"Amok, Massaker, Terror – forensisch psychiatrische Aspekte" von Reinhard Haller

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89 Die forensische Psychiatrie ist im Zusammenhang mit Fällen von Amokläufen, Terroranschlägen und Massakern in vielerlei Hinsicht gefragt. Neben der durch die Seltenheit der Ereignisse und dem häufigen Suizid der Täter nur in wenigen Fällen möglichen traditionellen Aufgabe der gutachter- lichen Beurteilung von Schuld-/Zurechnungsfähigkeit und Gefährlichkeitsprognose ergeben sich Herausforderungen für die kriminalpsychiatrische Forschung, die Öffentlichkeitsarbeit und die Dar- stellung der Psychiatrie ganz allgemein. Bei solchen, die Bevölkerung sehr bewegenden, meist großes mediales Interesse hervorrufenden Ereignissen traut man der Kriminalpsychiatrie offen- sichtlich am ehesten eine fundierte Einschätzung der Tatmotivation und eine Analyse der Täter- persönlichkeit zu. Der forensischen Psychiatrie wird dabei, worauf Nedopil (2012) immer wieder hinweist, der verantwortungsvolle und mit Vorsicht wahrzunehmende Auftrag übertragen, die Ansprüche der Bevölkerung auf Information zu befriedigen und Erklärungsmöglichkeiten für be- unruhigende, oft als „unfassbar“ bezeichnete Taten zu geben. Ferner wird die Frage „mad or bad“ nirgendwo intensiver diskutiert als bei Fällen von Amok, Massaker und Terror, was sich zuletzt in der leidenschaftlich geführten Diskussion über die Frage der Zurechnungsfähigkeit des norwegi- schen Attentäters Anders Breivik eindrucksvoll gezeigt hat. Da solche Aggressionshandlungen die Spitze der Schwerstkriminalität darstellen und zu den folgenschwersten Verbrechen gehören, liegt die Vermutung nahe, dass auch Tatmotive und Täterpersönlichkeiten in den Bereich der schweren Abnormität fallen und nicht mit üblichen Maßstäben zu messen sind. Aus all den Erkenntnissen, die man bei der Analyse großer Verbrechen findet, lassen sich zahlreiche Schlussfolgerungen für die Beurteilung der Alltagskriminalität und die forensisch-psychiatrische Routinetätigkeit ziehen (Haller 2008). 9 Amok, Massaker, Terror – forensisch psychiatrische Aspekte Reinhard Haller

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aus "Forensische Psychiatrie als interdisziplinäre Wissenschaft" von E. Yundina, S. Stübner, M. Hollweg und C. Stadtland

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Die forensische Psychiatrie ist im Zusammenhang mit Fällen von Amokläufen, Terroranschlägen

und Massakern in vielerlei Hinsicht gefragt. Neben der durch die Seltenheit der Ereignisse und dem

häufigen Suizid der Täter nur in wenigen Fällen möglichen traditionellen Aufgabe der gutachter-

lichen Beurteilung von Schuld-/Zurechnungsfähigkeit und Gefährlichkeitsprognose ergeben sich

Herausforderungen für die kriminalpsychiatrische Forschung, die Öffentlichkeitsarbeit und die Dar-

stellung der Psychiatrie ganz allgemein. Bei solchen, die Bevölkerung sehr bewegenden, meist

großes mediales Interesse hervorrufenden Ereignissen traut man der Kriminalpsychiatrie offen-

sichtlich am ehesten eine fundierte Einschätzung der Tatmotivation und eine Analyse der Täter-

persönlichkeit zu. Der forensischen Psychiatrie wird dabei, worauf Nedopil (2012) immer wieder

hinweist, der verantwortungsvolle und mit Vorsicht wahrzunehmende Auftrag übertragen, die

Ansprüche der Bevölkerung auf Information zu befriedigen und Erklärungsmöglichkeiten für be-

unruhigende, oft als „unfassbar“ bezeichnete Taten zu geben. Ferner wird die Frage „mad or bad“

nirgendwo intensiver diskutiert als bei Fällen von Amok, Massaker und Terror, was sich zuletzt in

der leidenschaftlich geführten Diskussion über die Frage der Zurechnungsfähigkeit des norwegi-

schen Attentäters Anders Breivik eindrucksvoll gezeigt hat. Da solche Aggressionshandlungen die

Spitze der Schwerstkriminalität darstellen und zu den folgenschwersten Verbrechen gehören, liegt

die Vermutung nahe, dass auch Tatmotive und Täterpersönlichkeiten in den Bereich der schweren

Abnormität fallen und nicht mit üblichen Maßstäben zu messen sind. Aus all den Erkenntnissen,

die man bei der Analyse großer Verbrechen findet, lassen sich zahlreiche Schlussfolgerungen für

die Beurteilung der Alltagskriminalität und die forensisch-psychiatrische Routinetätigkeit ziehen

(Haller 2008).

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Aus Art, Genese und Psychodynamik derartiger verbrecherischer Handlungen ergeben sich aber

auch wichtige Erkenntnisse für das allgemeine Verständnis psychischer Störungen. So wurde etwa

Kretschmers Lehre vom sensitiven Beziehungswahn (1918), in welcher eine psychogenetische Ab-

leitung des Verfolgungswahns vorgenommen wird, ganz entscheidend aus den durch die psychia-

trischen Untersuchungen des „Massenmörders“ Ernst Wagner gewonnenen Erkenntnissen abge-

leitet.

Wichtige Aufgaben stellen sich für den psychiatrischen Sachverständigen schließlich in der gut-

achterlichen Beurteilung der überlebenden Anschlagsopfer, also in der Einschätzung von Traumen

und Traumafolgen einschließlich der Dauer- und Spätschäden bei den Hinterbliebenen. Die Lehre

der begrifflich heute inflationär verwendeten posttraumatischen Belastungsstörung wurde maß-

gebend an den Beispielen von überlebenden Terror- und Massakeropfern entwickelt.

Da sich die Begriffe „Amok“, „Massaker“ und „Terror“ erheblich überschneiden und meist unscharf

gebraucht werden, eine genaue Abgrenzung zum besseren kriminalpsychologischen Verständnis

aber unabdingbar ist, wird zunächst eine genaue Beschreibung vorangestellt. Eine exakte Differen-

zierung ist erforderlich, da sich sowohl Täterpersönlichkeiten und Tatmotive als auch die jeweiligen

Tatkonstellationen in den drei Unterformen dieser „Trias des Schreckens“ erheblich unterscheiden.

Einschränkend ist vorauszuschicken, dass trotz der in den letzten Jahren als Folge der Schulmassa-

ker intensivierten Forschung insgesamt wenig empirisches Untersuchungsmaterial zur Verfügung

steht. Aus diesem Grund werden neben der Darstellung des heutigen Wissensstandes einzelne Fall-

beispiele eingebracht, womit auch dem Anspruch der forensischen Psychiatrie als „letzter Heimat

der Kasuistik“ Rechnung getragen wird.

9.1 Amok

Unter „Amok“ wird nach der WHO-Definition eine plötzliche, willkürliche, nicht provozierte Gewaltattacke mit mörderischem oder zumindest erheblich zerstörerischem Verhalten, häufig mit Umschlagen in „suizidale Reaktionen“ verstanden. Obwohl der Begriff selbst aus der malaiisch-indonesischen Kultur (Amok = Wüten, Rasen) stammt, stellt das, was damit gemeint ist, ein inter-kulturelles Phänomen dar. Im nordeuropäischen Bereich entspricht die „Ber-serkerei“, im südamerikanischen die „Colerina“ und im nordamerikanischen die als „li’aa“ bezeichnete Raserei dem Amoklauf. Mit der Bezeichnung „Ram-page-Killer“ wird in den USA jener Tätertyp gemeint, der gleich dem Amok-läufer anfallsartig in kurzer Zeit möglichst viele Opfer töten will.

In den großen psychiatrischen Klassifikationssystemen, in denen Amok nur indirekt erwähnt wird, wäre der Begriff am ehesten der Kategorie der im DSM angeführten intermittierenden explosiblen Störung, früher auch als „kata-thyme Krise“ bezeichnet, zuzuordnen. Während diese im ICD-10 nicht eigens abgehandelt, sondern der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung (F 60.3) bzw. den „sonstigen abnormen Gewohnheiten und Störungen der Impulskon-trolle (F 63.8)“ zugeordnet wird, ist sie im DSM IV-TR unter der Nummer 312.34 gesondert beschrieben und durch folgende Kriterien definiert:

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9.1 Amok 19.1 Amok 9 Kriterium A : Mehrere umschriebene Episoden des Versagens, aggressiven

Impulsen zu widerstehen, die zu schweren Gewalttätigkeiten oder zur Zerstörung von Eigentum führen. Kriterium B : Das Ausmaß der Aggressivität während der Episoden steht im

groben Missverhältnis zu irgendeinem provozierenden oder auslösen-den psychosozialen Belastungsfaktor. Kriterium C : Die aggressiven Episoden können nicht besser durch eine an-

dere psychische Störung, wie antisoziale Persönlichkeitsstörung, Bord-erline-Persönlichkeitsstörung, psychotische Störung, manische Episo-de, Störung des Sozialverhaltens oder Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyper-aktivitätssyndrom erklärt werden und gehen nicht auf die direkte kör-perliche Wirkung einer Substanz (z.B. Drogen) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors (z.B. Kopfverletzung) zurück.

Im DSM wird der Begriff Amok sogar einmal direkt erwähnt und als eine Epi-sode akuten, ungezügelten gewalttätigen Verhaltens charakterisiert, für die die Betroffenen eine Amnesie angeben. Anders als die intermittierende ex-plosible Störung trete Amok typischerweise als einzelne Episode und nicht als ein Muster aggressiven Verhaltens auf und gehe oft mit ausgeprägten disso-ziativen Merkmalen einher. Episodisches gewalttätiges Verhalten komme häufiger bei Männern als bei Frauen vor. Als Risikoalter wird die Phase zwi-schen der späten Adoleszenz und dem dritten Lebensjahrzehnt genannt. Aller-dings fehlen, so wird auch im DSM festgestellt, zuverlässige Informationen zu dieser offenbar seltenen Störung (Saß et al. 2003).

In verschiedenen Untersuchungen, etwa jenen von Adler (2000), Hoffmann (2003), Scheithauer et al. (2008) oder Scheithauer und Bondü (2008) wurden Amokläufe in mehrere Stadien eingeteilt. Im Prodromalstadium werden durch negative Erlebnisse Verstimmungszustände wie Dysphorie, Gekränktheit, de-pressives Brüten, Rückzug und Rachegedanken ausgelöst. Das Stadium des ho-mizidalen Ausbruchs beginnt mit einem Verlust der Impulskontrolle und führt über einen Bewegungssturm mit rücksichtslosen Aggressionen, ja Raserei, zur Fortführung der homizidalen Handlungen, ehe ein schlafähnlicher Zustand mit to-taler Erschöpfung, Depression, Stupor und Amnesie als vierte Phase die Epi-sode beendet.

Amokläufe wurden früher immer mit schweren psychischen Störungen, vor allem mit latenter Epilepsie, organischen Dämmerzuständen, idiosynkrati-schen Substanzreaktionen und pathologischen Räuschen, aber auch mit para-noiden Psychosen und psychotischen Depressionen in Verbindung gebracht. In späteren Untersuchungen wurden psychosoziale Umstände, narzisstische Kränkungen und Konversionsstörungen inklusive dissoziativer Fugue und Trance in den Vordergrund der Erklärungen gerückt. Nach heutigem wissen-schaftlichem Verständnis wird versucht, nicht mehr nur Ursachenanalysen abzugeben, sondern zentrale Risikofaktoren zu identifizieren. Diese bestehen vor allem in narzisstischer Persönlichkeitsstruktur, Gewaltphantasien, kriti-

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schen Lebensereignissen, Depressionen mit Suizidneigung, Zurückweisun-gen, Mobbing und Bullying. Adler et al. (2006), welche 143 Ereignisse aus den Jahren 1993 bis 2001 – bei denen nur eine einzige weibliche Täterschaft vertre-ten war – untersuchten, fanden kein einheitliches Tat- und Tätermuster, je-doch mit 72% ein Überwiegen der Opfer aus dem familiären Umfeld bzw. Be-kanntenkreis. Unter den Motiven dominierte Rache mit 61%. In 22% wurden persönlich-familiäre, in 10% politische Gründe genannt und in 7% lagen psy-chische Erkrankungen vor. Später hat Adler (2010) ebenso wie zuvor Palermo (1994) auf die Bedeutung von Amok im Spektrum homizidal-suizidaler Hand-lungen hingewiesen.

In kriminologischen und pädagogischen Forschungsprogrammen, wie sie ins-besondere von Meloy et al. (2001), Heubrock et al. (2005), Hurrelmann und Bründel (2007) sowie Bannenberg (2010) publiziert wurden, konnten Risiko-faktoren in Form von narzisstischer Persönlichkeitsstörung, geringer Frustra-tionstoleranz, kürzlich stattgehabten Verhaltenssprüngen, konzentriertem Konsum von Medien mit gewalttätigen Inhalten, Tolerierung krankhaft-ag-gressiven Verhaltens durch die Umgebung, Mangel an Nähe und zwischen-menschlicher Vertrautheit, Depressionen mit Suizidneigung, Ausgrenzung und Benachteiligung durch die Mitmenschen sowie – als durchschlagendstem Kriterium – leichter Zugang zu Waffen gefunden werden.

Als typische Amok-Persönlichkeiten gelten nachgiebig-gutmütige Charaktere, welche ihre Ansprüche schwer zum Ausdruck bringen, ferner Menschen mit geltungsbedürftigen und außerordentlich empfindlichen sowie abnorm er-regbaren, unkontrolliert-aggressiven Zügen. Eine besondere Gruppe scheinen junge Männer zu sein, die durch Kriegshandlungen in einen amokartigen Zustand, einen Strudel unfassbarer Dissoziationen geraten.

Für die forensische Psychiatrie sind bei Amoktaten folgende Umstände von Wichtigkeit: Die Täter weisen fast ausnahmslos schwere psychische Störun-gen auf. Der Tatablauf hat anfallsartigen Charakter, d.h., es kommt bei vor-ausgehender, von der Umgebung meist nicht bemerkter konflikthafter Ent-wicklung oder vorbestehender psychischer Störung durch einen geringfügig anmutenden Auslöser zu einer verheerenden Reaktion mit unkontrollierter Aggressivität und „blindwütigem Agieren“, welches durch Suizid bzw. Über-wältigung des Täters oder eine Art terminalen Stupors beendet wird. Detail-lierte Vorplanungen oder Fluchtvorbereitungen sind meist nicht anzutreffen. Der innere Ablauf der Amoktat weist somit gewisse Ähnlichkeiten zu jenem bei klassischen Affektdelikten auf. Die Opfer werden nicht ausgesucht, son-dern rekrutieren sich aus der jeweiligen Umgebung des Täters. Persönliche Übertragungen spielen dabei keine Rolle. Amok hat jedenfalls im Vergleich zu Massaker und Terror sicher die höchste psychiatrische Relevanz.

In den seltenen Fällen, in denen Amoktäter begutachtet werden können, geht es um den Nachweis oder Ausschluss von organischen, affektiven und schi-

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9.2 Massaker 19.2 Massaker 9zophrenen Psychosen, insbesondere von wahnhaften Störungen, von quali-tativ und quantitativ abnormen Rauschzuständen und – im Hinblick auf die Prognose – um eine genaue Beschreibung der Persönlichkeitsstruktur, des motivationalen Gefüges und des kontextuellen Rahmens der Tat. Selbst er-fahrene Sachverständige mit vieljähriger Berufspraxis werden aber höchstens singulär mit einer derartigen Gutachtensaufgabe betraut werden.

9.2 Massaker

Sowohl bei den „School-Shootings“ als auch den Massentötungen durch Ein-zeltäter, die gemeinlich als „Amokläufe“ oder „Terroranschläge“ bezeichnet werden, handelt es sich im Prinzip um Massaker. Mit diesem vom altfranzö-sischen maçacre (= Schlachthaus) abgeleiteten Ausdruck wird ein gezielter Mas-senmord unter besonders grausamen Umständen verstanden. In kriegerischen Auseinandersetzungen meint man damit Hinrichtungen von Zivilpersonen, Gräueltaten, Genozide, Pogrome und Völkermord. Berühmt geworden sind nach dem 2. Weltkrieg die Massaker von My Lai, welches 1968 während des Vietnamkrieges 503 Ziviltote forderte, jenes von Srebrenica, bei welchem im Juli 1995 ca. 8.000 Bosniaken – vor allem Männer und Jungen zwischen 12 und 77 Jahren – das Leben verloren haben, und aktuell jenes vom 25.05.2012 im sy-rischen Houla mit 118 Todesopfern, darunter 49 Kinder und 34 Frauen. Das Columbine Massaker, bei welchem zwei schwer bewaffnete Schüler am 20. Ap-ril 1999 in ihrer High School zwölf Mitschüler und einen Lehrer töteten und sich anschließend suizidierten, ist wohl der bekannteste Massenmord außer-halb kriegerischer Auseinandersetzungen.

Sofern Massakristen psychologisch-psychiatrisch beurteilt werden sollen, ist zunächst zu unterscheiden, ob die Täter innerhalb eines Systems ideologischer bzw. hierarchischer Strukturen oder als Einzeltäter gehandelt haben. Bei den in ein System integrierten Massakristen gibt es wenige psychiatrische Auf-fälligkeiten, Motive und psychische Befunde entsprechen am ehesten jenen bei Terroristen. Zu verweisen ist auf die psychologisch-psychiatrischen Unter-suchungen, welche bei NS-Tätern vorgenommen wurden und kaum auffal-lende Ergebnisse erbracht haben. Lediglich bei 8,5% der Täter, welche Gräuel-taten, sogenannte Säuberungsaktionen, Massentötungen usw. verübt haben, wurden Persönlichkeitsstörungen gefunden, bei allen übrigen ergab sich das erschreckende Bild der „Normalität des Bösen“, wie dies die Philosophin Han-nah Ahrendt (1965) dargestellt hat.

Ganz anders stellt sich die Situation bei Einzeltätern dar, bei welchen wiede-rum zwischen Erwachsenen und jugendlichen School-Shootern zu unterschei-den ist. Während erstere nach allen vorliegenden Erkenntnissen durchaus schwere psychische Störungen aufweisen bzw. während der Planungs-, Durch-führungs- oder Verarbeitungsphase der Taten psychisch krank geworden sind, hat das mit den modernen Kommunikationsmöglichkeiten unabdingbar ver-

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9 Amok, Massaker, Terror – forensisch psychiatrische Aspekte9 Amok, Massaker, Terror – forensisch psychiatrische Aspekte

bundene School-Shooting einen ganz anderen kriminalpsychologischen und persönlichkeitsspezifischen Hintergrund.

9.2.1 Massaker durch erwachsene Einzeltäter

In der Kriminalgeschichte gibt es außerhalb der kriegerischen Auseinander-setzungen bedeutsame Fälle von Massakern durch Einzeltäter: Jener des Hauptlehrers Ernst Wagner, des Oklahoma Attentäters Timothy McVeigh, des „Unabombers“ Ted Kaczynski, des „Bombenhirns“ Franz Fuchs und des Nor-wegers Anders Breivik. Bei allen lagen jedenfalls schwere psychische Störun-gen vor und wurde die Frage zwischen „noch normal“ und „bereits psycho-tisch“ intensiv diskutiert, im Fall Breivik sogar weit außerhalb der Fachwelt bis tief in die Öffentlichkeit hinein.

Es fällt auf, dass es sich mit Ausnahme Wagners bei allen Tätern um intelli-gente, technisch begabte, schizoide und frustrierte Einzelgänger handelte. Alle zogen sich enttäuscht und gekränkt zurück und entwickelten in ihrer Isolation eine überwertige Idee, nach welcher sie fortan ihr Leben bedingungs-los ausrichteten. Alle behaupteten, in höherem Auftrag und in einer Art „Not-wehr“ gehandelt, ja sich bei den Taten „geopfert“ zu haben. Bei allen stellt sich die Frage, inwieweit ihre Ideen wahnhaften Charakter angenommen haben. Beim Oklahoma Attentäter Timothy McVeigh, welcher 1995 bei einem Bombenanschlag auf das Murrah Federal Building in Oklahoma City 168 Men-schen getötet und 800 verletzt hatte, ist dies am wenigsten eindeutig, zumal das psychiatrische Gutachten nicht genügend klar ist, und Nachuntersuchun-gen wegen der im Jahr 2001 erfolgten Hinrichtung nicht mehr möglich waren. In seiner Persönlichkeitsstruktur zeigten sich aber neben schizoiden und nar-zisstischen Zügen auch paranoide Tendenzen.

Ganz klar zeigten sich die wahnhaften Phänomene beim österreichischen Bom-

benattentäter Franz Fuchs, dessen Expertise Norbert Nedopil und der Verfasser

gemeinsam erstellt haben:

Fuchs wurde im März 1999 von einem Schwurgericht in Graz schuldig erkannt,

von Dezember 1993 bis Dezember 1996 in Österreich und Deutschland sechs

Briefbombenserien initiiert und drei Sprengstoffattentate verübt zu haben,

welche insgesamt fünfunddreißig Verletzte und vier Todesopfer forderten. Zu

den Anschlägen, die durchwegs gegen Personen und Institutionen mit Enga-

gement in Ausländerfragen gerichtet waren, hatte sich damals in zahlreichen

Schreiben eine Gruppierung namens BBA (= Bajuwarische Befreiungsarmee)

bekannt. Als Motiv für die Verbrechen wurden die angeblich drohende Über-

fremdung Österreichs und die Gefahr des Niedergangs der deutschsprachigen

Volksgruppe genannt.

Franz Fuchs wurde anscheinend zufällig festgenommen. Während einer Poli-

zeikontrolle versuchte er, sich durch eine Rohrbombe zu suizidieren, verlor

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9.2 Massaker 19.2 Massaker 9dabei beide Hände und verletzte die einschreitenden Beamten. Im Vorver-

fahren zeigte er sich sehr kooperativ, gab eine Fülle von (selbstbezichtigen-

dem) Insiderwissen an, bezeichnete sich als Mitglied der BBA, ließ allerdings

bis zuletzt offen, ob er als Einzeltäter gehandelt habe. Der Teilnahme an der

Schwurgerichtsverhandlung entzog er sich durch anhaltendes Brüllen aus-

länderfeindlicher Parolen, was den Ausschluss von den Sitzungen zur Folge

hatte. Das Gericht, welches von einer Einzeltäterschaft ausging, verurteilte

ihn zu lebenslanger Haft und wies ihn in eine Anstalt für (zurechnungsfähige)

geistig abnorme Rechtsbrecher ein. Dort gelang es ihm trotz Amputation bei-

der Unterarme und fehlender prothetischer Vorsorgung sich in einer intensiv

überwachten Zelle zu suizidieren.

Diagnostisch wurde bei Fuchs eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit

schizoiden, paranoiden, fanatischen und narzisstischen Anteilen (ICD-10, F61.0)

festgestellt. Der schon als Kind einzelgängerische, extrem intelligente (IQ 149)

Mann hatte sich nach zahlreichen beruflichen und privaten Enttäuschungen

völlig zurückgezogen und richtete sein ganzes Leben nach der anfangs fana-

tischen, später wahnhaft werdenden Idee aus, Österreich vor der drohenden

Überfremdung schützen zu müssen. Er entwickelte einen psychodynamisch

auch als Selbstbestrafung zu interpretierenden Verfolgungswahn, der letzt-

lich zu seiner Verhaftung führte.

Der Fall Franz Fuchs weist so verblüffende Ähnlichkeiten auf mit jenem des „Unabombers“ Theodor John Kaczynski – dessen Manifest später Andres Brei-vik in großen Teilen übernehmen sollte – dass von kriminologischer Seite län-gere Zeit die Möglichkeit ein und derselben Täterschaft verfolgt wurde.

Kaczynski wurde 1942 in einem Vorort von Chicago geboren und fiel als He-

ranwachsender durch außerordentliche Intelligenz auf. Schon mit 16 Jahren

erhielt er ein Stipendium, das ihm ein Studium der Mathematik und Physik

an der Elite-Universität Harvard ermöglichte. Er galt als extremer Einzelgän-

ger, hatte keine Freunde und keine Frauenkontakte, beschäftigte sich nur mit

seinen Fachbüchern und gönnte sich nichts. Nachdem er bereits mit 20 Jahren

sein Examen in Harvard abgelegt hatte, wechselte er für das Doktorstudium

an die Universität Michigan, wo er 1967 promovierte. Anschließend war er

an der Hochschule von Berkeley als Wissenschaftler tätig, veröffentlichte her-

vorragende Artikel in Fachzeitschriften und galt als Mathematikgenie. Er war

immer korrekt gekleidet, blieb stets zurückhaltend und einzelgängerisch, in-

teressierte sich ausschließlich für sein Fach.

In Lincoln fiel niemandem auf, dass der seltsame Fremdling oft wochen- und

monatelang abwesend war. In dieser Zeit hielt sich Kaczynski in Hotels in Chi-

cago, Sacramento und Salt Lake City auf und verschickte von dort aus von 1978

bis 1995 Briefbomben, die er stets mit den Buchstaben „FC“ (= Freedom Club)

signierte. Seine 16 Bombenanschläge forderten insgesamt drei Todesopfer und

22 Verletzte. Der erste Anschlag am 26.10.1978 war gegen die Northwestern

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9 Amok, Massaker, Terror – forensisch psychiatrische Aspekte9 Amok, Massaker, Terror – forensisch psychiatrische Aspekte

University in Evanston gerichtet, an welcher er vor Jahren ein wissenschaftli-

ches Manuskript mit Warnungen vor den Gefahren des technischen Fortschritts

hatte veröffentlichen wollen, welches aber abgelehnt worden war. Die folgen-

den Attentate hatten stets mit Personen und Institutionen zu tun, welche mit

neuen gesellschaftlichen Entwicklungen und Technologien befasst waren. Da

sich die Bombenanschläge gegen Universitäten und Airlines richteten, erhielt

der Unbekannte den Namen „Unabomber“. Die Bomben waren mit einfachen

Mitteln, aus alten Schrottteilen und selbst fabrizierten Chemikalien herge-

stellt, verwertbare Spuren wurden nie gefunden. Der Unabomber erreichte

mit dem Versprechen, nie wieder Bomben zu verschicken, die Veröffentlichung

eines 75 Seiten langen, 35.000 Worte umfassenden Manifests in den angese-

henen Zeitungen New York Times und Washington Post. In der im Stile einer

Seminararbeit geschriebenen, völlig fehlerfreien Publikation bezeichnete er die

Industriegesellschaft als schädlich und auflösungswürdig, Fabriken müssten

zerstört und technische Bücher verbrannt werden, der industrielle Fortschritt

entmündige die Menschen und beraube jeden seiner Freiheit. Die Veröffentli-

chung brachte 20.000 Hinweise aus der Bevölkerung ein, darunter auch einen

entscheidenden von David Kaczynski. Dieser hatte aufgrund der Wortwahl den

Verdacht geschöpft, dass sein Bruder Theodor der Urheber sein könnte und

hatte, von Gewissensbissen geplagt, Anzeige erstattet.

Bei der Festnahme am 3. April 1996 fanden die Agenten einen verwahrlos-

ten Waldmenschen mit wirrem Haar und zerlöcherter Kleidung vor. In der

mit Unrat überhäuften Hütte wurden u.a. Manuskripte mit Anleitungen zum

Bombenbau, Drähte, Sprengstoff und eine fertige Bombe gefunden. Kaczynski

wurde gegen seinen Willen einer psychiatrischen Begutachtung unterzogen,

welche eine kombinierte Persönlichkeitsstörung, aber auch eine episodische

Schizophrenie vom paranoiden Typ diagnostizierte. Die Diagnose einer Geis-

teskrankheit rettete Kaczynski vor dem Todesurteil, er wurde zu lebenslanger

Haft verurteilt.

Ähnlich wie bei Anders Breivik springt bei der Längsschnittanalyse dieser bei-den Fälle das Auftreten von wahnhaften Phänomenen ins Auge. Die entschei-denden forensisch-psychiatrischen Fragen sind jene des zeitlichen und inhalt-lichen Zusammenhangs der paranoiden Symptomatik mit den Aggressions-handlungen.

Die forensische Psychiatrie sieht sich hier ungewollt im Mittelpunkt einer heftigen politischen Diskussion, da bei fanatischen und wahnhaften Ideen mit politischen Inhalten die Frage interessiert, inwieweit diese durch radika-le Stimmungen und Strömungen induziert werden können. Hier zeigen sich nicht nur die Grenzen der forensischen Psychiatrie, sondern auch die Schwie-rigkeiten, die sich ergeben können, wenn der krankhafte Charakter einer Idee oder die pathologische Determiniertheit eines verbrecherischen Verhaltens den Gerichten und der Öffentlichkeit vermittelt werden soll.

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9.2 Massaker 19.2 Massaker 99.2.2 Sonderform School-Shooting

School-Shootings sind bis 1990 nur sporadisch vorgekommen, ehe ab 1990 eine Verdoppelung und ab dem Jahr 2000 eine Verfünffachung der Häufigkeit zu beobachten war. Dies wurde vor allem auf den starken Einfluss der Medien auf potenzielle Täter, auf den unzweifelhaft gegebenen Nachahmungseffekt zu-rückgeführt. Besonders diskutiert wird die Bedeutung aggressiver Computer-spiele, welche Motive und Verhaltensschablonen zur Selbstbestätigung liefern könnten. Der erste zivile Massenmord an einer Schule wurde bereits 1927 ver-übt, und zwar in Bath/Michigan durch das Mitglied des Schulkomitees Andrew Kehoe, welcher nach einem gerichtlichen Vollstreckungsbescheid seine Farm in Brand steckte und das Schulgebäude mit Dynamit sprengte. Dabei verloren 37 Schüler ihr Leben. Während der einsetzenden Rettungsarbeiten fuhr er mit seinem mit Metallteilen gefüllten Wagen vor, sprengte diesen in die Luft, wo-durch er sich und vier weitere Personen tötete. Im unzerstörten Südteil der Schule wurden 230 Kilogramm nicht explodierten Dynamits gefunden.

Die seit dem Jahr 2000 durchgeführten Untersuchungen zu den School-Mas-sakern haben keine einheitlichen Ergebnisse gebracht. Nach Verlinden et al. (2002) hatten die Täter in allen Fällen zuvor mit Gewalt gedroht, einen detail-lierten Tatablaufplan entwickelt, gezielte Tatvorbereitungen getroffen, starkes Interesse an Gewalt und Waffen gezeigt, andere für ihre Probleme verantwort-lich gemacht, nur geringe psychosoziale Kompetenz und wenig Stressresistenz entwickelt – und alle hatten Zugang zu Waffen. Betont wurde das Erleben durch soziale Zurückweisung von Gleichaltrigen und die fehlende psychoso-ziale Unterstützung durch Freunde, Lehrer und Familienangehörige. Die Schule werde deswegen zum Ziel der Massakristen, weil sie dort die meisten Kränkungserlebnisse erlitten hätten. Durch die Tötung von Kindern, so fol-gern manche Experten, soll die Gesellschaft an ihrem empfindlichsten Punkt getroffen werden.

Aus früheren School-Shootings wurden von Meloy et al. (2004) und Robertz (2004) die Erkenntnisse gezogen, dass die Täter häufig ländlicher Herkunft sind oder aus sozial besser gestellten Vororten stammen, der Mittelschicht angehören, nur oberflächliche soziale Beziehungen mit hintergründiger Dys-funktionalität aufwiesen und freundschaftliche Beziehungen allenfalls zu Personen mit nihilistischer Weltsicht und ähnlicher Außenseiterrolle unter-hielten. Als Motive wurden Rache, Wunsch nach Berühmtheit, erlittene oder eingebildete Kränkung genannt. In allen Untersuchungen wurde ein hoher Prozentsatz von Tätern mit psychotischen Störungen gefunden. Unterschied-lich diskutiert wird die Bedeutung von aggressiven Computerspielen, wie be-sonders die Untersuchungen von Grossmann und DeaGaetano (1990) oder Her-manutz et al. (2004) belegen.

Lempp (2009) hat auf den intensiven Umgang mit Nebenrealitäten, den un-willkürlich eintretenden Verlust der „Überstiegsfähigkeit“ und das kürzere

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9 Amok, Massaker, Terror – forensisch psychiatrische Aspekte9 Amok, Massaker, Terror – forensisch psychiatrische Aspekte

oder längere Abtauchen in Zustände, in welchen der Bezug zur gemeinsamen Realität verloren gehe, hingewiesen. Wenn die Täter während der Taten „auf-wachen“, werde ihnen plötzlich auf neue Art bewusst, in welcher realen Lage sie sich befinden und was sie angerichtet haben. Meloy et al. (2001) fanden in ihren intensiven Untersuchungen von acht Tätern in zwei Fällen schizophre-ne Psychosen, in fünf weiteren Depressionen. Auch in der berühmten Unter-suchung von Vossekuil et al. (2002), welche im Auftrag des Secret Service und des Department of Education durchgeführt wurde, wurden bei sechs von acht Fällen gravierende psychische Störungen, jedoch keine Alkohol- und Drogen-probleme nachgewiesen. Langman (2009) führte in seinen intensiven Unter-suchungen von zehn Fällen dezidiert aus, dass alle jugendlichen Schul-Amok-läufer ausnahmslos psychisch krank bzw. psychisch stark auffällig waren. Er unterschied zwischen den Gruppen der schizotypen oder schizophrenen, der traumatisierten und depressiven sowie der persönlichkeitsgestörten Täter. Störungen der Empathie mit sexualisierten aggressiven Zügen galten als be-sonders charakteristisch. Du Bois (2009) hat den Verdachtsfall für School-Shoo-tings aus psychiatrischer Sicht nach psychopathologischen Gesichtspunkten in dimensionaler Form klassifiziert: Die depressive Symptomatik ist demnach durch nihilistische Gedanken und suizidale Ideen, sowie durch zwanghafte oder phobische Tendenzen – eventuell vor traumatischem Hintergrund – ge-prägt. Im autistischen Spektrum herrschen Mangel an Empathie, kuriose soziale Missverständnisse, sonderlinghafte Lebensführung und autistische Bosheits-akte vor. Die schizotype oder schizophrene Symptomatik ist durch inhaltliche (para-noide) und formale Denkstörungen, Auffälligkeiten in der Affektregulation und Beziehungsaufnahme gestört. Die als „p sychopathisch e“ Symptomatik be-schriebene Dimension wird vor allem von sexualisierten aggressiven Tenden-zen und rücksichtslosem Ausleben grausamer Phantasien dominiert.

Hurrelmann und Bründel (2007) stellen allerdings relativierend fest, dass das inzwischen wohlbekannte Risikoprofil von School-Shootern – bestehend aus narzisstischer Persönlichkeitsstruktur, geringer Frustrationstoleranz, plötz-lichen Verhaltenssprüngen, auffallendem Medienkonsum, Toleranz auffal-lenden Verhaltens durch die Umgebung, ein Mangel an Nähe und Vertraut-heit, Zurückweisung, Spott, Mobbing, depressiven Episoden, Suizidalität und Waffenzugang – derart unspezifisch sei, dass es bei hunderttausend Jugend-lichen angetroffen werde könne. Es bleibe letztlich immer zumindest teilwei-se unerklärlich, weshalb es dann bei wenigen zu einer schrecklichen Tat kom-me. Hier ist der forensische Psychiater gefragt.

9.3 Terror

Schmid (1984) und Hoffmann (1998) beschreiben den Terrorismus als politisch motiviertes Verhalten einer relativ kleinen Gruppe mit hierarchischer Gliede-rung, die ihren Willen gegen eine bestehende Ordnung durchsetzen will,

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9.3 Terror 19.3 Terror 9durch Ausübung oder Androhung von gut geplanten öffentlichkeitswirksamen Gewalthandlungen, die Angst und Schrecken verbreiten sollen, um dadurch andere Menschen, insbesondere politische Führungen, unter Druck zu setzen. Die auch in mehreren anderen Definitionsversuchen verwendeten Kriterien fallen allerdings nicht in den Bereich der Psychiatrie. Da Terrorismus überdies ein komplexes, heterogenes Phänomen darstellt, sind kaum typische psycho-pathologische Merkmale bei Terroristen zu erwarten. Die empirische Daten-basis ist dürftig, da es nur wenig überlebende Terroristen gibt und diese aus ideologischen Gründen die Kommunikation verweigern oder es weit von sich weisen, unter psychischen Problemen zu leiden. Psychologische Erkenntnis-se einer speziellen Terroristengruppe lassen sich zudem kaum auf andere Ter-rororganisationen übertragen.

Identisch sind trotz aller Heterogenität des Phänomens innerhalb der einzel-nen Gruppen, welche Überlappungen mit Sekten und organisierter Krimina-lität zeigen, verschiedene gruppenpsychologische Abläufe. Zu unterscheiden sind verschiedene hierarchische Ebenen, die vom Kommando an der Spitze über die Gruppe der handelnden Terroristen bis zu den aktiven Unterstützern und Helfern und den Sympathisanten reichen. Unter dem Aspekt der Motive kann man zwischen nationalistischem (z.B. IRA, ETA, Hamas), ideologischem (z.B. RAF, al-Qaida) und staatlich toleriertem oder gar gefördertem Terroris-mus unterscheiden. Nach Hoffmann (1998) dient der kalkulierte Einsatz von Gewalt dem Erregen von Aufmerksamkeit, der öffentlichen Kenntnisnahme der Motive, der Anerkennung einer Berechtigung der Forderung, der Erlan-gung von Autorität und letztlich der Übernahme von Regierungsmacht.

Die einander ähnelnden psychopathologischen Phänomene, welche von Ditt-mann (2002), als einem der wenigen Psychiater mit direkten explorativen Kon-takten zu Terroristen zusammengefasst wurden, sind wie folgt zu beschrei-ben:

Viele Terroristen, insbesondere der Leitungs- und Kommandoebenen, handeln nach einer eigenen „Psycho-Logik“, wobei gerade in der Endphase einer ter-roristischen Entwicklung kaum zwischen persönlicher Disposition und Aus-wirkungen gruppendynamischer Prozesse unterschieden werden kann. Das Leben in einer nach außen isolierten Gruppenideologie ist von entscheidender Bedeutung. Terroristen verwenden häufig eine uniforme Rhetorik, welche auf polarisierendes, undifferenziertes und absolutes Denken hinweist. Die dabei auftretende verzerrte Wahrnehmung der Realität zeigt nahezu paranoiden Charakter. Wahnerkrankungen finden sich bei terroristischen Gruppentätern kaum, wohl aber scheinen die als „charismatisch“ erlebten Führergestalten häufig pathologischen bzw. paranoiden Motiven zu folgen. De Boor (1978) be-zeichnet überwertige Ideen, welche bei steigender Spannung zur Realisierung von Gewalttaten führen, als „Monoperceptose“. Als weitere wichtige Elemen-te werden infantile Omnipotenzgefühle, hohes Aggressionspotenzial, chro-

100

9 Amok, Massaker, Terror – forensisch psychiatrische Aspekte

nische Identitätskrise, Egozentrizität und Narzissmus, gestörte Partnerbezie-hungen und starke Verdrängungsmechanismen genannt.

Resümee

Obwohl das Verbrechen sein Gesicht wandelt und die Zahl der schweren Gewalttaten und Kriege

insgesamt rückläufig ist, bleibt zu befürchten, dass Amok, Massaker und Terror nicht verschwinden,

wegen der geänderten technischen Möglichkeiten aber folgenschwerer sein werden. Auch die fo-

rensische Psychiatrie wird sich mit diesen speziellen Verbrechen vermehrt befassen müssen. Dabei

gewinnt die neue Rolle des forensischen Psychiaters als Vermittler und Erklärer – ob man nun will

oder nicht – an Bedeutung. Gerade bei der Erklärung großer Verbrechen wird die Psychiatrie mehr

ins Schaufenster der Öffentlichkeit gestellt als bei jeder anderen Diskussion. Große Verbrechen

stellen als negative „Idealtypen“ des Bösen ein wichtiges Forschungsfeld dar und werden wesent-

lich zum Fortschritt unserer Wissenschaft, für welche Norbert Nedopil so viele Impulse gegeben

und Beiträge geleistet hat, beisteuern.

Diese großen Verbrechen werfen aber auch Grundsatzfragen der forensischen Psychiatrie auf, jene

nach der Freiheit des menschlichen Willens, nach der Abgrenzung von extremem Fanatismus und

Wahn bzw. der psychopathologischen Nähe zwischen fanatischer und wahnhafter Idee und der

bereits von Böker und Häfner (1973) diskutierten Frage, inwieweit bei wahnhaften Störungen in

allen Fällen exkulpiert werden soll. Es wäre durchaus denkbar, so haben diese beiden Autoren in

ihrem historischen Werk geschrieben, dass bei fehlender Einsicht in das Krankhafte des Wahns doch

Einsicht und Selbstkontrolle enthalten sind.

Gerade die aktuelle Diskussion um die Zurechnungsfähigkeit des norwegischen Massakristen hat

gezeigt, dass eine schematische Exkulpierung die vielen gesunden Persönlichkeitsanteile, über die

auch Wahnkranke verfügen, zu wenig berücksichtigt.

Die auch in der heutigen Zeit immer wieder vorkommenden Amokläufe, die Veränderungen in der

Terrorszene und das Aufkommen von neuen Massakerformen lassen erwarten, dass sich für foren-

sisch-psychiatrische Gutachter neue Felder auftun und der Rat des exzellenten, international an-

erkannten Fachmannes Professor Norbert Nedopil auch nach seinem 65. Geburtstag bei Gericht

und in den Medien dringend gefragt sein wird.

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