühen Nutzenbewer-tung infolge der zunehmend beschleunigten Zulassungsverfahren bei neuen Arzneimitteln zu beobachten sind, verdeutlicht eine aktu-elle Untersuchung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG).196 Analysiert wurde der Zusatznutzen der in den Jahren 2011–2017 neu auf den deutschen Markt gekom-menen 216 Arzneimittel, darunter 152 mit neuen Wirkstoffen und 64 Arzneimittel, die für eine neue Indikation zugelassen wurden. Nur für 54 der 216 Arzneimittel (25 %) wurde ein erheblicher oder be-trächtlicher Zusatznutzen konstatiert, wohingegen bei 125 Arznei-mitteln die zum Zeitpunkt der Zulassung vorliegende Evidenz keinen Zusatznutzen gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie hin-sichtlich Mortalität, Morbidität oder gesundheitsbezogener Lebens-qualität ergab. Dieser fehlende Zusatznutzen wurde besonders häu-fig bei Arzneimitteln zur Behandlung von Diabetes oder neurologi-schen bzw. psychiatrischen Krankheiten beobachtet. Ein Grund hierfür könnte sein, dass im Rahmen der Zulassungsstudien bei diesen Indikationen häufig weiterhin Placebo als Vergleichsarm ak-zeptiert wird. Ähnliche Ergebnisse zeigen die aktuelle Auswertung aller GBA Beschlüsse zu neuen Wirkstoffen bzw. Arzneimitteln mit neuer Indikation (N = 471, Stand: 14. Mai 2020) zum Ausmaß des Zusatznutzens. Nur bei etwa 20 % dieser Arzneimittel wurde ein be-trächtlicher oder – sehr selten – ein erheblicher Zusatznutzen kons-tatiert (vgl. Abbildung 22).

195 Ludwig (2019b); Sarpatwari, Kesselheim (2019).196 Wieseler et al. (2019)

Geringe Aussage-kraft bei beschleunigten Zulassungen

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142 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

Abbildung 22: AMNOG – Nutzenbewertung nach § 35 a SGB V (Ausmaß des Zusatznutzens)

Quelle: Eigene Auswertung, Stand: 14.05.2020.

Die AkdÄ hat sich an etwa einem Drittel dieser Verfahren zur FNB beteiligt und den Zusatznutzen ebenfalls nur in 21 % als erheblich oder beträchtlich bewertet (vgl. Abbildung 23).

Abbildung 23: AkdÄ-Bewertung: Ausmaß des Zusatznutzens

Quelle: Eigene Auswertung, Stand: 14.05.2020.

Die Konzentration der pU auf die Entwicklung onkologischer Arznei-mittel wird auch in der Untersuchung des IQWiG deutlich an der

Konzentrationauf Onkologika

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1433 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Zahl der im o. g. Zeitraum auf den Markt gekommenen Onkologika: mehr als ein Drittel (N = 82) der insgesamt 216 Arzneimittel.197 Die Bewertung des Zusatznutzens dieser Arzneimittel in der FNB fiel bei insgesamt 193 Beschlüssen positiver aus (vgl. Abbildung 24), – ver-mutlich, da neue onkologische Wirkstoffe häufiger für Zweitlinienthe-rapien nach Versagen der primären Therapie zugelassen wurden, für die gut wirksame medikamentöse Alternativen nicht immer zur Verfügung stehen.

Abbildung 24: AMNOG – Nutzenbewertung nach § 35 a SGB V (Ausmaß des Zusatznutzens – onkologische Erkrankungen)

Quelle: Eigene Auswertung, Stand: 14.05.2020

Allerdings wurde nur in etwa 45 % der Beschlüsse des GBA ein be-legter Zusatznutzen konstatiert. Dabei fand sich auch in dieser Indi-kation eine gute Übereinstimmung zwischen den Bewertungen der AkdÄ und den Beschlüssen des GBA, da bei Beteiligung an 66 der 193 Beschlüssen in 40 % ein belegter Zusatznutzen gesehen wurde (vgl. Abbildung 25).

197 Wieseler, McGauran, Kaiser (2019).

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144 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

Abbildung 25: AkdÄ-Bewertung: Ausmaß des Zusatznutzens – onkologi-sche Erkrankungen

Quelle: Eigene Auswertung, Stand: 14.05.2020.

Angesichts dieser Ergebnisse bei der FNB neuer Arzneimittel for-dern die Autoren des IQWiG zu Recht ein Umdenken bei der Zulas-sung. Es sollten wieder vermehrt aktiv-kontrollierte Phase-III-Studi-en – sofern möglich im Vergleich zu bereits etablierten Therapien – durchgeführt werden mit Endpunkten, die für Patienten relevant sind. Innovative Arzneimittel, die zur Behandlung bisher nicht oder nur unzureichend therapierbarer Krankheiten entwickelt wurden und die besser wirksam bzw. verträglich sind als die derzeit verfügbaren Wirkstoffe oder aber Vorteile für Patienten bei der Applikation bzw. Einnahme bieten198, sollten im Rahmen der Erstattung bzw. Preis-festsetzung auch durch höhere Preise belohnt werden. Darüber hin-aus sollte vor allem bei beschleunigten Zulassungsverfahren bzw. Orphan-Arzneimitteln und künftig auch bei Arzneimitteln für neuarti-ge Therapien (ATMP: Advanced Therapy Medicinal Products) weite-re Evidenz zur Wirksamkeit und Sicherheit neuer Wirkstoffe nach der Zulassung rasch generiert werden, da Ärzte und Patienten diese Informationen dringend benötigen, um neue Arzneimittel gezielt und sicher einsetzen zu können.

Wichtig für das Verfahren der FNB ist auch die Tatsache, dass Si-cherheit bzw. Nebenwirkungen neuer Wirkstoffe anhand der aus Zu-lassungsstudien vorliegenden Ergebnisse nur sehr eingeschränkt beurteilt werden können, da aufgrund der mitunter kleinen Patien-tenzahlen, vor allem bei beschleunigten Zulassungsverfahren und Orphan-Arzneimitteln, und der mitunter kurzen Studiendauer bzw.

198 OECD (2018); Wieseler et al. (2019).

Notwendige höhe-re Evidenzanforde-

rungen bei Zulas-sung

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1453 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Nachbeobachtung fast ausschließlich (sehr) häufige bzw. akut auf-tretende Nebenwirkungen erfasst werden.199

3.7.3 Kritik am AMNOG – berechtigt?

In den letzten Jahren sind zahlreiche Artikel erschienen, die aus Sicht der am AMNOG-Verfahren beteiligten Akteure (pU, medizini-sche Fachgesellschaften, AkdÄ, GKV) auf vermeintliche Mängel und Herausforderungen in der frühen Nutzenbewertung hingewie-sen und mitunter auch konkrete Vorschläge für Änderungen im Ver-fahren bzw. Anpassungsbedarf bei der Preisbildung unterbreitet ha-ben.200

So wurde beispielsweise 2017 in einem Bericht der vom vfa zum Thema: „Sind GBA-Beschlüsse für die Versorgungssteuerung ge-eignet?“ auf Widersprüche von Leitlinienempfehlungen und GBA-Beschlüssen zur FNB am Beispiel der Onkologie hingewiesen.201 In dieser Untersuchung wurde gezeigt, dass 38 % der Patientengrup-pen aus den GBA-Beschlüssen zu onkologischen Arzneimitteln nicht mit den Leitlinien übereinstimmen und dass bei 60 % der Pati-entengruppen die Empfehlungen in den Leitlinien nicht mit den GBA-Beschlüssen übereinstimmen. Ein Vergleich der Datengrund-lage der berücksichtigten Leitlinien bzw. der GBA Beschlüsse erfolg-te in dieser Untersuchung jedoch nicht.

Viele Arzneimittel ohne belegten Zusatznutzen im Beschluss des GBA wurden trotzdem in den Leitlinien als Therapieoption empfoh-len und stellen somit aus Sicht der Autoren dieses Berichts einen unverzichtbaren Anteil des therapeutischen Spektrums dar. Diese Untersuchung suggerierte, dass die Beschlüsse des GBA im Unter-schied zu den Leitlinien nicht auf die konkrete Behandlungssituation des Arztes ausgerichtet sind, sondern primär auf die Preisregulie-rung und Wirtschaftlichkeit des betreffenden Medikaments. Grundla-ge dieser Untersuchung war der Vergleich von klinischen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DG-HO) mit den GBA Beschlüssen, mit dem die Übereinstimmung bzw. Widersprüche in der Patientengruppenbildung sowie zwischen GBA Beschluss und Leitlinienempfehlung überprüft wurden. Nicht be-rücksichtigt wurde bei dieser Untersuchung jedoch sowohl die zum Zeitpunkt der Zulassung häufig noch unzureichende Evidenz hin-sichtlich des therapeutischen Zusatznutzens bzw. der Nebenwirkun-gen neuer Onkologika infolge Zulassung nach beschleunigten Ver-fahren und/oder als Orphan-Arzneimittel als auch die begrenzte Aussagekraft klinischer Leitlinien, vor allem aufgrund der zum Zeit-punkt der Veröffentlichung der Leitlinie mitunter veralteten Recher-chen, unvollständigen Datenbasis bei Aussage zu neuen Arzneimit-teln und nicht systematischen Bewertung der gerade in der Onkolo-

199 Ludwig (2019a).200 Litsch et al. (2019); Haas et al. (2019).201 Ruof et al. (2017).

Leitlinien vs. G-BA-Beschlüsse

Therapieoption ohne Zusatznutzen als therapeuti-sches Spektrum

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gie so wichtigen gesundheitsbezogenen Lebensqualität (Kaiser, T., persönliche Mitteilung).

Die Analyse von insgesamt 41 AMNOG-Verfahren zu onkologischen Indikationen und 21 Verfahren zu Antidiabetika mit Beschlussfas-sung durch den GBA bis August 2015 ergab ebenfalls nicht selten eine unterschiedliche Positionierung zwischen den beteiligten medi-zinischen Fachgesellschaften, AkdÄ, IQWiG und/oder GBA, die häufiger bei Antidiabetika als bei Onkologika auftrat.202 Darüber hin-aus zeigte diese Analyse, dass der GBA-Beschluss in beiden An-wendungsgebieten häufiger mit den Bewertungen der AkdÄ über-einstimmte als mit der Positionierung der medizinischen Fachgesell-schaften.203 Die Autoren unterstreichen die insgesamt hohe Bereit-schaft zur Teilnahme an den Verfahren zur Stellungnahme, betonen jedoch auch die Notwendigkeit eines intensiveren Diskurses im Rahmen der frühen Nutzenbewertung infolge der sehr heterogenen Positionierungen sowohl zwischen medizinischen Fachgesellschaf-ten und AkdÄ bzw. IQWiG und/oder GBA als auch zwischen medizi-nischen Fachgesellschaften und AkdÄ. Bemängelt wird in dieser Li-teraturanalyse auch, dass die Berücksichtigung und Würdigung der Stellungnahmen im Beschluss des GBA nicht ausreichend transpa-rent beschrieben werden. Diese Transparenz sei jedoch erforderlich, um die Gründe der abweichenden Positionen zwischen den o. g. In-stitutionen bzw. Fachgesellschaften detailliert zu analysieren.

Kritik wurde auch wiederholt geäußert an unterschiedlichen Ergeb-nissen der frühen Nutzenbewertung beim Vergleich der Beurteilun-gen des IQWiG und Entscheidungen des GBA. Als mögliche Grün-de hierfür wurden genannt Unterschiede in der Betrachtung von Subgruppen sowie in der Interpretation von Endpunkten in klini-schen Studien bzw. der vom pU in seinem Dossier zum neuen Arz-neimittel vorgelegten Studienergebnisse. Differenzen zeigten sich außerdem in der Bewertung zusätzlicher Evidenz, die sich aus den Addenda ergab, die im Rahmen der Anhörungen zur FNB vom pU angefordert wurden.

Außerdem wurde vermutet, dass ein negatives Ergebnis in der FNB einen wesentlichen Grund darstellt für eine Marktrücknahme des je-weiligen Arzneimittels durch den pU.204 In wissenschaftlichen Publi-kationen – meist in gesundheitsökonomischen Zeitschriften – wurde darauf hingewiesen, dass im Zeitraum zwischen Januar 2011 und Juni 2016 bei insgesamt 22 von 139 bewerteten Medikamenten eine Marktrücknahme erfolgte infolge von „Opt-out“ bzw. Beendigung der Bereitstellung des jeweiligen Arzneimittels im deutschen Markt. Die-se Marktrücknahmen betrafen insgesamt 14 unterschiedliche Indi-kationsgebiete. Begründet wurden die Ergebnisse dieser Analyse mit deutlichen Unterschieden entweder in den Empfehlungen klini-scher Leitlinien oder zwischen klinischen Leitlinien und den Be-

202 Bleß et al. (2018).203 Bleß et al. (2018).204 Dintsios et al. (2019).

Diskurs über hete-rogene Positionie-

rungen wün-schenswert

Entscheidungs-divergenz

IQWiG vs. G-BA

Anpassung der Zusammenarbeit

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1473 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

schlüssen des GBA. Eine Optimierung der Patientenversorgung er-fordere nach Ansicht der Autoren sowohl eine bessere Anpassung der FNB an die klinische Perspektive als auch engere Zusammenar-beit aller beteiligten Akteure (GBA, IQWiG, AkdÄ, medizinische Fachgesellschaften, Patientenvertreter).205

In dem aktuellen, vom Bundesverband der pharmazeutischen In-dustrie e. V. (BPI) erstellten Bericht zu den „AMNOG-Daten 2019“ wird dementsprechend auch ein „Barriere-Effekt“ des AMNOG pos-tuliert, der angeblich sogar zu einer Versorgungshürde bei neuen Arzneimitteln führen soll.206 Begründet wird dies mit der Beobach-tung, dass im Zeitraum von 2011 bis 2017 die Verfügbarkeitsquote der von der EMA zugelassen Arzneimittel auf 83,8 % zurückgegan-gen ist und somit 39 von 240 neu zugelassenen Wirkstoffen auf dem deutschen Markt nicht zur Verfügung stehen, da sie gar nicht einge-führt wurden. Die Autoren dieses Berichts räumen jedoch ein, dass Begründungen der pU für den Verzicht auf den Markteintritt meist nicht vorliegen. Ob dadurch die Versorgung der Patienten mit „fort-schrittlichen Arzneimitteltherapien“ beeinträchtigt ist, sollte aus Sicht des BPI aber weiter untersucht werden. Darüber hinaus wird in die-sem Bericht kritisiert, dass ein hoher Prozentsatz der im Zeitraum von 2011 bis 2018 durchgeführten AMNOG-Verfahren zu dem Er-gebnis „kein Zusatznutzen belegt“ (44 %) gekommen ist – ganz überwiegend infolge formaler oder methodischer Gründe. Auf die tatsächlichen Gründe für diese Bewertungen, wie beispielsweise „Abweichungen von den Anforderungen des GBA bei der zweckmä-ßigen Vergleichstherapie, bei der bestverfügbaren Evidenz, bei di-rekten oder indirekten Vergleichen, im Studiendesign, bei Surrogat-parametern u. a.“ weisen die Autoren zwar hin, betonen aber gleich-zeitig, „dass Arzneimittel ohne attestierten Zusatznutzen nicht doch im Versorgungsalltag von therapeutischem Vorteil sein können“. Auf Herausforderungen und Probleme, die sich aus den o. g. Mängeln in den für die Zulassung relevanten klinischen Studien ergeben, gehen die Autoren dieses Berichts jedoch nicht ein. Außerdem werden die in erneuten Nutzenbewertungen angeblich nicht selten abweichen-den Ergebnisse von der initialen frühen Nutzenbewertung zu Recht als Hinweis dafür interpretiert, dass mit der ersten FNB des GBA noch kein abschließendes Urteil über den therapeutischen Wert neuer Arzneimittel gefällt werden kann.

Dem angeblichen „Barriereeffekt“ bzw. der „Gefährdung der Arznei-mittelversorgung durch die Wirkung des AMNOG“ wurde vom Vorsit-zenden des GBA ganz klar widersprochen. Die bislang zu beobach-tenden Marktaustritte sind eher als „Ausdruck von rein ökonomi-schem Kalkül und unternehmerischen Entscheidungen“ zu interpre-tieren, die darauf beruhen, „dass der Preis, der sich aus den Preisverhandlungen ergibt, den unternehmerischen Erwartungen insoweit nicht entspricht, als ein Vertrieb in Deutschland auf Grund-

205 Staab et al. (2018).206 Cassel, Ulrich (2019).

Methodische Abweichungen durch pU

Keine Versor-gungsdefizite bei Marktaustritten

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148 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

lage eben dieser unternehmerischen Zwänge nicht erfolgt“. Darüber hinaus standen für alle bisher erfolgten Marktaustritte in den jeweili-gen Anwendungsgebieten Therapiealternativen in ausreichender Zahl zur Verfügung, sodass eine Versorgung der Patienten mit wirk-samen Arzneimitteln keineswegs gefährdet war oder ist.207

In einem aktuellen Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) und der DGHO zum Thema „Frühe Nutzenbewertung neuer Arznei-mittel in Deutschland, 2011–2018 („Gerechtigkeit und Nachhaltig-keit“, Mai 2019) wurden über 340 AMNOG-Verfahren mit über 680 Subgruppen ausgewertet, die bis Ende 2018 mit einem Be-schluss des GBA beendet wurden.208 Im Vorwort dieses Positionspa-pier wird betont, „dass neue Arzneimittel Hoffnungsträger für Hei-lung, für ein längeres Leben, für die Linderung von Leiden oder die Vorbeugung von Krankheiten sind. Deshalb sei der Zugang zu neu-en Arzneimitteln für die AWMF und DGHO ein zentrales Thema“. Hingewiesen wird anhand dieser Analyse u. a. auf die sehr unter-schiedlichen Bewertungen neuer Arzneimittel in den einzelnen Fachgebieten, die nicht alle Situationen abdeckenden derzeitigen Bewertungskategorien der Nutzenbewertung und die nicht kongru-enten Kriterien zur Bildung von Subgruppen und zur Bewertung der-selben Studiendaten bei Zulassung, früher Nutzenbewertung und bei der Erstellung von Leitlinien.

Aufgrund ihrer Auswertung vermuten AWMF und DGHO, dass „die aktuelle Methodik und die Spruchpraxis des GBA eher für Arzneimit-tel mit kurzfristig messbarem Nutzen als für chronische Erkrankun-gen geeignet ist“.

Auch in diesem Positionspapier werden jedoch weder die aktuellen Entwicklungen im Arzneimittelmarkt (s. o.) ausreichend gewürdigt, noch erfolgt eine gründliche Analyse der Anforderungen an klinische Studien im Rahmen der häufig beschleunigten Zulassungen in der Onkologie, die nicht selten nur unzureichende Evidenz ergeben im Hinblick auf den Zusatznutzen und die Sicherheit neuer Arzneimittel .209 Dass deshalb die Beschlüsse im Rahmen der FNB und Empfeh-lungen in klinischen Leitlinien mitunter nur eine Momentaufnahme darstellen und nach Vorliegen weiterer Studienergebnisse ggf. rasch revidiert werden müssen, ist offensichtlich.

3.7.4 Resümee und Blick voraus aus Sicht der Arzneimittel-kommission der deutschen Ärzteschaft

Die aus Sicht der AkdÄ derzeit 3 wichtigsten Zukunftsthemen sind in Abbildung 6 dargestellt. Die Probleme bei der FNB von Orphan-Arz-neimitteln sind bereits im Abschnitt zu „Aktuelle Entwicklungen im

207 Hecken (2017).208 Wörmann, Hallek (2019).209 Ludwig (2019a).

Positionspapier AWMF und DGHO

Kritik: fehlende Berücksichtigung

von Entwicklungen + Analysen

Reguläre Nutzen-bewertung für Orphan Drugs

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1493 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Arzneimittelmarkt und Zulassungsverfahren für neue Arzneimittel in Europa“ ausführlich diskutiert worden. Die AkdÄ – zusammen mit dem IQWiG – hatte sich bereits vor Etablierung des AMNOG gegen eine Ausnahmeregelung bei Orphan-Arzneimitteln ausgespro-chen210 und hält weiterhin die reguläre Nutzenbewertung der Or-phan-Arzneimittel für notwendig, auch aufgrund des häufig nicht quantifizierbaren Zusatznutzens sowie des steten Umsatzwachs-tums bei diesen Wirkstoffen infolge der hohen Preise. Der offen-sichtliche Missbrauch des Orphan-Drug-Status, um einer fairen Nut-zenbewertung zu entgehen, sollte jetzt endlich beendet werden.211 Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wurde bereits durch das Ge-setz zu mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) im § 35 a Absatz 1 Satz 12 unternommen, da in die Berechnung der Schwellenwerte für den Umsatz eines Orphan-Arzneimittels künftig auch die stationären Kosten einzubeziehen sind (s. u.).212

Wegen der Zunahme beschleunigter Zulassungsverfahren mit häu-fig unzureichender Evidenz für bessere Wirksamkeit gegenüber der ZVT sowie ausreichende Sicherheit der neuen Arzneimittel sollten pU auch verstärkt aussagekräftige Ergebnisse zur gesundheitsbe-zogenen Lebensqualität bzw. den von Patienten berichteten Symp-tomen („Patient-Reported Outcomes“) vorlegen.213

Darüber hinaus hält es die AkdÄ weiterhin für geboten, dass bei unzureichender Evidenz für die Beurteilung des Zusatznutzens neu-er Arzneimittel eine Befristung der Beschlüsse zur FNB erfolgt. Nach Ablauf der Befristung sollte eine „späte Nutzenbewertung“214 erfol-gen und ggf. Sanktionen gegenüber dem pU ausgesprochen wer-den, falls nach Ablauf der Befristung keine weiteren Ergebnisse zur Wirksamkeit und Sicherheit des jeweiligen Arzneimittels eingereicht wurden.

Darüber hinaus ist aus Sicht der AkdÄ angesichts der mannigfalti-gen Auswirkungen von finanziellen Interessenkonflikten auf die Be-wertung von Arzneimitteln (z. B. im Rahmen der FNB) und Erstellung von Empfehlungen zur medikamentösen Therapie in Leitlinien215 ei-ne transparente Deklaration der Interessenkonflikte in der „Zusam-menfassenden Dokumentation“ bzw. im Wortprotokoll der mündli-chen Anhörung zu einem neuen Arzneimittel bzw. Indikationsgebiet erforderlich – und zwar für alle medizinischen Experten, die von der AWMF und der AkdÄ an der Erstellung der schriftlichen Stellung-nahmen zu Arzneimitteln im Rahmen des AMNOG-Verfahrens be-teiligt sind bzw. diese Gremien in der Anhörung zu den Stellungnah-men vertreten.

210 Windeler et al. (2010).211 Mühlbauer (2019).212 Bundesministerium für Gesundheit (2019).213 Babac et al. (2019).214 Glaeske et al. (2017).215 Lieb et al. (2018).

Lebensqualität

Späte Nutzen-bewertung?

Finanzielle Interes-senkonflikte deklarieren

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150 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

Bei der vom GBA beim IQWiG beauftragten ergänzenden Bewer-tung (Addendum) zu einem Auftrag im Rahmen der Nutzenbewer-tung gemäß § 35 a SGB V sollte auch den an der Stellungnahme beteiligten Institutionen die Möglichkeit eingeräumt werden, die Er-gebnisse der zusätzlichen Bewertung zu sehen und ggf. zu kom-mentieren.

Die AkdÄ hat sich in verschiedenen Stellungnahmen, zuletzt 2019, zum AMNOG und dem Verfahren der FNB von Arzneimitteln geäu-ßert.216 Darüber hinaus hat die AkdÄ verschiedene der in den letzten Jahren bzw. Monaten erfolgten Anpassungen und Änderungen im AMNOG-Verfahren ausdrücklich begrüßt. Sie verdeutlichen, dass der GBA die Funktion des AMNOG als „Lernendes System“ ernst nimmt und adäquat umsetzt. Hierzu zählen vor allem:

• die verstärkte Zusammenarbeit des GBA mit dem Europäischen Netzwerk der HTA-Institutionen (EUnetHTA) und der EMA (bspw. im Rahmen der Beratung – „Early Dialogues“ bzw. „Scientific Ad-vice“ – zur Planung der für die Zulassung relevanten („pivotal“) Studien der Phase-III;

• die mit dem Gesetz zur Stärkung der Arzneimittelversorgung in der GKV geschaffene Grundlage für die elektronische Arzneimit-telinformationen-Verordnung (EAMIV) zur Veröffentlichung der maschinenlesbaren Fassung der Beschlüsse des GBA zur FNB mit dem Ziel, Informationen aus dem Beschluss und Hintergrün-de in elektronische Programme für die Verordnung von Arzneimit-teln in der vertragsärztlichen Versorgung zu implementieren und dadurch in der Versorgungspraxis besser zu verbreiten;217

• die verstärkte Generierung versorgungsnaher Daten und Nut-zung von Daten aus qualitativ hochwertigen Patientenregistern – insbesondere bei beschleunigten Zulassungen und Orphan-Arzneimitteln –, sowie bei befristeten Beschlüssen mit dem Ziel, Konzepte zur anwendungsbegleitenden Datenerhebung zu er-stellen und dadurch Evidenzlücken zu schließen;218

• die Änderung von § 7 des 5. Kapitels in der Verfahrensordnung (VerfO) des GBA, die besagt, dass zu Fragen der Vergleichsthe-rapie die AkdÄ und die wissenschaftlich-medizinischen Fachge-sellschaften schriftlich beteiligt werden sollen;219

• die Berücksichtigung des Umsatzes eines Arzneimittels nicht nur im (ambulanten) vertragsärztlichen, sondern auch im stationären Bereich, und die Verpflichtung für den pU, den Zusatznutzen ge-genüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie nachzuweisen bei Überschreiten eines Betrages von 50 Mio. Euro in den letzten

216 Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (2019).217 Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (2019); Gemeinsamer Bun-

desausschuss (2020a).218 IQWiG (2020a); IQWiG (2020b).219 Gemeinsamer Bundesausschuss (2020b).

AMNOG als „Lernendes

System“

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1513 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

12 Kalendermonaten.220 Dies bedeutet beispielsweise, dass auch Orphan-Arzneimittel, die ausschließlich stationär eingesetzt wer-den und deshalb nie die Umsatzgrenze von 50 Mio. Euro über-schreiten würden, jetzt auch im Rahmen der „regulären“ FNB beurteilt werden.

Das AMNOG hat aus Sicht der AkdÄ in den letzten 10 Jahren die Umsetzung einer rationalen und auch kostenbewussten Pharmako-therapie mit neuen Arzneimitteln221 wesentlich gefördert und inzwi-schen auch durch die jährlich erzielten Einsparungen bei den Er-stattungsbeträgen – zuletzt im Jahr 2018 in Höhe von 2.650 Euro – einen wichtigen Beitrag zur Entlastung der Ausgaben im GKV-Sys-tem geleistet.222

Durch die Beschlüsse zur FNB bei neuen Arzneimitteln bzw. neuen Anwendungsgebieten bereits zugelassener Arzneimittel stehen heute detaillierte Informationen zu den Ergebnissen klinischer Stu-dien vor der Zulassung zur Verfügung – insbesondere zum Design dieser Studien, den untersuchten Endpunkten sowie der Wirksam-keit und Nebenwirkungen, auch in Subpopulationen. Derartige Infor-mationen sind in den Publikationen der medizinischen Fachzeit-schriften zu diesen Studien häufig nur unvollständig erhalten.223

Den im Januar 2018 von der Europäischen Kommission (EC) unter-breiteten und bisher nicht umgesetzten Vorschlag für eine neue Re-gelung zur Bewertung von Gesundheitstechnologien (Arzneimittel und Medizinprodukte) auf europäischer Ebene mit dem Ziel gemein-samer klinischer Bewertungen und wissenschaftlicher Konsultatio-nen, die dann eine FNB durch den GBA ersetzen würde, halten die AkdÄ und auch die unabhängigen Arzneimittelbulletins nicht für ziel-führend.224

Eine besondere Herausforderung für die FNB werden künftig hoch-preisige Arzneimittel für neuartige Therapien (ATMP) darstellen, die bereits heute etwa 40 % der Anträge für das beschleunigte Zulas-sungsverfahren PRIME ausmachen, und infolge ihrer sehr begrenz-ten Kenntnisse zu Wirksamkeit und Sicherheit zum Zeitpunkt der Zulassung225 und mitunter nur einmaligen Verabreichung im derzei-tigen Verfahren der FNB nicht adäquat und möglicherweise auch nicht rechtzeitig beurteilt werden können.

220 § 35 a SGB V; Bundesministerium für Gesundheit (2019).221 Mühlbauer (2019); Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (2019).222 Schwabe et al. (2019).223 Köhler et al. (2015).224 Arzneimittelbrief (2018).225 Litsch, Bogum, Hopfgarten (2019); Ludwig (2019a).

Hoher Informati-onsgehalt der Nutzenbewertung

EU-HTA

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152 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

3.7.5 Literatur

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1553 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

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156 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

3.8 Rückblick und Ausblick aus Sicht der Versorgungs-forschung

Ein Gastbeitrag von: Dr. Holger Gothe226,227,228, Valeria Weber226, Ca-rolin Brinkmann226, Tina Ploner229, Christoph Ohlmeier226, Dr. Ariane Höer226, Prof. Dr. Diana Lüftner230

3.8.1 Einleitung

Mit dem AMNOG verfolgt der Gesetzgeber die Intention, den Versi-cherten im Krankheitsfall die besten und wirksamsten Therapieopti-onen zur Verfügung zu stellen, zugleich aber auch deren Nutzen durch entsprechende Belege zu sichern. Das Potenzial innovativer Wirkstoffe zum Wohle der Patienten auszuschöpfen, ist das Bestre-ben aller medizinischen Disziplinen. Vor allem in der Onkologie ist bekannt, dass mit unterschiedlichen Angriffspunkten eingesetzte neue Wirkstoffe bessere Behandlungsergebnisse ermöglichen kön-nen als etablierte Standardtherapien.

Onkologische Kombinationstherapien (OKT) gelten als vielverspre-chender Therapieansatz und werden in der Versorgungspraxis zu-nehmend ergänzend zu den bisherigen Therapielinien in (Mehr-fach-)Kombination eingesetzt.231 Dabei wird auf eine additive Wir-kung durch die verschiedenen komplementären Wirkmechanismen innerhalb einer Kombination gesetzt.232 Inzwischen gelten OKT ver-mehrt als Versorgungsstandard in der Onkologie. Das hochmaligne Non-Hodgkin-Lymphome sieht beispielsweise eine Kombinations-therapie, bei der Chemotherapeutika mit dem monoklonalen Anti-körper Rituximab verabreicht werden, als Therapiestandard vor.233 In der Fachöffentlichkeit werden insbesondere die sog. „freien“ Wirk-stoffkombinationen diskutiert, die mehrere Arzneimittel enthalten, die jeweils zwar für die gleiche Indikation zugelassen sind, für deren kombinierte Anwendung jedoch keine ausdrückliche arzneimittel-rechtliche Zulassung vorliegt. Eingesetzt werden derartige Wirk-stoffkombinationen aus individuellem Erwägen des Arztes.

Bausch et al. (2016) bemängeln vor diesem Hintergrund die Anwen-dung von OKT ohne hinreichende Evidenzgrundlage sowie die da-durch verursachten Ausgabensteigerungen in der GKV. Insbeson-

226 IGES Institut GmbH, Berlin, Deutschland227 Institut für Public Health, Medical Decision Making und Health Technology As-

sessment, Department für Public Health, Versorgungsforschung und Health Technology Assessment, UMIT, Hall in Tirol, Österreich

228 Lehrstuhl für Gesundheitswissenschaften/Public Health, Medizinische Fakultät, TU Dresden, Dresden, Deutschland

229 InGef – Institut für angewandte Gesundheitsforschung Berlin GmbH, Berlin, Deutschland

230 Charité – Universitätsmedizin Berlin, Klinik für Hämatologie, Onkologie und Tu-morimmunologie, Deutschland

231 Grandt und Schubert (2017).232 Palmer und Sorger (2017).233 Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft (2020b).

Ausgabensteige-rung durch Kombi-nationstherapien?

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dere der kombinierte Einsatz von teuren neuen Arzneimitteln mit bestehendem Patentschutz, die eine frühe Nutzenbewertung nach § 35 a SGB V durchlaufen haben, würde dabei zu erheblichen Mehr-ausgaben führen, da sich die Erstattungspreise für zugelassene Monotherapien aufaddierten. Vor diesem Hintergrund schlagen die Autoren innovative Rabattierungsmodelle auf Basis einer adäqua-ten Datengrundlage (z. B. GKV-Abrechnungsdaten, Risikostruktur-ausgleichdaten) als Lösungsansatz vor.234

Bislang ist unklar, wie sich die Häufigkeit des Einsatzes sowie die Kosten von OKT in Deutschland tatsächlich darstellen. Ziel der vor-liegenden Analyse war es daher, auf Basis von GKV-Routinedaten entsprechende Evidenz zu generieren und zeitliche Trends abzubil-den.235

3.8.2 Methodik

Die Grundlage für die nachfolgende Analyse bildeten aggregierte anonymisierte Abrechnungsdaten von rund 7 Mio. Versicherten aus über 60 Krankenkassen der Forschungsdatenbank des InGef – Ins-titut für angewandte Gesundheitsforschung Berlin GmbH. In die Analyse ging ein Sample von 4 Mio. Versicherten ein, welches hin-sichtlich der Alters- und Geschlechtsverteilung als repräsentativ für die deutsche Gesamtbevölkerung galt.236 Dabei waren soziodemo-grafische Angaben sowie longitudinale Daten zu Arzneimittelverord-nungen und zu ambulanten und stationären Diagnose- und Leis-tungsdaten enthalten. Zur Analyse der Häufigkeit und Kosten der OKT wurde eine retrospektive Querschnittstudie durchgeführt. Um zeitliche Trends hinsichtlich der Häufigkeit und der Kosten von OKT abzubilden, wurden Daten aus sieben Jahren separat ausgewertet (2012–2018). Populationsbeschreibende Indikatoren wurden für das Jahr 2018 erhoben.

Die Studienpopulation umfasste Versicherte mit mindestens einer gesicherten ambulant oder stationär dokumentierten onkologischen Diagnose (ICD-Code: C00–C97) im jeweiligen Kalenderjahr. Versi-cherte mussten im betreffenden Jahr kontinuierlich bzw. kontinuier-lich bis zum Tod versichert sein. Die Größe der Studienpopulation variierte in Abhängigkeit vom jeweiligen Beobachtungsjahr. Unter den onkologischen Patienten wurden in einem weiteren Schritt die-jenigen identifiziert, die mindestens eine OKT im betreffenden Jahr erhielten. Zur Identifikation von Patienten mit OKT wurden alle onko-logischen Wirkstoffe der ATC-Gruppe L01 und L02 sowie Sipuleucel-T, Thalidomid, Pomalidomid und Lenalidomid berücksichtigt. Eine OKT wurde bei der dokumentierten Abgabe von mindestens zwei verschiedenen Wirkstoffen innerhalb eines 30-tägigen Zeitfensters festgestellt. Um intendierte Kombinationen von einem Switching

234 Bausch et al. (2016).235 Weiterführende Analyseergebnisse bei Gothe et al. (2020).236 Andersohn und Walker (2016).

Stellenwert von Kombinations-therapien offen

Beschreibung der Studienpopulation

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158 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

oder einer Therapieeskalation abzugrenzen, musste die verschrie-bene OKT durch eine erneute Abgabe in einem weiteren 30-Tages-Zeitfenster bestätigt werden.

Die im Jahr 2018 identifizierten Wirkstoffkombinationen wurden so-wohl hinsichtlich ihres Zulassungsstatus sowie ihres Patentschutzes analysiert. Die Kombinationen, die in der Fachinformation von mind. einem der beteiligten Wirkstoffe mit allen Komponenten aufgeführt wurden, wurden der Kategorie „entspricht Wortlaut der Zulassung“ zugeteilt. Wurde eine fiktive Kombination A+B in den Daten identifi-ziert, lag laut Fachinformation jedoch für die Dreifachkombination A+B+C eine Zulassung vor, wurde die Kombination als „in Zulas-sung enthalten“ kategorisiert. Außerdem wurde der Patentschutz-status der einzelnen Wirkstoffpartner ermittelt. Da GKV-Daten keine Dokumentation der für die Medikation ursächlichen Erkrankung ent-halten, wurde den identifizierten Wirkstoffkombinationen anhand der Fachinformationen, Behandlungsleitlinien oder klinischer Studi-en eine vermutete Indikation zugeordnet.

Bei der Interpretation der vorliegenden Analyseergebnisse sind eini-ge Einschränkungen zu berücksichtigen. Bei der Ergebnisinterpre-tation sollte zudem die potenzielle Informationslücke zwischen der Kodierung einer Gesundheitsdienstleistung in den GKV-Daten wie z. B. der Abgabe eines bestimmten Arzneimittels und der zugrunde-liegenden Indikation berücksichtigt werden. Den identifizierten Kom-binationen konnte mithilfe von Fachinformationen, Leitlinien und Hinweisen aus der Forschungsliteratur lediglich vermutete Indikatio-nen zugeordnet werden.

Sofern bestimmte Kombinationen mit weiteren Wirkstoffpartnern zu-gelassen waren, die wiederum nicht in dem der Analyse zugrunde-liegenden Identifikationsalgorithmus enthalten waren, konnte die betreffende Kombination in den Daten nicht vollständig identifiziert werden. Eine Überschätzung der zugelassenen Kombinationen war möglich, da einige Fachinformationen nicht alle zugelassenen Part-ner explizit benannten, sondern stattdessen nur eine übergeordnete Gruppe vorgaben (z. B. „Chemotherapie“ oder „Aromatasehem-mer“).

3.8.3 Häufigkeit und Charakteristika von Patienten mit OKT

Im Jahr 2018 erhielten anteilig an der Gesamtzahl von n = 257.167 onkologischen Patienten 17,4 % eine Chemotherapie und 3,2 % ei-ne OKT (vgl. Tabelle 14). Von 2012 bis 2018 blieb der Anteil der Pa-tienten mit OKT bezogen auf die Gesamtzahl der Krebserkrankten im jeweiligen Jahr mit etwa 3 % stabil gering. Dies verdeutlicht die Dominanz nicht-medikamentöser Therapieansätze wie Chirurgie und Strahlentherapie bei der onkologischen Behandlung.

Definition von Kombinationen

Limitationen

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1593 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Tabelle 14: Patientenfluss im Zeitraum 2012–2018

JahrVersicherte in der Datenbank

Kont. Versi-cherte, bzw. kont. Versi-cherte bis zum Tod

Patienten mitKrebser-krankung

Patientenmit OKT

2012n 4.179.145 3.832.567 202.350 6.680

% 100,0 91,7 5,3 3,3

2013n 4.184.482 3.824.292 212.968 7.077

% 100,0 91,4 5,6 3,3

2014n 4.198.325 3.846.132 224.151 7.372

% 100,0 91,6 5,8 3,3

2015n 4.269.006 3.912.916 233.036 7.580

% 100,0 91,7 6,0 3,3

2016 n 4.347.960 3.867.491 240.216 7.959

% 100,0 88,9 6,2 3,3

2017n 4.332.845 3.923.796 239.418 7.968

% 100,0 90,6 6,1 3,3

2018n 4.197.260 3.963.208 257.167* 8.332**

% 100,0 94,4 6,5 3,2

* Studienpopulation mit Krebserkrankung im Jahr 2018** Teilpopulation mit OKT im Jahr 2018

Quelle: IGES.

Patientencharakteristika wurden für das Jahr 2018 sowohl für die gesamte Studienpopulation der Krebspatienten als auch für die Teil-population der Patienten, die eine OKT erhielten, bestimmt. Unter den Krebspatienten insgesamt war das Geschlechterverhältnis mit einem Anteil von 50,4 % Krebspatientinnen nahezu gleich. Der Al-tersdurchschnitt betrug 69,6 Jahre; die meisten Krebspatienten wa-ren 70–79 Jahre alt. Die häufigsten Tumorlokalisationen unter Krebspatienten allgemein waren Melanome (27,9 %), Tumore der Brustdrüse 18,6 %) und Tumore der männlichen Genitalorgane (16,6 %).

Bei Patienten mit OKT (n = 8.332) waren Tumore des Verdauungs-traktes (34,1 %) und Mammakarzinome (30,6 %) die häufigsten Krebsentitäten. Ein hoher Anteil der Patienten mit OKT wies zudem Metastasierungen auf (58,7 %). Damit schienen OKT insbesondere in einem fortgeschrittenen Krankheitsstadium eingesetzt zu werden.

Patienten-charakteristika

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160 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

Dies steht im Einklang mit gängigen Leitlinien wie z. B. für das Pros-tatakarzinom, die eine OKT explizit im Off-Label-Use bei hormon-sensitiven, metastasierten Tumoren empfiehlt.237

Verglichen mit den Krebspatienten insgesamt waren unter den Pati-enten mit OKT mehr weibliche und jüngere Personen. So waren im Jahr 2018 57,9 % der Patienten mit OKT weiblich und 42,1 % männ-lich. Das durchschnittliche Alter betrug 64,0 Jahre und war damit niedriger als bei den Krebspatienten insgesamt. Insbesondere junge Frauen (ab 0–39 Jahre) erhielten häufig eine OKT, während Männer im Vergleich dazu seltener und eher in höheren Lebensaltersgrup-pen (ab 50–59 Jahre) eine OKT erhielten. Dies ist in erster Linie auf die Tumorlokalisation Brustkrebs zurückzuführen, von der wie be-reits erwähnt ein Großteil der Patienten mit OKT betroffen war (30,6 %), während beispielsweise nur wenige Patienten männlichen Genitalkrebs aufwiesen (5,1 %).

Unterschiede bezüglich des Altersganges der Krebserkrankungen sowie vorherrschender Therapiestandards bieten einen Erklärungs-ansatz für die Überrepräsentation von jungen Frauen innerhalb der OKT-Teilpopulation. Die epidemiologische Forschungsliteratur be-richtet für das Mammakarzinom mit ca. 60 Jahren ein deutlich gerin-geres Erkrankungsalter im Vergleich zum Prostatakarzinom, an dem Patienten durchschnittlich erst mit 72 Jahren erkranken.238, 239 Die meisten identifizierten Wirkstoffkombinationen ließen sich der Indi-kation Brustkrebs zuordnen, während nur wenige Kombinationen der Behandlung des Prostatakarzinoms zuordenbar waren. Dies stimmt mit den Therapiestandards in den jeweiligen Indikationen überein: Während zur Therapie des Mammakarzinoms eine adju-vante (Kombinations-)Chemotherapie empfohlen wird, empfiehlt die Leitlinie zur Behandlung des Prostatakarzinoms eine vorwiegend chirurgische, radiologische oder hormonelle Therapie.240 Damit er-scheint der häufigere Einsatz von OKT bei Brustkrebs plausibel.

3.8.4 Zulassungsstatus und Patentschutz der eingesetzten Wirkstoffkombinationen

Für das Jahr 2018 wurden insgesamt n = 222 Konstellationen an Wirkstoffkombinationen identifiziert, an denen wiederum n = 85 un-terschiedliche Wirkstoffe beteiligt waren. 88 % der Wirkstoffkombi-nationen ließen sich gemäß Fachinformation einer vermuteten Indi-kation zuordnen. Die meisten Kombinationen (n = 64) entfielen dabei auf die Indikation Brustkrebs. 43 waren dem Indikationsbereich der Verdauungsorgane, 17 dem Bereich der Atmungsorgane und 12 dem Bereich männlicher Genitalorgane zuzuordnen. Sechs Kombi-

237 Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft (2019).238 Fritz et al. (2019).239 Hermann und Kraywinkel (2019).240 Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft (2019).

85 onkologische Wirkstoffe in Kom-binationstherapien

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1613 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

nationen ließen sich nicht eindeutig zuordnen, da sie laut Fachinfor-mation für mehr als eine Indikation zugelassen waren.

Entgegen der Annahme, dass OKT häufig ohne arzneimittelrechtlich verankerte Zulassung und ohne hinreichende Evidenz eingesetzt werden, verdeutlicht die Analyse nur einen seltenen Einsatz von nicht-zugelassenen Kombinationen im Versorgungsalltag.241 So waren mehr als die Hälfte (56,3 %) der 2018 identifizierten Kombinationen zugelassen (vgl. Abbildung 26). Ein Anteil von 6,8 % der Kombinatio-nen war in der Zulassung enthalten und bei 36,9 % wurde keine Zu-lassung festgestellt. Im Jahr 2018 wurden in den Daten insgesamt n = 43.493 Verschreibungen von OKT erfasst. Carboplatin und (nab-)Paclitaxel war mit 8,6 % die am häufigsten verschriebene Kombinati-on (vgl. Tabelle 15). Fluorouracil und Oxaliplatin (6,8 %) sowie Fluo-rouracil und Irinotecan (6,0 %) wurden ebenfalls häufig verschrieben. Die zehn am häufigsten verschriebenen Kombinationen entsprachen alle dem Wortlaut der Zulassung, wurden durch Leitlinien explizit empfohlen oder waren in der Zulassung als Teil einer Mehrfachkombi-nation enthalten.242 Die Kombination Pertuzumab und Trastuzumab ist entsprechend dem Anwendungsgebiet der Fachinformation in Kombi-nation mit Docetaxel oder einer Chemotherapie zugelassen. Das ad-juvante Therapieschema beim frühen HER2+ Brustkrebs sieht vor, dass neben 3–4, bzw. 6 Zyklen Chemotherapie beginnend mit dem ersten Zyklus Pertuzumab und Trastuzumab verabreicht werden, je-doch für ein Jahr und damit deutlich länger als Docetaxel oder Che-motherapie. Daher wird häufiger nur der Einsatz von Pertuzumab und Trastuzumab als OKT nachgewiesen.243

Abbildung 26: Zulassungsstatus der identifizierten Wirkstoffkombinatio-nen im Jahre 2018 (n = 222)

Quelle: IGES.

241 Bausch et al. (2016).242 Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft (2020a).243 von Minckwitz et al. (2017).

Geringer Stellen-wert von nichtzu-gelassenen Kom-binationen

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Sowohl auf Kombinations- als auch auf Wirkstoffebene ließ sich kein übermäßiger Einsatz von patentgeschützten Arzneimitteln verzeich-nen. So enthielt nur etwa jede zehnte Kombination (10,8 %) zwei oder mehr patentgeschützte Wirkstoffpartner (Abbildung 27).

Abbildung 27: Patentschutz bei Wirkstoffkombinationen im Jahre 2018 (n = 222)

Quelle: IGES.

Knapp die Hälfte der Kombinationen (46,4 %) setzten sich aus pa-tentlosen Arzneimitteln zusammen, und 42,8 % enthielten lediglich einen patentgeschützten Partner. Bei Betrachtung der Verschrei-bungshäufigkeit der Kombinationen zeigte sich, dass unter den Top-10-Kombinationen sechs genau einen patentgeschützten Partner enthielten. Keine der Top-10-Kombinationen umfasste mehr als ei-nen patentgeschützten Wirkstoffpartner (Tabelle 15). Häufig ver-schriebene Kombinationen wie Fluorouracil und Oxaliplatin (6,8 %) sowie Fluorouracil und Irinotecan (6,0 %) enthielten hingegen aus-schließlich patentlose Partner.

Stellenwert patentgeschützter

Arzneimittel

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1633 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Tabelle 15: Top-10 der am häufigsten verschriebenen Wirkstoff-kom-binationen in 2018, anteilig an allen OKT-Verschreibungen (n = 43.493)

KombinationAnteil(%)

Anzahl patentge-schützter Partner (n) Zulassung

1 Carboplatin + (nab-)Paclitaxel

8,6 1 ja

2 Fluorouracil + Oxa-liplatin

6,8 0 ja

3 Fluorouracil + Iri-notecan

6,0 0 ja

4 Gemcitabin + (nab-)Paclitaxel

4,8 1 ja

5 Cyclophosphamid + Epirubicin

4,7 0 LL

6 Pertuzumab + Trastuzumab

4,4 1 ja*

7 Bevacizumab + Fluorouracil + Iri-notecan

4,1 1 ja

8 Fulvestrant + Pal-bociclib

3,3 1 ja

9 Bevacizumab + Fluorouracil

2,4 1 ja

10 Cisplatin + Gemci-tabin

2,3 0 ja

LL: durch Leitlinie empfohlen* in Zulassung enthalten

Quelle: IGES.

Auf Wirkstoffebene waren die anteilig an allen Verschreibungen am häufigsten in Kombination verschriebenen Arzneimittel Fluorouracil (32,6 %), Paclitaxel (20,9 %) und Irinotectan (16,4 %), die alle keinen Patentschutz aufwiesen (vgl. Tabelle 16). Unter den zwanzig am häufigsten verschriebenen Wirkstoffen waren überwiegend patent-lose Arzneimittel vertreten; lediglich vier Wirkstoffe waren patentge-schützt: Bevacizumab (13,5 %), Pertuzumab (7,3 %), Palbociclib (3,8 %) und Cetuximab (3,1 %).

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Tabelle 16: Top-20 der am häufigsten kombiniert verschriebenen Wirkstof-fen in 2018, anteilig an allen OKT-Verschreibungen (n = 43.493)

Wirkstoff Anteil (%) Patentschutz

1 Fluorouracil 32,6 nein

2 Paclitaxel 20,9 nein

3 Irinotecan 16,4 nein

4 Carboplatin 15,7 nein

5 Oxaliplatin 14,8 nein

6 Bevacizumab 13,5 ja

7 Trastuzumab 10,4 nein

8 Gemcitabin 9,6 nein

9 Cyclophosphamid 9,4 nein

10 Pertuzumab 7,3 ja

11 Epirubicin 5,4 nein

12 Cisplatin 5,0 nein

13 Rituximab 4,7 nein

14 Doxorubicin 4,6 nein

15 Docetaxel 4,4 nein

16 Palbociclib 3,8 ja

17 Fulvestrant 3,6 nein

18 Cetuximab 3,1 ja

19 Vincristin 2,8 nein

20 Bendamustin 2,6 nein

Quelle: IGES.

Es ließ sich ein positiver Zusammenhang zwischen Patentschutz und Zulassungsstatus feststellen. Im Jahr 2018 waren 41,7 % der Kombinationen ohne patentgeschützte Partner zugelassen, wäh-rend 67,4 % der Kombinationen mit einem patentgeschützten Part-ner und 75,0 % der Kombinationen mit mindestens zwei patentge-schützten Partnern zugelassen waren. Je mehr patentgeschützte Partner eine Kombination einschloss, desto häufiger lag eine Zulas-sung vor. Dies ist damit zu begründen, dass Wirkstoffe, die bereits länger auf dem Markt erhältlich sind und deren Patent bereits aus-gelaufen ist, nicht mehr als Kombination bewertet bzw. explizit als solche zugelassen werden. Trotz dieses Zusammenhanges lag bei

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25 % der Kombinationen mit mindestens zwei patentgeschützten Partnern keine Zulassung vor. Die betreffenden Kombinationen machten dabei jedoch nur einen sehr geringen Anteil von 0,2 % an allen OKT-Verschreibungen aus und wurden zum Zeitpunkt der Un-tersuchung entweder in klinischen Studien erprobt, oder es lag be-reits Evidenz in Form von systematischen Übersichtsarbeiten vor.244

3.8.5 Kosten der OKT

Die Analyse zeigte einen zunehmenden Kostentrend in der OKT zwischen 2012 und 2018. Die mittleren Kosten der OKT pro behan-delten Patient stiegen von 7.983 EUR in 2012 auf 11.840 EUR in 2018 (Abbildung 28). 2018 beliefen sich die totalen Kosten innerhalb der Teilpopulation auf 98,6 Mio. EUR. 21,6 % aller durch OKT verur-sachten Kosten ließen sich dabei auf Kombinationen zurückführen, an denen Trastuzumab beteiligt war. Es zeigte sich insgesamt ein höherer Kostenanteil für Kombinationen, an denen patentgeschütz-te Wirkstoffpartner beteiligt waren. Unter den zehn teuersten Wirk-stoffen waren vier patentgeschützt (Pertuzumab: 18,5 %, Bevaci-zumab: 16,2 %, Lenalidomid: 7,9 %, Palbociclib: 6,5 %).

Der beobachtete Kostenanstieg lässt sich auf die hohe Innovations-dichte im Bereich der Onkologika zurückführen.245,246 So gehören antineoplastische Mittel zur Indikationsgruppe mit dem höchsten in-novativen Potenzial am Arzneimittelmarkt. Alleine im Zeitraum der vergangenen fünf Jahre wurden ca. 50 neue Wirkstoffe eingeführt (davon 11 im Jahr 2018).13 Die Mehrausgaben der OKT lassen sich durch die häufige Ergänzung bzw. die seltene Substitution von Be-standsarzneimitteln mit ausgelaufenem Patentschutz durch neue patentgeschützte Wirkstoffe erklären.247 Steigende Kosten im Be-reich der Onkologie insgesamt berichtet ebenfalls eine Analyse ei-ner deutschen gesetzlichen Krankenkasse. Die ambulanten Ausga-ben für onkologische Arzneimittel pro behandeltem Patient stiegen zwischen 2011 und 2015 von 4.686 EUR auf 6.458 EUR (+38 %).248 Zuletzt war ein Anstieg um 5,0 % von 8.157 EUR in 2017 auf 8.564 EUR in 2018 zu verzeichnen.249 Die Ergebnisse einer gesund-heitsökonomischen Analyse deuten darauf hin, dass der Anteil der Kosten der Krebsmedizin an den gesamten Gesundheitsausgaben ungeachtet der besonderen Dynamik des medizinischen Fortschritts auf diesem Gebiet und der demografischen Entwicklungen seit 2004 annähernd konstant geblieben ist.250

244 Shan et al. (2018).245 Greiner et al. (2019).246 Häussler und Höer (2019).247 Bausch et al. (2016).248 Grandt und Schubert (2017).249 Grandt et al. (2019).250 Schlander et al. (2018).

Zunehmende Kos-ten für Kombinati-onstherapien

Viele Markt-neueinführungen

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Abbildung 28: Mittlere Kosten der OKT pro behandelten Patient im Zeit-verlauf (2012–2018).

Quelle: IGES.

3.8.6 Fazit

Die vorliegende Analyse liefert Evidenz zum Einsatz und zu den Kosten der OKT in Deutschland. Es zeigt sich, dass nur ein sehr geringer Anteil von ca. 3 % der onkologischen Patienten mit einer OKT behandelt wird, während andere Therapieansätze (wie z. B. die Chirurgie und die Strahlentherapie) die onkologische Behandlung dominieren. Auch im Zeitverlauf zwischen 2012 und 2018 wurden OKT gemessen an der Zahl der Krebspatienten insgesamt nicht zu-nehmend häufiger eingesetzt.

Entgegen der von Bausch et al. (2016) kritisierten fehlenden arznei-mittelrechtlich fundierten Zulassung und entgegen der mangelnden Evidenz, auf deren Basis OKT angewendet würden, war die Mehr-heit der im Rahmen der Analyse identifizierten Wirkstoffkombinatio-nen im Jahr 2018 laut Fachinformation zugelassen (> 56 %) und durchliefen somit ein AMNOG-Verfahren. Häufig verschriebene Kombinationen waren zudem entweder zugelassen oder wurden durch Leitlinien empfohlen. Mit höheren Preisen einhergehende pa-tentgeschützte Wirkstoffe erwiesen sich nicht als dominierend in der OKT. Ein großer Teil der zum Einsatz kommenden Wirkstoffkombi-nationen setzte sich aus Kombinationspartnern zusammen, die kei-nen Patentschutz aufwiesen. Insbesondere der Einsatz von freien Kombinationen unter Beteiligung mehrerer patentgeschützter Wirk-stoffe wird von Bausch et al. vor dem Hintergrund fehlender Regulie-rungsmaßnahmen im AMNOG als Problem benannt.251 Für zugelas-sene Wirkstoffkombinationen ist ein reguläres AMNOG-Verfahren vorgesehen. Bei Kombinationen mit zwei AMNOG-Arzneimitteln lau-

251 Bausch et al. (2016).

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1673 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

fen die Verfahren der Nutzenbewertung und der Preisverhandlung parallel ab. Somit fehlt es im AMNOG bisher lediglich an einer Hand-habe für freie Kombinationen unter Beteiligung mehrerer patentge-schützter Wirkstoffe. Die Ergebnisse der vorliegenden Analyse rela-tivieren das von Bausch et al. benannte Problem: So enthielten we-niger als 11 % der identifizierten Kombinationen mehrere patentge-schützte Wirkstoffpartner. Lediglich ein Viertel der Kombinationen war nicht zugelassen und durchlief somit kein AMNOG-Verfahren. Die betreffenden Kombinationen wurden zudem nur selten ver-schrieben und machten lediglich einen Anteil von circa 0,2 % an al-len OKT-Verordnungen aus.

Die mittleren Kosten der OKT pro behandelten Patient stiegen im Zeit-raum von 2012 bis 2018 deutlich an. Dieser beobachtbare Kosten-trend scheint in Zusammenhang mit einer hohen Innovationsdichte im Bereich der Onkologika einerseits sowie mit einem relativ stabilen Anteil der Krebsmedizin an den Gesundheitsausgaben insgesamt zu stehen. Vor dem Hintergrund, dass lediglich ein geringer Anteil der Patienten mit einer OKT behandeltet wird, relativiert sich das in der Kostendiskussion skizzierte exorbitante Ausgabenszenario.

Interessenkonflikt

Die Studie wurde finanziert durch Bristol-Myers Squibb, MSD, Pfizer und Roche Pharma AG. Die Autoren hatten völlige Autonomie über den Prozess der Erstellung des Studienprotokolls, die Durchführung der Analysen sowie die Interpretation der Ergebnisse. Prof. Lüftner unterhielt im Rahmen der Studie keinerlei finanzielle Verbindungen zu den genannten Unternehmen.

Prof. Lüftner war als Referentin und in Beiräten für die Firmen Am-gen, AstraZeneca, Celgene, Eli Lilly and Company, GlaxoSmithKli-ne, L’Oréal, Novartis, Pfizer, Sanofi, Tesaro und Teva tätig.

3.8.7 Literatur

Andersohn, F. & Walker, J. (2016): Characteristics and external vali-dity of the German health risk institute (HRI) database. Phar-macoepidemiology and drug safety; 25(1): 106–109.

Bausch, J., Bruns, J., Kaesbach, W., Schmidt, P., Ulrich, V. & Wa-sem, J. (2016): Wirkstoffkombinationen. qualitative und mone-täre Herausforderungen. Ein aktueller Diskussionsbeitrag mit konkreten Lösungsansätzen.

Fritz, U., Pfaff, H., Roth, L., Swora, M. & Groß, S. (2019): Zum Ein-fluss soziodemografischer Faktoren auf die Art der Verdachts-diagnosestellung und das Tumorstadium bei Erstdiagnose von Brustkrebs. Das Gesundheitswesen.

Gothe, H., Weber, V., Brinkmann, C., Ploner, T., Ohlmeier, C., Höer, A. & Lüftner, D. (2020): Einsatz von Kombinationstherapien in

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168 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

der Onkologie: Eine retrospektive Beobachtungsstudie zu Häufigkeit und Kosten auf Basis deutscher Routinedaten. Un-veröffentlichtes Manuskript, Manuskript eingereicht zur Publi-kation.

Grandt, D., Lappe, V. & Schubert, I. (2019): Arzneimittelreport 2019. Impfungen bei Kindern und Jugendlichen. Berlin: zweiband.media GmbH.

Grandt, D. & Schubert, I. (2017): Arzneimittelreport 2017. Siegburg: Asgard Verlagsservice GmbH.

Greiner, W., Witte, J. & Gensorowsky, D. (2019): Marktdurchdringung neuer Arzneimittel. In Storm A (Hrsg.), AMNOG-Report 2019. Beiträge zur Gesundheitsökonomie und Versorgungsfor-schung, Bd. 29, 229–241. Bielefeld und Hamburg.

Häussler, B. & Höer, A. (Hrsg.). (2019): Arzneimittel-Atlas 2019 (Bd. 1): Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.

Hermann, S. & Kraywinkel, K. (2019): Epidemiologie des Prostata-karzinoms in Deutschland. Der Onkologe; 25(4): 294–303.

Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, D. K., AWMF). (2019): Interdisziplinäre Leitlinie der Qualität S3 zur Früherkennung, Diagnose und Therapie der verschiedenen Stadien des Prostatakarzinoms.

Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, D. K., AWMF). (2020a): Interdisziplinäre S3-Leitlinie für die Früher-kennung, Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Mamma-karzinoms.

Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, D. K., AWMF). (2020b): S3 Leitlinie Diagnostik, Therapie und Nach-sorge für Patienten mit einem follikulären Lymphom.

Palmer, A. & Sorger, P. (2017): Combination cancer therapy can con-fer benefit via patient-topatient variability without drug additi-vity or synergy. Cell; 171(7): 1678–1691.

Schlander, M., Hernandez-Villafuerte, K. & Thielscher, C. (2018). Kosten der Onkologie in Deutschland. FORUM; 33: 330–337.

Shan, F., Zhang, B., Sun, L., Xie, L., Shen, M. & Ruan, S. (2018). The Role of Combination Maintenance with Pemetrexed and Bevacizumab for Advanced Stage Nonsquamous Non-Small Cell Lung Cancer: ASystematic Review and Meta-Analysis. BioMed Research International, 2018.

von Minckwitz, G., Procter, M., de Azambuja, E., Zardavas, D., Be-nyunes, M., Viale, G. et al. (2017). Adjuvant Pertuzumab and Trastuzumab in Early HER2-Positive Breast Cancer. New England Journal of Medicine; 377(2): 122–131.

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1693 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

3.9 Rückblick und Ausblick aus juristischer Sicht

Ein Gastbeitrag von: Claus Burgardt, Sträter Rechtsanwälte

3.9.1 Einführung

Durch das Arzneimittel-Neuordnungsgesetz (AMNOG) vom 22.12.2010 hat der Gesetzgeber ein unmittelbares Preisregulie-rungsinstrument zu Gunsten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) geschaffen. Das neue Regulierungskonzept besteht im We-sentlichen aus zwei Verfahrensabschnitten. Im ersten Verfahrensab-schnitt nimmt der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) die Nut-zenbewertung des Arzneimittels mit dem neuen Wirkstoff vor, die die Preisregulierung (Erstattungsbetrag) durch den GKV-Spitzen-verband im zweiten Verfahrensabschnitt vorbereitet.252 Der Erstat-tungsbetrag soll in gemeinsamen Verhandlungen zwischen dem pharmazeutischen Unternehmer und dem GKV-Spitzenverband ge-funden werden. Kommt es nicht zu einer Einigung, entscheidet die Schiedsstelle i. S. d. § 130 b Abs. 5 SGB V. Nutzenorientierte Preise sah zwar schon der mittlerweile wieder gestrichene Erstattungs-höchstbetrag i. S. d. § 31 Abs. 2a SGB V in der Fassung des GKV-WSG vom 26.03.2007 vor. Das wirklich neue an dem Erstattungsbe-trag liegt allerdings darin, dass durch den Preisregulierungsmecha-nismus der Abgabepreis des pharmazeutischen Unternehmers und nicht nur der Höchsterstattungspreis für die GKV geregelt wird.253 Dies hat auch Auswirkungen auf die Grundrechtsbetroffenheit des pharmazeutischen Unternehmers. Während ein Festbetrag i. S. d. § 35 SGB V nach ständiger Rechtsprechung des BSG nicht die Grundrechte des betroffenen pharmazeutischen Unternehmers tangiert,254 ist dies bei echten Preisregulierungsinstrumenten an-ders.255 Durch die Transformation des Erstattungsbetrages in den Abgabepreis des pharmazeutischen Unternehmers beschränkt sich überdies seine Bedeutung nicht nur auf Deutschland, sondern über die Referenzwirkung des Abgabepreises für andere Gesundheits-systeme hat die deutsche Preisregulierung auch Auswirkungen auf die Preise in anderen Ländern. Dies erklärt auch, dass es in Einzel-fällen eine mathematische Notwendigkeit sein kann, Arzneimittel mit (voraussichtlich) niedrigen Erstattungsbeträgen in Deutschland nicht in Verkehr zu bringen oder sie nach gescheiterter Preisver-handlung vom deutschen Markt zurückzuziehen.

Mittlerweile liegen 13 Entscheidungen des LSG Berlin-Brandenburg und 5 Urteile des BSG vor, die sich mit einigen grundlegenden Fra-gen des AMNOG-Verfahrens beschäftigt haben. Die von den unter-

252 BT-Drs. 17/2413, S. 19 f.253 Vgl. § 78 Abs. 3 AMG.254 Vgl. grundlegend BVerfG, U. v. 17.12.2002, 1 BvL 28/95 – juris, Rd-Nr. 101 ff.255 BVerfG, B. v. 28.04.2007, 1 BvR 866/07 und BVerfG, B. v. 13.09.2005, 2 BvR 2/03,

jeweils zu den Herstellerabschlägen; BSG, U. v. 04.07.2018, B 3 KR 20/17 R – ju-ris, Rd-Nr. 37 zum Erstattungsbetrag für Albiglutid.

AMNOG: Zwei Ver-fahrensabschnitte

Gerichtliche Entscheidungen

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170 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

schiedlichen Senaten vertretenen Auffassungen waren dabei durch-aus unterschiedlich. Einige Fragen sind durch zwischenzeitliche gesetzgeberische Aktivitäten obsolet geworden. Nachfolgend wird auf einige alte und neue Fragen eingegangen.

3.9.2 Evidenzbasierte Medizin als Entscheidungsmaßstab im Nutzenbewertungsverfahren

Gesetzliche Grundlage des Nutzenbewertungsverfahrens ist § 35 a SGB V. Detaillierte Anforderungen an das Dossier und die Dossier-bewertung enthält diese Vorschrift nicht. Vielmehr ergeben sich nä-here Einzelheiten aus der AM-NutzenV und dem 5. Kapitel der Ver-fahrensordnung des GBA. Danach ist Kernelement des Nutzenbe-wertungsverfahrens die Orientierung an den internationalen Stan-dards der evidenzbasierten Medizin.256 Auch schon in der Vergangenheit hatte das BSG diesen (außerrechtlichen) Begriff zur Konkretisierung des Behandlungsstandards in der GKV zugrunde gelegt.257 Dabei hat das BSG bisher nicht erkannt oder jedenfalls nicht berücksichtigt, dass es in der evidenzbasierten Medizin kei-neswegs ein festgefügtes Konzept der Arzneimittelbewertung gibt, sondern im Rahmen der Methodik spielen eine Reihe von Bewer-tungsentscheidungen eine maßgebliche Rolle, die durch den GBA auf untergesetzlicher Ebene vorgenommen werden und keineswegs durch die Wahl der evidenzbasierten Medizin als Methodik zwin-gend präjudiziert sind.258 Begriffe, die für die Nutzenbewertung rele-vant sind, sind teilweise bewertungsoffen. Der Gesetzgeber hat bei-spielsweise den Nutzenbegriff nicht klar konturiert. Offen ist unter anderem, ob eine Graduierung unterschiedlicher Nutzendimensio-nen in Betracht kommt. Auch die Bedeutung der Patientenpräferenz ist nicht geregelt. Im Rahmen der grundrechtskonformen Auslegung des Leistungsrechtes hat zwar das BSG ausgeführt, dass der Pati-entenwunsch allein nicht dafür genüge, eine kurative einer palliati-ven Behandlungsmöglichkeit vorzuziehen.259 Daraus folgt aber nicht, dass die Patientenpräferenz generell keine Rolle spielt. Beispiels-weise könnte sie für die Gewichtung von Endpunkten herangezogen werden. Bei Arzneimitteln mit Zusatznutzen beruht der Erstattungs-betrag entscheidend auf dem monetarisierten Zusatznutzen. Das BSG hat dazu festgestellt, dass es keine anerkannte wissenschaftli-che Grundlage für die Monetarisierung des Zusatznutzens gebe.260 Vor dem Hintergrund, dass die Nutzenbewertung Grundlage des Erstattungsbetrages ist, der im Kern eine staatliche Preisregulie-rung bedeutet, erscheint die weitgehend autonome Festlegung der

256 Vgl. §§ 5 Abs. 2 Satz 2, 5 Abs. 3 Satz 2, 7 Abs. 2 Satz 5 AM-NutzenV.257 Z. B. BSG, U. v. 03.07.2012, B 1 KR 23/11 R – juris, Rd-Nr. 37.258 Vgl. Burgardt in: Voit (Hrsg.), Marktzugang unter den Bedingungen des AMNOG

– Werbung auf dem Markt, S. 39 ff.259 BSG, U. v. 08.10.2019, B 1 KR 3/19 R – juris, Rd-Nr. 30.260 BSG, U. v. 04.07.2018, B 3 KR 20/17 R – juris, Rd-Nr. 46; Kingreen, NZS 2011,

441, 443; Huster, NZS 2017, 681, 685 f.; zur fehlenden Nachvollziehbarkeit Grei-ner/Witte, AMNOG-Report 2015, S. 155 ff.

Herausforderung (außerrechtlicher) Begriffsdefinition

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1713 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Methodik durch die Selbstverwaltung mit stark zurückgenommener gerichtlicher Kontrolle fragwürdig.

Das LSG Berlin-Brandenburg hat in seinem später aufgehobenen Mischpreis-Urteil zu Albiglutid zurecht die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass die normative Anleitung zur Findung des Erstattungs-betrages sehr dünn sei.261 Die Politik drückt es etwas vornehmer aus, wenn es dort heißt, dass das AMNOG-Verfahren ein „lernen-des System“ sei.262 Die Gesetzgebungspraxis bestätigt dies. § 35 a SGB V ist seit Inkrafttreten des AMNOG zehn Mal geändert worden. § 130 b SGB V kann auf zwölf Änderungen zurückblicken.

3.9.3 Rechtschutzfragen

Die ersten prozessualen Auseinandersetzungen wurden über die Möglichkeiten der Bestandsmarktbewertung durch den GBA ge-führt. Gegenstand der damaligen Auseinandersetzungen war § 35 a Abs. 6 SGB V in der Fassung des AMNOG. Die Bestandsmarktbe-wertung wurde durch das 14. SGB V-Änderungsgesetz vom 27.03.2014 wieder aufgehoben, um dann – wenn auch in stark ab-geänderter Form – durch das AMVSG vom 05.04.2017 wiederbe-lebt zu werden. Im Rahmen des ursprünglichen Bestandsmarktbe-wertungsverfahrens nach § 35 a Abs. 6 SGB V in der Fassung des AMNOG vertrat das LSG Berlin-Brandenburg die Auffassung, dass eine gesonderte Klage gegen die Bestandsmarktbewertung des GBA und die vorhergehenden Entscheidungen des GBA, wie z. B. die Aufforderung zur Dossiereinreichung, nicht zulässig ist.263 Grund hierfür war die gesetzliche Regelung in § 35 a Abs. 8 Satz 1 SGB V, wonach eine gesonderte Klage gegen die Nutzenbewertung unzu-lässig sei. Vielmehr findet ein Rechtsschutz erst gegen die Entschei-dung der Schiedsstelle zum Erstattungsbetrag statt.264 Bisher offen geblieben ist in der Rechtsprechung, ob ausnahmsweise ein isolier-ter Rechtsschutz gegen GBA-Beschlüsse möglich ist, wenn diese willkürlich sind.265

Allerdings deutet sich in der aktuellen BSG-Rechtsprechung ein Wandel an. Während das LSG Berlin-Brandenburg davon ausge-gangen war, dass der Nutzenbewertungsbeschluss des GBA nur inzidenter im Rahmen der Überprüfung des Schiedsspruches über den Erstattungsbetrag überprüft werden könnte, vertritt das BSG die Auffassung, dass in dem Klageverfahren auch ein Feststellungsur-teil über die Rechtmäßigkeit des Nutzenbewertungsbeschlusses getroffen werden kann.266 Verfahrensrechtlich ist diese Änderung der

261 LSG Berlin-Brandenburg, U. v. 28.06.2017, L 9 KR 72/16 KL – juris, Rd-Nr. 128 ff.262 So die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage in BT-Drs. 18/10015,

S. 10.263 LSG Berlin-Brandenburg, B. v. 28.02.2013, L 7 KA 106/12 KL ER.264 § 130 b Abs. 9 Satz 8 SGB V.265 Erwogen, aber im konkreten Fall verworfen: LSG Berlin-Brandenburg,

B. v. 28.02.2013, L 7 KA 106/12 KL ER.266 BSG, U. v. 28.03.2019, B 3 KR 2/18 R – juris, Rd-Nr. 34 ff.

Mischpreis-Urteil des LSGs

Urteile zum Bestandsmarkt

Überprüfung des G-BA Beschlusses mittels Feststel-lungsurteil

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172 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

Rechtsprechung nachvollziehbar, weil eine inzidente Mitüberprü-fung des Beschlusses des GBA nicht dazu führt, dass dieser formal aufgehoben wird. Er steht vielmehr weiterhin im Raum. Bei einer bloßen Anfechtungsklage gegen den Schiedsspruch erwachsen auch die Gründe, die für die Aufhebung des Nutzenbewertungsbe-schlusses sprechen, nicht in Rechtskraft.

Darüber hinaus hat das BSG auch zum gerichtlichen Prüfungsmaß-stab nähere Ausführungen gemacht. Danach ist Ausgangspunkt der zur gerichtlichen Überprüfung gestellten Nutzenbewertung des GBA allein das Dossier des pharmazeutischen Unternehmers und den GBA trifft keinerlei Amtsermittlungspflicht.267 Deshalb darf das Ge-richt auch keine eigenständige, über den Inhalt des Dossiers des pharmazeutischen Unternehmers hinausgehenden Erwägungen anstellen. Vielmehr hat das Gericht (und auch der GBA) sowohl in Bezug auf die Kosten des zu bewertenden Arzneimittels als auch hinsichtlich der Kosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie sowie der damit verbundenen Kostenunterschiede allein auf das vom pharmazeutischen Unternehmer eingereichte Dossier zurückzugrei-fen. Für den pharmazeutischen Unternehmer hat dieser Prüfungs-maßstab erhebliche Folgen. Hält er beispielsweise eine andere zweckmäßige Vergleichstherapie als die vom GBA im Beratungsge-spräch festgelegten Vergleichstherapie für richtig, so muss er in sei-nem Dossier den Zusatznutzen auch anhand dieser zweckmäßigen Vergleichstherapie darlegen, wenn er später nicht die Chance ver-lieren will, die Wahl der zweckmäßigen Vergleichstherapie durch den GBA mit Aussicht auf Erfolg gerichtlich angreifen zu wollen.

Für die praktische Rechtsdurchsetzung kommt es entscheidend da-rauf an, wie tief die Kontrolldichte der gerichtlichen Überprüfung der Entscheidung der Schiedsstelle geht. Grundlegende Überlegungen gab es dazu bereits in dem sog. Mischpreisurteil des BSG.268 Schiedssprüche sind nur daraufhin zu überprüfen, ob sie die grund-legenden verfahrensrechtlichen Anforderungen und in inhaltlicher Hinsicht die zwingenden rechtlichen Vorgaben eingehalten haben. Die inhaltliche Kontrolle ist darauf beschränkt, ob der im Schieds-spruch zugrunde gelegte Sachverhalt zutrifft und ob die Schieds-stelle den ihr zustehenden Gestaltungsspielraum eingehalten, d. h. insbesondere die maßgeblichen Rechtsmaßstäbe beachtet hat. Da-bei haben die Gerichte zu prüfen, ob die Schiedsstelle den von ihr zugrunde gelegten Sachverhalt verfahrensfehlerfrei, d. h. in einem fairen Verfahren unter Wahrung des rechtlichen Gehörs ermittelt hat und ob der Schiedsspruch die Gründe für das Entscheidungsergeb-nis ausreichend erkennen lässt, wobei allerdings die Anforderungen an den Begründungsumfang gering sind.

Ausgehend von diesen allgemeinen rechtlichen Rahmenbedingun-gen sind allerdings die beiden zuständigen Senate des LSG Berlin-

267 BSG, a. a. O. – juris, Rd-Nr. 51.268 BSG, U. v. 04.07.2018, B 3 KR 21/17 R – juris, Rd-Nr. 17, 32 ff.; vgl. dazu

ergänzend Nitz/Grotjahn, A&R 2018, 248; Burgardt, PharmR 2018, 559.

pU Dossier als-Ausgangspunkt

des Prüfungsmaß-stabes

Kontrolldichte bei Schiedssprüchen

Unterschiedlicher Auffassung in

Senatskammern

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1733 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Brandenburg unterschiedlicher Auffassung. Nach Ansicht des 1. Se-nats des LSG Berlin-Brandenburg sind die gesetzlichen Tatbe-standsmerkmale, also insbesondere die zweckmäßige Vergleichs-therapie und die Kostenfestlegungen im Nutzenbewertungsbeschluss gerichtlich voll überprüfbar.269 Diese Entscheidung ist zwar durch das BSG aufgehoben worden,270 ohne dass sich der Senat aller-dings zu der Frage geäußert hätte, ob die Kostenfestlegungen ge-richtlich voll überprüfbar sind. Der 9. Senat des LSG Berlin-Bran-denburg ist hingegen der Auffassung, dass der GBA insgesamt über die Nutzenbewertung als Normgeber entscheidet.271 Dies bedeutet, dass GBA und Schiedsstelle hinsichtlich der Kosten einen weiten Beurteilungsspielraum haben, der gerichtlich nur sehr eingeschränkt überprüfbar ist. Jedenfalls im Hinblick auf die Jahrestherapiekosten-festlegungen erscheint die Auffassung des 9. Senats nicht überzeu-gend. In der Konsequenz handelt es sich bei der Erstattungsbe-tragsregelung um einen Akt der staatlichen Preisfestsetzung und damit um einen Eingriff in die Grundrechtssphäre des pharmazeuti-schen Unternehmers (s. o.). Die Jahrestherapiekosten der zweck-mäßigen Vergleichstherapie haben eine entscheidende Bedeutung für die Festlegung des Erstattungsbetrages. Bei Arzneimitteln ohne Zusatznutzen bilden die Jahrestherapiekosten die Preisobergren-ze.272 Bei Arzneimitteln mit Zusatznutzen stellen die Jahrestherapie-kosten den Aufsatzpunkt für die Monetarisierung des Zusatznutzens dar.273 Nach den Gesetzesmaterialien zum AMNOG soll der Erstat-tungsbetrag zu fairen Preisen führen.274 Ferner heißt es dort, dass für den Kostenvergleich maßgeblich die Jahrestherapiekosten sind, die sich bei der Anwendung des Arzneimittels ergeben; die Vertrags-partner sind verpflichtet, diese Kosten sachgerecht zu ermitteln.275 Zu der durch das GKV-VStG eingeführten Regelung zur Verwen-dung der Risikostrukturausgleichsdaten nach § 217 f SGB V in den Erstattungsbetragsverhandlungen276 hieß es in den Gesetzesmate-rialien, dass es Ziel der Regelung sei, für die Vereinbarung der Er-stattungsbeträge eine aussagekräftige Informationsgrundlage zur Verfügung zu stellen, damit die Kosten, die bei der Behandlung mit unterschiedlichen Arzneimitteln entstehen, angemessen berück-sichtigt werden; hierfür sei es erforderlich, das tatsächliche Versor-gungsgeschehen in der Gesetzlichen Krankenversicherung zugrun-de zu legen.277 Auch dies spricht nicht für einen Gestaltungsspiel-raum des GBA oder der Schiedsstelle bei der Kostenfeststellung.

269 LSG Berlin-Brandenburg, U. v. 25.01.2018, L 1 KR 295/14 KL – juris, Rd-Nr. 142.270 BSG, U. v. 28.03.2019, B 3 KR 2/18 R.271 LSG Berlin-Brandenburg, U. v. 27.03.2019, L 9 KR 263/14 KL – juris, Rd-Nr. 94,

106.272 § 130 b Abs. 3 Satz 1 SGB V.273 So § 5 Abs. 2 RahmenV.274 BT-Drs. 17/10156, S. 86 und BT-Drs. 17/2413, S. 31.275 BT-Drs. 17/2413, S. 31.276 S. § 130 b Abs. 9 Satz 5 SGB V277 BT-Drs. 17/8005, S. 119.

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174 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

Zu der Frage der gerichtlichen Kontrolldichte wird es also noch wei-terer Urteile bedürfen, damit hier zukünftig mehr Klarheit entsteht.

3.9.4 Gouvernance

Eine bisher ungelöste Frage wird in der Literatur häufig mit „Gover-nance“ bezeichnet. Damit ist die starke Rolle des GKV-Spitzenver-bandes im Gesamtverfahren gemeint. Wie oben ausgeführt, besteht das AMNOG-Verfahren aus zwei Verfahrensabschnitten, nämlich der Nutzenbewertung und der Erstattungsbetragsverhandlung. Die Erstattungsbetragsverhandlung führt der GKV-Spitzenverband.278 Er ist aber zugleich auch einer der wesentlichen Stakeholder des GBA, der die vorangehende Nutzenbewertung durchführt, die eine wis-senschaftlich unabhängige Begutachtung der Zweckmäßigkeit ei-nes Arzneimittels bewirken soll.279 Daher sind vor der Beschlussfas-sung auch die Stellungnahmen der Fachkreise insbesondere der medizinischen und pharmazeutischen Wissenschaft und Praxis, der Berufsvertretung der Apotheker, der pharmazeutischen Unterneh-mer und ihrer Spitzenorganisationen einzuholen.280 § 35 a Abs. 5 SGB V ermöglicht, dass der Nutzenbewertungsbeschluss an den sich verändernden Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse kon-tinuierlich angepasst wird.

Mit dem GKV-Spitzenverband ist allerdings eine Institution an dem Bewertungsprozess innerhalb des GBA beteiligt, dem es entspre-chend seiner Aufgabenstellung ganz wesentlich um möglichst nied-rige Arzneimittelpreise geht.281 Der GKV-Spitzenverband hat Ein-fluss auf die Entwicklung der Methodik, die der Nutzenbewertung zugrunde liegt und die in hohem Maße von Bewertungsentschei-dungen abhängt (s. o.). In die Entwicklung der Methodik ist zwar auch das IQWiG involviert, dessen Stellung aber ebenfalls nicht un-abhängig ist.282

Eine ganz wesentliche Bedeutung für die Aussicht des pharmazeu-tischen Unternehmers, einen Zusatznutzen nachweisen zu können, ist die durch den GBA festlegte zweckmäßige Vergleichstherapie. Ihre Festlegung erfolgt allerdings nicht in einem geregelten Verfah-ren, an dem der pharmazeutische Unternehmer formal beteiligt wer-den würde, sondern sie wird durch den GBA einseitig festgelegt. Der pharmazeutische Unternehmer hat nur die Möglichkeit, sich über die zweckmäßige Vergleichstherapie durch den GBA beraten zu las-

278 § 130 b Abs. 1 Satz 1 SGB V.279 BT-Drs. 17/2413, S. 20.280 BT-Drs. 17/2413, S. 22.281 Kritisch zur „Governance“ Burgardt in: Voit (Hrsg.), Marktzugang unter den Be-

dingungen des AMNOG – Werbung auf dem Markt, S. 27, 32 f.; Cassel/Ulrich, AMNOG auf dem ökonomischen Prüfstand – Funktionsweise, Ergebnis und Re-formbedarf der Preisregulierung für neue Arzneimittel in Deutschland, S. 6, 7, 8; Greiner/Witte, AMNOG-Report 2015, S. 163 f.

282 Burgardt in: Voit (Hrsg.), Die Neuordnung des Arzneimittelmarktes – Veränderun-gen und Perspektiven, S. 9, 37 ff.

Rolle des GKV-Spitzenverbandes

Kollision mit monodirektionaler

Zielsetzung

Einseitige Festle-gung der zVT

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1753 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

sen und er kann seine Sicht der Dinge in das Beratungsgespräch einfließen lassen. Erst durch den neuen § 35 a Abs. 7 Satz 4 SGB V in der Fassung des GSAV vom 09.08.2019 ist die Möglichkeit der Beteiligung der Fachkreise an der Festlegung der zweckmäßigen Vergleichstherapie vorgesehen. Die Beratung erfolgt zwar formal durch die Geschäftsstelle des GBA, tatsächlich finden aber wesent-liche Festlegungen durch den Unterausschuss statt, in dem wieder-um der GKV-Spitzenverband eine starke Stellung hat.

In der Rechtsprechung hat bisher das Thema der Governance keine Rolle gespielt.283 Diese hängt eng mit der Frage zusammen, ob der GBA als Institution eine ausreichende demokratische Legitimation aufweist. Das BSG bejaht dies in ständiger Rechtsprechung. Das BVerfG hat dies bisher hingenommen, aber erkennen lassen, dass eine ausreichend demokratische Legitimation des GBA jedenfalls gegenüber denjenigen Dritten zweifelhaft sei, für die keine Partizipa-tion als Betroffene in dem Verfahren möglich ist.284 In der Rechtslite-ratur wird die demokratische Legitimation des GBA verbreitet in Zweifel gezogen.285 Das BMG hatte sich wegen der anhaltenden Kritik dazu entschlossen, zur Frage der ausreichenden verfassungs-rechtlichen Legitimation des GBA mehrere Rechtsgutachten einzu-holen, die zu keinem einheitlichen Ergebnis kamen, sondern das Meinungsbild in der juristischen Literatur wiedergaben.286 Aus der Rechtsprechung des BVerfG kann man herleiten, dass es für jede einzelne Entscheidung des GBA darauf ankommen könne, inwie-weit er für seine Entscheidung gesetzlich angeleitet sei. Das BSG ist bisher davon ausgegangen, dass zumindest im Allgemeinen für den GBA in der Regelung in § 35 a SGB V eine ausreichende normative Anleitung für das Nutzenbewertungsverfahren zu sehen ist.287 Die Fragen, die sich aus der „Governance“ ergeben, sind allerdings bis-her noch nicht gerichtlich behandelt worden.

3.9.5 Fragen zum Anwendungsbereich des AMNOG

Naturgemäß stellt sich im AMNOG-Prozess zunächst die Frage, ob das zu beurteilende Arzneimittel dem Nutzenbewertungsverfahren unterfällt oder nicht. Die bestehenden Regelungen werfen dabei ei-ne Reihe von Fragen auf.

283 Vgl. zur Governance Vorderwülbecke, PharmR 2013, 149; Ebsen, MedR 2018, 931; Fuhrmann/Klein/Fleischfresser-Knieps, Arzneimittelrecht, § 48, Rd-Nr. 12 ff.; Frick/Bungenstock, in: Wille (Hrsg.), Verbesserung der Patientenversorgung durch Innovation und Qualität, 19. Bad Orber Gespräche über kontroverse The-men im Gesundheitswesen, S. 104, 107 f.

284 BVerfG, B. v. 10.11.2015, 1 BvR 2056/12.285 Vgl. die Nachweise bei Burgardt in: Anhalt/Dieners, MP-Recht, § 29, Rd-Nr. 20.286 www.bundesgesundheitsministerium.de/service/publikationen/ministerium/de-

tails.html?bmg[pubid]=3162.287 BSG, U. v. 04.07.2018, B 3 KR 20/17 R – juris, Rd-Nr. 42 f.

Gutachten zu ver-fassungsrechtli-chen Limitation des G-BA

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176 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

Freistellung von der Nutzenbewertung

Der verhandelte (oder durch die Schiedsstelle festgelegte) Erstat-tungsbetrag gilt nicht nur für die Arzneimittelabgaben zulasten der GKV, sondern auch zu Gunsten aller Selbstzahler und sonstigen Kostenträgern. Auch die Herstellerabschläge i. S. d. § 130 a SGB V sind auf die Privaten Krankenversicherungen erstreckt worden. Die Rechtsprechung hat diese Ausweitung der Abschlagspflicht zu Gunsten Privater als zulässig angesehen.288 Es spricht einiges da-für, dass die Gerichte auch die Erstreckung des Erstattungsbetra-ges auf die Selbstzahler als zulässig ansehen werden. Nach § 4 Abs. 7 RahmenV hat der pharmazeutische Unternehmer die Mög-lichkeit, das Produkt vom Markt zurückzuziehen und dadurch die Festlegung eines Erstattungsbetrages abzuwenden. Weitere Opt-Out-Möglichkeiten hat die Industrie nicht.

Lediglich § 35 a Abs. 1a SGB V sieht eine kleine Ausnahme vor. Da-nach kann der GBA pharmazeutische Unternehmer auf Antrag frei-stellen, wenn zu erwarten ist, dass den gesetzlichen Krankenkas-sen nur geringfügige Ausgaben für das Arzneimittel entstehen wer-den. Der GBA hatte in § 15 VerfO (5. Kapitel) die Geringfügigkeits-schwelle so operationalisiert, dass der maßgebliche Grenzwert bei einem Umsatz auf AVP-Basis in Höhe von 1 Million Euro innerhalb eines Zeitraums von 12. Kalendermonaten lag. Es war allgemeiner Konsens, dass die Krankenhausumsätze nicht mitgerechnet wur-den, so dass die reinen Krankenhausprodukte über § 35 a Abs. 1a SGB V von einem Nutzenbewertungsverfahren befreit werden konn-ten.289 Der GBA hat durch Beschluss vom 16.03.2018 den § 15 Ver-fO (5. Kapitel) geändert und die Beschränkung der Berechnung der Umsatzgrenze auf ambulante Umsätze gestrichen. Diese Änderung bewirkt, dass nun auch die stationären Umsätze in die Berechnung der Umsatzschwelle einbezogen werden. Es ist allerdings zweifel-haft, ob der GBA zu einer solchen Änderung zur Berechnung der Umsatzschwelle berechtigt ist, denn die systematische Stellung des § 35 a SGB V im Gesetz spricht dafür, dass nur verordnete Arznei-mittel und keine stationären Arzneimittelumsätze Berücksichtigung finden können. § 78 Abs. 3 Satz 3 AMG sieht zwar vor, dass der Abgabepreis des phar ma zeu tischen Unternehmers (und damit auch der Erstattungsbetrag) auch für den stationären Bereich den Höchsteinkaufspreis darstellt. Dies stellt aber eine Erstreckung außerhalb der Systematik des SGB V dar und ändert nichts daran, dass im stationären Krankenhausbereich keine Arzneimittel zu Las-ten der GKV verordnet werden. Vielmehr sind die Arzneimittelkosten durch die Fallpauschalen nach § 7 Abs. 1 KHEntgG mit abgegolten. Deshalb ist es auch nicht folgerichtig, die stationären Umsätze zur Berechnung der Umsatzschwelle mit heranzuziehen.290

288 BGH, U. v. 30.04.2015, I ZR 127/14.289 Burgardt in: Voit (Hrsg.), Die Neuordnung des Arzneimittelmarktes – Veränderun-

gen und Perspektiven, S. 9, 22.290 Kritisch zur neuen Regelung ebenfalls Anders/Fiekas, A&R 2018, 106 ff.

Abschlagspflicht auf PKV zulässig

Ausnahme bei Ge-ringfügigkeits-

schwelle

Einbezug stationärer

Umsätze

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1773 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen

Das AMNOG-Verfahren findet nur Anwendung auf erstattungsfähige Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen. Nicht erstattungsfähig sind ins-besondere die Arzneimittel, die nach § 34 SGB V nicht verordnungs-fähig sind (z. B. Life-Style-Arzneimittel). Die Frage, ob ein Wirkstoff „neu“ ist, ist eng verknüpft mit dem arzneimittelrechtlichen Unterla-genschutz nach Art. 10 der Richtlinie 2001/83/EG.291 Die Anwen-dung der Regeln zum arzneimittelrechtlichen Unterlagenschutz auf das Nutzenbewertungsverfahren sind allerdings nicht trivial.292 Rechtspraktisch ist die Problematik geworden im Fall des Wirkstof-fes Ivermectin. Dieser Wirkstoff ist seit vielen Jahrzehnten bekannt und wird in Deutschland auch ebenso lange eingesetzt. Er war in Deutschland aber für die Anwendung beim Menschen arzneimittel-rechtlich nicht zugelassen, in anderen EU-Staaten hingegen schon. Obwohl es sich daher bei Ivermectin um einen bekannten Stoff han-delte, dessen erstmaliger Unterlagenschutz nach der Richtlinie 2001/83/EG durch die Zulassung in anderen EU-Ländern längst ab-gelaufen war, nahm der GBA gleichwohl einen neuen Wirkstoff an. Das LSG Berlin-Brandenburg beanstandete dies nicht.293

Auch die Frage der Abgrenzung zu Behandlungsmethoden bereitete in der Bewertungspraxis des GBA Schwierigkeiten. Während der GBA zunächst dazu neigte, AMTPs i. S. d. § 4 Abs. 9 AMG als Be-handlungsmethoden anzusehen und sie dadurch nicht dem AM-NOG-Regime zu unterwerfen, änderte er bei den CAR-T-Zelltherapi-en seine Auffassung, um diese möglichst zeitnah einer Bewertung unterziehen zu können. Der Gesetzgeber hat durch das GKV-FKG vom 22.03.2020 nachträglich die Position des GBA gestärkt und durch die Änderung des § 35 a Abs. 1b Satz 1 SGB V die ATMPs gesetzlich dem AMNOG-Regime unterworfen. Eine Ausnahme gilt nur für die biotechnologisch bearbeiteten Gewebeprodukte, für die die Abgrenzung zwischen Produkt und Behandlungsmethode nach den bisherigen Maßstäben des GBA vorzunehmen ist.294

Weitere Probleme ergaben sich bei den sog. PUMAs nach der Ver-ordnung (EG) Nr. 1901/2006. Definitionsgemäß handelt es sich hier um bekannte Stoffe, die also keine neuen Wirkstoffe i. S. d. § 35 a Abs. 1 Satz 1 SGB V darstellen. Gleichwohl unterwirft der GBA die-se nach § 2 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 VerfO (5. Kapitel) dem AMNOG-Re-gime. Diese „Konkretisierung“ durch den GBA ist mit dem gesetzli-chen Rahmen kaum zu vereinbaren.

Regelmäßig werden Streitigkeiten über die Einbeziehung von Wirk-stoffen in den AMNOG-Prozess dennoch nicht zu gerichtlichen Aus-einandersetzungen führen. Bleibt der pharmazeutische Unterneh-mer im Markt und einigt er sich mit dem GKV-Spitzenverband auf

291 Vgl. § 2 Abs. 1 AM-NutzenV.292 Vgl. Sträter/Burgardt/Bickmann, Schutz geistigen Eigentums an Arzneimitteln,

S. 97 ff.293 LSG Berlin-Brandenburg, B. v. 23.12.2015, L 1 KR 550/15 KL ER.294 BT-Drs. 19/17155, S. 127.

Deklaration eines „neuen“ Wirkstoffes

AMTPs – Behand-lungsmethode oder AMNOG- Produkt?

Erstattungsbe-tragsverhandlung als Ausweg

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178 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

einen Erstattungsbetrag, wird einer Klage gegen die Einbeziehung des PUMAs in das AMNOG-Verfahren die Grundlage entzogen.295

Orphan Drugs

Die Orphan Drugs haben eine Sonderstellung, die allerdings zuneh-menden Einschränkungen unterliegt. Nach § 35 a Abs. 1 Satz 11 SGB V gilt der medizinische Zusatznutzen durch die arzneimittel-rechtliche Zulassung als belegt. Der pharmazeutische Unternehmer muss daher auch nur ein reduziertes Dossier einreichen, so dass der pharmazeutische Unternehmer keine Unterlagen zum medizini-schen Nutzen und Zusatznutzen einreichen muss. Er kann sich aber auch für die Einreichung eines Volldossiers entscheiden, das dann nach den üblichen Grundsätzen bewertet wird (§ 35 a Abs. 1 Satz 15 SGB V). Die Privilegierung als Orphan Drug gilt aber nur, solange der Umsatz innerhalb von 12 Kalendermonaten den Betrag zu Apo-thekenverkaufspreisen in Höhe von 50 Millionen Euro nicht über-steigt. Auch hier kam es zunächst nur auf die ambulanten Verord-nungsumsätze an. Durch das GSAV vom 09.08.2019 hat der Ge-setzgeber durch die Änderung des § 35 a Abs. 1 Satz 12 SGB V auch die stationären Umsätze für die Berechnung der Umsatz-schwelle mit einbezogen.

Nach dem durch das GSAV vom 09.08.2019 eingefügten § 35 a Abs. 3b SGB V kann der GBA insbesondere bei Orphan Drugs von pharmazeutischen Unternehmern die Durchführung von anwen-dungsbegleitenden Datenerhebungen fordern. Dabei kann der GBA die Verordnungsbefugnis auf solche Leistungserbringer beschrän-ken, die an der geforderten anwendungsbegleitenden Datenerhe-bung mitwirken (§ 35 a Abs. 3b Satz 2 SGB V). Die näheren Einzel-heiten zur Umsetzung dieser Norm soll der GBA in seiner Verfah-rensordnung bestimmen.296 Nach der Homepage des GBA soll dies in der Plenumssitzung des GBA am 16.07.2020 geschehen und für Zolgensma® als erstem Arzneimittel eine solche anwendungsbeglei-tende Datenerhebung vorgesehen werden. Schon der Begriff „an-wendungsbegleitende Datenerhebung“ spricht dafür, dass damit keine randomisierte klinische Prüfung im Sinne des Goldstandards der üblichen GBA-Methodik gemeint ist. Auch die Gesetzesmateria-lien bestätigen dies.297 Der GBA hat das IQWiG damit beauftragt, dazu eine Methodik zu entwickeln. Das IQWiG hat diesen Auftrag mit einem Rapid Report erledigt.298 Das Gesetz hat viele Fragen of-fengelassen. Eine Verpflichtung des GBA, konkrete Vorgaben zur

295 So jedenfalls für Ivermectin das LSG Berlin-Brandenburg, U. v. 19.10.2018, L 1 KR 558/15 KL.

296 § 35 a Abs. 3b Satz 3 SGB V.297 BT-Drs. 19/8753, S. 61; unklar bleibt aber, was mit den in der BT-Drs. 19/10681,

S. 85 genannten „notwendigen anwendungsbegleitenden Interventionen“ ge-meint ist.

298 Rapid-Report vom 13.05.2020 (Auftrag A19-43) zu Konzepten zur Generierung versorgungsnaher Daten und deren Auswertung zum Zwecke der Nutzenbewer-tung von Arzneimitteln nach § 35 a SGB V.

Vereinfachte Nutzenbewertung

GSAV: Schaffung anwendungsbe-

gleitender Daten-erhebung

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1793 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Methodik und zu patientenrelevanten Endpunkten zu bestimmen, ist erst durch die Beschlussempfehlungen des Gesundheitsausschus-ses in den Gesetzestext aufgenommen worden.299 Ebenfalls in den Beschlussempfehlungen ist vorgesehen, dass der GBA die im Rah-men der Erfüllung gewonnenen Daten auch wirklich heranziehen muss und sie nicht schlicht als unbrauchbar verwerfen darf.300 Wei-tere verfahrensrechtliche Regelungen sind dann erst durch das GKV-FKG vom 22.03.2020 ergänzt worden.

Für die Praxis wird es eine entscheidende Frage sein, ob der GBA über die anwendungsbegleitende Datenerhebung im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens im Sinne des SGB X durch Verwaltungsakt entscheidet oder ob die Auflage als Teil eines untergesetzlichen Normsetzungsprozesses anzusehen ist. Für Letzteres mag spre-chen, dass nach § 35 a Abs. 3b Satz 11 SGB V für die Beschlüsse des GBA Abs. 3 Satz 4 bis 6 entsprechend gelten sollen. Demzufol-ge wird der Beschluss über die anwendungsbegleitende Datenerhe-bung Teil der Arzneimittel-Richtlinie werden, die das BSG als unter-gesetzliche Rechtsnorm ansieht. Andererseits spricht der durch das GKV-FKG vom 22.03.2020 neu eingefügte Satz 12 für ein Verwal-tungsverfahren, weil ein Vorverfahren ausdrücklich ausgeschlossen wird. Eine solche Regelung ist aber nur sinnvoll, wenn man die Maß-nahmen als Verwaltungsakt ansieht, denn in Normsetzungsverfah-ren gibt es kein Vorverfahren. Man kann als Mittelweg auch an eine ähnliche Konstruktion denken, die das BSG für Klagen gegen Ent-scheidungen im Rahmen der Medizinprodukte-Ausnahmeliste nach §§ 31 Abs. 1 Satz 2, zweiter Halbsatz SGB V entwickelt hat.301 An-gesichts der vom Gesetzgeber gewollten detaillierten Festlegung des Studienkonzeptes und der ebenfalls vom Gesetzgeber be-zweckten engen Bindung des GBA an dieses Konzept bei den wei-teren Entscheidungen im Nutzenbewertungsverfahren, erscheint die Annahme eines normgeberischen Gestaltungsspielraums für den GBA fernliegend. Regelhaft hat der GBA zudem anderweitige Datenerhebungen für das Arzneimittel zu berücksichtigen.302 Um dies ausreichend zu gewährleisten, muss der GBA die für die Arz-neimittelzulassung zuständigen Bundesoberbehörden beteiligen.303 Diese mannigfaltigen Bindungen sprechen nicht für einen normge-berischen Gestaltungsspielraum des GBA. Insgesamt kann man da-her festhalten, dass sich für die anwendungsbegleitende Datener-hebung sowohl inhaltliche als auch verfahrensrechtliche Fragen stellen.

Die Ergebnisse der anwendungsbegleitenden Datenerhebung kön-nen erhebliche Folgen für die Höhe des Erstattungsbetrages haben. Nach § 130 b Abs. 3 Satz 8 SGB V ist der vereinbarte Erstattungs-

299 Vgl. BT-Drs. 19/10681, S. 40.300 BT-Drs. 19/10681, S. 57 zur Aufnahme des neuen Abs. 2a in § 7 AM-NutzenV.301 Vgl. grundlegend BSG, U. v. 13.05.2015, B 6 KA 14/14 R.302 § 35 a Abs. 3b Satz 5 SGB V.303 § 35 a Abs. 3b Satz 7 SGB V.

Offene Frage des Verfahrensrechts

Auswirkung Er-stattungsbetrag

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180 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

betrag in angemessenem Umfang zu senken, wenn sich auch an-hand der gewonnenen Daten keine Quantifizierung des Zusatznut-zens belegen lässt. Deshalb ist die Frage von so entscheidender Bedeutung, unter welchen rechtlichen Rahmenbedingungen die Datenerhebungsauflage entsteht. Entscheidend wird also sein, ob die neue Methodik des GBA eine bessere Quantifizierung des Zu-satznutzens überhaupt zulässt. Im Falle einer voraussichtlich unzu-reichenden oder nicht durchführbaren Datenerhebung kann der GKV-Spitzenverband sogar vor Ablauf der vom GBA für die Neubewertung gesetzten Frist eine neue Verhandlung des Erstattungsbetrages nach § 130 b Abs. 3 Satz 9 SGB V verlangen. Da die Neuverhandlung „nach Maßgabe der Sätze 7 und 8“ stattfin-den soll, ist auch für diesen Fall mit einer Absenkung des Erstat-tungsbetrages zu rechnen.304

Auch noch in einem weiteren Punkt hat sich die Situation für Orphan Drugs verschlechtert. Nach § 7 Abs. 8 Satz 1 AM-NutzenV in der Fassung des GSAV vom 09.08.2019 ist nun unter Angabe der Aus-sagekraft der Nachweise das Ausmaß des Zusatznutzens zu quan-tifizieren. Dies operationalisiert der GBA in der Weise, dass er nun auch für Orphan Drugs die Aussagekraft mittels der Einstufung als Beleg, Hinweis oder Anhaltspunkt angibt. Ferner sieht § 5 Abs. 8 Satz 2 AM-NutzenV vor, dass bei einem nicht quantifizierbaren Zu-satznutzen danach zu differenzieren ist, ob ein Zusatznutzen vor-liegt, aber nicht quantifizierbar ist, weil die wissenschaftliche Daten-grundlage dies nicht zulässt oder weil die erforderlichen Nachweise nicht vollständig sind. Es ist leicht zu prognostizieren, dass dies nicht ohne Auswirkungen auf die Erstattungsbetragsverhandlungen bleiben wird.

Insgesamt kann man daher festhalten, dass Orphan Drugs gesetz-geberisch einem wechselvollen Spiel unterlegen sind. Im ursprüng-lichen Gesetzentwurf zum AMNOG war noch keine Privilegierung der Orphan Drugs vorgesehen. Dies ist im laufenden Gesetzge-bungsverfahren zum AMNOG noch geändert worden. Durch das GSAV vom 09.08.2019 und durch das GKV-FKG vom 22.03.2020 ist die Privilegierung aber wieder deutlich eingeschränkt worden. Inwie-weit hierbei „Lerneffekte“ des Gesetzgebers oder aber Lobbybemü-hungen der Kostenträger motivierend waren, ist aus den Gesetzes-materialien nicht zu erschließen.

Reserveantibiotika

Weitere Besonderheiten gelten für Reserveantibiotika. Das GKV-FKG vom 22.03.2020 hat in § 35 a SGB V einen neuen Abs. 1c ein-gefügt. Danach werden Anbieter von Reserveantibiotika von der Vorlage der Nachweise nach § 35 a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 und Nr. 3 SGB V auf Antrag freigestellt. Der pharmazeutische Unternehmer

304 Vgl. zur anwendungsbegleitenden Datenerhebung Natz, A&R 2019, 117; Lietz/Zumdick, PharmR 2019, 493.

Bestimmung der Aussagekraft

Antrag auf Freistellung

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1813 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

muss diesen Antrag vor dem Zeitpunkt der erstmaligen Dossierver-pflichtung stellen. Eine Frist sieht der Gesetzeswortlaut nicht vor. Allerdings soll hierzu der GBA die näheren Verfahrensregelungen in seiner Verfahrensordnung bestimmen. Ein entsprechender Be-schluss liegt noch nicht vor. Nach dem Gesetzeswortlaut bestimmt das Robert-Koch-Institut im Einvernehmen mit dem BfArM Kriterien zur Einordnung eines Antibiotikums als Reserveantibiotikum. Dies muss bis zum 31.12.2020 geschehen. Beschließt der GBA dann auf Grundlage seiner Verfahrensordnung, die er ebenfalls bis zum 31.12.2020 anzupassen hat, eine Freistellung nach § 35 a Abs. 1c Satz 1 SGB V, gilt der Zusatznutzen des Reserveantibiotikums als belegt. Weder das Ausmaß des Zusatznutzens noch seine thera-peutische Bedeutung sind dann vom GBA zu bewerten.

Dass die ergänzenden Regelungen durch das RKI und durch den GBA erst zum 31.12.2020 zu bestimmen sind, bedeutet nicht, dass die Privilegierung der Reserveantibiotika erst für Zulassungen ab dem 31.12.2020 gilt. Vielmehr hat der Gesetzgeber keine spezielle Übergangsvorschrift vorgesehen, so dass die neue Regelung in § 35 a Abs. 1c SGB V zum gleichen Zeitpunkt wie das gesamte GKV-FKG in Kraft getreten ist. In seinem F&Q-Dokument hat der GBA deshalb spezielle Regelungen für die Übergangszeit vorgese-hen.305

3.9.6 Rechtliche Herausforderungen für neue Produktgruppen

Neue Produktgruppen werfen für die Praxis neue Fragen auf.

Arzneimittel für neuartige Therapien

Nach der Legaldefinition in § 4 Abs. 9 Satz 1 AMG sind Arzneimittel für neuartige Therapien (ATMP) Gentherapeutika, somatische Zell-therapeutika oder biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte nach Art. 2 Abs. 1 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 1394/2007. Wie oben bereits ausgeführt, hatte der GBA zunächst ATMPs den Be-handlungsmethoden und nicht den Arzneimittelprodukten zugeord-net. Diese Auffassung hat er aber mit der arzneimittelrechtlichen Zulassung der beiden CAR-T-Zelltherapien geändert, die unter den Handelsnamen Yescarta® und Kymriah® vertrieben werden. Beide Produkte hat er einem Nutzenbewertungsverfahren unterzogen.306 Die beiden Nutzenbewertungsbeschlüsse zeichnen sich durch sehr umfassende Vorgaben zur qualitätsgesicherten Anwendung aus. Es ist allerdings zweifelhaft, ob auf Grundlage des § 35 a Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 SGB V solche umfassenden Vorgaben gemacht werden kön-nen, die auch über den Inhalt der arzneimittelrechtlichen Zulassung

305 www.g-ba.de/ themen/arzneimi t te l /arzneimi t te l - r icht l in ie-an lagen/nutzenbewertung-35a/faqs/#wie-wird-in-der-ubergangszeit-mit-antragen-zur-freistellung-nach-35a-abs-1c-sgb-v-reserveantibiotika-verfahren.

306 Siehe die Nutzenbewertungsbeschlüsse des G-BA vom 02.05.2019 (Yescarta®) und vom 07.03.2019 (Kymriah®).

Fall CAR-T- Zelltherapien

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182 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

deutlich hinausgehen. Praktische Bedeutung wird diese Frage aber voraussichtlich nicht mehr erlangen, weil der Gesetzgeber durch das GSAV vom 09.08.2019 in § 136 a SGB V einen neuen Abs. 5 eingefügt hat, der den GBA – im Benehmen mit dem Paul-Ehrlich-Institut – eine Ermächtigungsgrundlage für die Festlegung von An-forderungen an die Qualität und die Anwendung von ATMPs ge-schaffen hat. Es liegt bereits ein Beschluss des GBA vom 23.06.2020 zur Überführung der bisherigen Qualitätssicherungsregelungen aus den Nutzenbewertungsbeschlüssen in einen eigenständigen Be-schluss zur Qualitätssicherung vor. Erstaunlicherweise wird dieser Beschluss unter der Anlage XII zur Arzneimittel-Richtlinie geführt. In der Anlage XII sind die Nutzenbewertungsbeschlüsse aufgeführt. Der Gesetzgeber hat aber gerade die Qualitätssicherungsregelun-gen für ATMPs von dem Nutzenbewertungsverfahren entflechten wollen.

Die CAR-T-Zelltherapien werden derzeit nur stationär eingesetzt. Trotz ihrer potentiell kurativen bzw. zumindest kausalen Wirkung sind sie durch die Krankenhäuser nach ihrer Marktverfügbarkeit zu-nächst kaum verwendet worden. Als wesentlicher Hinderungsgrund wurde von Krankenhäusern die unzureichende bzw. unerklärte Ver-gütungssituation für die Gentherapien genannt. Das Phänomen, dass Vergütungsregelungen maßgeblichen Einfluss auf die Art und Weise der Leistungserbringung haben, ist auch aus anderen Leis-tungsbereichen der GKV bekannt. Unzureichende Vergütungsrege-lungen können zu einer „stummen Rationierung“ führen.307 Auch der Bericht der Enquete-Kommission „Ethik und Rechte moderner Me-dizin“ weist auf den kausalen Zusammenhang zwischen Vergü-tungsregelung und implizierter Priorisierung hin.308 Grund für die ungeklärte Vergütungssituation war die sog. NUB-Lücke, die zur Fol-ge hat, dass Innovationen, die im stationären Vergütungssystem noch nicht abgebildet sind, erst nach Durchlaufen des NUB-Verfah-rens nach § 6 Abs. 2 KHEntgG vergütet werden. Die Situation hat sich zwar durch die letztjährige Entscheidung des BVerwG etwas entspannt, weil danach auch die NUB-Entgelte der Ausgleichsrege-lung nach § 15 KHEntgG unterfallen.309 Diese Rechtsprechung ver-kürzt zwar die NUB-Lücke, beseitigt aber jedenfalls nicht das Liqui-ditätsproblem für die Krankenhäuser. Es fehlt daher – anders als im ambulanten Bereich – eine direkte Verzahnung zwischen erstmali-gem Inverkehrbringen eines Arzneimittels und der Vergütungssitua-tion des Krankenhauses. Obwohl der Gesetzgeber durch § 78 Abs. 3 Satz 3 AMG die Geltung des Erstattungsbetrages (als Höchstein-kaufspreis) auch für den stationären Krankenhausbereich angeord-net hat, fehlt eine vergütungsmäßige Entsprechung, die aber not-wendig wäre, um auch im stationären Krankenhausbereich einen schnellen Einsatz neuer Arzneimittel nach ihrer arzneimittelrechtli-chen Zulassung zu gewährleisten. Hier fehlt noch eine sinnvolle

307 Vgl. dazu z. B. Hoppe, MedR 2011, 216.308 BT-Drs. 15/5980, S. 24, 29.309 BVerwG, U. v. 05.12.2019, 3 C 28.17.

„Stumme Rationierung?“

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1833 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

Weiterentwicklung des stationären Vergütungsrechts, dessen Feh-len sich insbesondere für ATMPs nachteilig auswirkt, die ausschließ-lich im Krankenhausbereich Anwendung finden.

Jahrestherapiekostenbetrachtung

Im Rahmen des Nutzenbewertungsbeschlusses trifft der GBA auch Feststellungen zu den Jahrestherapiekosten des zu bewertenden Arzneimittels und der zweckmäßigen Vergleichstherapie. § 35 a Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 SGB V sieht demgemäß auch vor, dass der phar-mazeutische Unternehmer die Kosten der Therapie für die gesetzli-che Krankenversicherung anzugeben hat. Nähere Einzelheiten hier-zu enthält § 4 Abs. 8 AM-NutzenV. In der Praxis beschränkt sich der GBA auf die Betrachtung der Jahrestherapiekosten. Eine dahinge-hende zwingende Vorgabe enthält allerdings § 35 a SGB V nicht. Zwar stellen § 130 b Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 SGB V auf die Jahres-therapiekosten ab, aber dieses ist eher im Sinne einer Therapiekos-tenstandardisierung als eine verpflichtende Vorgabe der Kostenper-spektive anzusehen. Besondere Schwierigkeiten bereitet dies, wenn sich die Therapiekosten über einen längeren Zeitraum verteilen. So liegt es beispielsweise bei dem Wirkstoff Cladribin. Die arzneimittel-rechtliche Zulassung sieht hier einen 4-jährigen Therapiezeitraum vor, wobei die aktive Therapie nur in den ersten beiden Jahren je-weils über eine kurze Behandlungsphase erfolgt. Der GBA hat in seinem Nutzenbewertungsbeschluss310 die Jahrestherapiekosten für Cladribin zwar nicht für 4 Jahre, aber immerhin für 2 Jahre ange-geben. Dieses Beispiel zeigt, dass eine reine Jahreskostentherapie-perspektive nicht immer angemessen ist.

Besondere Schwierigkeiten bereiten Therapien, die nur einmalig an-gewendet werden.311 So liegt die Situation bei den CAR-T-Zellthera-pien. Solche Anwendungsmuster sind derzeit in den morbiditätsbe-zogenen Risikostrukturausgleich nicht abbildbar, da dort stets nur die Folgekosten erfasst werden und somit die rein einmalige Anwen-dung für die Krankenkassen keine ausreichende Refinanzierungs-möglichkeit über den Gesundheitsfonds ermöglicht. Auch Pay-for-Performance-bezogene Ratenzahlungsmodelle lassen sich im der-zeitigen Risikostrukturausgleich nicht sachgerecht abbilden.

Personalisierte Medizin

Der Trend in der Medizin geht hin zur stratifizierten oder personali-sierten Medizin. Die Arzneimittel werden also immer spezieller für immer kleinere Patientengruppen entwickelt, die z. B. in der Onkolo-gie insbesondere durch spezielle molekulargenetische Veränderun-gen definiert werden. Noch einen Schritt weiter gehen die sog. tumo-ragnostischen Verfahren. Hier wird das Arzneimittel nicht mehr für

310 Nutzenbewertungsbeschluss des G-BA vom 17.05.2018.311 Vgl. zu den Problemen im Risikostrukturausgleich Wasem et al., in: Wille (Hrsg.),

Nach der Regierungsbildung – vor den Reformen im Krankenhaus- und Arznei-mittelbereich, S. 97 ff.

Angabe zu Jahres-therapiekosten juristisch korrekt?

Herausforderung bei Einmal- Medikamenten

Nutzenbewertun-gen ohne Indikati-onsbezug?

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184 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten 3

eine spezielle Tumorart arzneimittelrechtlich zugelassen, sondern generell für Tumore mit einer spezifischen molekulargenetischen Veränderung. Zulassungsbegründend sind dann sog. Basket-Studi-en, mit denen nicht mehr die Wirksamkeit gegen eine spezielle Tu-morentität belegt wird, sondern es geht um den Nachweis, dass das Präparat generell gegen Tumore mit dieser spezifischen molekular-genetischen Besonderheit wirkt. Die übliche Bewertungsmethodik des IQWiG und GBA funktioniert allerdings indikationsbezogen. Die auf Grundlage einer Basket-Studie zugelassenen Arzneimittel wer-den aber keine ausreichenden Nachweise für die einzelnen Tumo-rentitäten haben, so dass auf dieser Grundlage kein Zusatznutzen-nachweis gelingen wird. Ein erstes Beispiel hierfür ist der Wirkstoff Larotrectinib. Das Arzneimittel ist zur Behandlung von soliden Tumo-ren mit einer NTRC-Genfusion zugelassen. Ausweislich des IQWiG-Berichts lagen Daten zu 15 Tumorentitäten vor. Erwartbar kam der GBA auf Grundlage seiner bisherigen Methodik zum Ergebnis, dass ein Zusatznutzen nicht belegt sei.312 Es stellt sich also die Frage, ob aus rechtlicher Sicht die derzeitige Methodik des GBA dazu geeig-net ist, sachgerechte Entscheidungen zu treffen. Aus den Tragenden Gründen des GBA zu dem Nutzenbewertungsbeschluss vom 02.04. 2020 ergeben sich hierzu keine Überlegungen und die Zusammen-fassende Dokumentation ist bisher noch nicht veröffentlicht. Die Fra-ge, wie mit tumoragnostischen Zulassungen im Rahmen der Nut-zenbewertung umgegangen werden soll, wird auch nicht nur auf ei-nen Einzelfall beschränkt sein, sondern auch in anderen Therapie-gebieten wird an Verfahren der personalisierten Medizin geforscht, bei denen sich ähnliche Fragen stellen werden. Die gesetzlichen und untergesetzlichen Vorschriften zu Nutzenbewertungsverfahren sehen jedenfalls kein strukturiertes Verfahren vor, wie mit methodi-schen Fragestellungen umgegangen werden soll, die durch neue Arzneimittel verursacht werden.

Es wird sich daher zeigen, ob das AMNOG wirklich ein „lernendes System“ ist, das in der Lage ist, auf neue Herausforderungen in an-gemessener Weise zu reagieren.

3.9.7 Fazit

Die Nutzenbewertung für Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen steht vor alten und vor neuen Herausforderungen. Die rechtliche Einstu-fung des Nutzenbewertungsbeschlusses als untergesetzliche Norm-setzungsentscheidung räumt dem GBA einen großen Gestaltungs-spielraum ein mit einer stark limitierten gerichtlichen Kontrolldichte. Auch die Aufsicht des BMG über den GBA beschränkt sich auf eine reine Rechtsaufsicht. Mit der Methodenbewertungsverfahrensord-nung (MBVerfV) vom 23.06.2020 hat das BMG wieder ein Stück Deutungshoheit über die Methodik zurückgewonnen. Die Selbstver-waltung hat sich heftig gegen gesetzgeberische Eingriffe in ihre bis-312 Nutzenbewertungsbeschluss vom 02.04.2020.

Alte und neue Herausforderungen

bleiben

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1853 Zehn Jahre AMNOG: Rückblick und Ausblick aus Sicht der Beteiligten

herige Methodenwahlfreiheit gewehrt. Möglicherweise wird die Zu-kunft also dadurch geprägt sein, dass der Gesetzgeber- und der Verordnungsgeber wieder etwas mehr Deutungshoheit in der GKV zurückgewinnen.

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4. Zehn Jahre AMNOG: Der Blick von außen

4.1 The Pharmaceutical Pricing Debate in the U. S.: Compa-ring the Current U. S. situation to Germany

A guest article by: John Rother, President of the National Coalition on Health Care, Washington, DC

4.1.1 Introduction

The price of pharmaceuticals has been a top policy issue in the U. S., especially since the introduction of the $ 1,000 per pill Hep C drug Sovaldi in 2017. Drug prices are a top concern for Americans going into the fall elections. The issue is driven by the impact of ex-pensive drugs on out-of-pocket costs. While there have been several proposals in Congress to reform drug pricing, none have moved for-ward to date. This article will discuss the elements of U. S. debate and then compare leading proposals to the experience in Germany.

4.1.2 Price Trends for U. S. pharmaceuticals

In general, drug pricing is often opaque due to nature of U. S. patent law and the commercial distribution agreements between manufac-turers, pharmacy benefit managers (PBMs), and other distributors. U. S. patent law gives manufacturers of brand name drugs a monop-oly over a product for several years, meaning there is often little market competition to influence prices. The manufacturer sets list prices based on what the market will bear, not on any objective mea-sure of value or comparison to comparable treatments. Further, list prices usually do not reflect prices actually paid by purchasers due to discounts, rebates, coupons, and other mechanisms. There are indirect measures of prices paid by purchasers, however, and they are the most reliable indicators of a true “price”.

The situation is further complicated by the fragmented employ-er-based health insurance system in the U. S. Even the largest em-ployers lack market power to negotiate drug prices on their own, so they use PBMs to negotiate on their behalf. PBMs use formularies that play one drug against others in the same class, and either struc-ture cost sharing or deny coverage altogether as a way to manage utilization. PBMs do not disclose the results of these negotiations.

Employers have also resorted to high-deductible insurance plans in an effort to manage costs. However, very high deductibles often ex-ceed family savings, creating very serious access issues even for those with insurance.

List prices ≠ prices being paid

U.S. health insu-rance system

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188 Zehn Jahre AMNOG: Der Blick von außen 4

There are three distinct price trends that make generalizations about prices difficult. First, the generic market in the U. S. dominates the volume of prescribed drugs, but not costs. Generics are, for the most part, inexpensive, and the market is relatively competitive. Generics make up 90 % of prescribed drugs, yet only account for 22 % of total pharmaceutical costs.313 Over the past 10 years, average prices for generic drugs have actually decreased.314, 315 Second, there are branded drugs under patent protection. They may be subject to com-petition from other drugs for the same condition. The price for a brand drug is often discounted once other brand drugs for the same condition are introduced. Brand drugs as a class are subject to price changes as popular drugs go off-patent and open up to generic competitors. As a category, the costs for brand drugs has risen slightly faster than inflation.316

Abbildung 29: Express Scripts prescription price index, 2014–2019

The third category of drugs are the newest and by far the most ex-pensive – the biologics and specialty drugs. Because of their influ-ence on out-of-pocket costs especially, they are the focus of the cur-rent debate. These drugs can only be administered by a physician via injection – they are not pills. Most of the recently introduced bio-logics are cancer therapies, with prices in excess of $ 100,000 U. S. per year (€ 89,114).317 The category now also includes gene thera-pies that have tremendous promise to cure some childhood genetic conditions, but which have been priced at over $ 1,000,000 for a treatment. These drugs are still rarely used, but their price tags have generated concern as they become more widely used and produced. As of 2017, specialty medicines approached 50 % of spending across institutional and retail settings and represented the largest proportion of new medicines launched in the preceding 5 years.318

313 AAM (2019).314 IQVIA (2018).315 GAO (2016).316 Express Scripts (2019). 317 American Cancer Society (2020). 318 IQVIA (2018). www.iqvia.com/-/media/iqvia/pdfs/institute-reports/medicine-

use-and-spending-in-the-us-a-review-of-2017-and-outlook-to-2022.pdf?&_=1591984845711

Three trends about pricing

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1894 Zehn Jahre AMNOG: Der Blick von außen

Abbildung 30: Costly new drugs were a major driver of a recent spike in health spending

4.1.3 Public Concerns Over Drug Prices

U. S. consumers pay a relatively high proportion of the cost of drugs out-of-pocket, although how much varies widely according to the in-surance coverage a person has. What a person pays out-of-pocket is the major factor driving the politics of pharmaceutical pricing. Press coverage of people who are having severe difficulty paying for needed medications is distressing to most Americans, who believe that no one should be denied life-saving treatments. The challenges of those who cannot afford insulin for their diabetes, for example, is a frequent subject of media coverage319 and congressional hear-ings.320

The result is a historically high level of demand for change among almost all segments of the U. S. population. Even with the pandemic, concern for the cost of treatments continues to be high – among the top priorities as people look to government for solutions. Recent public opinion polls are indicative of the persistent concern that most Americans have about the cost of pharmaceuticals.321

319 Hanauer (2019). 320 House Committee on Oversight and Reform (2019).321 Witters (2020).

High out-of-pocket costs

High political rele-vance of drug costs for public

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190 Zehn Jahre AMNOG: Der Blick von außen 4

Abbildung 31: Half of Adults say it is extremly important for congress to work on prescription drug costs, pre-existing consitions protections

4.1.4 State and Private Proposals to Address Drug Pricing

The political power of the pharmaceutical industry has succeeded to date in delaying effective measures designed to control costs. That power is based on a combination of very substantial campaign con-tributions to political candidates, literally hundreds of paid lobbyists, industry disease groups that push for cures and defend manufactur-ers, and the concern that price restraints might impair the research and development investments that the industry claims are the keys to future therapeutic breakthroughs. Of course, the pandemic only reinforces the industry message that price restrictions could slow the efforts to develop a vaccine for COVID-19 or even cures for it. I will not analyze these claims here, but simply note that they have been effective in blocking effective legislative action to date.

Given the lack of congressional action, many of the states have moved to address pharmaceutical pricing.322 Even large states have only weak purchasing leverage on prices. They are precluded by federal law from direct price regulation, so they have been limited to various initiatives to require transparency by manufacturers. As of last year, a total of 33 states have enacted measures to address pricing and access issues.323 They range from authorizing the impor-tation of drugs from Canada to establishing oversight boards to re-view the prices the state will pay for certain drugs. The most typical state legislation is to require drug manufacturers to disclose the ba-sis for pricing decisions, such as the cost of development for the drug or the comparative effectiveness calculation that could justify a high launch price. The industry has challenged most of these efforts in court, and evidence of effectiveness in terms of price impact is so far missing.

322 Findlay (2019).323 NASHP (2020). https://nashp.org/rx-legislative-tracker/.

Power of the pharmaceutical

industry

Actions on states-level

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1914 Zehn Jahre AMNOG: Der Blick von außen

Private-sector employers carry the most direct cost burden for phar-maceuticals, given the employer-based health coverage system in the U. S. Employers have not been aggressive, however, despite the rising price tags they face for drugs. , Most importantly, even the largest businesses have only a small share of any given market and thus no real bargaining power. They also have been reluctant to lim-it coverage of certain drugs due to employee resistance. Even legis-lative advocacy has been muted because most are ideologically op-posed to greater regulation (in general). The business community is not united behind any particular policy remedy, and they have other priorities for their advocacy efforts.

The most visible effort to generate evidence-based comparative ef-fectiveness and affordability data is the Institute for Clinical and Eco-nomic Review (ICER). ICER reviews the comparative effectiveness of new and expensive drugs and assesses their affordability to the health system. Their work is attacked by the industry because ICER uses Quality Adjusted Life Years (QALYs) as a measure of affordabil-ity, even though ICER uses a very generous standard of $ 200,000 per QALY to assess affordability. Industry has succeeded in prohib-iting federal health and research agencies from doing comparative effectiveness analysis, and therefore ICER is funded entirely by philanthropy. The federal Food and Drug Administration (FDA) can consider only safety and effectiveness, not affordability, in approving new drugs.

4.1.5 Federal Legislative Proposals

Given the ineffectiveness of competition, state, or private efforts to address unaffordable drug prices, federal legislation is clearly nec-essary. Last year, two comprehensive measures were introduced, one in the House and one in the Senate, that have become the focus of debate. The measures share some components, and they each share some with the White House’s statements about elements it would support. The chart below illustrates these overlaps.324

324 McDermott Consulting (2019).

Discussion on sui-tability of QALYs in reviews

Two competitive proposals for fede-ral legislation

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192 Zehn Jahre AMNOG: Der Blick von außen 4

Abbildung 32: Overlap in Federal Legislative Proposals

The House proposal, H. R. 3, is the most comprehensive. It was passed by the House on December 11, 2019, on a largely party-line vote. The bill would require the Secretary of Health and Human Ser-vices to set prices for the costliest drugs on the basis of an interna-tional reference price standard. It would enforce these prices by us-ing the tax code, thereby ensuring that prices would be effectively constrained for all purchasers, both public and private.

The bill proposes that the Secretary „negotiate” prices for the most expensive 25 drugs to Medicare in the first year, based on their price and volume. The second year, up to 50 drugs would be subject to negotiations. Eventually, up to 250 of the costliest drugs would be subject to price negotiations each year. The starting point for negoti-ation would be a price no higher than 1.2 times the average price of the same drug in six other advanced countries (Australia, Canada, France, Germany, Japan, and the UK).

An international reference proposal replaced the original final offer arbitration proposal backed by the Speaker, as progressive Demo-crats did not trust that process to be either timely or as effective. Commercial arbitration has a generally poor reputation among the progressive Democrats for consumer redress for defective products or unfair practices. Out-of-pocket costs for Medicare beneficiaries would be limited, as would year over year price increases to no more than general inflation. According to cost estimates from the Con-gressional Budget Office, this bill would save about $ 450 billion in drug spending. It would finance the addition of dental, hearing, and vision benefits to Medicare beneficiaries.

The House bill has been opposed by the White House and has no chance of being considered in the Senate this year. However, it will be a strong basis for Democratic candidates to campaign on this fall. If former Vice President Biden is elected and the Democrats take the

Price Negotiation and international

referencing under H.R. 3

Top-priority for Democrats

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1934 Zehn Jahre AMNOG: Der Blick von außen

Senate, presumably this would be a top priority for early action in 2021.

In contrast, the Senate bipartisan proposal is more limited. Senators Grassley and Wyden, the Chair and Ranking Member of the Senate Finance Committee, introduced the Prescription Drug Pricing Re-duction Act of 2019. This bill was reported from the Finance Commit-tee in July 2019 with bipartisan support, although a majority of Re-publican members opposed certain elements. Republicans are par-ticularly wary of the limits on year over year price increases. Howev-er, unlike the House bill, the Senate proposal limits year-to-year price increases only for drugs in the Medicare program. It requires rebates back to Medicare from manufacturers for any price increas-es that exceed inflation. It does not address either the initial launch price of a drug, or the prices paid by commercial purchasers. It would cap out of pocket costs for Medicare beneficiaries and restructure the Part D drug benefit to make it more affordable.

According to the Congressional Budget Office, initial estimates of this legislation would lower out of pocket costs by $ 72 b over 10 years, lower insurance premiums by $ 1 b, and lower federal spending by $ 95 b.325 Despite support from the President, various consumer and employer groups, and some Republican senators, the legislation lacks majority support within the Republican caucus. The Majority Leader, Sen. McConnell, who controls which measures are brought forward, has refused to bring it to the floor for consider-ation by the full Senate without that support.

4.1.6 Prospects for Action in Coming Months

The pandemic has created uncertainty in every aspect of life, includ-ing the functioning of Congress. Nonetheless, the Senate bill could move later this year as an amendment to other „must pass” legisla-tion. There are obvious political benefits to supporting a drug pricing bill just before elections, and concerns about the potential expenses associated with the pandemic may well add to the public demand for action.

However, bipartisan cooperation is rare just before an important election. More likely, legislators will await the outcome of the elec-tion, when presumably a stronger Democratic majority can push some version through to enactment. Partisan considerations are least important immediately following an election, making early 2021 the most likely time for legislative action.

With drug prices in the U. S. so much higher than the rest of the world, and with very strong public demand for action, it seems inev-itable that Congress will act. As the overlapping graphic showed ear-lier, there are common elements to the proposals already on the ta-

325 www.cbo.gov/system/files/2019–07/PDPRA_preliminary_estimate.pdf.

Limitation of re-stricted annual price increases for Medicare only

Lack of majority support

Actions in light of presidential elec-tion in Fall 2020

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194 Zehn Jahre AMNOG: Der Blick von außen 4

ble, and compromise seems quite possible. Ideas from successful efforts in other countries, such as comparative effectiveness studies and arbitration, could play an important role in the final negotiations.

The politics of health policy in the U. S. have typically led to incre-mental, step-by-step reforms designed to avoid strong opposition from powerful stakeholders. Truly comprehensive reform is thus dif-ficult and rarely achieved absent the perception of a crisis.

4.1.7 Comparisons to the German System

Germany has many important similarities to the U. S. health insur-ance system. It has multiple private sector health insurance plans and is seen as a successful model that avoids a heavy-handed gov-ernment role. Germany prioritizes patient choice and availability of innovative drugs. Pharmaceutical prices in Germany are consider-ably lower than U. S. prices, without restricting the availability of new therapies. The U. S. spends $ 1,011 per capita on drugs compared to $ 686 in Germany.326 Finally, the German system seems to have gained acceptance among the pharmaceutical industry and other key stakeholders as one that promotes innovation and works well for patients.

To move forward with a similar approach, the U. S. would need to address several barriers. We lack certain key elements that are the basis for the German system. First, the U. S. has no public agency that assesses comparative effectiveness of new drugs compared to existing therapies. Second, the U. S. lacks broad familiarity with final offer arbitration outside of professional baseball salary negotiations. Consumers and their advocates are suspicious of arbitration. Finally, policy makers lack the credibility to make difficult trade-offs on be-half of all Americans, as the current response to the pandemic has demonstrated.

Nonetheless, I believe the success of the German system provides a constructive model for the Congress as it inevitably confronts the need to take action on drug prices. The challenge is great, but it is primarily a political one. Greater efforts are needed to explain the German system to Congress and health advocates. If key stakehold-ers can see the German system as one they can accept, then it will be important model for the compromises that must be made in the name of innovation and affordability.

4.1.8 Literature

American Cancer Society (2020): The Costs of Cancer, Addressing Patient Costs. Online available: www.fightcancer.org/sites/de-

326 Haeder (2019).

Strength of the German system

German system adoptable to U.S.?

Page 215: AMNOG-Report 2020 - DAK

1954 Zehn Jahre AMNOG: Der Blick von außen

fault/files/Costs%20of%20Cancer%20-%20Final%20Web.pdf.

Association of Accessible Medicines (2019): The Case for Competi-tion, 2019 Generic Drug & Biosimilars Access & Savings in the U. S. Report. Online available: https://accessiblemeds.org/sites/default/files/2019-09/AAM-2019-Generic-Biosimi-lars-Access-and-Savings-US-Report-WEB.pdf.

Express Scripts (2019): 2019 Drug Trend Report. Online available: www.express-scripts.com/corporate/drug-trend-report#2019-in-review.

Findlay, S (2019): States Pass Record Number of Laws to Reel in Drug Prices. Online available: https://khn.org/news/states-pass-record-number-of-laws-to-reel-in-drug-prices/.

Government Accountability Office (2016): Generic Drugs under Medicare, Part D Generic Drug Prices Declined Overall, but Some had Extraordinary Price Increases. Online available: www.gao.gov/assets/680/679022.pdf.

Haeder, S. (2019): Why the US has higher drug prices than other countries. The conversation, online available: https://thecon-versation.com/why-the-us-has-higher-drug-prices-than-oth-er-countries-111256.

Hanauer, L. (2019): Anger Over High Drug Prices in U. S. Online available: www.nytimes.com/2019/03/01/opinion/letters/drug-prices-united-states.html.

House Committee on Oversight and Reform (2019): Investigation of Skyrocketing Prescription Drug Prices. Online available: https://oversight.house.gov/investigations/investiga-tion-of-skyrocketing-prescription-drug-prices.

IQVIA (2018): Medicine Use and Spending in the U. S., A Review of 2017 and Outlook to 2022. Online available: www.iqvia.com/-/media/iqvia/pdfs/institute-reports/medicine-use-and-spend-ing-in-the-us-a-review-of-2017-and-outlook-to-2022.pdf?&&_=1597069358603.

Mc Dermott Consulting (2019): The overlap of drug pricing propos-als. Online available: www.mcdermottplus.com/insights/the-overlap-of-drug-pricing-proposals/.

National Academy for State Health Policy (2020): 2020 State Legis-lative Action to Lower Pharmaceutical Costs. Online available: www.nashp.org/rx-legislative-tracker/.

Witters, D. (2020): In U. S., 66 % Report Increase in Cost of Prescrip-tion Drugs. Online available: https://news.gallup.com/poll/308036/report-increase-cost-prescription-drugs.aspx.

Page 216: AMNOG-Report 2020 - DAK

196 Zehn Jahre AMNOG: Der Blick von außen 4

4.2 Gratulation mit Wunschliste – Europäischer Blick aus dem Nachbarland

Ein Gastbeitrag von: Dr. Sabine Vogler, WHO-Kooperationszentrum für Arzneimittelpreisbildung und –Erstattung, Abteilung Pharma-ökonomie, Gesundheit Österreich GmbH (GÖG), Wien

Den Abkürzungen AMNOG und EKO kommt eine über den Begriff hinausgehende Bedeutung zu, zumindest im jeweiligen Ausland. AMNOG gilt als Synonym für sämtliche Regelungen (inkl. Folgege-setze) des Marktzugangs von Medikamenten in Deutschland. Die Idee des österreichischen EKO (Erstattungskodex) steht für weit mehr als für eine Positivliste von erstattungsfähigen Medikamenten im niedergelassenen Sektor: nämlich für ein System, das die Evalu-ation eines Medikaments aus pharmakologischer, medizinisch-the-rapeutischer und ökonomischer Sicht als Grundlage für die Ent-scheidung über die Erstattung eines Arzneimittels beschreibt.

Neben solchen Ähnlichkeiten bestehen Unterschiede in der Arznei-mittelerstattung zwischen Deutschland und Österreich, wie im fol-genden Beitrag anlässlich des 10-Jahres-Jubiläums des AMNOG beleuchtet wird. Dabei beschränkt sich die Autorin nicht auf einen Vergleich Deutschlands mit Österreich, sondern analysiert einige Dimensionen des AMNOG durch eine europäische Brille, die weite-re Staaten einbezieht.

4.2.1 AMNOG-Dimensionen im Ländervergleich: AMNOG brachte Systemeinbettung von HTA

Der immerhin 34 Zeichen umfassende Kurzname (Arzneimittel-marktneuordnungsgesetz) wie auch die ausführliche Bezeich-nung „Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der ge-setzlichen Krankenversicherung“ sind außerhalb Deutschlands im Wesentlichen unbekannt, aber das auch von nicht der deutschen Sprache mächtigen Personen gut aussprechbare Akronym AMNOG genießt seit der Vorbereitung des Gesetzes internationale Aufmerk-samkeit, die über die Jahre weiter bestand.

Neben grundsätzlichem Interesse der internationalen Gemeinschaft an Deutschland hat dies vor allem zwei Gründe: Insbesondere in der Anfangsphase stand die Preisregulierung für Medikamente, die mit dem AMNOG (wenngleich in eingeschränkter Form) eingeführt wur-de, im Fokus des Interesses. Denn 2010 war Deutschland das einzi-ge verbliebene Land in der Europäischen Union (EU), das keinerlei Preisregulierung für patentgeschützte Arzneimittel vorgenommen hatte. Selbst das damalige EU-Land Großbritannien verfügte mit dem Gewinnregulierungssystem PPRS (Pharmaceutical Profit Re-gulation Scheme) über Mechanismen für indirekte behördliche

Assoziationen mit AMNOG und EKO

Internationale Betrachtung des

AMNOG

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1974 Zehn Jahre AMNOG: Der Blick von außen

Preisfestsetzung.327 In diesem Punkt zog Deutschland also dem eu-ropäischen Standard nach.

Vorbildgebend war hingegen die Einführung der „frühen Nutzenbe-wertung“, von der sich die Entscheidungsträger/innen in Österreich und in weiteren (mittel- und ost-)europäischen Ländern Ideen und Impulse für die HTA-Prozesse im eigenen Land erhofften.

Mittels des AMNOG wurden die Arbeiten des IQWIG systemisch in den Arzneimittelerstattungsprozess in Deutschland integriert. Hier wirkte Deutschland bei einer der Pioniere; in anderen Ländern wur-de dieser Schritt einer Einbettung eines (umfassenden) HTA in das Arzneimittelerstattungssystem erst später (z. B. Norwegen 2013, Portugal 2015) vorgenommen.328 Vielfach wurde dabei auf das er-folgreiche Beispiel Deutschland verwiesen.

Aus der Perspektive Österreichs ist eine solche Systemeinbettung von HTA richtungsweisend, da diese in Österreich in dieser Form noch nicht vollständig gegeben ist. Der Dachverband der österrei-chischen Sozialversicherungen (bis 2019: Hauptverband der öster-reichischen Sozialversicherungsträger) bewertet zwar den Zusatz-nutzen und die Wirtschaftlichkeit von Arzneimitteln, aber nur für Me-dikamente, die in den EKO (Erstattungsliste im niedergelassenen Sektor) aufgenommen werden sollen.

4.2.2 Methodenexzellenz und viel beachtete Ergebnisse der frühen Nutzenbewertung

Vor 20 Jahren war HTA noch nicht in Europa angekommen (das englische NICE war soeben erst gegründet). Vor zehn Jahren wur-den Institutionen wie IQWIG, NICE und die französische HAS (Hau-te Autorité de Santé) als führende HTA-Institutionen genannt, und es wurden hohe Hoffnungen in HTA gesetzt. Heute ist die Bedeu-tung der Nutzenbewertung bei neuen Medikamenten unbestritten, und AMNOG hat dazu einen wichtigen Beitrag geleistet.

Dies ist auch den hohen Qualitätsstandards der Methodik bei der „frühen Nutzenbewertung“ nach AMNOG geschuldet. Die Metho-denexzellenz verschafft Deutschland eine Vorreiterstellung und geht zugleich im Sinne der europäischen Solidarität mit hoher Verantwor-tung einher. Deutschland trifft auf die Erwartungshaltung anderer Länder, die dabei sind, ihr HTA-System auf- bzw. auszubauen und dafür Expertise aus dem AMNOG nutzen wollen.

Vor diesem Hintergrund ist auch das Bemühen um eine europäische Lösung über die Zukunft von HTA in Europa, also nach Auslaufen von EUNetHTA Joint Action 3, zu bewerten. Die unter den bulgari-schen und österreichischen EU-Ratspräsidentschaften begonnenen Verhandlungen zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäi-

327 Kullmann (2010).328 WHO Europa (2015).

Systematische Integration des IQWiGs in den Prozess

HTA System-einbettung in Österreich

Methoden -exzellenz AMNOG

EU-HTA

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198 Zehn Jahre AMNOG: Der Blick von außen 4

schen Parlaments und des Rates über die Bewertung von Gesund-heitstechnologien329 sind ein Balanceakt zwischen der Wahrung er-reichter hoher Standards (wie eben in Deutschland durch das AM-NOG) und einer europäischen Lösung, die adäquat und inklusiv für alle EU-Mitgliedstaaten ist.

Sowohl methodische Grundlagen wie auch Ergebnisse von HTA in Deutschland sind hierbei für die europäischen Staaten von Interes-se. HTA-Institutionen und Erstattungsbehörden in anderen Ländern prüfen häufig, ob nicht schon Ergebnisse der europäischen Top-3-Institutionen (IQWIG, NICE und HAS) vorliegen. Wenngleich jedes Land seine eigene Erstattungsentscheidung trifft, werden Ergebnis-se der „frühen Nutzenbewertung“ in anderen Ländern nicht selten als Referenz herangezogen.

Mit den Arbeiten zur „frühen Nutzenbewertung“ wurde auch der nicht belegte Zusatznutzen bei einer Reihe von Medikamenten auf-gezeigt.330 Damit wird auch ein wichtiger Beitrag zur internationalen Evidenzgenerierung über therapeutischen Nutzen und Zusatznut-zen von Medikamenten geleistet und ergänzt Arbeiten weiterer HTA-Institutionen bzw. Forscher/innen, die ebenfalls auf niedrigen bzw. nicht belegten (Zusatz-)Nutzen von neuen, tendenziell hochpreisi-gen Medikamenten hinwiesen.331

4.2.3 Quasi ein „Early Access“-Scheme für alle Medikamente

Die Exzellenz der „frühen Nutzenbewertung“ in Deutschland hin-sichtlich ihrer Methodik, Ergebnisse und Systemrelevanz steht die politische Entscheidung, im ersten Jahr jeglichen Preis zuzulassen, gegenüber, was die finanzielle Nachhaltigkeit des Solidarsystems gefährden könnte.

Dieses erste nicht-preisregulierte Jahr wurde selbst in einem an die Pharma-Industrie gerichteten Newsletter, der grundsätzlich die Preispolitik in Deutschland als „strict drug pricing controls“ bezeich-nete, als „lucrative pricing amnesty“332 bewertet.

In der Tat könnte das deutsche Modell quasi als „Early Access“-Scheme“ verstanden werden – als ein großzügiges, das sämtliche neue Wirkstoffe umfasst. Auch der „Rote Bereich“ des EKO in Öster-reich könnte als Early-Access-Mechanismus verstanden werden (Österreich hat kein ausgewiesenes Early-Access-Scheme). Der „Rote Bereich“ des EKO ist die „Einstiegspforte“ für neue Medika-mente in Österreich, deren Aufnahme in den EKO beantragt wurde. Während sich ein Medikament im „Roten Bereich“ befindet, durch-läuft es einer pharmakologischen, medizinisch-therapeutischen und ökonomischen Evaluation durch den Dachverband der österreichi-

329 Europäische Kommission (2018).330 Greiner et al. (2019).331 Davis et al. (2017), OECD (2017), WHO (2018).332 Adams (2016).

Richtungsweisen-de Ergebnisse der Top 3-Insitutionen

Preisfreiheit im ersten Jahr

Österreich: Preis-regulierung im

ersten Jahr

Page 219: AMNOG-Report 2020 - DAK

1994 Zehn Jahre AMNOG: Der Blick von außen

schen Sozialversicherungen. Das Ergebnis der Bewertungen ent-scheidet über Verbleib des Medikaments im EKO (d. h. Erstattung durch die Sozialversicherung), den (Erstattungs-)preis, die „be-stimmte Verwendung“ (z. B. Spezifikation hinsichtlich Indikation und Erst-, Zweit- oder Drittlinientherapie) und die Ausgestaltung der Ver-schreibungskontrolle (z. B. freie Verschreibung für Medikamente im grünen Bereich, Bewilligungsverfahren durch den kontroll- und chef-ärztlichen Dienst für Medikamente im Dunkelgelben Bereich und nachträgliche Stichproben-Überprüfung im Hellgelben Bereich), sie-he Abbildung 33. Ein entscheidender Unterschied zwischen Deutschland und Österreich besteht allerdings darin, dass auch für Arzneimittel im Roten Bereich Preisregulierung gilt – die Medika-mente dürfen nicht teurer als der europäische Durchschnittspreis sein. Entsprechend der EU-Transparenzrichtlinie333, die maximal 180 Tage für gemeinsame Preis- und Erstattungsentscheidungen vorsieht, dürfen Medikamente somit maximal ein halbes Jahr im Ro-ten Bereich verbleiben, dann muss eine Entscheidung über die zu-künftige Einordnung vorliegen.

Abbildung 33: Erstattungsfähige Arzneimittel in Österreich (Boxensys-tem)

Quelle: Vogler, Haasis & Zimmermann (2019), deutsche Übersetzung.

Frankreich verfügt mit der „ATU“ (Autorisation temporaire d’utilisation) über ein Early-Access-Scheme für Medikamente, die für die Be-handlung schwerer oder seltener Krankheiten bestimmt sind, für die es keine angemessene Therapie gibt und deren Behandlung nicht verschoben werden kann.334 In der frühen Phase besteht auch in Frankreich freie Preisbildung, d. h. das Pharma-Unternehmen darf dafür den Preis selbst festsetzen. Dies erfolgt vor Durchführung ei-nes HTA und der Preisverhandlung zwischen dem Unternehmen und dem Preiskommittee (Comité économique des produits de san-té / CEPS), bei der der finale Preis fixiert wird. Sollte aber der vorab vom Unternehmen festgelegte Preis den mit CEPS verhandelten Preis überschreiten, hat das Unternehmen Rückzahlungen zu leis-ten335. Der französische Weg bietet damit einen interessanten An-satz, der Ausgleich zwischen raschem Zugang zu Innovation und Leistbarkeit sucht.

333 Rat der Europäischen Gemeinschaften (1989).334 CEPS (2019).335 Vogler (2020).

Preisverhandlun-gen bei Marktein-führung in Frank-reich

Page 220: AMNOG-Report 2020 - DAK

200 Zehn Jahre AMNOG: Der Blick von außen 4

Der im Rahmen des Gesetzwerdung des Arzneimittel-Versorgungs-stärkungsgesetzes (AMVSG) 2016/2017 diskutierte Plan, den spä-teren Erstattungspreis ab einer Umsatzschwelle von 250 Millionen Euro im ersten Jahr rückwirkend gelten zu lassen336, hätte eine ähn-liche kostendämpfende Wirkung wie der französische Ansatz entfal-ten können. Die Autorin bedauert, dass diese Idee im parlamentari-schen Verfahren fallengelassen wurde.

4.2.4 Bedeutung der Nutzenbewertung für Krankenhausmedi-kamente

Wenngleich – wie oben gesagt – Deutschland mit der freien Preisbil-dung für Medikamente im ersten Jahr europaweit auffällt, sei der Vollständigkeit halber festgehalten, dass auch in anderen Ländern nicht immer die Preise aller Medikamente geregelt sind (vgl. Tabel-le 17). In den übrigen EU-Mitgliedstaaten werden insbesondere jene Medikamente preisreguliert, die von der öffentlichen Hand finanziert werden (erstattungsfähige Arzneimittel), und zwar bevor sie von den Pharma-Unternehmen auf den Markt gebracht werden.337

Tabelle 17: Preisregulierung in den Mitgliedsländern der Europäischen Union, der Europäischen Freihandelsassoziation (exkl. Lich-tenstein) und Großbritannien 2020

Länder Behördliche Preis-regulierung

Freie Preisbildung durch Unternehmen

Belgien, Litauen, Lu-xemburg, Malta, Nie-derlande, Zypern

Alle Arzneimittel –

Bulgarien, Griechen-land, Island, Norwe-gen, Portugal, Rumäni-en

Verschreibungspflichti-ge Arzneimittel

Nicht-verschreibungs-pflichtige Arzneimittel

Estland, Finnland, Frankreich, Großbritan-nien1, Irland, Italien, Kroatien, Lettland, Polen, Schweden, Schweiz, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, Ungarn

Erstattungsfähige Arz-neimittel

Nicht-erstattungsfähige AM Arzneimittel

Deutschland Erstattungsfähige Arz-neimittel ab dem zwei-ten Jahr ab Marktein-tritt

Nicht-erstattungsfähige Arzneimittel und erstat-tungsfähige Arzneimit-tel im ersten Jahr

336 AOK (2017).337 Vogler et al. (2019).

Referentenentwurf AMVSG

Preisregulierung im EU-Vergleich

Page 221: AMNOG-Report 2020 - DAK

2014 Zehn Jahre AMNOG: Der Blick von außen

Länder Behördliche Preis-regulierung

Freie Preisbildung durch Unternehmen

Österreich Erstattungsfähige Arz-neimittel im niederge-lassenen Bereich

Nicht-erstattungsfähige Arzneimittel und erstat-tungsfähige Arzneimit-tel im stationären Be-reich

Dänemark – Alle Arzneimittel2

1 Keine direkte Preisregulierung, aber indirekt (mittels Gewinnlimitierung) bei erstattungsfähigen Arzneimitteln2 Keine Preisregulierung, aber indirekt (Festsetzung eines Erstattungs-preises) bei erstattungsfähigen Arzneimitteln

Quelle: Vogler, Zimmermann & Haasis (2019), Aktualisierung mittels Informationen des Pharmaceutical Pricing and Reimbursement Information (PPRI)-Netzwerks

Österreich sticht allerdings in einem Punkt hervor: Dort beziehen sich die Preisregulierung – und auch die medizinischen und ökono-mischen Evaluationen – ausschließlich auf erstattungsfähige Medi-kamente im niedergelassenen Sektor. Es wird keine behördliche Preisregelung für in Krankenanstalten eingesetzte Medikamente vorgenommen. Dies hat bedeutende Implikationen:

• Dies bietet einen Anreiz für pharmazeutische Unternehmen, ihre Produkte nur im stationären Sektor einzuführen, weil sie dort im Rahmen der Verhandlung mit den Krankenanstalten bzw. deren Trägern den Preis gestalten können.338

• Wenngleich sich die Einkäufer bemühen, für ihre Beschaffungs-entscheidungen vorhandene Evidenz zu generieren und zu be-werten, werden im stationären Sektor keine umfassenden HTA durchgeführt. Als ein Lösungsansatz wurde das Pilot-Projekt „Spitals-HEK“ gestartet (HEK steht für die beim Dachverband der Sozialversicherungen angesiedelte Heilmittel-Evaluierungs-Kommission, welche den Nutzen der im niedergelassenen Sektor eingesetzten Medikamente bewertet). Im Rahmen der „Spitals-HEK“ werden für drei ausgewählte Medikamente des stationären Sektors Nutzenbewertungen vorgenommen.339

Auch in Deutschland war die Frage der Nutzenbewertung für Medi-kamente in Krankenanstalten jahrelang ein Diskussionsthema.

Nach Verabschiedung des Arzneimittel-Versorgungsstärkungsge-setzes (AMVSG), das die Gültigkeit des Erstattungsbetrags als Höchstpreis auch für die stationäre Versorgung klarstellte, gab der GBA im Jänner 2018 bekannt, dass Arzneimittel in eine Nutzenbe-wertung auch dann einbezogen werden, wenn ihr Einsatz aus-

338 In Österreich beschaffen Krankenanstalten bzw. Verbände selbst (kein zentraler Einkauf von Medikamenten, seltene Initiativen für trägerübergreifenden Einkauf), womit die Verhandlungsmacht der Einkäufer nicht übermäßig stark ist.

339 Wolf & Wild (2018).

Österreich: Be-schränkung auf Medikamente im niedergelassenen Sektor

AMNOG Gültigkeit im stationären Sektor

Page 222: AMNOG-Report 2020 - DAK

202 Zehn Jahre AMNOG: Der Blick von außen 4

schließlich auf den stationären Versorgungsbereich beschränkt ist.340 HTA für Medikamente im stationären Bereich wäre auch für Österreich ein wünschenswerter Standard.

4.2.5 Bedürfen Arzneimittel für seltene Krankheiten keiner Nutzenbewertung?

Für bestimmte Medikamente kommt in Deutschland ein modifizier-tes Verfahren der Nutzenbewertung zur Anwendung, etwa bei Medi-kamenten für Kinder, deren Zusatznutzen seit dem AMVSG nicht mehr mit Studien belegt werden muss, sofern diese bereits für Er-wachsene zugelassen sind.

Bereits seit Beginn des AMNOG gilt für Medikamente, die von der Europäischen Arzneimittelbehörde als Arzneimittel für seltene Krankheiten (Orphan Medicinal Products, OMP) eingestuft wurden, die Ausnahmeregelung, dass der Zusatznutzen durch die Zulas-sung als belegt gilt.

Auch in anderen Ländern werden Anreize für Arzneimittel für selte-ne Krankheiten gesetzt und auch höhere Preise gezahlt.341 Dahinter steht das Anliegen vieler Regierung, die medikamentöse Versor-gung auch kleineren Patientenpopulationen zu gewähren und For-schung und Entwicklung für scheinbar nicht lukrative seltene Krank-heiten zu fördern.

In den letzten Jahren wurden immer wieder Bedenken artikuliert, dass diese Anreize nicht unerwünschte Wirkungen gezeigt haben. In den „Schlussfolgerungen des Rates zur Verstärkung der Ausge-wogenheit der Arzneimittelsysteme in der EU und ihren Mitglied-staaten“ der niederländischen EU-Ratspräsidentschaft 2016 wurde in die Sorge geäußert, „dass die Unternehmen sehr hohe Preise verlangen können, obgleich der Zusatznutzen einiger dieser Arznei-mittel nicht immer eindeutig ist“342.

Eine Reihe von Beispielen zeigt auf, dass Unternehmen bei Arznei-mitteln für seltene Krankheiten eine Ausweitung der Indikation auf größere Patientengruppen vorgenommen haben (z. B. Nivoli mu-mab).343

Exzessive Preise und deren Kombination mit höherer Menge in Fol-ge ausgeweiteter Patientenpopulationen bei manchen „seltenen Arzneimitteln“ belasten öffentliche Budgets. Die deutsche Regelung, dass bei Überschreiten einer jährlichen Umsatzschwelle von 50 Mil-lionen Euro die frühe Nutzenbewertung auch für Arzneimittel für sel-tene Krankheiten durchgeführt wird, ist vor diesem Hintergrund gut nachvollziehbar.

340 G-BA (2018).341 Hughes-Wilson et al. (2012), Picavet et al. (2013).342 Rat der Europäischen Union (2016).343 Boulet et al. (2019).

Ausnahmerege-lung bei Orphan

Drugs

Herausforderung durch Indikations-

ausweitung

Page 223: AMNOG-Report 2020 - DAK

2034 Zehn Jahre AMNOG: Der Blick von außen

Die grundsätzliche Befreiung der Arzneimittel für seltene Krankhei-ten von der Nutzenbewertung birgt die Gefahr, ein Signal gegen die Relevanz von Evidenzgenerierung und Nutzenbewertung zu sen-den. In Österreich wird in Diskussionen manchmal das Argument vertreten, dass keine Nutzenbewertung für Arzneimittel für seltene Krankheiten durchgeführt werden müsse bzw. könne. Unbestritten ist, dass HTA-Bewertungen für Arzneimittel für seltene Krankheiten methodisch herausfordernd sind. Aus Sicht der Autorin sollte aber deshalb nicht von vornherein darauf verzichtet werden.

4.2.6 Wo steht Deutschland bei der Preistransparenz?

Ein zentrales Thema im Zusammenhang mit dem Zugang zu Medi-kamenten sind deren Preise. Die Rolle der Medikamentenpreise als zentrale Barriere für den Marktzugang wurde in früheren Jahren vor allem im Zusammenhang mit den wirtschaftsschwachen Staaten des globalen Südens diskutiert.344 Mittlerweile sind Arzneimittel mit „Mondpreisen“ auf dem Markt und stellen auch reichere Länder in Europa vor große Herausforderungen.

Vor diesem Hintergrund haben sich im letzten Jahrzehnt „Preismo-delle“ (dies ist der gängige Begriff in Österreich; in Europa meist als Managed-Entry-Agreements bezeichnet) als Finanzierungsmodus für als innovativ erachtete Medikamente etabliert. Darunter werden Vereinbarungen zwischen einem pharmazeutischen Unternehmen und dem Zahler bzw. Einkäufer wie einer Krankenanstalt verstan-den, bei denen unter bestimmten Voraussetzungen ein niedrigerer Preis zur Anwendung zukommt (z. B. Capping der Therapiedosen bzw. der zu behandelnden Patienten/ Patientinnen, therapieerfolgs-abhängige Pay-for-Performance-Abkommen bzw. Risk-Sharing-Ver-einbarungen). Voraussetzung ist im Allgemeinen, dass der verhan-delte rabattierte Preis und gegebenenfalls auch weitere Inhalte des Abkommens vertraulich gehalten werden. Während in Deutschland vertrauliche „Rabattverträge“ im patentfreien Markt üblich sind, wer-den diese Managed-Entry-Agreements anderorts vor allem für neue patentgeschützte Medikamente verhandelt.

Dies hat Konsequenzen. Zum einen im Zusammenhang mit der „Governance“, da die Zahler eine Einschränkung der Transparenz und damit des demokratischen Rechts der Bürger/innen auf Wissen über die Verwendung der Steuermittel in Kauf nehmen.

Zum anderen haben diese vertraulichen Managed-Entry-Agree-ments wirtschaftliche Auswirkungen auf die handelnden Staaten und darüber hinaus. Im AMNOG-Report des Vorjahres wurde in ei-nem Gastbeitrag kommentiert: „Der Glaube jedes einzelnen Staats selbst am meisten durch die Vereinbarung vertraulicher Preise zu profitieren, steht in einem interessanten Widerspruch dazu, dass gerade auch pharmazeutische Unternehmen vertrauliche Preise

344 WHO (2004).

Nutzenbewertung bei Orphan Drugs

Innovative Preismodelle

Governance Anspruch

Auswirkungen vertraulicher Preismodelle

Page 224: AMNOG-Report 2020 - DAK

204 Zehn Jahre AMNOG: Der Blick von außen 4

propagieren, um diese an ökonomische und gesundheitspolitische Aspekte anpassen zu können.345 In der Tat werden – wie auch durch eine empirische Analyse bei über 150 Medikamenten in sechs Län-dern belegt – die Rabatte seitens der Industrie hineinkalkuliert (im Falle konservativer Annahmen durchschnittlich knapp 6 % höhere Listenpreise bei Vorliegen von Managed-Entry-Agreements).346

Wenngleich diese vertraulichen Rabatte einzelnen Staaten Zugang zu teuren Medikamenten ermöglichen, halten sie damit das Preisni-veau insgesamt hoch. Denn die meisten europäischen Länder nut-zen die Methode des internationalen Preisvergleichs (External Price Referencing), zumindest als ergänzenden Ansatz, um Medikamen-tenpreise festzulegen (vgl. Abbildung 34). Sie können dazu nur die offiziell publizierten Listenpreise heranziehen und nicht die tatsäch-lich bezahlten rabattierten Preise (die ja vertraulich sind): damit er-mitteln sie einen höheren Benchmark-Preis, der vielfach nicht leist-bar ist. Der individuelle Ausweg der preisreferenzierenden Länder besteht dann darin, selbst ein Managed-Entry-Agreement abzu-schließen, dessen Echtpreise vertraulich gehalten werden.

Abbildung 34: External Pricing Referencing (internationaler Preisver-gleich) als Methodik für die Preisfestsetzung von Arznei-mitteln 2020

Darstellung für europäische Länder, die Mitglied im Behördennetzwerk Pharmaceuti-cal Pricing and Reimbursement Information (PPRI) sind.

Quelle: Vogler, Zimmermann, Haasis (2019), Aktualisierung mittels Informationen des PPRI-Netzwerks

Diese Situation stellt Regierungen vor einen Trade-Off zwischen Verantwortung für das eigene Land und globaler Solidarität. Es ist nachvollziehbar, dass sich einzelne, vor allem kleinere und wirt-

345 Haas et al. (2019)346 Pertile, Gamba, Vogler (2020).

Auswirkung auf internationalen Preisvergleich

Verantwortung vs. globale Solidarität

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2054 Zehn Jahre AMNOG: Der Blick von außen

schaftsschwächere Länder nicht in der Lage sehen, aus diesem System der vertraulichen Preisgestaltung „auszubrechen“. Es be-darf somit gemeinsamer internationaler Anstrengungen für mehr Transparenz in diesem Bereich. Vor diesem Hintergrund ist die Re-solution zur (Preis-)Transparenz der Weltgesundheitsversammlung 2019 zu sehen, die sowohl von der Weltgesundheitsorganisation als auch den Mitgliedstaaten Maßnahmen einfordert, um Transparenz über die Preise von Medikamenten, Forschungs- und Entwicklungs-kosten und weitere ökonomische Komponenten zu fördern.347

Im Rahmen der Förderung von Transparenz sollte auch darauf ge-achtet werden, dass bislang öffentlich zugängliche (Preis-)Daten auf einmal nicht mehr zugänglich sind. Deutschland gehört zu den Län-dern, das die Erstattungspreise von Arzneimitteln veröffentlicht. Dass der geplante Vorstoß im „Gesetz zur Stärkung der Arzneimit-telversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung“ (AMVSG) von 2017, die Erstattungspreise der Vertraulichkeit zu unterwerfen, nicht umgesetzt wurde, ist zu begrüßen. Auch in Österreich werden diese Preise (sogenannte „Kassenpreise“) publiziert. Davon unbe-nommen kann der Dachverband der Sozialversicherungen vertrauli-che „Preismodelle“ (Managed-Entry Agreements) abschließen. Als eine Errungenschaft für (wenngleich immer noch eingeschränkte) Preistransparenz in Österreich ist die Kennzeichnung jener Arznei-spezialitäten, die einem „Preismodell“ unterliegen, mit dem Kürzel „PM“ im Erstattungskodex zu werten. Damit bleibt die Vertraulichkeit gewahrt, zugleich wird quasi ein „Warnschild“ in den Raum gestellt, das auf die eingeschränkte Aussagekraft der publizierten Preise hinweist.

External Price Referencing spielt in Deutschland in der Praxis kaum eine Rolle. Nichtsdestominder lohnt sich ein Blick auf seine Metho-dik. Deutschland ist das einzige Land weltweit – soweit der Autorin bekannt –, dessen Gesetzgebung vorsieht, die rabattierten „Echt-preise“ in den anderen Ländern heranzuziehen. Nun könnte spitzfin-digerweise angemerkt werden, dass dies in der Praxis nicht umsetz-bar ist, weil eben diese „echten“ Preisdaten gar nicht zugänglich sind. Das ist richtig. Allerdings sendet allein die gesetzliche Ab-sichtserklärung, auf die rabattierten Preise zurückgreifen zu wollen ein wichtiges Signal an die internationale Gemeinschaft, dass Deutschland an transparenten Echtpreisen interessiert ist.

In diesem Sinne ist es umso bedauerlicher, dass sich Deutschland – gemeinsam mit Großbritannien und Ungarn – von der oben er-wähnten WHO-Resolution zur Preistransparenz distanziert hat.348

347 WHA (2019).348 Fletcher (2019).

Preistransparenz in Österreich

Rückgriff auf ra-battierte Preise in Deutschland

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206 Zehn Jahre AMNOG: Der Blick von außen 4

4.2.7 MEDNOG als Weg für die Zukunft?

Der Pharma-Markt ist stark reguliert. Dem gegenüber steht die rela-tiv geringe Regulierung des Medizinproduktemarkts, der sich durch eine Vielfalt von unterschiedlichen Produkten diverser Risikoklassen auszeichnet. Dies betrifft insbesondere auch den Marktzugang für Medizinprodukte, obwohl manche Medizinprodukte ausgabeninten-siv sind und die öffentlich finanzierten Solidarsysteme belasten kön-nen. Während – wie erläutert – in de facto allen EU-Ländern Preis-regulierung (bzw. Profitregulierung) für öffentlich finanzierte Medika-mente (jedenfalls im niedergelassenen Sektor) Standard ist, ist dies bei Medizinprodukten keineswegs der Fall. Auch die Aufnahme in die Erstattung wird meist nicht von HTA geleitet.

In Österreich zum Beispiel gilt freie Preisbildung für Medizinproduk-te, die von den Krankenkassen mittels einer Leistungspauschale fi-nanziert werden. In Griechenland hingegen kommen Elemente der Arzneimittelpreisbildung und Erstattung auch bei Medizinprodukten zur Anwendung (z. B. External Price Referencing für die Ermittlung des Erstattungspreises, Bildung von Festbetragsgruppen).349 Auch Frankreich hat für Medizinprodukte einen ähnlichen Prozess der Be-wertung, Preisbildung und Erstattung wie bei Medikamenten aufge-setzt: Eine für Medizinprodukte zuständige Kommission (Commissi-on nationale d’évaluation des dispositifs médicaux et des technolo-gies de santé / CNEDiMTS) der HTA-Institution HAS führt eine Be-wertung des zu erwartenden bzw. erzielten Nutzens und Zusatznutzens durch. Das Ergebnis der Nutzenbewertung bestimmt, ob ein Medizinprodukt erstattet wird und in welcher Höhe der zwi-schen dem Anbieter und dem Preiskommittee CEPS verhandelte Preis liegt.350

In Deutschland wird auf Basis des Gesetzes zur Stärkung der Ver-sorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Versor-gungsstärkungsgesetz) seit 2016 die frühe Nutzenbewertung für innovative, neuartige Verfahren mit Medizinprodukten in hohen Risi-koklassen (IIb und III) durchgeführt. Das IQWIG fordert, darüber hi-naus angesichts ihres „Budget Impacts“ für Gesamt-Gesundheits-system hochpreisige Medizinprodukte unabhängig von ihrer Risiko-klasse zu bewerten.351 Nichtsdestominder ist die bisherige Entwick-lung in Deutschland bereits wegweisend, da sie der Bedeutung von Medizinprodukten – und Behandlungskombinationen (Arzneimittel und Diagnostikum) in der personalisierten Medizin – Rechnung trägt.

349 Informationen der PPRI-Subgruppe für Medizinprodukte.350 CEPS (2019).351 Sauerland, Windeler (2018).

Kostenintensive Medizintechnik

Freie Preisbildung in Österreich

Wegweisende Nut-zenbewertung in

Deutschland

Page 227: AMNOG-Report 2020 - DAK

2074 Zehn Jahre AMNOG: Der Blick von außen

4.2.8 Statt einer Conclusio: Gratulation und ein paar Wünsche

Die vorangegangenen Überlegungen münden in drei Leitlinien, die sich durch das deutsche AMNOG-System ziehen:

1. AMNOG zeichnet sich durch Exzellenz aus: in Bezug auf seine Methodik, Prozesse und Strukturen – das ist Qualität auf höchs-tem Niveau.

2. AMNOG versucht eine Brücke zwischen gesundheits- und in-dustriepolitischen Zielsetzungen zu schlagen. Pointierter ge-sagt: Standortpolitische Überlegungen prägen den deutschen Pharmamarkt, so etwa das Free-Pricing-Jahr nach Markteinfüh-rung, und AMNOG ergänzt diese Grundsatzausrichtung um eine Public-Health-Perspektive.

3. AMNOG und insbesondere die Folgegesetzgebung des letzten Jahrzehnts spiegelt das Ringen zwischen den beiden Polen In-dustrie- und Gesundheitspolitik wider. In Folge dessen kommt es zu Widersprüchen. Das Beispiel der Preistransparenz illustriert dies gut: So gibt es einerseits Prinzipien der Transparenz in der HTA-Erstellung und den Wunsch, External Price Referencing auf Basis von rabattierten Preisen in anderen Ländern durchzufüh-ren sowie eine Offenlegung der offiziellen Erstattungspreise. An-dererseits widerspricht Deutschlands Position bei der WHO-Re-solution zur Transparenz diesem Wunsch nach Transparenz in der Preisgestaltung.

Was Deutschland entscheidet und umsetzt, ist hochgradig relevant: nicht nur für das Land selbst, sondern auch für seine Nachbarn, für Europa und weltweit. Die Autorin kann nicht einschätzen, ob sich Deutschland seiner Außenwirkung bewusst ist, möchte aber beto-nen, wie sehr sie bei ihrer Arbeit mit Behörden aus zahlreichen Län-dern (z. B. im Rahmen des Behördennetzwerks Pharmaceutical Pri-cing and Reimbursement Information PPRI352) erlebt, wie der Blick nach Deutschland gerichtet wird. Deutschland wird häufig als Vor-bild gewählt, und bei der Entwicklung von Politikmaßnahmen studie-ren andere Länder AMNOG als Modell. Dabei wird zuweilen verges-sen, dass AMNOG für den deutschen Markt mit spezifischer Stand-ortausrichtung in einem der reichsten Staaten der Welt entwickelt wurde und nicht eins zu eins auf andere Länder übertragen werden kann.

Mit seiner geopolitischen Bedeutung kann Deutschland in Europa und global gestalten. Bezogen auf die Arzneimittelpolitik bestehen unter anderem Handlungsoptionen, die im kommenden AMNOG-Jahrzehnt verstärkt genutzt werden können:

• Kooperation auf der fachlichen Ebene: Vom Austausch und der Vermittlung der deutschen Exzellenz in methodischer und fachli-cher Hinsicht (Stichwort HTA) könnten insbesondere Länder, de-

352 Vogler et al. 2014.

AMNOG als Vorbild

Geopolitische Bedeutung Deutschlands

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208 Zehn Jahre AMNOG: Der Blick von außen 4

ren Strukturen und Prozesse sich erst im Aufbau befinden, profi-tieren.

• Diskussionsanstöße zur europäischen Solidarität in der Arznei-mittelversorgung: Deutschlands Wort hat in der europäischen „Familie“ und international Gewicht. Themen, die – wenngleich in unterschiedlicher Brisanz – alle EU-Mitgliedstaaten betreffen (z. B. Zugang zu Innovation, Lieferengpässe), kommen schneller auf die Agenda, wenn sie von Deutschland betrieben werden. Für wirtschaftsschwächere Länder, letztlich aber für alle EU-Mitglied-staaten, wäre es daher unterstützend, wenn Deutschland Fragen des solidarischen und leistbaren Zugangs zu Medikamenten aus gesundheitspolitischer Perspektive vorantreiben könnte.

• EU-Ratspräsidentschaft: Konkret könnte die EU-Ratspräsident-schaft im zweiten Halbjahr 2020 dazu genutzt werden, um den Diskurs über Patientenzugang zu Arzneimitteln in Europa voran-zutreiben. Dass die „Geburt“ des ANMOG genau in diesen Zeit-raum fällt, ist eine gute Gelegenheit.

Die Autorin möchte diese kritische Würdigung des AMNOG mit zwei praktischen Wünschen bzw. Anregungen schließen.

• „AMNOG für Dummies“: Das deutsche Arzneimittelerstattungs-system ist komplex und – auf Grund seiner Änderungen über die Jahre – schwierig zu beschreiben. Die Autorin wünscht sich von Wissenschaft oder Behörden eine umfassende und zugleich kompakte verständliche Darstellung des aktuellen AMNOG-Sys-tems, die über bestehende Kurz-Infographiken hinausgeht und auch relevante Änderungen im Laufe der Jahre beschreibt. Einen AMNOG-Report light quasi.

• Kommunikation mit grenzüberschreitender Perspektive: Wie ausgeführt, werden Debatten in Deutschland von anderen Län-dern verfolgt. Sie sind somit nicht mehr nur „intern“. Daher würde es begrüßt, wenn bei Diskussionen über die Weiterentwicklung des AMNOG auch der Implikationen jenseits der Grenze mitge-dacht werden könnten.

In diesem Sinne: Gratulation, AMNOG, zum ersten Jahrzehnt. Die Teenager-Jahre werden bestimmt weitere Herausforderungen brin-gen, deren Bewältigung die europäischen Länder mit hohem Inter-esse verfolgen werden.

4.2.9 Literatur

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Page 229: AMNOG-Report 2020 - DAK

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213

5. Zahlen, Daten, Fakten

5.1 Anzahl und Art abgeschlossener Nutzenbewertungen

Insgesamt sind bis Ende 2019 259 Arzneimittel (bzw. 265, davon aber einige unter zwei verschiedenen Handelsnamen) mit neuen Wirkstoffen bzw. Wirkstoffkombinationen in 439 Verfahren im AM-NOG-Prozess bewertet worden (vgl. Tabelle 18). 92 dieser Arznei-mittel wurden in insgesamt 171 Verfahren wenigstens ein zweites Mal bewertet, primär aufgrund der Zulassung eines weiteren An-wendungsgebietes. 65 % aller erneuten Nutzenbewertungsverfah-ren (n = 112/171) entfielen auf entsprechende Indikationserweite-rungen. 10 % aller bislang abgeschlossenen Nutzenbewertungsver-fahren sind wiederum auf erneute Bewertungen der erstzugelasse-nen Indikation eines Arzneimittels nach Ablauf eines befristeten Nutzenbewertungsbeschlusses zurückzuführen.

Im Jahr 2019 wurden insgesamt 90 Nutzenbewertungsverfahren durch den GBA abgeschlossen. Dies entspricht einen neuen Höchst-wert. Nachdem bereits im Vorjahr mit 72 abgeschlossenen Bewer-tungsverfahren so viele Nutzenbewertungsbeschlüsse durch den GBA veröffentlicht wurden wie in keinem der Jahre zuvor, steigt sich diese Anzahl in 2019 noch einmal um 25 %. Zudem hat der GBA in 2019 erstmals seit dem Jahr 2014 wieder selbstständig eine erneute Nutzenbewertung gemäß § 35 a Abs. 1 SGB V i. V. m. § 3 Abs. 1 Nr. 4 AM-NutzenV und 5. Kapitel § 13 VerfO veranlasst. In den Verfahren zu Atezolizmab, Pembrolizumab und Radium-223-dichlorid lagen dem Aufruf zu einer erneuten Nutzenbewertung neue wissenschaft-liche Erkenntnisse aus laufenden Studien und einer damit verbun-denen Änderung des zugelassenen Anwendungsgebietes zugrun-de. Die erneute Nutzenbewertung von Insulin-Degludec wurde ebenfalls aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse aus einer abgeschlossenen Studie veranlasst. Insulin-Degludec war jedoch zwischenzeitlich nicht auf dem deutschen Markt verfügbar und wur-de zum 1. Dezember 2018 erneut in Verkehr gebracht.

439 Nutzenbewer-tungsverfahren abgeschlossen

Neuer Höchst-stand in 2019

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214 Zahlen, Daten, Fakten 5

Tabelle 18: Anzahl und Grundlage der vom GBA abgeschlossenen Nut-zenbewertungsverfahren

Nutzenbewertung 20112018 2019 Gesamt

Erstbewertung* 228 40 268

Erneute Nutzenbewertung eines bekannten Wirkstoffes

121 50 171

Neues Anwendungsgebiet 79 33 112

Auf Antrag des GBA 1 4 5

Auf Antrag des pU 12 4 16

Nach Fristablauf** 23 (24) 4 27 (28)

Umsatzschwelle Orphan Drugs***

6 (11) 1 (3) 7 (14)

Geringfügigkeitsschwelle 0 1 1

Gesamtzahl 349 90 439

Gesamtzahl mit Dossierbewertung

332 87 419

* Unter den Erstbewertungen sind fünf Wirkstoffe, welche unter zwei Handelsnahmen separat vertrieben werden. Der GBA seine Verfahrens-praxis dahingehend angepasst, dass er Wirkstoffe, die zum Markteintritt in zwei verschiedenen Anwendungsgebieten zugelassen sind, inzwi-schen in zwei separaten Verfahren bewertet. Dadurch erklärt sich die Abweichung der Anzahl der Erstbewertungen zur oben genannten An-zahl bislang nutzenbewerteter neuer Arzneimittel.** Im erneuten Nutzenbewertungsverfahren von Eribulin (Beschlussfas-sung 22.01.2015) wurde eine Änderung des Anwendungsgebietes paral-lel zur abgelaufenen Beschlussbefristung bewertet. Dieses Verfahren wird in der vorliegenden Zählung als „neues Anwendungsgebiet“ gezählt. In „()“ wird die Anzahl entsprechender Verfahren mit Doppelzählung an-gezeigt.*** In acht weiteren Verfahren wurde im Rahmen der Bewertung eines neuen Anwendungsgebietes eine erneute Nutzenbewertung erstmalig nach Überschreiten der für Orphan Drugs geltenden Umsatzschwelle bzw. der mit Zulassung des weiteren Anwendungsgebietes verbundenen Aufhebung des Orphan Drug Status durchgeführt. In „()“ wird die Anzahl entsprechender Verfahren mit Doppelzählung angezeigt.

Quelle: Eigene Darstellung, Stand: 31.12.2019.

Die Erhöhung der Anreize zur Einreichung von Herstellerdossiers durch das AMVSG 2017, wonach Wirkstoffe ohne eingereichtes Dossier nur zu einem geringeren Beitrag als die zVT erstattet wer-den, schlägt sich weiterhin in der Praxis nieder. In insgesamt 95 % aller Nutzenbewertungsverfahren hat der pharmazeutische Unter-

Dossier-einreichung

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2155 Zahlen, Daten, Fakten

nehmer bis Ende 2019 ein Nutzendossier vorgelegt.353 In 2019 gab es jedoch erneut zwei Fälle ohne Dossiervorlage: Einen neu einge-führten Wirkstoff (Vigabatrin, PUMA-Zulassung, Hersteller bean-tragte für beide zugelassenen Anwendungsgebiete die Freistellung aufgrund von Geringfügigkeit) sowie die Zulassung eines neuen An-wendungsgebietes für einen bereits nutzenbewerteten Wirkstoffes (Regadenoson, pharmazeutischer Unternehmer bewertete das Pro-dukt als Methode und nicht als Arzneimittel). Im Fall von Vigabatrin hat der pharmazeutische Unternehmer zwar einen Antrag auf Ge-ringfügigkeit gestellt, um eine Nutzenbewertung durch den GBA auszusetzen. Da der pharmazeutische Unternehmer diesen Antrag jedoch nach Beginn der Vermarktung gestellt hat, sah die Rechtsfol-ge die Durchführung eines Nutzenbewertungsverfahrens vor.354 Auf-grund des nichtvorgelegten Dossiers gilt der Zusatznutzen als nicht belegt. Vigabatrin ist zum Redaktionsschluss des Reportes noch im Markt verfügbar, zu einem um 92 % reduzierten Erstattungsbetrag.

Seit 2011 sind zudem insgesamt 75 neuzugelassene Orphan Drugs einer Nutzenbewertung unterzogen worden. Gut ein Viertel aller ab-geschlossenen Nutzenbewertungsverfahren entfielen auf dabei Or-phan Drugs (n = 106, 24 %), wovon 92 Verfahren im Sinne der Or-phan Drugs Bestimmungen eine vereinfachte Nutzenbewertung, al-so vor Überschreiten der Umsatzschwelle von 50 Millionen Euro GKV-Jahresumsatz, durchliefen. Dabei steigt seit 2017 auch die Anzahl erneut bewerteter Orphan Drugs analog zum Gesamtmarkt kontinuierlich an (Vgl. Abbildung 35). Unter den 106 Nutzenbewer-tungsverfahren für Orphan Drugs sind inzwischen 31 erneute Nut-zenbewertungen eines bereits bewerteten Orphan Drugs. Dies ent-spricht einer Re-Evaluationsquote von 29 %. Unter allen übrigen Arzneimitteln wurden inzwischen bereits fast jedes Zweite (41 %) wenigstens ein zweites Mal bewertet.

353 Der GKV-Spitzenverband hat in der Vergangenheit den Wunsch nach einer wei-teren Verschärfung der Sanktionierungsmöglichkeiten geäußert. So sollen Wirk-stoffe, für die Hersteller kein Nutzendossier vorgelegt haben, auch aus der Ver-ordnung ausschließbar sein. Vgl. hierzu GKV-Spitzenverband (2020).

354 Wortprotokoll zum Nutzenbewertungsverfahren von Vigabatrin vom 11.11.2019.

Orphan Drugs

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216 Zahlen, Daten, Fakten 5

Abbildung 35: Entwicklung der Erstbewertungen und Re-Evaluationen, 2011 bis 2019

Quelle: Eigene Darstellung, Stand: 31.12.2019.

Dabei sind sowohl bei Orphan Drugs als auch bei Nicht-Orphan Drugs 65 % aller erneuten Nutzenbewertungsverfahren auf die Zu-lassung neuer Anwendungsgebiete zurückzuführen. Für Orphan Drugs sind Re-Evaluationen bislang zudem dann häufig, wenn die der Umsatzschwellenwert überschritten wurde (23 % aller Re-Eva-luationen). Vor dem Hintergrund, dass in 22 Orphan Drug-Verfahren der Beschluss zeitlich befristet wurde, bislang aber nur zwei abge-schlossene erneute Nutzenbewertungsverfahren nach Fristablauf für Orphan Drugs vorliegen, ist mit weiteren Re-Evaluationen von Orphan Drugs in den kommenden Jahren zu rechnen.

Die frühe Nutzenbewertung ist Spiegelbild der aktuellen Forschungs-bemühungen pharmazeutischer Unternehmer. Anhand der bislang nutzenbewerteten Wirkstoffe bzw. durchgeführten Nutzenbewer-tungsverfahren zeigt sich auch weiterhin, dass sich das Innovations-geschehen im patentgeschützten Marktsegment im Wesentlichen auf drei Anwendungsgebiete konzentriert. Neue Wirkstoffe aus der Onkologie (30 %), Endokrinologie (19 %) und Infektiologie (12 %) machen zusammen 61 % der zwischen 2011 und 2019 nutzenbe-werteten Wirkstoffe aus (vgl. Abbildung 36). Dabei entfielen 67 % der bislang durchgeführten Nutzenbewertungsverfahren auf diese drei Anwendungsgebiete.

Re-Evaluations-quote

Anwendungs-gebiete

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2175 Zahlen, Daten, Fakten

Abbildung 36: Anzahl der Nutzenbewertungen je Anwendungsgebiet

Quelle: Eigene Auswertung, Stand: 31.12.2019.

5.2 Ergebnisse der Bewertung des Zusatznutzens

5.2.1 Ergebnisse der Nutzenbewertungsverfahren

Im Mittelpunkt der frühen Nutzenbewertung durch den GBA und das IQWiG steht im Ergebnis die Quantifizierung des Zusatznutzens so-wie eine Bewertung der Ergebnissicherheit für die von dem pharma-zeutischen Unternehmen eingereichte Evidenz im Hinblick auf die vorab festgelegte Fragestellung des Dossiers. Der Zusatznutzen wird dabei auf der Ebene des zugelassenen Anwendungsgebiets festgesetzt, wobei die Gesamtaussage zum Zusatznutzen auf Ebe-ne der Fragestellung saldiert wird.

Die Nutzenbewertungsergebnisse lassen sich auf unterschiedlichen Ergebnismaßen aggregieren:

• Wirkstoffebene

• Verfahrensebene

• Indikations-/Teilpopulationsebene

• Patientenebene355

Zunächst lässt sich bei Betrachtung der Verfahrenssystematik auf Ebene aller abgeschlossenen Nutzenbewertungsverfahren bestim-men, inwieweit wenigstens einer der innerhalb eines Verfahrens ge-bildeten Fragestellungen bzw. Teilpopulationen ein Zusatznutzen anerkannt wurde. In den bislang 439 Verfahren mit Dossierbewer-tung wurden in insgesamt 57 % für wenigstens eine Teilpopulation durch den GBA ein Zusatznutzen identifiziert. Der Wert bleibt dabei im Vergleich zu den Vorjahren konstant. Der Anteil des Zusatznut-

355 Auf die Betrachtung der Patientenebene soll im Folgenden verzichtet werden, da es aufgrund mehrerer Verfahren innerhalb eines Indikationsgebietes und sich überschneidenden Anwendungsgebieten zu Mehrfachzählungen und in Folge dessen zu einer verzerrten Ergebnisdarstellung kommen würde.

Bewertungs-ergebnisse

60 % Zusatznut-zenquote

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218 Zahlen, Daten, Fakten 5

zens steigt, wenn nicht nutzenbewertete Wirkstoffe ohne Dossier ausgeschlossen werden bzw. sinkt, wenn nur uneingeschränkte Nutzenbewertungsverfahren einbezogen werden.

Tabelle 19: Zusatznutzen auf Verfahrensebene

Perspektive Verfahren Zusatznutzen

Alle Verfahren (2011–2019) 439 251 (57 %)

Mit Dossierbewertung 419 251 (60 %)

Vollständige Nutzenbewertung* 327 159 (49 %)

*Exklusive Verfahren ohne Herstellerdossier und Orphan Drugs ohne vollständige Nutzenbewertung

Bei Vorliegen zumindest eines Anhaltspunktes eines positiven Ef-fektes auf Endpunktebene sind zur Operationalisierung der Feststel-lung des Ausmaßes des Zusatznutzens folgende quantitative Aus-sagen möglich:

• erheblich

• beträchtlich

• gering

• nicht quantifizierbar

Innerhalb der 439 bis Ende 2019 durchgeführten Nutzenbewer-tungsverfahren zeigt sich, dass innerhalb der in wenigstens einer Teilpopulation positiv bewerteten Verfahren am häufigsten ein im Ausmaß beträchtlicher oder geringer Zusatznutzen vergeben wird (vgl. Abbildung 37). Das höchstmögliche Ausmaß eines erheblichen Zusatznutzen wurde bislang erst dreimal erreicht (chronologisch: Propranolol, Afatinib (Neubewertung nach Fristablauf) und Nusiner-sen). Ein nicht-quantifizierbarer Zusatznutzen wird zudem fast aus-schließlich Orphan Drugs zugeschrieben (74 %, 59/80). Die häufige Zuschreibung eines nicht quantifizierbaren Zusatznutzens für Or-phan Drugs ist unter anderem auch darauf zurück zu führen, dass der Gesetzgeber als Innovationsanreiz Orphan Drugs qua Zulas-sung einen Zusatznutzen zuspricht, so dass der GBA im Verfahren lediglich das Ausmaß des Zusatznutzens auf Basis der verfügbaren Evidenz bewertet. Diese gesetzliche Fiktion wird jedoch getragen durch die europaweit geltenden regulatorischen Anforderungen zur Erlangung eines Orphan-Status im Rahmen der Zulassung. Ent-sprechend der maßgeblichen EU-Verordnung ist ein Orphan-Status an einen „Zusatznutzen“ in dem Sinne geknüpft, dass der neue Wirkstoff in einem Anwendungsgebiet zugelassen werden soll, in dem bislang keine zufriedenstellende Behandlungsoption verfügbar

„Zusatznutzen nicht belegt“ häu-

figstes Ergebnis

Page 239: AMNOG-Report 2020 - DAK

2195 Zahlen, Daten, Fakten

war oder die neue Therapieoption einen erheblichen Nutzen gegen-über bestehenden Behandlungsoptionen darstellt.356

Abbildung 37: Ausmaß des Zusatznutzens auf Verfahrensebene

Quelle: Eigene Auswertung, Stand: 31.12.2019.

Neben den positiv bewerteten Verfahren sind in jedem Jahr auch jene Verfahren von besonderem Interesse, in denen ein Zusatznut-zenbeleg nicht gelang. Der Anteil der Verfahren mit nicht belegtem Zusatznutzen liegt seit dem Jahr 2015 konstant bei knapp 40 % (vgl. Abbildung 38). Zu erkennen ist darüber hinaus, dass der Anteil der Verfahren mit einem im Ausmaß „nicht quantifizierbarem“ Zusatz-nutzen in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen ist. Waren in den Anfangsjahren des AMNOG hierfür überwiegend Orphan Drugs (insb. aufgrund der gesetzlichen Fiktion eines mit Zulassung bereits belegten Zusatznutzens) „verantwortlich“, sind es zuletzt vermehrt auch Nicht-Orphans, für die eine Quantifizierung des Zusatznutzen-ausmaßes unter den gesetzten Maßstäben der frühen Nutzenbe-wertung im Rahmen der Erstbewertung nicht möglich ist. Bis Ende 2017 waren noch 80 % aller Verfahren mit im Ausmaß nicht quantifi-zierbarem Zusatznutzens Orphan Drugs. In den Jahren 2018 und 2019 lag dieser Anteil nur noch bei 66 %.

356 Artikel 3 Abs. 1b der Verordnung (EG) Nr. 141/2000 des EU-Parlamentes und des Rates vom 16.12.1999 über Arzneimittel für seltene Leiden.

Zunahme nicht-quantifizierbaren Zusatznutzens

Page 240: AMNOG-Report 2020 - DAK

220 Zahlen, Daten, Fakten 5

Abbildung 38: Ausmaß des Zusatznutzens auf Verfahrensebene nach Jahr der Nutzenbewertung

Quelle: Eigene Auswertung, Stand: 31.12.2019.

5.2.2 Ergebnisse in Abhängigkeit der Bewertungsperspektive

Je nach Bewertungsperspektive zeigt sich eine abnehmende Zu-satznutzenquote. Während bislang 64 % (n = 167) der seit 2011 neu zugelassenen Wirkstoffe ein Zusatznutzennachweis in wenigstens einem bewerteten Anwendungsgebiet gelingt, wurde nur in 57 % (n = 249) der Nutzenbewertungsverfahren (ein Wirkstoff kann meh-rere Verfahren durchlaufen) ein Zusatznutzen identifiziert. Demge-genüber sind bislang nur 39 % (n = 334) der im Rahmen der Bewer-tung durch den GBA differenzierten Teilpopulationen bzw. Teilindika-tionen eines Arzneimittels mit neuem Wirkstoff zusatznutzentragend (vgl. Tabelle 20).

Tabelle 20: Zusatznutzenanteil nach Bewertungsperspektive

Wirkstoffe Verfahren Teilpopula-tionen

Gesamtzahl 259 439 864

Erheblich 3 3 3

Beträchtlich 63 89 104

Gering 51 77 116

Nicht quantifizierbar 50 80 111

Zusatznutzen belegt 167 249 334

Zusatznutzen nicht belegt 92 189 525

Geringerer Nutzen 0 1 5

Quelle: Eigene Auswertung, Stand: 31.12.2019.

Bewertungs-perspektiven

Page 241: AMNOG-Report 2020 - DAK

2215 Zahlen, Daten, Fakten

Auf Teilpopulationsebene ist damit ein nicht belegter Zusatznutzen das häufigste Bewertungsergebnis (vgl. Abbildung 39). Auf Verfah-rens- bzw. Wirkstoffebene schlägt dies jedoch nicht in vollem Um-fang durch, da sich entweder zumindest in anderen Teilpopulationen oder Teilindikationen oder auch in späteren erneuten Bewertungs-verfahren vielfach noch positive Bewertungskonstellationen erge-ben. Insbesondere auf Wirkstoffebene ist der Anteil der insgesamt positiv bewerteten Arzneimittel aufgrund vielfach positiv bewerteter Marktneueinführungen im Jahr 2019 gegenüber dem Vorjahr rück-läufig.

Abbildung 39: Nutzenbewertungsergebnis in Abhängigkeit der Bewer-tungsperspektive

Quelle: Eigene Auswertung, Stand: 31.12.2019.

5.2.3 Bewertungsergebnisse von Orphan Drugs

In der frühen Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirk-stoffen sind für Orphan Drugs besondere Regelungen vorgesehen: Gemäß der gesetzlichen Vorgaben (§ 35 a Absatz 1 Satz 10 SGB V) gilt für diese Medikamente der medizinische Zusatznutzen bereits durch die Zulassung als belegt; Nachweise zum medizinischen Nut-zen und zum medizinischen Zusatznutzen im Verhältnis zur zweck-mäßigen Vergleichstherapie müssen nicht vorgelegt werden. Ledig-lich das Ausmaß des Zusatznutzens ist für die Anzahl der Patienten und Patientengruppen, für die ein therapeutisch bedeutsamer Zu-satznutzen besteht, nachzuweisen. Solange für das Arzneimittel rechtswirksam eine Zulassung vorliegt, ist demnach − unabhängig von der dem GBA vorliegenden Daten- und Erkenntnislage − ein Zusatznutzen zu unterstellen. Im Ergebnis seiner Nutzenbewertung kann der GBA lediglich über das Ausmaß des Zusatznutzens ent-scheiden. Erst, wenn der jährliche Umsatz des Arzneimittels in der gesetzlichen Krankenversicherung 50 Millionen Euro übersteigt, wird innerhalb eines uneingeschränkten Verfahrens überprüft wer-den, ob der bislang rechtlich unterstellte Zusatznutzen tatsächlich besteht.

62 % aller Teilpo-pulationen ohne belegten Zusatz-nutzen

Zusatznutzen von Orphan Drugs

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222 Zahlen, Daten, Fakten 5

Diese Umsatzschwelle wurde bis Ende 2019 von acht Orphan Drugs überschritten. Im Rahmen der jeweiligen erneuten Bewertungsver-fahren wurden diese Wirkstoffe in 14 Verfahren ohne Einschränkun-gen bewertet. Das Ergebnis: In 14 der 26 dabei bewerteten Teilpo-pulationen (54 %) konnte ein Zusatznutzen nicht belegt werden (vgl. Abbildung 40).

Abbildung 40: Nutzenbewertungsergebnisse von Orphan Drugs auf Ebe-ne bewerteter Teilpopulationen

Quelle: Eigene Auswertung, Stand: 31.12.2019.

Doch auch in diesen Konstellationen gibt es wieder Sonderfälle. So entschied der GBA im erneuten Bewertungsverfahren von Veneto-clax nach Aufhebung des Orphan Drug-Status zwar, dass der Zu-satznutzen in einer der betrachteten Teilpopulationen nicht belegt ist, vergab jedoch einen „informellen Zusatznutzen“, indem Veneto-clax „[…] gemäß Fachinformation in der patientenindividuellen Ab-wägung […] in Einzelfällen eine relevante Therapieoption sein [kann]“.357

Unabhängig davon ist in 50 % der Teilpopulationen mit nicht beleg-tem Zusatznutzen bei „regulär“ bewerteten Orphan Drugs darauf zurückzuführen, dass zwar Studiendaten vorhanden, diese jedoch zu Nutzenbewertungszwecken nicht geeignet sind. Gar keine Evi-denz war nur in drei der 14 Teilpopulationen ohne belegten Zusatz-nutzen vorhanden. Dennoch ist zukünftig eine Verbesserung der Evidenzlage auch für Orhan Drugs mit eingeschränktem Nutzenbe-wertungsverfahren zu erwarten. Der GBA will nach Verabschiedung des GSAV (siehe Kapitel 1.2) künftig durch anwendungsbegleitende Datenerhebungen klinische Wissenslücken schließen, die bei Arz-neimitteln mit bedingter Zulassung, mit Zulassung unter außerge-wöhnlichen Umständen oder für Orphan Drugs teilweise bestehen. Ziel ist es, schnell eine bessere Datenbasis zur Bewertung des Zu-satznutzens zu schaffen. Zolgensma, unter Auflagen durch die EMA in 2020 zugelassen, ist das erste Arzneimittel, bei dem nun anwen-dungsbezogen Daten erhoben und ausgewertet werden sollen.358

357 Tragende Gründe zum Nutzenbewertungsbeshcluss von Venetoclax vom 16.05.2019, S. 8.

358 GBA (2020).

54 % der Teilpopu-lationen ohne Zu-

satznutzen bei Vollbewertung

Erste anwen-dungsbegleitende

Datenerhebung

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2235 Zahlen, Daten, Fakten

Damit reagiert der GBA darauf, dass aus seiner Sicht trotz laufender Studien zur Nutzenbewertung keine hinreichenden Daten verfügbar sein werden. Die betrifft insbesondere:

• Daten zur Beurteilung des langfristigen (Zusatz-)Nutzens und Schadens einer Behandlung mit Onasemnogen-Abeparvovec für die zugelassene Patientenpopulation;

• Vergleichende Daten einer Behandlung mit Onasemnogen-Abe-parvovec gegenüber bestehenden Therapiealternativen für die zugelassene Patientenpopulation;

• Daten von Patienten mit 5q-assoziierter spinaler Muskelatrophie, die zum Zeitpunkt der Gentherapie mit Onasemnogen-Abeparvo-vec älter als 6 Monate bzw. 6 Wochen sind.359

5.2.4 Gründe eines nicht-belegten Zusatznutzens

Für einen durch Beschlussfassung des GBA nicht belegten Zusatz-nutzen im bewerteten Anwendungsgebiet bzw. den zugrunde lie-genden Teilpopulationen gibt es fünf mögliche Gründe:

1. Es wurde kein Dossier durch den pharmazeutischen Unterneh-mer vorgelegt.

2. Es ist keine Studie zum Nachweis eines Zusatznutzens verfüg-bar oder die jeweilige Fragestellung (Zusatznutzen im gesamten oder in einem Teilanwendungsgebiet) wurde durch den pharma-zeutischen Unternehmer nicht bearbeitet.

3. Eine Studie ist verfügbar, aber zur Beantwortung der Fragestel-lung zum Nachweis eines Zusatznutzens nicht geeignet.

4. Eine Studie ist verfügbar und geeignet, aber die Auswertung der Daten erfolgte nicht sachgerecht oder ist unvollständig.

5. Eine Studie ist verfügbar und geeignet, aber in der Gesamtschau der Daten zeigte sich kein Vorteil gegenüber der definierten Ver-gleichstherapie.

Für Diskussionen sorgen dabei regelhaft die Konstellationen drei und vier, also jene, in denen Studiendaten verfügbar sind, jedoch aus unterschiedlichen Gründen durch den GBA nicht zur Nutzenbe-wertung herangezogen werden. Denn gemäß § 5 Abs. 3 der AM-NutzenV „[…] sind Nachweise der bestverfügbaren Evidenzstufe einzureichen“, wenn die Durchführung von Studien höchster Evi-denzstufe unmöglich oder unangemessen ist. Aus wissenschaftli-cher Sicht wäre wünschenswert, wenn es zukünftig gelänge, den Anteil der Verfahren mit nicht belegtem Zusatznutzen aufgrund nicht geeigneter Evidenz weiter zu reduzieren. Eine engere Kooperation des GBA mit den relevanten Zulassungsbehörden ist hierzu ein ers-

359 Tragende Gründe zum Beschluss des GBA über die Einleitung eines Verfahrens zur Forderung einer anwendungsbegleitenden Datenerhebung vom 16.07.2020.

Gründe eines nichtbelegten Zu-satznutzens

Bestmögliche Evi-denz ≠ bestverfüg-bare Evidenz

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224 Zahlen, Daten, Fakten 5

ter Schritt. Die derzeit diskutierte europäische Harmonisierung (vgl. Kapitel 1.3) der Nutzenbewertung böte Potenzial, Inkongruenzen im Prozess der Evidenzgenerierung durch den pharmazeutischen Un-ternehmer weiter abzubauen.

In der Klassifikation der Gründe eines nicht belegten Zusatznutzens lassen sich zwei Konstellationen dahingehend unterscheiden, ob der Beschluss auf einer Auseinandersetzung mit der verfügbaren Evidenz basiert (Gründe vier und fünf) oder ob diese – aus unter-schiedlichen Gründen – nicht erfolgt ist. Basierend auf den bislang bewerteten Teilpopulationen ohne belegte Zusatznutzen zeigen sich folgende Begründungsmuster:

Tabelle 21: Begründungsmuster eines nicht belegten Zusatznutzens

Grund eines nicht belegten Zusatznutzens Häufigkeit

Teilpopulationen mit nicht belegtem Zusatznutzen 525

Kein Dossier vorgelegt 20 (4 %)

Keine Studie verfügbar/ Fragestellung nicht bearbeitet 203 (39 %)

Studie verfügbar aber nicht geeignet 166 (32 %)

Studie verfügbar und geeignet, aber Analyse/ Darstellung nicht geeignet

48 (9 %)

Studie verfügbar und geeignet, aber in der Gesamtschau kein Vorteil

88 (17 %)

Quelle: Eigene Auswertung, Stand: 31.12.2019.

Abbildung 40 zeigt, dass der Anteil der Teilpopulationen ohne Zu-satznutzen, welcher sich aus den verfügbaren Studiendaten und Analysen ableiten lässt, relativ konstant bei ca. 20 % liegt. Gegen-über 2018 zeigten sich in 2019 keine größeren Veränderungen.

Abbildung 41: Gründe eines nicht belegten Zusatznutzens auf Ebene be-werteter Teilpopulationen

Quelle: Eigene Darstellung, Stand: 31.12.2019.

Gründe nichtbe-legten Zusatznut-

zens

Page 245: AMNOG-Report 2020 - DAK

2255 Zahlen, Daten, Fakten

5.3 Erstattungsbeträge

5.3.1 Wie werden Preise für neue Arzneimittel gebildet?

Im Anschluss an die frühe Nutzenbewertung wird zwischen dem pharmazeutischen Unternehmer und dem GKV-Spitzenverband ein Erstattungsbetrag als Rabatt auf den ursprünglichen Listenpreis des pharmazeutischen Unternehmers verhandelt. Nach § 6 der Rah-menvereinbarung im Sinne des § 130 b Absatz 9 SGB V sind zur Vereinbarung eines Erstattungsbetrages insbesondere die folgen-den Kriterien heranzuziehen:

• der Beschluss des GBA über die Nutzenbewertung mit den darin getroffenen Feststellungen

– zum Zusatznutzen des Arzneimittels im Verhältnis zur zVT,

– zur Anzahl der Patienten bzw. Abgrenzung der für die Behand-lung in Frage kommenden Patientengruppen,

– zu Anforderungen an eine qualitätsgesicherte Anwendung und

– zu den Therapiekosten auch im Vergleich zur zVT;

• das vom pharmazeutischen Unternehmer erstellte Dossier ein-schließlich nachgereichter und vom GBA berücksichtigter Unter-lagen;

• die von dem pharmazeutischen Unternehmer mitgeteilten tat-sächlichen Abgabepreise in anderen europäischen Ländern und

• die Jahrestherapiekosten vergleichbarer Arzneimittel.

Die europäischen Abgabepreise sowie die Jahrestherapiekosten werden dabei nur auf Anwendungsgebiete bzw. Teilpopulationen mit Zusatznutzen bezogen. Dabei sind o. g. Kriterien nur bedingt deter-ministisch, sondern unterliegen regelhaft einer Verhandlungseini-gung.360

Entscheidet sich der pharmazeutische Unternehmer innerhalb von vier Wochen nach Veröffentlichung des GBA-Beschlusses, die Ver-handlung mit dem GKV-Spitzenverband nicht durchzuführen, ver-pflichtet er sich damit, sein neues Arzneimittel in Deutschland aus dem Verkehr zu nehmen. Dieses Vorgehen wird als „opt-out“ be-zeichnet und hat zur Folge, dass kein Erstattungsbetrag in Deutsch-land gelistet ist. Damit können andere Länder ihren Arzneimittelpreis nicht auf einen ermäßigten deutschen Erstattungsbetrag referenzie-ren.

Die Verhandlungen sind vertraulich. Am Ende einer abgeschlosse-nen Verhandlung wird lediglich der verhandelte Erstattungsbetrag in dem Preisverzeichnis (Lauer-Taxe®) veröffentlicht. Der verhandelte

360 König, Penske (2017).

„Opt-out“-Regel

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226 Zahlen, Daten, Fakten 5

Erstattungsbetrag gilt spätestens ab dem 13. Monat nach erstmali-gem Inverkehrbringen für alle Arzneimittel, die den betreffenden Wirkstoff enthalten. Das 14. SGB V Änderungsgesetz präzisierte dies, indem die Phase der freien Preisbildung nur einmalig je Wirk-stoff gewährt wird. Dies soll unterbinden, dass pharmazeutische Un-ternehmer durch einen verzögerten Markteintritt oder eine strategi-sche Aufteilung der Anwendungsgebiete die Phase der freien Preis-bildung erneut auslösen oder verlängern können. Davon abwei-chende Vereinbarungen zu Gunsten der GKV sind möglich. Zudem können gestaffelte Preisabschläge vereinbart werden. Der verein-barte Erstattungsbetrag gilt auch für die private Krankenversiche-rung, Beihilfeträger und Selbstzahler. Bringt ein Re-Importeur ein Arzneimittel erstmalig auf den deutschen Markt, gelten der Nutzen-beschluss und der verhandelte Erstattungsbetrag des Originalprä-parates auch für das Reimport-Arzneimittel.

Die Mindestvertragslaufzeit eines Vertrags nach § 130 b SGB V be-trägt ein Jahr. Im Falle eines neuen Beschlusses einer weiteren Nut-zenbewertung oder Kosten-Nutzenbewertung oder der Vorausset-zung zur Bildung einer Festbetragsgruppe kann vor Ablauf der Frist gekündigt werden. Damit unterscheiden sich Verträge nach § 130 b maßgeblich von denen nach § 130 a Abs. 8 SGB V. Die Rabattver-träge nach § 130 a Abs. 8 haben eine empfohlene Laufzeit von zwei Jahren und bringen so ein höheres Maß an Planungssicherheit für den pharmazeutischen Unternehmer.

Nach Abschluss der Erstattungsbetragsverhandlungen können zu-dem selektive, also kassenindividuelle § 130 c-Verträge zur Gene-rierung zusätzlicher Rabatte für die vertragsschließende Kranken-kasse vereinbart werden. Für den pharmazeutischen Unternehmer ergeben sich nach zentralen Preisverhandlungen allerdings nur ge-ringfügige Anreize zur selektiven Nachsteuerung. Diese könnten zum Beispiel in einer beschleunigten Marktdurchdringung und der Absatzstärkung liegen.

5.3.2 Erstattungsbeträge

Nachfolgend aufgelistete Rabatte ergeben sich aus der zum 01.04.2020 in der Lauer Taxe gelisteten Differenz des Netto-Herstel-lerabgabepreises (ApU) und dem Netto-Rabattwert nach § 130 b SGB V. Die Berechnungen erfolgten auf Basis der im GBA-Be-schluss zur Ermittlung der Jahrestherapiekosten angegebenen Pa-ckung.

Für drei Viertel aller seit 2011 neu eingeführten Wirkstoffe konnte bis zum 01.04.2020 erfolgreich ein Erstattungsbetrag vereinbart werden, zu welchem sich das jeweilige Arzneimittel zum Zeitpunkt der Analyse auch noch im Vertrieb befindet (vgl. Tab. 22). 16 weitere Wirkstoffe sind mit einem durch die Schiedsstelle festgesetzten Er-stattungsbetrag zum 01.04.2020 verfügbar. Für 8 bis Ende 2019 nut-

Vertragslaufzeiten

Preisverhand-lungen häufig

erfolgreich

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2275 Zahlen, Daten, Fakten

zenbewerteten Wirkstoffe lag zum 01.04.2020 noch kein Erstat-tungsbetrag vor. Die übrigen Wirkstoffe sind heute nicht mehr in Deutschland verfügbar.

Tabelle 22: Ergebnis der Erstattungsbetragsverhandlungen

Erstattungsbetrag Anzahl

Anzahl bewerteter Arzneimittel 264

Marktrücknahme 30 (11 %)

Im Handel 234 (89 %)

Davon vereinbart 200 (76 %)

Davon festgesetzt 16 (6 %)

Erstattungsbetrag offen 8 (3 %)

Festbetrag 5 (2 %)

Von der Apothekenvertriebsketteausgenommen

5 (2 %)

Quelle: Eigene Auswertung, Stand: 01.04.2020.

Die genannten 16 durch die AMNOG-Schiedsstelle festgesetzten Erstattungsbeträge bilden indes nicht die tatsächlichen Ergebnisse der Schiedsverfahren ab. Insgesamt wurden bis Ende 2019 81 Schiedsverfahren für 71 neue Arzneimittel initiiert. 73 % (59/81) dieser Schiedsverfahren wurden nach der Erstbewertung eines neu-en Arzneimittels initiiert, 15 % nach Bewertung eines neuen Anwen-dungsgebietes. Jeweils drei Schiedsverfahren folgten auf eine Neu-bewertung nach Fristablauf bzw. nach Antrag durch den pharma-zeutischen Unternehmer. Vier weitere Schiedsverfahren folgten auf den Ablauf bzw. die Kündigung eines § 130 b-Vertrages. Näheres zu den bislang abgeschlossenen Schiedsverfahren findet sich im Bei-trag des GKV-Spitzenverbandes (Kap. 3.4).

5.3.3 Nutzenbewertungsrabatte

Die von den Vertragsparteien vereinbarten Nutzenbewertungsrabat-te nach Abschluss der Erstbewertung liegen bei durchschnittlich 21,4 % (Spanne: 0 % bis 70,7 %; Median: 19,1 %).361 Der mittlere Preisabschlag auf den frei vom pharmazeutischen Unternehmer festgelegten Listenpreis ist dabei in den vergangenen Jahren er-staunlich stabil und liegt je Analysejahr konstant zwischen 19,5 % und 24,5 %. Zudem zeigt sich, dass sich der Spielraum für Preisab-schläge auch in Abhängigkeit des Nutzenbewertungsergebnisses

361 Preisänderungen nach Bewertung weiterer Anwendungsgebiete oder erneuter Nutzenbewertung sind im Gegensatz zu vergleichbaren Analysen aus den Vor-jahren hier nicht berücksichtigt.

Schiedsverfahren

Rabatte auf Listenpreis

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228 Zahlen, Daten, Fakten 5

im Wesentlichen auf einen Korridor zwischen 18 % bei belegtem Zu-satznutzen und 27 % bei nicht belegtem Zusatznutzen verengt hat (vgl. Abbildung 42). Inwiefern dies ein Indikator dafür ist, dass sich die Preisfindung für neue Arzneimittel zum Teil auch in die Phase der Marktentwicklung nach der frühen Nutzenbewertung verschiebt, soll in Kapitel 6.3 explorativ untersucht werden.

Abbildung 42: Zeitliche Entwicklung der durchschnittlichen Preisabschlä-ge nach Erstbewertung

Quelle: Eigene Auswertung, Stand: 01.04.2020.

Für 32 % aller bislang vereinbarten oder festgesetzten Erstattungs-beträge nach einer Erstbewertung liegt zudem eine Vereinbarung zur Ablösung des Herstellerrabattes von derzeit 7 % nach § 130 a Abs. 1 SGB V vor. Entsprechende Abschläge sind auf den in der Lauer Taxe angegebenen Nutzenbewertungsrabatt anzurechnen.

Im Sinne des Konzeptes der nutzenbasierten Preisbildung von her-vorgehobenem Interesse ist der Effekt der Nutzenbewertungsergeb-nisse auf die Erstattungsbetragsverhandlungen. Dabei ergeben sich in Kombination mit dem Grad der Ergebnissicherheit bei einem Zu-satznutzen 18 Kombinationsmöglichkeiten. Aufgrund der nach wie vor für den Zweck statistischer Analysen geringen Anzahl verhan-delter Erstattungsbeträge insbesondere in einigen der sich daraus ergebenden Teilgruppen erscheint lediglich eine nach Zusatznut-zenausmaß differenzierte Betrachtung sinnvoll möglich.

Bei Betrachtung der mittleren Abschläge der Wirkstoffe, welche sich zum 01.04.2020 noch im Vertrieb befanden und für die bis zu die-sem Datum ein Erstattungsbetrag vereinbart oder festgesetzt wur-de, ist eine grundsätzliche Tendenz erkennbar: Der durchschnittli-che Herstellerrabatt beträgt für Wirkstoffe mit beträchtlichem Zu-satznutzen 15,3 % (vgl. Tab. 24). Erwartungsgemäß liegen die durchschnittlichen Nutzenbewertungsrabatte für die Wirkstoffe mit geringem Zusatznutzen mit 20,9 % bzw. für Wirkstoffe mit nicht be-legtem Zusatznutzen mit 26,3 % über diesem Wert. Auch die Streu-

Ablösung des Herstellerpflicht-

rabattes

Ø 26,3 % Preisab-schlag bei nicht

belegtem Zusatz-nutzen

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2295 Zahlen, Daten, Fakten

ung der vereinbarten bzw. festgesetzten Nutzenbewertungsrabatte ist bei Wirkstoffen mit nicht belegtem Zusatznutzen bedeutend grö-ßer (vgl. Abbildung 42). Die Preisabschläge für Wirkstoffe mit nicht quantifizierbarem Zusatznutzen sind indes nur eingeschränkt be-wertbar, da 86 % aller dabei betrachteten Wirkstoffe Orphan Drugs mit nur eingeschränktem Bewertungsverfahrens sind.

Tabelle 24: Nutzenbewertungsrabatte nach Erstbewertung in Abhängig-keit des Nutzenbewertungsergebnisses

Zusatznutzen Anzahl Ø-Rabatt Median Spanne

Erheblich 2 – – –

Beträchtlich 47 15,3 % 14,0 % 0 – 45,9 %

Gering 47 20,9 % 19,7 % 0 – 51,7 %

Nicht quantifizierbar 51 20,2 % 20,3 % 2,1 – 40,5 %

Zusatznutzen belegt 147 18,7 % 17,2 % 0 – 51,7 %

Zusatznutzen im gesam-ten Anwendungsgebiet belegt

94 19,2 % 18,6 % 0 – 51,7 %

Mischpreis 53 17,7 % 14,2 % 0 – 51,1 %

Zusatznutzen nicht belegt

80 26,3 % 25,7 % 0 – 70,7 %

Quelle: Eigene Darstellung, Stand: 01.04.2020.

Für insgesamt sieben Arzneimittel wurde im Anschluss an die Erst-bewertung kein Abschlag auf den Listenpreis des pharmazeutischen Unternehmers festgelegt. Fünf Mal betraf dies Arzneimittel, für die im Rahmen der Nutzenbewertung kein Zusatznutzen belegt wurde. Dies ist dann möglich, wenn der Listenpreis des Herstellers bereits zum Zeitpunkt des Markteintrittes zu vergleichbaren oder geringe-ren Jahrestherapiekosten als die zweckmäßige(n) Vergleichs thera-pie(n) führt.

Der durchschnittliche Nutzenbewertungsrabatt für Wirkstoffe, für die ein Premiumpreis aufgrund eines Zusatznutzens im gesamten An-wendungsgebiet vereinbart wurde (n = 94), liegt bei 19,2 % (vgl. Ta-belle 24). Die durchschnittlichen Abschläge für Wirkstoffe mit Misch-preis liegen mit 17,74 % etwas darunter (n = 53). Zudem sind inzwi-schen deutliche Unterschiede in der Rabatthöhe zu beobachten, wenn dahingehend unterschieden wird, ob der Erstattungsbetrag nach Erstbewertung eines Arzneimittels zwischen den Vertragspar-teien verhandelt (Ø 20,2 %), oder durch die Schiedsstelle festge-setzt wurde (Ø 32,0 %). Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass diese Stichproben jeweils stark selektiert sind, da vornehmlich Wirk-stoffe ohne belegten Zusatznutzen in Schiedsverfahren behandelt werden.

Rabatt bei Mischpreisen

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230 Zahlen, Daten, Fakten 5

Zudem zeigt sich erwartungsgemäß, dass das durchschnittliche Ra-battniveau stark nach therapeutischem Anwendungsgebiet variiert (vgl. Abbildung 43).

Abbildung 43: Durchschnittliche Nutzenbewertungsrabatte in Abhängig-keit des Anwendungsgebietes nach Erstbewertung

Quelle: Eigene Darstellung, Stand: 01.04.2020.

5.3.4 Preisaufschläge auf die zVT

Die absolute Höhe des Rabattes ist nur begrenzt als Erfolgskriteri-um für die Verhandlungen nach § 130 b SGB V geeignet, da der Ra-batt umso höher ausfällt, je höher der pharmazeutische Unterneh-mer den Abgabepreis nach § 78 Abs. 3 AMG (Listenpreis) beim erstmaligen Inverkehrbringen festlegt hat. Praktisch ist der Erstat-tungsbetrag eines neuen Arzneimittels ein Aufschlag auf die Kosten der zVT („Bottom-Up-Prinzip“). Ausgenommen davon sind Orphan Drugs (bis zur Überschreitung einer Umsatzschwelle).362

Zur Berechnung des durchschnittlichen Aufschlages auf die Jahres-therapiekosten der zVT wurde wie folgt verfahren: Die Jahresthera-piekosten des bewerteten Arzneimittels wurden basierend auf den Dosierungsangaben in den GBA-Beschlüssen sowie den Erstat-tungsbeträgen (Quelle: Lauer Taxe) berechnet. Die Jahrestherapie-kosten der zVT wurden den GBA-Beschlüssen entnommen. Der GBA legt für viele Arzneimittel mehr als eine zweckmäßige Ver-gleichstherapie fest. Es kann verschiedene Patientengruppen und innerhalb einer Patientengruppe mehrere Behandlungsalternativen geben. Manche Arzneimittel müssen patientenindividuell unter-schiedlich dosiert werden, woraus sich Dosierungs- und damit letzt-lich auch Kostenspannen ergeben. Es ist also anhand der Angaben des GBA zur zweckmäßigen Vergleichstherapie nicht eine eindeutig

362 Für diese beschließt der GBA über das Ausmaß des Zusatznutzens ohne Festlegung einer zVT. Das „Bottom-Up-Prinzip“ ist für Orphan Drugs deshalb nicht anwendbar. Stattdessen erfolgt die Preisbildung hier im „Top-Down-Prinzip“ ausgehend vom frei festgelegten Listenpreis.

Hohe Preisauf-schläge möglich

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2315 Zahlen, Daten, Fakten

exakte Kostenangabe der gesamten zweckmäßigen Vergleichsthe-rapie möglich. Lagen verschiedene Therapieoptionen als zVT vor, wurden diese entsprechend den in den GBA-Beschlüssen genann-ten Patientenanteilen gewichtet. Lag ein nicht belegter Zusatznutzen vor, wurde die zVT mit den geringsten Jahrestherapiekosten berück-sichtigt.363 Für elf Wirkstoffe konnte aufgrund „patientenindividueller Therapien“ das Preisniveau der zVT nicht bestimmt werden. In eini-gen Verfahren trifft das lediglich auf einzelne Teilpopulationen zu. In diesen Fällen wurden die entsprechenden Patientengruppen aus der Bildung der gewichteten Jahrestherapiekosten ausgeschlos-sen.364

Der durchschnittliche Aufschlag auf die Jahrestherapiekosten der zVT beträgt für erstbewertete Wirkstoffe bislang 307 % (Spanne: – 88 % bis + 6.368 %365). Werden nur jene Wirkstoffe berücksichtigt, für die ein Zusatznutzen belegt wurde, beträgt das mittlere verhan-delte oder festgesetzte Preispremium auf die zVT 518 %. Dabei zeigt sich eine deutliche Beziehung zum therapeutischen Anwendungs-gebiet (vgl. Abbildung 44).

Abbildung 44: Durchschnittliche (ungewichtete) Preisaufschläge auf die zVT in Abhängigkeit des Anwendungsgebietes

Quelle: Eigene Darstellung, Stand: 01.04.2020.

Betrachtet man den durchschnittlichen Aufschlag auf die mittleren Jahrestherapiekosten der zVT, differenziert nach den Ergebnissen der Nutzenbewertung, zeigt sich ein klarer Trend in Abhängigkeit des Nutzen- bzw. Preisbildungsergebnisses. Demnach erhalten Wirkstoffe mit beträchtlichem oder erheblichem Zusatznutzen nach Abschluss des Preisbildungsverfahrens bislang im Durchschnitt deutlich höhere Aufschläge auf die Jahrestherapiekosten der zVT

363 Obwohl in der Praxis ein hiervon abweichendes Vorgehen möglich ist.364 Vgl. für diesen Ansatz auch das Vorgehen der Schiedsstelle im Schiedsverfahren

zu Vortioxetin vom 29.06.2016, S. 14.365 Im Rahmen weiterer Sensitivitätsanalysen lassen sich auch die Aufschläge der

bewerteten Arzneimittel auf die Unter- bzw. Obergrenzen der Jahrestherapie-kosten der zVT errechnen. Diese liegen basierend auf den 130 berücksichtigten Wirkstoffen im Durchschnitt zwischen + 114 % und + 936 %.

Aufschlag auf die zVT

Aufschlag und Zusatznutzen

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232 Zahlen, Daten, Fakten 5

(+ 637 %) als Wirkstoffe mit geringem Zusatznutzen (+ 451 %). Wird basierend auf einem Zusatznutzen im gesamten Anwendungsgebiet ein Premiumpreis vereinbart, so liegt dieser bislang durchschnittlich 509 % oberhalb der Jahrestherapiekosten der zVT. Ein vereinbarter Mischpreis führte zu vergleichbaren mittleren Aufschlägen in Höhe von 522 %. Im Vergleich zu den Zahlen in Tabelle 24 zeigt sich an diesen Ergebnissen auch die geringe Aussagekraft einer allein auf der Rabatthöhe basierenden Betrachtung: Das Ausmaß des Zusatz-nutzens hat zwar wenig Einfluss auf die Rabatthöhe, sehr wohl aber tendenziell auf den Preisaufschlag zur zVT.

Einschränkend ist zu berücksichtigen, dass die hier angegebene Werte nur eine Näherung darstellen. So ergeben sich für Wirkstoffe ohne Zusatznutzen basierend auf den vorliegenden Berechnungen im Vergleich zur zVT nicht immer geringere oder vergleichbare Jah-restherapiekosten. Der Gesetzgeber sieht für diese Wirkstoffe je-doch vor, dass ein Erstattungsbetrag nicht zu höheren Jahresthera-piekosten als die zVT führen darf. Die Differenz ist hier wahrschein-lich auf abweichende Gewichtungen der zVT-Kosten über Teilpopu-lationen zurückzuführen.

5.4 Literatur

Gemeinsamer Bundesausschuss, GBA (2020): GBA konkretisiert Verfahren zu anwendungsbegleitender Datenerhebung – Gentherapie Zolgensma erster Fall. Pressemitteilung vom 16.07.2020.

GKV-Spitzenverband (2020): Fokus: AMNOG-Verhandlungen. URL: www.gkv-spitzenverband.de/presse/themen/ amnog_verhandlungen/s_thema_amnog_verhandlungen.jsp.

Limitationen

Page 253: AMNOG-Report 2020 - DAK

233

6. AMNOG Fakten-Check

Das AMNOG ist seit seiner Einführung Gegenstand kontroverser Debatten. Dies liegt bei einem solch komplexen Verfahren, an dem viele verschiedene Stakeholder – unter anderem Ärzte, Kranken-kassen, pharmazeutische Unternehmen – beteiligt sind, in der Natur der Sache. Die Weiterentwicklung des AMNOG lebt vom kritischen Diskurs und ist – auch angesichts der Dynamik des Arzneimittelmar-kes – niemals final. Der AMNOG-Report und seine Autoren beglei-ten diese Diskussionen seit 2015 in systematischer Form auf Basis des jährlich erscheinenden AMNOG-Reportes. Dabei gab es immer wieder Mythen rund um die Ergebnisse der Nutzenbewertung und Preisbildung neuer Arzneimittel, mit welchen sich der Report in den vergangenen Jahren auseinandergesetzt hat und sicherlich auch zukünftig auseinandersetzen wird.

Im diesjährigen Report versuchen wir folgende AMNOG-Mythen zu überprüfen:

1. Das AMNOG ist in bestimmten Konstellationen nicht fair.

2. Die Evidenz für Orphan Drugs ist in der Regel schlecht.

3. Die Preise neuer Arzneimittel steigen kontinuierlich an.

4. Das AMNOG generiert keine Einsparungen.

5. Die Verschreibungspraxis folgt nicht den Nutzenbewertungser-gebnissen.

6.1 Das AMNOG ist in bestimmten Konstellationen nicht fair

Die Rahmenbedingungen und Bewertungskriterien des AMNOG führen dazu, dass bestimmte Wirkstoffe oder Indikationsgruppen benachteiligt werden.

Eine zentrale Grundvoraussetzung für ein funktionierendes Nutzen-bewertungsverfahren ist, dass dieses fair und frei von Willkür sein muss. Dies impliziert unter anderem, dass weder Hersteller noch bestimmte Indikationsgebiete und damit potenziell auch Patientin-nen und Patienten durch die Vorgaben zur Nutzenbewertung in sys-tematischer Weise benachteiligt werden. Während der GKV-Spit-zenverband vor dem Hintergrund erfolgreich abgeschlossener Er-stattungsbetragsverhandlungen bereits frühzeitig von der Möglich-keit eines fairen Interessensausgleiches zwischen pharmazeutischer Industrie und der Versichertengemeinschaft gesprochen hat366, wies der vfa bereits 2012 darauf hin, dass das AMNOG dazu nicht immer in der Lage sei.367 Dafür ist auch die grundsätzliche Konzeption des AMNOG verantwortlich, durch welche der GKV-Spitzenverband

366 In 2012, siehe DAZ online (2012), aber auch in 2020, siehe GKV-Spitzenverband (2020).

367 vfa (2012).

Mythos

Überprüfung

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234 AMNOG Fakten-Check 6

nicht nur an den Preisverhandlungen beteiligt ist, sondern bereits früher, innerhalb des GBA, Einfluss auf die Parameter der Nutzen-bewertung ausüben kann (sog. „Governance-Problematik“).368

Auf Ebene der Bewertungsergebnisse hat der AMNOG-Report re-gelmäßig auf strukturelle Unterschiede entlang verschiedener Diffe-renzierungslinien hingewiesen. So zeigen die Ergebnisse der Nut-zenbewertungen seit Einführung des AMNOG zum Teil deutliche indikationsspezifische Zusammenhänge. In bislang sieben Thera-piegebieten gelang auf Verfahrensebene eine Zusatznutzenquote von über 50 %, in vier davon basierend auf zehn oder mehr abge-schlossenen Verfahren. Insbesondere neuen Onkologika gelingt re-gelhaft der Nachweis eines therapeutischen Vorteils gegenüber den bereits verfügbaren Therapiealternativen, 69 % aller Verfahren in dieser Indikation wurden positiv bewertet. Neue Medikamente aus den Bereichen Diabetologie und Neurologie, auf welche ein Viertel aller Verfahren entfallen, erreichen hingegen deutlich seltener ein positives Bewertungsergebnis (vgl. Abbildung 45). Dieser Trend hat sich mit den zuletzt abgeschlossenen Verfahren weiter verstetigt.

Abbildung 45: Ergebnisse der Nutzenbewertung in Abhängigkeit des An-wendungsgebietes

Quelle: Eigene Auswertung, Stand: 31.12.2019.

368 Frick, Bungenstock (2015).

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2356 AMNOG Fakten-Check

Das Ergebnis der Nutzenbewertung korreliert ferner mit der Größe des bewerteten Anwendungsgebietes. Bis Ende 2019 zeigt sich, dass Arzneimittel, welche für eine große Patientenpopulation indi-ziert sind, seltener ein Zusatznutzen zugesprochen bekommen. In 15 % aller Bewertungsverfahren über eine Neuzulassung bzw. Aus-weitung des Anwendungsgebietes wurde eine GKV-Zielpopulation von mehr als 250.000 Personen bestimmt. Die Chance auf einen nicht belegten Zusatznutzen ist für entsprechende Wirkstoffe bis En-de 2019 um das 2,3-Fache erhöht. Darunter sind überwiegend neue Antidiabetika oder Mittel gegen COPD.

Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass es schwierig ist, in be-stimmten, eher chronisch verlaufenden Indikationen den Nachweis eines Zusatznutzens zu erhalten. Hintergrund ist unter anderem, dass GBA und IQWiG zum Nutzennachweis patientenrelevante Endpunkte fordern. Neben Vorteilen hinsichtlich des Überlebens sind dies krankheitsbezogene Parameter, Nebenwirkungen oder die gesundheitsbezogene Lebensqualität. Angesichts des frühen Zeit-punktes und des Trends hin zu früheren Zulassungen liegen für Arz-neimittel zur Behandlung chronischer Erkrankungen solche „harten“ Endpunktdaten häufig nicht oder in nicht hinreichender Qualität oder mit ausreichender Nachbeobachtungszeit vor. Stattdessen werden Surrogatparameter wie etwa der Blutzuckerspiegel oder Blutdruck für die Bewertung herangezogen, deren Einfluss auf patientenrele-vante Endpunkte häufig nicht ausreichend validiert ist, was sich ent-sprechend negativ im Nutzenbewertungsergebnis niederschlägt.

Fraglich ist, was die Alternative wäre. Ein pauschales Absenken der Evidenzanforderungen erscheint vor dem Hintergrund des etablier-ten hohen Bewertungsstandards nicht sinnvoll. Eine europäische Harmonisierung von Zulassung und Nutzenbewertung sowie die vom GBA in den vergangenen Jahren intensivierte frühe Beratung bieten die Chance, dass sich die klinischen Studienprogramme zu-künftig noch stärker an die HTA-Anforderungen angleichen. Ergän-zend dazu werden die ersten Programme anwendungsbegleitender Datenerhebung zeigen, ob sich auch nach Markteintritt verwertba-ren Daten zum Nutzenbeleg generieren lassen können. Gleichzeitig sind die Vertragsparteien angehalten, unter Berücksichtigung der zum Zeitpunkt der Verhandlung verfügbaren Datenlage Vertragsmo-delle zu finden, die in beidseitigem Interesse eine flexible Preisan-passung an die mit der Nutzenbewertung und der Datenlage ver-bundenen Unsicherheit erlauben. Dies gelingt bislang nur einge-schränkt.

Das AMNOG hat sich in den letzten zehn Jahren als leistungsfähi-ges und allgemein akzeptiertes Bewertungs- und Preisbildungsver-fahren etabliert. Dennoch offenbaren das zugrundeliegende institu-tionelle Konstrukt sowie die konkrete Nutzenbewertungspraxis, dass der angestrebte faire Interessenausgleich mitunter nicht vollumfas-send gewährleistet werden kann. Die bislang insgesamt geringe Marktrücknahmequote bei nutzenbewerteten Arzneimitteln deutet

Ergebnis: Mythos stimmt eher nicht

Page 256: AMNOG-Report 2020 - DAK

236 AMNOG Fakten-Check 6

jedoch darauf hin, dass sich die negativen Auswirkungen für die Arz-neimittelversorgung in Deutschland in Grenzen halten. Dabei ist je-doch zu berücksichtigen, dass es bislang keine umfassenden Ana-lysen dazu gibt, inwieweit die strukturellen Defizite zum Ausbleiben von Markteintritten erfolgversprechender Produkte führen. Bislang sind zumindest keine Blockbuster-Produkte oder erfolgreiche thera-peutische Konzepte bekannt, für die keine Markteinführung in Deutschland erfolgt ist. Denkbar ist hingegen, dass unter den Schritt-innovationen, insbesondere im Bereich antidiabetischer Kombinati-onstherapien, aus Sicht pharmazeutischer Unternehmer der deut-sche AMNOG-regulierte Markt nicht mehr geeignet ist, durch einen frühen Markteintritt ein hohes europäisches Preisniveau im interna-tionalen Referenzpreissystem zu etablieren. Es gilt deshalb auch zukünftig, die Verfahrensergebnisse des AMNOG sowie deren Ein-fluss auf das Versorgungsgeschehen zu begleiten.

6.2 Die Evidenz für Orphan Drugs ist in der Regel schlecht

Orphan Drugs genießen im AMNOG Verfahren einen Sonderstatus, der bis heute für viel Diskussion sorgt (vgl. auch Ergebnisse der Stakeholder Befragung, Kap. 2 des vorliegenden Reportes). So müssen Orphan Drugs, solange sie als solche von der EMA klassi-fiziert sind und nicht die Umsatzschwelle von 50 Mio. überschritten haben, nur eine vereinfachte Nutzenbewertung durchlaufen und er-halten qua Gesetz einen belegten Zusatznutzen zugeschrieben369. Mit der Sonderregel sollte ein Anreiz für die Forschung, Entwicklung und schnelle Marktzulassung von Orphan Drugs geschaffen wer-den. Kritiker monieren seit langem, dass die Evidenzgrundlage bei Orphan Drugs nicht ausreichend sei, um einen Zusatznutzen und die damit einhergehenden hohen Arzneimittelpreise zu rechtferti-gen.

Die Evidenzgenerierung bei Orphan Drugs unterliegt aufgrund der meist geringen Prävalenz seltener Erkrankungen der Schwierigkeit, ausreichend Patienten für Zulassungsstudien zu rekrutieren, um aussagekräftige Ergebnisse liefern zu können. Orphan Drug-Her-steller werden bei der Zulassung durch die EMA nicht von den Evi-denzanforderungen zur Risiko-Nutzen-Abschätzung entbunden. Je-doch kommt es hier häufig zu bedingten Zulassungen (conditional marketing authorization), bei denen keine abschließenden Daten benötigt und non-RCT Studiendesigns leichter akzeptiert werden. RCTs stellen hingegen für den GBA und das IQWiG nicht nur den Goldstandard zum Evidenznachweis im Sinne des § 35 a Abs. 1 SGB V dar, sondern werden grundsätzlich als notwendig angese-hen, um einen Zusatznutzen zuzusprechen (Ausnahme: dramati-sche Effekte innerhalb der verfügbaren nicht-RCT-Evidenz).

369 § 35 a Abs. 1 S. 11 SGB V.

Mythos

Überprüfung

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2376 AMNOG Fakten-Check

Im GSAV wurde die Debatte um die Evidenz von Orphan Drugs un-mittelbar aufgegriffen und gesetzlich ermöglicht, anwendungsbe-gleitende Datenerhebung (etwa in Form von Registerstudien) zur Quantifizierung des Zusatznutzens zu fordern und dies in nachfol-gende Erstattungsverhandlungen miteinzubeziehen370. Doch ist die Evidenz bei Orphan Drugs tatsächlich in der Regel so schlecht, wie die Kritiker anführen?

Das IQWiG greift in seinem Rapid Report zu versorgungsnahen Da-ten in der Nutzenbewertung die Thematik der Evidenzlücken bei Or-phan Drugs auf und untersucht die Evidenzgrundlage und die Zu-satznutzenbewertung aller Orphan Drugs bei Marktzugang zwi-schen 2014 und 2018.371 Daraus ergibt sich, dass rund zwei Drittel (57 von 85 Fragestellungen bei 67 Orphan Drugs) aller relevanten Fragestellungen im Rahmen der Nutzenbewertungen von Orphan Drugs auf Basis von Studien mit Randomisierung durchgeführt wur-den. Unter Studien mit Randomisierung können sowohl RCTs als auch indirekte Vergleiche von RCTs über einen gemeinsamen Brü-ckenkomparator verstanden werden.

Tabelle 25: Relation Studiendesign und Evidenzlücke von Orphan Drug-Beschlüssen 2014–2018.

Studien mit Randomisierung

Studien ohne Randomisierung

Aussagekräftige Daten 33 (39 %) 0 (0 %)

Zu große Evidenzlücken 21 (25 %) 31 (36 %)

Quelle: Eigene Darstellung nach IQWiG (2020).

Bei der Hälfte der Fragestellungen mit zugrunde gelegten, randomi-sierten Studien (insgesamt 33) reichte die Datengrundlage in den Augen des GBA aus, um eine Beurteilung des Zusatznutzens vorzu-nehmen. Es erfolgte bei 24 Fragestellungen eine Quantifizierung des Zusatznutzens, während neun Fragestellungen keine Verbesse-rung durch die Orphan Drugs gegenüber der zVT ergaben, sodass auf Grundlage der gesetzlichen Bestimmungen keine Quantifizie-rung erfolgte. In rund 60 % der Fälle (52 von 85 der Fragestellungen) konnte jedoch aufgrund unzureichender Evidenz der Zusatznutzen nicht quantifiziert werden. In 21 dieser Fälle lagen randomisierte Studien zugrunde. Aus den Tragenden Gründen des GBAs ergibt sich, dass Evidenzlücken sowohl aufgrund unzureichender (bzw. fehlender) Daten der Orphan Drugs (77 % bei 52 Fragestellungen) als auch bei den Daten der Kontrollgruppen (100 % bei 52 Frage-stellungen) auftraten. Dabei handelt es sich bei den Evidenzlücken der Kontrollgruppe häufig um ein vollständiges Fehlen der Daten.

370 § 35 a Abs. 3b SGB V i. V. m. § 130 b Abs. 3 SGB V.371 IQWiG (2020).

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238 AMNOG Fakten-Check 6

Dass Evidenzlücken bei Daten der Kontrollgruppe in Studien ohne Randomisierung auftreten, ist einleuchtend, da in 65 % der Studien ohne Randomisierung keine Vergleichsgruppe vorhanden war oder aber Studiendaten beim Matching nicht vollständig vergleichbar vor-lagen. Bei randomisierten Studien kommt es häufig durch methodi-sche Schwierigkeiten zu Evidenzlücken372, die sich teilweise durch die Herausforderungen von RCTs bei Orphan Drugs (zu geringe Fallzahl, ethische Überlegungen etc.) erklären lassen. Darüber hin-aus lassen sich zwei weitere Beobachtungen tätigen: Zum einen bestehen Evidenzlücken bei Orphan Drugs und etwaigen Kontroll-gruppen gleichermaßen auf allen Endpunktgruppen (Mortalität, Morbidität, Lebensqualität, Nebenwirkungen). Zum anderen liegen Studien ohne Randomisierung häufiger bei Fragestellungen mit klei-neren Populationen vor, wobei kleine Zielpopulationen nicht zwangs-läufig zu einer fehlenden Quantifizierung des Zusatznutzens führen.

Im Zeitverlauf lässt sich zudem feststellen, dass sowohl die Anzahl an Verfahren mit bestmöglicher Evidenz (d. h. RCTs) bei den Or-phan Drugs als auch damit einhergehend die Anzahl an Quantifizie-rungen von Orphan Drugs in den einzelnen Jahren leicht ansteigt. Die beobachteten Trends setzen sich auch bei Orphan Drugs mit Marktzulassung in 2019 fort.373 Rund 55 % der nutzenbewerteten Orphan Drugs legten wenigstens eine RCT als Datengrundlage für die Nutzenbewertung vor, wovon mehr als die Hälfte zum Zusatznut-zennachweis hinreichend war (6 × Quantifizierung des Zusatznut-zens, 1 × keine Verbesserung gegenüber zVT).

Es liegt bei rund 40 % aller zwischen 2014 und 2018 nutzenbewer-teten Orphan Drugs ausreichend und verwertbare Evidenz zur Be-stimmung des Zusatznutzens vor, sodass sich der Mythos nur zum Teil bewahrheitet. Darüber hinaus bieten weitere 25 % der bewerte-ten Orphan Drugs-Daten mit grundsätzlichem Verwertungspotenzial an, wenn diese durch die im GSAV vorgesehene, anwendungsbe-gleitende Datenerhebungen zur Quantifizierung des Zusatznutzens herangezogen werden dürfen. Bei einem Drittel aller Orphan Drugs ist die Evidenzgrundlage hingegen in der Tat unzureichend und ent-spricht insbesondere aufgrund mangelnder Randomisierung nicht den gegenwärtigen Evidenzanforderungen.

6.3 Die Preise neuer Arzneimittel steigen kontinuierlich an

„AMNOG-Report 2019: 100.000 Euro und mehr für neue Medika-mente. DAK-Gesundheit kritisiert enormen Kostenanstieg bei Arz-neimitteln“ lautete eine Schlagzeile zur Veröffentlichung des AM-NOG-Reportes 2019. Hintergrund war ein beobachteter Trend zu immer höheren Markteintrittspreisen. Kostete zwischen 2011 und 2014 im Durchschnitt pro Patient und Jahr nur jedes achte Arznei-

372 Daten wurden nicht erhoben, Mängel in der Erhebung/bei der Auswertung.373 Bis zum Redaktionsschluss lagen 23 weitere Orphan Drugs vor, die einen Markt-

zugang 2019 besaßen.

Ergebnis: Mythos stimmt zum Teil

Mythos

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2396 AMNOG Fakten-Check

mittel über 100.000 Euro, so traf dies zwischen 2015 und 2018 be-reits auf jedes vierte zu. Eine Momentaufnahme oder ein sich fort-setzender Trend?

Werden die Jahrestherapiekosten aller seit 2011 nutzenbewerteten Arzneimittel zum Zeitpunkt des Markteintrittes im jährlichen Durch-schnitt betrachtet, so fällt zweierlei auf: In den vergangenen Jahren haben sich Marktneueinführungen bzw. Anwendungsgebietserwei-terungen, für die Jahrestherapiekosten von 100.000 Euro oder mehr pro Patient anfallen, weiter verstetig. Dabei sind die durchschnittli-chen Kosten pro Patient der im Jahr 2019 neu eingeführten Arznei-mittel gegenüber den durchschnittlichen Kosten aller neuen Arznei-mittel der letzten zehn Jahre um 65 % gestiegen (vgl. Abbildung 46). Im Durchschnitt lagen für ein im Jahr 2019 neuzugelassenes Arz-neimittel die Jahrestherapiekosten pro Patient Kosten zum Zeitpunkt des Markteintrittes bei 152.000 Euro. Unter den zehn neuen Arznei-mitteln mit den höchsten Jahrestherapiekosten pro Patient aus den letzten zehn Jahren wurden sechs im Jahr 2019 in den Markt neu eingeführt.

Abbildung 46: Entwicklung der durchschnittlichen Jahrestherapiekosten zum Zeitpunkt des Markteintrittes bzw. der Bewertung ei-nes neuen Anwendungsgebietes

Quelle: Eigene Auswertung, Stand: 31.12.2019.

In der kumulierten Betrachtung über den Zeitraum seit Einführung des AMNOG zeigt sich ein treppenstufenartiger Verlauf. Der beob-achtete Ausgabenanstieg ist dabei insbesondere auf Orphan Drugs zurückzuführen. Gesellschaftlich besteht jedoch gleichzeitig ein ho-her Bedarf nach diesen Arzneimitteln. Deshalb sind hohe bzw. höhe-re Preise als Anreiz für Forschung und Entwicklung grundsätzlich auch angemessen. Es muss jedoch sichergestellt werden, dass nur dann hohe Preise gezahlt werden, wenn Patientinnen und Patienten wirklich von diesen Arzneimitteln profitieren. Hierzu bedarf es neuer Vertragsmodelle (siehe hierzu auch Kapitel 1.3). Der zentrale Er-

Überprüfung

Page 260: AMNOG-Report 2020 - DAK

240 AMNOG Fakten-Check 6

stattungsbetrag erscheint inzwischen nur noch bedingt als Regulativ von Hochpreisarzneimitteln geeignet.

Hintergrund ist, dass im Markt mit Nicht-Orphan Arzneimitteln seit Einführung des AMNOG ein relativ gleichbleibendes Verhältnis von Markteintrittspreisen und späteren, reduzierten Erstattungsbeträ-gen auf Basis der AMNOG-basierten Preisverhandlungen zu erken-nen ist (vgl. Abbildung 47). Gleichzeitig ist zu beobachten, dass bei Orphan Drugs mit durchschnittlich deutlich höheren Jahrestherapie-kosten der Spielraum für Preisnachlässe zwar grundsätzlich etwas größer ist (sprich der Abstand zwischen der oberen und der unteren flächendefinierenden Linie größer ist), mit dem beobachteten An-stieg der jährlichen Behandlungskosten pro Patient sich jedoch nicht vergrößert.

Abbildung 47: Entwicklung der durchschnittlichen Jahrestherapiekosten unter Markteintrittspreisen im Vergleich zu verhandelten Erstattungsbeträgen.

Quelle: Eigene Darstellung, Stand: 01.04.2020. Erläuterung: Die obere Linie der Flä-chen entspricht den mittleren Jahrestherapiekosten unter Markteintrittspreis, die un-tere Linie denen unter rabattierten Erstattungsbeträgen.

Eine Möglichkeit wäre, dass sich das AMNOG bereits selbst auf die Herausforderungen der Preisfindung von Hochpreistherapien einge-stellt hat. Ein Indiz dafür ist unter anderem, dass der GKV-Spitzen-verband zuletzt für den Wirkstoff Darvadstrocel erstmals auf seiner Webseite darüber Auskunft gegeben hat, dass er im Rahmen der Erstattungsbetragsverhandlungen mit dem pharmazeutischen Un-ternehmer eine Vereinbarung über eine erfolgsabhängige Vergütung geschlossen hat. In den auf Anfrage erhältlichen Details dieser Ver-tragsanlage sind insbesondere jene patientenbezogenen Kriterien definiert, anhand derer sich der Erfolg bzw. Nutzen der Therapie in Versorgungsdaten (zum Beispiel GKV-Abrechnungsdaten) monito-rieren lässt.374

374 GKV-Spitzenverband (2019).

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2416 AMNOG Fakten-Check

Darüber hinaus lassen sich in Arzneimittelpreisverzeichnissen Preisänderungen nutzenbewerteter Arzneimittel nachvollziehen. Diese Preisänderungen können grundsätzlich bestimmten obligato-rischen Verfahrensschritten (Abschluss der Erstattungsbetragsver-handlungen, Festsetzungen nach abgeschlossenen Schiedsverfah-ren) zugeordnet werden. Zudem wurden bis zum 01.04.2020 126 Preisänderungen für 79 Arzneimittel beobachtet. Diese nicht direkt einem Verfahrensschritt zuzuordnenden Preisänderungen können zum Beispiel das Ergebnis von vertraglich vereinbarten Preissenkungen nach Mengenüberschreitung sein. Denkbar sind auch vereinbarte jährliche Preisstaffelungen. Auch eine reguläre Vertragskündigung und Neuverhandlung ist denkbar.

Der durchschnittliche Preisanstieg für neue Arzneimittel ist ebenso evident wie die insgesamt ansteigenden jährlichen Ausgaben für Arzneimittel. Letztere lagen bislang jedoch innerhalb der insgesamt im Gesundheitswesen beobachteten Steigerungsraten. Aufgrund vielfach gestaffelter Preisabschläge bzw. Nachverhandlungen, Nacherstattungsbeträgen sowie weiteren vertraulichen Preisab-schlägen kann dieser Mythos jedoch nur eingeschränkt aufgeklärt werden. Das Gesundheitssystem hat sich in den vergangenen Jah-ren zum Teil bereits auf neue, hochpreisige Therapieverfahren zum Beispiel durch die Einführung eines Risikopools bei den gesetzli-chen Krankenkassen eingestellt. Dieser war ein wichtiges erstes Si-gnal an die Krankenkassen, jedoch keine Lösung für faire Preise neuartiger Therapieoptionen. Für die Preisbildung, die längst nicht mehr nur eine „frühe“ und einmalige Erstattungsbetragsverhandlung ist, benötigt es zukünftig aussagekräftige Versorgungsdaten. In der Frage der Datenverfügbarkeit stellt der Gesetzgeber die Strukturen unter anderem mit dem zuletzt eingeführten Forschungsdatenpool neu auf. Wünschenswert wäre, dass diese Datensätze zukünftig auch für die Preisbildung und Umsetzung alternativer Erstattungs-modelle nutzbar sein werden.

6.4 Das AMNOG generiert keine Einsparungen

Ende 2013 fragte die Bundestagsfraktion DIE LINKE die Bundesre-gierung, wie sich die unterschiedlichen Regelungen aus dem AM-NOG auf die Arzneimittelausgabenentwicklung der GKV seit dem 1. Januar 2011 ausgewirkt haben.375 Das AMNOG wurde initial als Kostendämpfungsgesetz konzipiert, welches eine nutzenbasierte Preisfindung patentgeschützter Arzneimittel in Deutschland einfüh-ren sollte. Ausgewiesenes Ziel des Gesetzes war es, Einsparungen im patentgeschützten Arzneimittelsegment zu generieren. Den Aus-gangspunkt hierfür bildeten rege Diskussionen um starke Ausga-benzuwächse in eben diesem Marktsegment.376 Durch die Bewer-tung des Zusatznutzens und die darauffolgende Verhandlung eines

375 BT-Drs. 18/120, S. 2.376 BT-Drs. 17/2413, S. 1.

Ergebnis:Mythos stimmt

Mythos

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242 AMNOG Fakten-Check 6

Erstattungsbetrages sollte – so die Idee im Jahr 2010 – das Erstat-tungsbetragsniveau für neu zugelassene Arzneimittel ebenso wie für patentgeschützte Präparate des Bestandsmarktes an ein zum damaligen Zeitpunkt niedrigeres, europäisches Preisniveau ange-glichen werden. Der Gesetzgeber bezifferte dieses Preissenkungs-potenzial in der Gesetzesbegründung des AMNOG auf durchschnitt-lich 16 %.377 Seitdem wurde mehrfach kritisch moniert, dass das AMNOG trotz seiner ausgewiesenen Zielsetzung tatsächlich nur unzureichend Einsparungen generiert.

Der durchschnittliche Nutzenbewertungsrabatt liegt seit 2012 relativ stabil bei knapp über 20 %. Diese Rabatte realisieren ein in den ver-gangenen Jahren konstant wachsendes Einsparvolumen für die GKV-Versorgung. Zu den bislang daraus erzielten Einsparvolumina innerhalb der GKV-Versorgung liegen unterschiedliche, jedoch hin-sichtlich der Größenordnung vergleichbare Angaben vor. Je nach Quelle belief sich das Einsparvolumen im Jahr 2017 auf 1,6 bis 1,8 Mrd. Euro. Für 2019 wurde ein weiterer Anstieg um 37 % auf 3,2 Mrd. Euro berichtet (vgl. Tab. 26). 378 379 380 381

Tabelle 26: Geschätzte Einsparungen durch § 130 b-Erstattungsbeträge

Quelle 2011 – 2014 2015 2016 2017 2018 2019

Geschätzte GKV-Einsparungen durch § 130 b-Erstattungsbeträge in Mio. EUR

AVR373 618 925 1.350 1.750 2.650 n. a.

Atlas374 561 960 n. a. n. a. n. a. n. a.

GKV-SV375 630 925 1.350 n. a. n. a. n. a.

IQVIA376 513 771 1.150 1.573 2.306 3.153

Quelle: Eigene Darstellung, Datenquellen sind in Tabelle angegeben.

Da Einsparungen aus § 130 b-Erstattungsbeträgen auch für die PKV gelten, sind Einsparungen in dieser Versichertenpopulation eben-falls zu berücksichtigen. Für das Jahr 2018 wurden diese mit 303 Mio. Euro quantifiziert, ein Plus von 43 % gegenüber dem Vor-jahr.382

Das im Gesetzesentwurf genannte jährliche Einsparziel von 2 Mrd. Euro wurde demnach auch ohne Berücksichtigung der PKV-seitigen Effekte spätestens im Jahr 2018 erreicht. Die bis dato als verfehlt bezeichneten Einsparergebnisse des AMNOG relativieren sich in mehrerlei Hinsicht. Eine simple Gegenüberstellung des vom Ge-setzgeber 2010 antizipierten Einsparvolumens mit den bislang rea-

377 BT.-Drs. 17/2413, S. 39.378 Schwabe et al. (2019), S. 29.379 Häussler (2016).380 BT-Drs. 19/916.381 IQVIA (2020).382 IQVIA (2019).

Überprüfung

Ergebnis: Mythos stimmt

nicht

Page 263: AMNOG-Report 2020 - DAK

2436 AMNOG Fakten-Check

lisierten Einsparungen in einer einfachen Summenrechnung wird der Komplexität der Sachlage daher nicht gerecht. Vielmehr hat auch der Gesetzgeber mit der genannten Größenordnung eher eine Prognose („[…] bei vollständiger Umsetzung des Vertragsmodells […]“)383 der erzielbaren Einsparungen formuliert.

Eine Vielzahl von Markteffekten konnte potenziell dazu führen, dass das realisierte Einsparvolumen einige Jahre unterhalb den Erwar-tungen blieb. Dazu zählt zum Beispiel, dass der Gesetzgeber sei-nerzeit Einsparpotenziale im Bestandsmarkt mit einberechnet hat. Diese sind seit Aufhebung der Bestandsmarktbewertung 2013 aus der Bewertung der Zielerreichung herauszurechnen. Zur Abbildung der vollständigen AMNOG-induzierten Einsparungen sollten zudem weitere Kompensationsmaßnahmen – etwa der seinerzeit von 6 % auf 7 % erhöhte Herstellerrabatt – berücksichtigt werden. Zudem können weitere potenzielle Einsparungen aus vertraulichen, in der Regel selektivvertraglich vereinbarten Rabatten hier nicht berück-sichtigt werden.

6.5 Die Verschreibungspraxis folgt nicht den Nutzenbewer-tungsergebnissen

Zur Beurteilung des Einflusses der Nutzenbewertung auf die Markt-durchdringung neuer Arzneimittel können verschiedene Ergebnis-maße herangezogen werden. Dabei werden sowohl kassen- als auch industrieseitig Statistiken zur Marktdurchdringung von AM-NOG-Arzneimitteln in Relation zum maximal zu erwartenden Ver-brauch diskutiert. Hierzu wird die Anzahl der Patienten der Zielpopu-lation aus dem GBA-Beschluss multipliziert mit der Anzahl der Be-handlungstage pro Jahr und der durchschnittlichen Tagesdosis. Da-tengrundlage für entsprechende Analysen sind beispielsweise die § 217 f-Daten des GKV-Spitzenverbandes oder Analysen auf Basis von Daten aus Apothekenabrechnungsdaten.384 Ergebnis dieser Analysen ist je nach Blickrichtung entweder eine Über- oder eine Unterversorgung mit bestimmten AMNOG-Arzneimitteln.

Problematisch sind diese Analysen deshalb, weil sie einerseits wirk-stoffspezifische Zusammenhänge (z. B. ein überwiegender Einsatz im stationären Setting) ausblenden.385 Andererseits können auch die der Prävalenzschätzung des GBA inhärenten Unsicherheiten (je nach Richtung Abweichung) zu einer Über- oder Unterschätzung des Versorgungsgrades führen. In 73 % aller bis Ende 2019 vom GBA differenzierten Teilpopulationen war die epidemiologische Schätzung insofern unsicher, als dass mehrere Teilpopulationen umfassende Werte oder Spannen zur Größe der GKV-Zielpopulati-on machte. Dies ist insbesondere nach 2014 zu beobachten.

383 BT.-Drs. 17/2413, S. 38.384 Berkemeier, Höer (2016), S. 104ff; Cassel, Ulrich (2017), S. 179.; Haas et al.

(2016), S. 4; IGES (2018).385 Haas, Pietsch (2018), S. 53.

Mythos

Überprüfung

Page 264: AMNOG-Report 2020 - DAK

244 AMNOG Fakten-Check 6

Abbildung 48: Sicherheit der vom GBA genannten Prävalenzschätzun-gen je Teilpopulation.

Quelle: Eigene Auswertung, Stand: 31.12.2019.

Neben den auf absoluten Umsatzdaten basierenden Analysen lässt sich auch die relative Marktdurchdringung neuer Arzneimittel zur Beschreibung AMNOG-induzierter Versorgungseffekte heranzie-hen. Eine solche Analyse zielt nicht darauf ab, eine Über- oder Un-terversorgung mit einzelnen neuen Wirkstoffen zu identifizieren, sondern wirkstoffübergreifende Trends in der Marktdurchdringung basierend auf verordneten Tagesdosen abzubilden. Der Anstieg des Verordnungsvolumens (DDD) lässt sich berechnen, indem die rela-tive Veränderung des Verordnungsvolumens zum Vormonat über den betrachteten Zeitraum aufsummiert und dann durch die ent-sprechende Anzahl der Monate geteilt wird. Der „DDDUptake“ gibt damit die durchschnittliche relative Änderung von einem Monat zum anderen über den betrachteten Zeitraum an (entspricht der Wachs-tumsrate je Zeiteinheit). Die Berechnung relativer monatlicher Ver-änderungen ist grundsätzlich dann anfällig für Ausreißer im monatli-chen Verordnungsvolumen, wenn kleine Volumina betrachtet wer-den und es zu absolut größeren Mengenunterschieden in aufeinan-derfolgenden Monaten kommt.386

Basierend auf Daten von 117 Wirkstoffen (alle Wirkstoffe, für die bis zum 30.09.2018 ein volles Beobachtungsjahr nach Veröffentlichung des GBA-Beschlusses vorlag) zeigt sich, dass das Ergebnis der

386 Im Rahmen von Sensitivitätsanalysen wurde deshalb die durchschnittliche Wachstumsrate über den entsprechenden Zeitraum berechnet. Der Unterschied zur Berechnung des DDD-Uptakes besteht darin, dass eine konstante Wachs-tumsrate zugrunde gelegt wird, welche ausgehend von dem Anfangswert nach n Monaten zu dem Endwert führt, während der Endwert beim DDD-Uptake keine Berücksichtigung findet. Die errechnete Abweichung zum DDD-Uptake ist hin-sichtlich des Ausmaßes jedoch vernachlässigbar.

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2456 AMNOG Fakten-Check

Nutzenbewertung gemessen am festgestellten Zusatznutzen auch nach sieben Beobachtungsjahren nur begrenzten Einfluss auf die Marktentwicklung neuer Wirkstoffe hat. Die durchschnittliche Up-take-Rate aller AMNOG-Präparate innerhalb eines Jahres nach GBA-Beschluss liegt bei 12,0 %. Unter Berücksichtigung der absolu-ten Umsatzvolumina steigt das Umsatzvolumen der betrachteten AMNOG-Präparate innerhalb eines Jahres nach GBA-Beschluss im Mittel um 13,4 %. Dieser Wert ist gegenüber den vergangenen Jah-ren geringfügig niedriger.

Gleichzeitig bleibt der Befund bestehen, dass Wirkstoffe mit einer großen GKV-Zielpopulation innerhalb eines Jahres nach Vorliegen des GBA-Beschlusses durchschnittlich stärkere prozentuale Um-satzzuwächse als Wirkstoffe in kleinen Anwendungsgebieten errei-chen – unabhängig vom Ausmaß des Zusatznutzens.

Bei Betrachtung der umsatzgewichteten Mittelwerte liegen die An-stiegsraten des Verordnungsvolumens in Relation zum Zusatznut-zenausmaß auf vergleichbarem Niveau. Die durchschnittliche Wachstumsrate für Wirkstoffe ohne Zusatznutzen liegt bei 13,2 %, die von Wirkstoffen mit belegtem Zusatznutzen bei 13,8 %.

Innerhalb der Wirkstoffgruppe mit belegtem Zusatznutzen weisen die erzielten Wachstumsraten im Verordnungsvolumen nach dem GBA-Beschluss ebenfalls vergleichbare Ergebnisse auf. Lag in we-nigstens einer Teilindikation ein beträchtlicher Zusatznutzen vor, stieg das Verordnungsvolumen monatlich im Durchschnitt um 13,8 % an (vgl. Abb. 48). In dieser Gruppe tragen vor allem jene Wirkstoffe mit bislang großen Verordnungsvolumina diesen Effekt (insbeson-dere Aclidiniumbromid/Formoterol, Sacubitril/Valsartan und Ticagre-lor), weshalb die mengengewichtete Wachstumsrate deutlich ober-halb der ungewichteten Rate liegt. Wirkstoffe mit geringem Zusatz-nutzen liegen auf gleichem Niveau. Wirkstoffe mit nicht quantifizier-barem Zusatznutzen sind überwiegend Orphan Drugs, welche aufgrund abweichender Versorgungsstrukturen gesondert betrach-tet werden müssen. Orphan Drugs zeigen bislang langsamere Ad-optionsraten, da für diese der durchschnittliche monatliche Anstieg im Verordnungsvolumen im Zeitraum nach Veröffentlichung des GBA-Beschlusses mit 11,7 % (rohe Wachstumsrate: 11,2 %) deut-lich unterhalb des Durchschnittes des AMNOG-Marktes liegt.

Ein GBA-Beschluss ersetzt weder in seinen Aussagen zur zweck-mäßigen Vergleichstherapie noch zum relativen Zusatznutzen des neuen Wirkstoffs die ärztliche Indikationsstellung im Einzelfall. Das bedeutet auch, dass sich aus dem GBA-Beschluss weder ein Ver-ordnungszwang für Arzneimittel mit Zusatznutzen noch einen Hin-weis gegen den Einsatz eines neuen Arzneimittels ohne Zusatznut-zen ableiten lässt. Ausnahme stellen hier ggf. die wenigen Teilindika-tionen dar, in welchen der GBA einen geringeren Nutzen festgestellt hat. Aufgrund der Nutzen- und Preissignale, welche mit der frühen Nutzenbewertung verbunden sind, könnte jedoch vermutet werden,

Ergebnis: Mythos stimmt zum Teil

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dass das Ergebnis über das Ausmaß des Zusatznutzens die Markt-durchdringung beschleunigt.387

Die Idee des im Rahmen des AMNOG-Reportes berechneten „DDD-Uptakes“ ist es, einen potentiellen Mengeneffekt unmittelbar nach erfolgter Beschlussfassung des GBA zu isolieren. Gleichwohl ist ein-schränkend zu berücksichtigen, dass bei Wirkstoffen, die innerhalb eines kurzen Zeitraumes unmittelbar nach Marktzugang ein hohes Umsatzvolumen erreichen, trotz später belegten Zusatznutzens in der Betrachtungsperiode nur noch einen vergleichsweise geringen Anstieg im Volumen verzeichnen. Dies kann auch dann beobachtet werden, wenn innerhalb des Anwendungsgebietes eines neuen Wirkstoffes aufgrund einsetzenden Innovationswettbewerbes in ra-scher Abfolge weitere neue Produkte in den Markt kommen.

6.6 Literatur

Beerheide, R., Maybaum, T. (2017): Interview mit Prof. Josef He-cken, unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundes-aus schuss (GBA): „Kämpfe mit dem Flammenschwert für die Selbstverwaltung“. Deutsches Ärzteblatt; 114 (3): A-62/B-57/ C-57.

Berkemeier, F., Höer, A. (2016): AMNOG-Reporting, in: Häussler, B., Höer, A., de Millas, C. (Hrsg.): Arzneimittel-Atlas 2016. Der Arzneimittelverbrauch in der GKV. Medizinisch Wissenschaft-liche Verlagsgesellschaft, Berlin.

Cassel, D., Ulrich, V. (2017): AMNOG-Check 2017. Nomos Verlags-gesellschaft, Baden-Baden.

Deutsche Apotheker Zeitung, DAZ online (2012): GKV: Interessen-ausgleich funktioniert. DAZ online vom 04.12.2012.

Frick, M.; Bundenstock, J. (2015): Problem AMNOG-Governance: Macht ohne Gewaltenteilung, in: Wille, E.: Verbesserung der Patientenversorgung durch Innovation und Qualität. 19. Bad Orber Gespräche über kontroverse Themen im Gesundheits-wesen. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main.

GKV-Spitzenverband (2019): Anlage der Erstattungsbetragsverein-barung nach § 130 b SGB V. URL: www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/krankenversicherung _1/arzneimittel/amnog_sonst_vb/18031sv20180601.pdf.

GKV-Spitzenverband (2020): Fokus: AMNOG-Verhandlungen. URL: www.gkv-spitzenverband.de/presse/themen/ amnog_ver handlungen/s_thema_amnog_verhandlungen.jsp.

387 Ulrich, Cassel (2016), S. 31.

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2476 AMNOG Fakten-Check

Haas, A., Tebinka-Olbrich, A., Kleinert, J. M., Rózynska, C. (2016): Konzeptpapier: Nutzenorientierte Erstattung. Stand: 28.04. 2016, GKV-Spitzenverband.

Haas A, Pietsch K (2018): Der „AMNOG-Check 2017“ – Alter Wein in neuen Schläuchen. G+S; 1/2018: 50–53.

IGES (2018): Auswirkung der frühen Nutzenbewertung auf die Ver-sorgung: erwarteter und tatsächlicher Wirkstoffverbrauch. Veröffentlicht online am 04.01.2018. URL: www.arzneimittel-atlas.de/nutzenbewertung/amnog-reporting/verbrauchsent-wicklung/.

Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit, IQWiG (2020): Wissen-schaftliche Ausarbeitung von Konzepten zur Generierung ver-sorgungsnaher Daten und deren Auswertung zum Zwecke der Nutzenbewertung von Arzneimitteln nach § 35 a SGB V – Rapid Report. Version 1.0 vom 24.01.2020.

Schwabe, U., Ludwig, W. D., Paffrath, D., Klauber, J. (2019): Arznei-verordnungen 2018 im Überblick, in: Schwabe, U., Ludwig, W. D., Paffrath, D., Klauber, J.: Arzneiverordnungs-Report 2019. Springer, Heidelberg.

Verband forschender Arzneimittelhersteller, vfa (2012): Fischer: „AMNOG hat noch kein Verfahren für einen fairen Ausgleich gefunden!“. Pressemitteilung 035/2012 vom 04.12.2012.

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Autoren

Prof. Dr. Wolfgang Greiner, geboren 1965, ist seit April 2005 Inhaber des Lehrstuhls für „Ge-sundheitsökonomie und Gesundheitsmanage-ment“ an der Universität Bielefeld. Vor seiner Be-rufung war er an der Forschungsstelle für Ge-sundheitsökonomie und Gesundheitssystemfor-schung, einer Gemeinschaftseinrichtung der Universität Hannover und der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), als Forschungs-leiter tätig. Er ist Autor zahlreicher Buch- und

Zeitschriftenartikel und Managing Editor der Zeitschrift „European Journal of Health Economics“. 1999 wurde er in das Board der EuroQol-Foundation in Rotterdam gewählt. Prof. Dr. Greiner ist zu-dem Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Ent-wicklung im Gesundheitswesen (SVR-Gesundheit), Mitglied im Bei-rat zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs des Bundes-versicherungsamtes, Mitglied in den wissenschaftlichen Beiräten des IQWiGs, der DAK-Gesundheit, der BARMER und der TK sowie in dem Aufsichtsrat des Medizinischen Zentrums für Gesundheit Bad Lippspringe GmbH. Er ist Vorsitzender des Schiedsamtes für die zahnärztliche Versorgung in Niedersachsen.

Die wissenschaftlichen Schwerpunkte Prof. Greiners liegen im Be-reich der Evaluation von Gesundheitsleistungen, der Lebensquali-tätsforschung, des Health Technology Assessments, des Risiko-strukturausgleichs sowie des Disease Managements. Er ist Preisträ-ger des österreichischen Preises für Gesundheitsökonomie, des Wissenschaftspreises der Universität Hannover sowie des Medvan-tis-Forschungspreises.

Julian Witte ist seit 2012 wissenschaftlicher Mit-arbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Ge-sundheitsökonomie und Gesundheitsmanage-ment der Universität Bielefeld und beschäftigt sich u. a. im Rahmen seiner Dissertation mit Fra-ge- und Problemstellungen im Verfahren der frü-hen Nutzenbewertung sowie der Preisbildung innovativer Arzneimittel. Seine Masterarbeit zum Thema „Frühe Arzneimittelnutzenbewertung im

Rahmen des AMNOG – Methodische Ansätze zur quantitativen Operationalisierung des Zusatznutzens gemäß Arzneimittelnutzen-verordnung (AM-NutzenV)“ wurde 2012 mit dem ersten Forschungs-preis der Deutschen Fachgesellschaft für Market Access (DFGMA) sowie dem Wissenschaftspreis der AOK Westfalen-Lippe ausge-zeichnet.

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Daniel Gensorowsky studierte Volkswirt-schaftslehre an der Westfälischen Wilhelms-Uni-versität Münster (WWU). Seit 2016 ist er wissen-schaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehr-stuhl für Gesundheitsökonomie und Gesund-heitsmanagement der Universität Bielefeld. Neben arzneimittelpolitischen Fragestellungen setzt sich Daniel Gensorowsky in seiner For-schungsarbeit mit dem Marktzugang und der Evaluation von innovativen Gesundheitstechno-

logien auseinander. Sein thematischer Schwerpunkt liegt dabei auf der Digitalisierung im Gesundheitswesen.

Sophie Pauge ist seit 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsgruppe Gesundheits-ökonomie und Gesundheitsmanagement an der Universität Bielefeld. Zuvor studierte sie an der London School of Economics and Political Sci-ence Int. Health Policy, wo sie sich in ihrer Mas-terarbeit mit Modellierungsproblemen von Im-muntherapien für Brustkrebsmedikamente wid-mete. Aktuell setzt sich Sophie Pauge mit phar-makoökonomischen Fragestellungen auseinan-

der, insbesondere hinsichtlich HTA Prozeduren und Preisverhand-lungen.

Korrespondenzadresse

Julian Witte, M.Sc.Universität BielefeldFakultät für Gesundheitswissenschaften,Lehrstuhl für Gesundheitsökonomie und GesundheitsmanagementPostfach 10 01 31D-33501 BielefeldTel.: 0521 106 4264Fax: 0521 106 154264Mail: [email protected]

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