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SCHMERZMEDIZIN Angewandte Schmerztherapie und Palliativmedizin Interdisziplinär Patientenorientiert Praxisnah www.springermedizin.de/schmerzmedizin Mai 2017 | Jg. 33 | Nr. 3 Deutsche Akademie für Ganzheitliche Schmerztherapie e. V. www.dagst.de Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. www.dgschmerzmedizin.de Bundesverband der Palliativmediziner in Westfalen-Lippe e.V. www.bv-palliativmediziner.de CME: Ernährungsmedizinische Aspekte in der Palliativversorgung Cannabinoide Vom Hanf zum Arzneimittel – eine lange Reise Schmerz- und Palliativtag Praxis und Theorie der Versorgung Versorgung Zehn-Punkte-Plan für eine SASV

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SCHMERZMEDIZINAngewandte Schmerztherapie und Palliativmedizin

Interdisziplinär • Patientenorientiert • Praxisnah

www.springermedizin.de/schmerzmedizin

Mai 2017 | Jg. 33 | Nr. 3

Deutsche Akademie fürGanzheitliche Schmerztherapie e. V.www.dagst.de

Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V.www.dgschmerzmedizin.de

Bundesverband der Palliativmediziner in Westfalen-Lippe e.V.www.bv-palliativmediziner.de

CME: Ernährungsmedizinische Aspekte in der Palliativversorgung

Cannabinoide

Vom Hanf zum Arzneimittel – eine lange Reise

Schmerz- und Palliativtag

Praxis und Theorie der Versorgung

Versorgung

Zehn-Punkte-Plan für eine SASV

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Dr. med. Gerhard H. H. Müller-Schwefe, GöppingenPräsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V.

„Eine Bedarfsplanung oder Sicherstellung der Versorgung von Patienten mit schweren Schmerzen existiert auch heute noch in keiner Kassenärztlichen Vereinigung.“

Aufbruch in eine neue Versorgungswelt

N ichts ist besser geworden, Schmerzpatienten sind heute schlechter versorgt als vor zwei Jahren, ihre Zahl hat zugenommen auf in-

zwischen 3,4 Millionen Menschen mit schwersten problematischen Schmerzen“, klagte Michael A. Überall, Präsident der Deutschen Schmerzliga, auf dem 2. Nationalen Versorgungsforum Schmerz im März 2017 in Berlin. Susanne Wüste, Vizepräsiden-ten der Deutschen Schmerzliga kommentierte:

„Schmerzpatienten müssen teilweise über 100 km weit fahren, um einen kompetenten Ansprechpart-ner zu finden“ und Joachim Nadstawek, Präsident des BVSD, forderte „eine Schutzzone für Schmerz-mediziner“, um wenigstens einen Bestandschutz für existierende Einrichtungen zu ermöglichen, da im-mer weniger Schmerzmediziner Nachfolger für ihre Praxen finden können.

Vertreter von Krankenkassen, Kassenärztlicher Bundesvereinigung, Physiotherapeuten, Psychothe-rapeuten, Apothekern sowie Politik und Fachgesell-schaften waren der Einladung von DSL, DGS und BVSD gefolgt, um nach zwei Jahren die Versor-gungssituation von Patienten mit chronischen Schmerzen erneut zu analysieren. Die von großer Offenheit aller Beteiligten geprägte Diskussion be-stätigte abermals, dass die Versorgungssituation für die meisten Betroffenen weiterhin unerträglich ist, dass – wie schon vor zwei Jahren – auch heute noch eine Bedarfsplanung oder Sicherstellung der Ver-sorgung in keiner Kassenärztlichen Vereinigung existiert. Das von den Veranstaltern weiterhin für richtig gehaltene Konzept eines Querschnittsfaches

„Schmerzmedizin“ mit einem entsprechenden Fach-arzt würde zwar die Möglichkeit zu einer fachge-bietsorientierten Bedarfsplanung eröffnen, scheitert aber weiterhin an den Widerständen zahlreicher Fachgesellschaften. Unter diesem Aspekt war sich die Konferenz einig, dass neue Versorgungskonzep-te einen Weg aus dem Dilemma weisen könnten.

Das Commitment aller Beteiligten, konstruktiv an einem solchen Konzept mitarbeiten zu wollen, er-öffnet Perspektiven für eine bessere Versorgung in der Zukunft. Einen ersten Entwurf dieses Konzep-tes finden Sie ab Seite 38.

Wieder einmal bildet diese Ausgabe die ganze Themenvielfalt der Schmerz- und Palliativmedizin ab. Ganz besonders ans Herz legen möchte ich Ih-nen jedoch die Berichterstattung vom Deutschen Schmerz- und Palliativtag 2017, der sich intensiv mit dem Thema Schmerzversorgung in Theorie und Praxis beschäftigt hat (ab Seite 10), sowie die Arbeit von Hanne Albert, der Preisträgerin des Deutschen Schmerzpreises 2017 (Seite 40). Über ihre revoluti-onären Ansätze der Behandlung von chronischen Rückenschmerzen mit Antibiotika konnten Sie be-reits in der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift lesen. In zahlreichen Diskussionsforen habe ich herablas-sende und mitleidige Kommentare zu dieser The-matik gefunden. Eine seriöse Auseinandersetzung mit den Daten lohnt sich und könnte auch ihr Welt-bild verändern.

Ich wünsche Ihnen viel Freude mit dieser Ausga-be der „Schmerzmedizin – Angewandte Schmerz-therapie und Palliativmedizin“ und verbleibe mit herzlichen Grüßen,

Ihr

Gerhard H. H. Müller-Schwefe

Schmerzmedizin 2017; 33 (3) 3

Editorial

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Unsere Organschaften:

Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V.

Deutsche Akademie für Ganzheitliche Schmerztherapie e. V.

Berufsverband der Palliativmediziner in Westfalen-Lippe e. V.

Verlagsredaktion

Dr. rer. nat. Gunter FreeseE-Mail: [email protected]

Springer Medizin Verlag GmbH Aschauer Str. 30, 81549 München

Besuchen Sie uns online: www.springermedizin.de/schmerzmedizin

Editorial

3 Aufbruch in eine neue VersorgungsweltGerhard H.H. Müller-Schwefe, Göppingen

Panorama

8 Schmerzen objektiv vermessen

OB-1 hemmt Schmerzen ganz gezielt

9 Cannabispatienten dürfen Auto fahren

Behandlungsstopp für todkrankes Baby angeordnet

Nationale Versorgungsleitlinie „Nicht-spezifischer Kreuzschmerz“ aktualisiert

Medizin aktuell

10 28. Deutscher Schmerz- und PalliativtagSchmerzmedizin – Praxis und Theorie der Versorgung

18 Leidensverlängerung als BehandlungsfehlerErstes Urteil gegen die Übertherapie am LebensendeMatthias Thöns, Witten, Wolfgang Putz, München

Literatur kompakt

22 Kreuzschmerz: Die meisten Pillen nützen wenig

23 Postoperative Schmerzen nach Herz-OP: Nach einem Jahr ist das Schlimmste überstanden

24 Wer mit Benzos kombiniert, riskiert Opioidüberdosis

24 Karpaltunnelsyndrom: Manuelle Therapie so effektiv wie OP

26 Gleichgewichtssinn bei Migräne: Je schwerer die Erkrankung desto schlechter die Balance

26 CFS bei Jugendlichen: Fast jeder Sechste ist auch chronisch schmerzgeplagt

27 Analgetika-induzierter Kopfschmerz morphometrisch sichtbar gemacht

18 Leidensverlängerung als Behandlungsfehler

In einem wegweisenden Urteil hat das Landgericht München I die PEG-Sonden-ernährung eines Demenzbetroffenen erstmals als ärztlichen Behandlungsfehler eingestuft.

24 Karpaltunnelsyndrom

Beim Karpaltunnelsyndrom ist nicht nur die Operation zielführend, um die Beschwer-den des Patienten zu lindern. Mittel- bis langfristig können mit einer multimodalen manuellen Therapie ähnliche Effekte im Hinblick auf Druckschmerzempfindlichkeit und Schmerzintensität erzielt werden.

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Inhalt Schmerzmedizin 3 · 2017

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Titel

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Rubriken

33 CME-Fragebogen

46 Industrieforum

51 Impressum

Hinweis

Am 24. Juni 2017 findet in Homburg (Saar) der 6. Homburger Schmerz- und Palliativkongress statt. Bitte merken Sie sich diesen wichtigen Termin schon heute vor.

34 Vom Hanf zum Arzneimittel

Das neue Cannabisgesetz soll die Verschrei-bung von cannabinoidhaltigen Arzneien und Cannabisblüten einfacher gestalten. Bis hierhin war es allerdings ein weiter Weg.

28 Mangelernährung

Klinische Zeichen der Mangelernährung weisen zahlreiche Tumorpatienten bereits bei der Diagnosestellung auf. Deshalb sind in der Versorgung bei nahezu allen Palliativpatienten ernährungsmedizinische Aspekte zu beachten.

Zertif izier te Fortbildung

28 CME: Ernährungsmedizinische Aspekte in der PalliativversorgungMatthias Thöns, Witten; Boris Hait, Unna

Fortbildung

34 Cannabinoide: Vom Hanf zum Arzneimittel – eine lange ReiseThomas Henze, Regensburg

Gesellschaf ten und Verbände

Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. (DGS)

38 Spezialisierte Ambulante Schmerzmedizinische VersorgungZehn-Punkte-Plan für eine SASVGerhard H. H. Müller-Schwefe, Göppingen

40 Deutscher Schmerzpreis 2017 verliehenAntibiotika gegen Schmerzen

41 Veranstaltungen und Termine

Deutsche Akademie für Ganzheitliche Schmerztherapie e.V. (DAGST)

42 Multimodale SchmerztherapieDas NADA-Protokoll ist einen Versuch wertBirgit Scheytt, Emmendingen

43 Veranstaltungen und Termine

Berufsverband der Palliativmediziner Westfalen-Lippe

44 GKV-Leistung: Wann ist die SAPV indiziert?Eberhard A. Lux, Lünen

Praxis konkret

48 Praxisabgabe an ein MVZMissverständliche Pflicht-ArbeitszeitDr. Ingo Pflugmacher, Bonn

49 Neuregelung zur Verordnung von Cannabis auf RezeptÜberblick zur rechtlichen LageArno Zurstraßen, Köln

Mundgerechte Häppchen kön-nen die Essens-aufnahme bei Palliativpatien-ten verbessern.

Schmerzmedizin 2017; 33 (3) 7

Inhalt Schmerzmedizin 3 · 2017

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Künstliche Intelligenz

Schmerzen objektiv vermessen

— Gemeinsam mit Forschern der Univer­sität Magdeburg arbeiten Wissenschaftler der Medizinischen Psychologie der Ulmer Universitätsklinik daran, mit technischen Mitteln das subjektive Schmerzerleben objektiv messbar zu machen. Ihr Ziel: die automatisierte Schmerzerkennung mithilfe künstlicher Intelligenz [IEEE Transactions on Affective Computing 2016; DOI:10.1109/TAFFC.2016.2537327]. Bei der automatisier­ten Schmerzmessung werden maschinelle Erkennungsverfahren eingesetzt, um aus psychobiologischen Reaktionen auf Schmerzreize das subjektive Schmerzerle­ben zu bestimmen. Mit hoch auflösenden Sensoren wird dabei die körperliche Schmerzantwort gemessen. Dazu zählen die Reaktionen der Haut, der Muskulatur, der Atmung und des Kreislaufs genauso wie das schmerzreaktive mimische Verhalten. In einer Pilotstudie wurde bei 96 Probanden am rechten Unterarm ein Hitzeschmerz in vier Intensitäten erzeugt. Diese vier Schmerzstufen werden für jede untersuch­te Person individuell bestimmt. Man misst dafür den Hitzereiz, der anfängt schmerz­

haft zu sein (Schmerzschwellen) und den Hitzereiz, den der Proband gerade noch aushalten kann (Schmerztoleranz). Die Stufen dazwischen werden berechnet. Zur Erfassung der körperlichen Schmerzant­

wort sind diverse Biopotenziale gemessen und digitalisiert worden. Eingesetzt wurden dabei diagnostische Verfahren wie EKG, EMG und EEG, aber auch Messgeräte zur Bestimmung der elektrodermalen Aktivität (EDA). Gesichtsausdruck und mimisches Verhalten wurden mit einer speziellen Vi­deokamera (AVT Pike F145C Kamera) aufge­zeichnet. Um das Bewegungsmuster der Probanden festzuhalten, setzten die For­scher einen Kinect Sensor für die Aufnahme frontaler Tiefenbilder ein.Mithilfe des maschinellen Lernens konnte nun aus den biologischen und mimischen Schmerzreaktionen auf das subjektive Schmerzerleben geschlossen werden. Am besten waren die automatischen Erken­nungsalgorithmen, wenn das technische System auf die Erkennung individueller Reaktionen von einzelnen Probanden hin trainiert wurde. Bei starken Schmerzreizen wurden hier Genauigkeiten von 94 % er­reicht. Wurde die automatische Schmerzer­kennung unabhängig von bestimmten Personen durchgeführt, betrug die Genau­igkeit bei starken Schmerzreizen immerhin noch zwischen 74 % und 91 %. Bei leichteren Schmerzen war die automatische Erfassung allerdings recht ungenau. Andrea Weber-Tuckermann, Universität Ulm

Neuropathischer Schmerz

OB­1 hemmt Schmerzen ganz gezieltBei Menschen mit Nervenverletzungen oder Erkrankungen wie der diabetischen Neuropathie kann die leichteste Berüh­rung heftigen Schmerz auslösen. For­scher am Max­Delbrück­Centrum für Molekulare Medizin (MDC) in der Helm­holtz­Gemeinschaft in Berlin­Buch haben einen Weg gefunden, wie sich der Schmerz bei Mäusen durch Injizieren ei­nes Wirkstoffs in die Haut unterdrücken lässt [Nature Neuroscience 2017; 20:209–218]. Die Substanz, OB­1, hemmt einen Ionenkanal im Nervensystem, der verant­wortlich ist für die Wahrnehmung leich­ten mechanischen Drucks, teilt das MDC mit. Nach Verletzungen führt eine Akti­vierung dieses Kanals auch zu neuropa­thischen Schmerzen. Die neue Substanz lässt diese Art Schmerz verschwinden.

Der Wirkstoff, den Cécile­Vogt­Stipendia­tin Dr. Kate Poole, Dr. Christiane Wetzel und ihre Kollegen im Team von Professor Gary Lewin am MDC und der Charité identifiziert haben, lindert neuropathi­sche Schmerzen, ohne andere, wichtige Sinneswahrnehmungen zu stören, so das MDC.Sehr leichte Berührungen werden von molekularen Sensoren in der Haut detek­tiert, wie dem Ionenkanal Piezo2. Diese Kanäle verhalten sich wie winzige Ventile in der Membran von Nervenzellen: Sie öffnen sich, wenn die Haut leicht berührt wird. Im geöffneten Zustand passieren elektrisch geladene Teilchen das Ventil, und es entsteht ein elektrisches Signal, das durch die Zelle verstärkt und an das Gehirn weitergeleitet wird. Das Protein

STOML3 moduliert die Funktion von Piezo2. Die Berliner Forscher unterzogen STOML3 einem Wirkstoff­Screening, bei dem 35.000 verschiedene chemische Stoffe in groß angelegten In­Vitro­Expe­rimenten getestet wurden. Dabei fanden sie eine Substanz namens OB­1. OB­1 verhindert, dass sich mehrere STOML3­Proteine zusammenlagern und hemmt damit die Funktion des Proteins. Elektro­chemische Messungen an Zellen bestä­tigten: Werden die STOML3­Proteine durch OB­1 am Zusammenlagern gehin­dert, können sie ihre Funktion nicht aus­üben und der Ionenkanal Piezo2 bleibt geschlossen. Bei Mäusen hemmte die Chemikalie wirksam die Wahrnehmung leichter Berührungen. Unter dem Einfluss von OB­1 ließ die Empfindlichkeit der Tiere deutlich nach. Nach Abklingen der Wirkung des Wirkstoffs kehrte die norma­le Empfindlichkeit zurück. (eb)

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8 Schmerzmedizin 2017; 33 (3)

Panorama

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Großbritannien

Behandlungsstopp für todkrankes Baby angeordnet

— Ein Gericht in Großbritannien hat gegen den Willen der Eltern einen Behandlungsstopp für ein todkran-kes Baby angeordnet, das an mito-chondrialer Myopathie leidet und zuletzt künstlich beatmet werden musste. Das Gericht folgte damit ei-nem Antrag der Ärzte des Great-Or-mond-Street-Krankenhauses in Lon-don. Der acht Monate alte Junge solle in Würde sterben können, be-gründete der Vorsitzende Richter des High Courts die Entscheidung. Die Ärzte hatten argumentiert, das Baby könne bei einer weiteren Be-handlung möglicherweise Schmer-zen erleiden. Durch bereits erlittene Hirnschäden werde sich sein Zustand selbst bei erfolgreicher Behandlung nicht mehr verbessern. Die Eltern hatten dafür gekämpft, ihren Sohn für eine weitere Behandlung in die USA bringen zu können, wofür Sie durch Spenden bereits umgerechnet etwa 1,4 Millionen Euro gesammelt hatten. Sie kündigten an, in Berufung gehen zu wollen. (eb)

Fahrtüchtigkeit

Cannabispatienten dürfen Auto fahren

— Cannabispatienten dürfen am Straßen-verkehr teilnehmen, sofern sie aufgrund der Medikation nicht in ihrer Fahrtüchtigkeit eingeschränkt sind. Die Patienten müssten in der Lage sein, das Fahrzeug „sicher zu führen“, heißt es in der Antwort der Bundes-regierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion „Die Linke“. Patienten drohe keine Sanktion nach dem Straßenverkehrsgesetz, wenn Cannabis aus der bestimmungsgemä-ßen Einnahme eines für einen konkreten Krankheitsfall verschriebenen Arzneimittels herrührte. Eine Entziehung der Fahrerlaub-nis sei jedoch bei missbräuchlicher Einnah-me eines cannabishaltigen Medikaments möglich. Denn die Fahrtüchtigkeit könne auch in der Einstellungs- und Eingewöh-nungsphase von cannabishaltigen Arznei-mitteln beeinträchtigt sein.

Für die derzeit rund 1.000 Cannabispatien-ten gelte eine Ausnahmeklausel des Stra-ßenverkehrsgesetzes. Zweck der Regelung sei, dass „durch die Medikation die grund-sätzliche Fahrtüchtigkeit erst wieder herge-stellt wird“. Die Wirkung der Substanz als Therapeutikum unterscheide sich deutlich von der bei missbräuchlichem Konsum. Patienten seien anders als Drogenkonsu-menten sehr zuverlässig und verantwortlich und verhielten sich regelkonform. Gesetz-lich sei zwar nicht fest geschrieben, dass Patienten unter Dauermedikation einen Nachweis mitführen müssten. Cannabispa-tienten werde jedoch empfohlen, beim Führen eines Fahrzeugs eine Ausfertigung des Betäubungsmittelrezeptes oder eine Bescheinigung des Arztes mitzunehmen. (eb)

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Nicht-spezifischer Kreuzschmerz

Nationale Versorgungsleitlinie aktualisiert

— Die komplett überarbeitete Nationale VersorgungsLeitlinie (NVL) „Nicht-spezifischer Kreuzschmerz“ ist auf den Internetseiten des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin (ÄZQ) kostenlos abrufbar (www.leitlinien.de/nvl/kreuzschmerz). Die NVL enthält 90 Empfeh-lungen zu Diagnostik, Therapie und Prävention von nicht-spezifischen Kreuzschmerzen und erhebt den Anspruch, den aktuellen Wissensstand für alle an der Versorgung Beteiligten zusammenzufassen. Das Programm für Nationale VersorgungsLeitlinien steht unter der Trägerschaft von Bundesärztekammer, Kassenärztlicher Bundesvereinigung und der Arbeits-gemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. Mit der Durchfüh-rung wurde das ÄZQ beauftragt. (eb)

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28. Deutscher Schmerz- und Palliativtag 2017

Schmerzmedizin – Praxis und Theorie der Versorgung

Von neuen Ansätzen zur Verbesserung der Versorgung von Patienten mit chronischen Schmerzen über die oft herausfordernde Schmerztherapie neurodegenerativ erkrankter Kinder bis zur Behandlung nozizeptiver Schmerzen mit Stoßwellen deckte der 28. Schmerz- und Palliativtag in Frankfurt am Main auch in diesem Jahr wieder ein breites Themenspektrum ab.

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Neue Konzepte für die Versorgung

Die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) stellt sich entschlossen den zunehmend komplexeren Versorgungsbedürfnissen von Schmerzpatien-ten und entwickelt neue Konzepte, die beim Deutschen Schmerz- und Pallia-tivtag in Frankfurt erstmals vorgestellt wurden.

V iele Jahre hatten die DGS und ihr Bündnispartner, die Patientenorga-

nisation Deutsche Schmerzliga, den Facharzt für Schmerzmedizin gefordert. Bisher deutet allerdings nichts darauf hin, dass er sich durchsetzen lässt. „Das muss man einfach zur Kenntnis neh-men“, bedauerte DGS-Präsident Dr. Gerhard Müller-Schwefe. Er ließ in Frankfurt keinen Zweifel daran, dass es auch in Zukunft darum gehen müsse,

diesem Facharzt den Weg in die ambu-lante Versorgung zu bahnen.

Doch die DGS will nicht länger war-ten und geht jetzt mit einem neuen Ver-netzungskonzept für den ambulanten Bereich in die Offensive. Es handele sich um einen echten Paradigmenwechsel, sagte Müller-Schwefe. Das Konzept baut auf die Einrichtung von Netzwerken für die individuelle Behandlung der Patien-ten. Hausärzte, Fachärzte, Psychothera-

peuten, Physiotherapeuten und algesio-logische Fachassistenten sollen gemein-sam die von einem Netzmanager koor-dinierte Behandlung sicherstellen – und das auf Augenhöhe, wie der DGS-Präsi-dent erläuterte. „Gemeinsam mit allen an der Therapie Beteiligten geht es dar-um, eng vernetzt mit dem Patienten zu arbeiten“, so Müller-Schwefe. „Nur wenn wir es schaffen, die Schmerzmedi-zin als Querschnittsfach zu betrachten und die Schmerzkompetenz auszubauen, können wir den chronisch erkrankten Schmerzpatienten wirklich helfen.“

Die Netzwerke sollten nach bisherigen Überlegungen pauschal honoriert wer-den, Einzelleistungsvergütung sei nicht vorgesehen. Darüber hinaus sollen mit allen Beteiligten Fortbildungskonzepte

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Medizin ak tuell

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entwickelt werden. Der DGS-Chef setzt darauf, dass auch andere Player im Gesundheitswesen dieses Konzept mit-tragen. Erste Reaktionen stimmen ihn optimistisch. „Wir brauchen politischen Rückenwind, sonst lässt sich das Modell nicht realisieren“, sagte er. Vorbilder in anderen Ländern gibt es seinen Anga-ben zufolge nicht. Aber das in Deutsch-land initiierte Konzept der „Spezialisier-ten Ambulanten Palliativversorgung“ (SAPV) weise in die richtige Richtung.

Basisfähigkeiten erwerbenUnabhängig vom jetzt vorgestellten Netzwerkkonzept, das zeitnah weiter präzisiert werden soll, setzt die DGS auf eine schmerztherapeutische Weiterbil-dung und Qualifikation von Ärzten aus allen Fachrichtungen. „Jeder Arzt sollte zumindest Basisfähigkeiten besitzen, um die richtige Behandlung einzuleiten oder rechtzeitig den Zeitpunkt zu erken-nen, wann der Patient in die Hände ei-nes Schmerzmediziners gehört“, forder-te DGS-Vizepräsident Dr. Oliver Emrich. Dafür müsse Kommunikation über Fachgebietsgrenzen hinaus stattfinden.

Mit dem Motto „Schmerzmedizin – Praxis und Theorie der Versorgung“ hat die DGS in Frankfurt ein zukunftswei-sendes Leitthema in den Fokus gerückt. Der Fortschritt in der schmerzmedizini-schen Versorgung, so die Begründung, erfordere den ständigen Wissenstransfer und einen konstruktiven Dialog zwi-schen allen Beteiligten, den einzelnen

„Versorger-Gruppen“, den Kostenträgern und nicht zuletzt den politischen Ent-scheidern.

Die Versorgung von akuten und chro-nischen Schmerzen finde vor allem im niedergelassenen Bereich statt – also beim Hausarzt, Facharzt und Schmerz-mediziner, betonte Müller-Schwefe. Weil die enge Vernetzung aller Beteilig-ten von fundamentaler Bedeutung ist, hat die DGS beim Schmerztag gemein-same Veranstaltungen mit dem Deut-schen Hausärzteverband angeboten. Die Zusammenarbeit mit den Hausärzten hat für die DGS eine zentrale Bedeutung. Als erste Anlaufstelle können und sollen bereits beim Hausarzt die Weichen für eine erfolgreiche Behandlung gestellt werden. Unter dem Motto „Gemeinsam gegen die Schmerzchronifizierung“ wur-

den in verschiedenen Vorträgen Schnitt-stellen aufgezeigt und mögliche Lösun-gen diskutiert.

Besserer Austausch gefordertFür einen besseren Austausch zwischen Hausärzten und Schmerzmedizinern plädierte in Frankfurt auch die stellver-tretende Vorsitzende des Deutschen Hausärzteverbandes, Dipl. med. Ingrid Dänschel. Für die Zusammenarbeit mit anderen Fachdisziplinen, wie etwa den Schmerzmedizinern, hat der Hausärzte-verband nach Angaben von Dänschel ei-nen Algorithmus entwickelt, der die Aufgabenverteilung regelt. Danach über-nimmt der Hausarzt die Koordination und Behandlung des Patienten. Er defi-niert gemeinsam mit dem Patienten die individuellen Ziele seiner Therapie und überprüft bei Nichterreichen der Ziel-werte mögliche Hinderungsfaktoren. Je nach Anzahl dieser Beeinträchtigungen erfolgt die Überweisung zum Schmerz-mediziner. Die spätere Weiterbehand-lung übernimmt wieder der Hausarzt. Um die Kommunikation zu erleichtern, forderte Dänschel eine bessere Vernet-zung zwischen Hausärzten und Schmerzmedizinern, etwa durch ge-meinsame Fortbildungsveranstaltungen und den persönlichen Austausch. Aktu-ell gebe es aber nicht einmal einen stan-dardisierten Arztbrief, beklagte die Hausarztvertreterin.

Junge Ärzte gesuchtDie DGS hat eine weitere Baustelle ins Visier genommen, auf der sie sich in Zu-kunft verstärkt engagieren will: Die Zahl der Patienten steigt, doch es fehlt an jun-gen Ärzten, die sich für die Schmerzme-dizin interessieren. Die Behandlung las-tet auf wenigen Schultern und aufgrund des demografischen Wandels auf einer immer älter werdenden Ärztegeneration.

„Wenn wir den Nachwuchs für unser Fachgebiet begeistern können, ist vielen Patienten geholfen“, sagte DGS-Vize Dr. Johannes Horlemann. In kaum einer an-deren Disziplin als der Schmerzmedizin arbeite der Arzt so interdisziplinär – technisch, pharmakologisch, kommuni-kativ und psychosomatisch. Dazu han-dele es sich um eines der dynamischsten Felder mit ständigem Zuwachs an neu-em Wissen und neu evaluierten Konzep-

ten. Es bringe allerdings wenig, an den Universitäten für die Schmerzmedizin zu trommeln, so Horlemann: „Mit un-serem Fortbildungskonzept wollen wir verstärkt auch junge Mediziner errei-chen. Wir brauchen politischen Rücken-wind, sonst lässt sich das Modell nicht realisieren.“

Die DGS arbeitet auf vielen Baustellen gleichzeitig. Die Kommunikation von Schmerzpatienten und Therapeuten etwa soll das DGS-Praxisregister Schmerz verbessern. „Der Patient soll wegkommen vom Objekt, das behandelt wird von verschiedenen Therapeuten, in eine aktive Behandler-Rolle, in eine partnerschaftliche Rolle“, betonte PD Dr. Michael Überall, Präsident der Deut-schen Schmerzliga und DGS-Vize. Das Problem in der Therapie vieler Schmerz-patienten ist es Überall zufolge, dass die verschiedenen Akteure nicht oder erst spät miteinander in Kontakt treten, und dass die wesentlichen Informationen verloren gehen. Ziel des Schmerzregis-ters und der Cloud-basierten Plattform

„iDocLive®“ sei es deshalb, ein Netz zu schaffen, das nicht nur die Therapeuten verbinde, sondern auch die Patienten

„auf Augenhöhe“ einbinde. 710 Schmerz-Spezialisten in 112 Zentren in Deutsch-land sind an dem Register beteiligt, in denen pro Quartal 80.000 Patienten ver-sorgt werden. An Spitzentagen werden 300 neue Behandlungen pro Tag in

„iDocLive®“ dokumentiert.Was bringt das System dem Arzt? Ak-

tuelle, detaillierte Informationen zum Wohlergehen des Patienten, erklärte Überall. „Die Zentren sehen in Echtzeit, was gerade mit dem Patienten passiert, welche Reaktionen er auf eine Therapie-maßnahme zeigt, die ergriffen wurde und welche anderen Ereignisse zu einer Verschlechterung geführt haben.“ Ein wesentliches Element der Software, um diese Informationen zu erhalten, ist Überall zufolge das „Körperschema“, das Teil des Deutschen Schmerzfragebogens ist. Dazu zeichnen Schmerzpatienten in eine menschliche Silhouette den Ort und die Intensität des Schmerzes ein. „Das klingt völlig unwissenschaftlich, aber Fakt ist: Aus solchen Informationen ge-winnen wir viele Detailinformationen für die Therapiekonzepte“, bewertete Überall den Stellenwert des Körpersche-

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mas. Auch viszerale Schmerzen an inne-ren Organen ließen sich darstellen. Die Datensicherheit der Software sei gewährt, betonte Überall. Die Server befinden sich nach seinen Angaben in Deutschland, ein unabhängiger Datenschutzbeauf-tragter sei an der Entwicklung beteiligt gewesen und kontrolliere das System

weiterhin. Außerdem seien die Daten verschlüsselt und dezentral gelagert.

DGS und DSL stellen in diesem Jahr das Thema „Tumorschmerz“ in den Mit-telpunkt. Mit der Praxisumfrage Tu-morschmerz werden explizit Symptom-belastungen bei tumorbedingten Dauer- und Durchbruchsschmerzen abgefragt.

Laut Überall müssen bei diesen Patien-ten die zugrundeliegenden Schmerzen kontinuierlich evaluiert werden, um so-wohl den Behandlungsbedarf als auch die Behandlungsintensität an das aktuell angestrebte Behandlungsziel anzupas-sen. Dies sei mit dem von der DGS und DSL entwickelten Online-Fragebogen

„Tumorschmerz“ nun erreicht worden.Patienten haben ein Recht auf kompe-

tente Schmerzmedizin. Das heißt aber nicht, dass sie schicksalsergeben eine medikamentöse Therapie hinnehmen sollen“, sagte die Vizepräsidentin der Deutschen Schmerzliga Brigitta Gibson. Viel wichtiger sei ein „Schmerz-Manage-ment“, bei dem die Patienten zu Exper-ten in eigener Sache werden. „Meiner Meinung nach sind Selbsthilfegruppen eine gute Stütze und ein wichtiger Bau-stein in der Schmerzbehandlung“, so Gibson weiter. Die Teilnehmer einer Selbsthilfegruppe verbinde die Erfah-rung, an chronischen Schmerzen zu lei-den, sie gingen mit dieser Tatsache aber unterschiedlich um. Austausch und ge-meinsame Aktivitäten hätten schon vie-len Betroffenen aus dem Schmerztal in ein „relativ normales Leben“ geholfen.

Christoph Fuhr und Marco Mrusek

Auftakt-Pressekonferenz 28. Deutscher Schmerz- und Palliativtag, Frankfurt am Main, 22.3.2017

Für Antidepressiva bei chronischen Schmerzen gibt es gute Argumente

Zwischen Schmerzen und Depression gibt es eine Vielzahl von Wechselwir-kungen. Sie können sich gegenseitig bedingen oder jeweils als Komorbidität auftreten. Der Ansatz mit einer antidepressiven Therapie gleichzeitig „zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen“, ist daher attraktiv und einer unimoda-len Schmerztherapie möglicherweise überlegen, erfordert aber Fingerspit-zengefühl.

N SAR oder Muskelrelaxanzien sind nur selten die optimale Wahl bei

chronischen Schmerzen. Antidepressiv wirkende Substanzen können hier durchaus die bessere Alternative sein, da sie schmerzmodulierend wirken. Sie be-einflussen zum Beispiel die Nozizeption, etwa über Verstärkung noradrenerger Systeme die absteigende zentrale

Schmerzhemmung positiv, so die Psych-iaterin und Psychotherapeutin Dr. Mi-riam Butz vom Rotes Kreuz Kranken-haus Kassel. Hinzu kommt, dass depres-sive Verstimmungen und psychosoziale Belastungsfaktoren entscheidend an der Schmerzchronifizierung beteiligt sind. Auch die Schmerzwahrnehmung ist im-mer kontextabhängig und wird durch

die emotionale Grundstimmung beein-flusst. Und schließlich ist ein nicht uner-heblicher Teil chronischer Schmerzpati-enten zugleich manifest depressiv.

Angst und Depression sind nach meh-reren Erhebungen die häufigsten psychi-schen Komorbiditäten bei chronischen Rückenschmerzen. Dabei können Schmerzen Ausdruck einer Depression sein, es kann sich aber auch die Depres-sion als Folge der schmerzbedingten Funktionseinschränkung entwickeln. Beide Erkrankungen haben zudem ein gemeinsames biologisches Substrat und können sich gegenseitig begünstigen oder verstärken. Interessante Optionen, allerdings meist off-label, sind dabei ins-besondere serotonerge und noradrener-ge Wirkprinzipien wie SSRI, SSNRI oder auch Mirtazapin.

DGS-Präsident Dr. Gerhard Müller-Schwefe warb auf dem Schmerz- und Paliativtag in Frankfurt für ein neues Versorgungskonzept.

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Medizin ak tuell 28. Deutscher Schmerz- und Palliativtag

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Welches Antidepressivum?Trizyklische Antidepressiva (TCA) wie Amitriptylin sind hier immer noch Goldstandard, aber mit relativ vielen Nebenwirkungen behaftet, so Butz. Dennoch sind sie niedrigdosiert für eine versuchsweise Therapie geeignet. Zu be-achten sind kardiale Nebenwirkungen wie QT-Zeit-Verlängerung vor allem un-ter TCA und SSRI sowie Anstiege von Herzfrequenz und Blutdruck unter SNRI. SSRI und SNRI verstärken zudem die Wirkung von Gerinnungshemmern. Gerade bei älteren Patienten sollte ein EKG sowie eine Kontrolle der Leberwer-te vor Beginn und im Verlauf erfolgen, empfahl Butz. Ebenfalls zu berücksich-tigem sei eine mögliche Gewichtszunah-me unter Antidepressiva, vor allem un-ter TCA wie Amitriptylin, aber auch un-ter Mirtazapin. „Was müde macht, macht dick und was wach macht, macht nicht dick“, laute hier die Grundregel. Eher gewichtsneutral sind dagegen SSRI, MAO-Hemmer oder Duloxetin.

Ein zentrales Serotoninsyndrom tritt nach Gabe von SSRI selten, aber meist rasch und plötzlich auf und zeichnet sich

durch Fieber und Schüttelfrost aus. Bei einer Reihe von Erkrankungen wie Herzerkrankungen, Prostatahyperplasie sowie erhöhter Krampfbereitschaft soll-te zudem auf TCA verzichtet werden, empfahl Butz. Im Blick zu behalten sei-en stets Interaktionen von Antidepressi-va mit dem hepatischen Cytochrom-P-System. So bauen etwa starke Raucher Duloxetin außerordentlich schnell ab.

Eine interessante, in Deutschland neue Option sieht Butz in dem SNRI Milnacipran wegen seiner ausgewoge-nen Wiederaufnahmehemmung von Se-rotonin und Noradrenalin. Die Substanz wird nicht über das CYP-System son-dern renal abgebaut, beeinflusst andere Pharmaka nicht und verursacht auch keine QT-Verlängerung. Bei zweimal täglicher Gabe sollte die zweite Dosis zur Vermeidung von Schlafstörungen nicht nach 15 Uhr gegeben und die Substanz langsam aufdosiert werden.

Schmerzen sind oft mit Angststörung assoziiertSchließlich wies die Psychiaterin noch auf den Zusammenhang zwischen Angst

und Schmerzen hin. Patienten mit gene-ralisierter Angststörung (GAS) stellen sich häufig zunächst mit Schmerzen vor und es gibt viele symptomatische Über-lappungen zwischen beiden Störungen. Venlafaxin ist dabei für Panikstörungen, GAS und soziale Phobie eine antidepres-sive Substanz der ersten Wahl.

Bei neuropathischen Schmerzen ha-ben TCA eine hohe Wirksamkeit, also die niedrigste NNT aller Antidepressiva. Auch Kopfschmerzen wie Migräne und Spannungskopfschmerzen sprechen auf Antidepressiva wie Amitriptylin oder Venlafaxin an.

Werde die Kombination einer Schmerztherapie mit antidepressiver Therapie angestrebt, „bin ich schnell bei den SNRI (Duloxetin, Milnacipran, Venlafaxin) oder dem Mirtazapin,“ be-tonte Butz. Hier wirke die schmerzthe-rapeutisch wirksame Dosis gleichzeitig ausreichend antidepressiv.

Dr. Andreas Häckel

Fokusseminar „Zwei Fliegen mit einer Klappe – Antidepressiva bei chronischen Schmerzen“, 28. Deutscher Schmerz- und Palliativtag, Frankfurt am Main, 23.3.2017

Stoßwellen als nichtmedikamentöse Strategie bei nozizeptiven Schmerzen

Ein Großteil aller Schmerzzustände hat tendinomuskuläre und arthrogene Ursachen, dazu zählen auch etwa 90 % aller Rückenschmerzen. Muskel-schmerzen werden hauptsächlich durch die Erregung spezialisierter Nerven-endigungen (Nozizeptoren) verursacht. Hier bietet sich mit der Stoßwellen-therapie ein guter schmerztherapeutischer Angriffspunkt.

S chon eine geringe Erregung der Mus-kelnozizeptoren kann ausreichen,

um über sensorische Zellen des Rücken-marks eine Übererregbarkeit in Form ei-ner zentralen Sensibilisierung auszulö-sen. Hierbei spielen vor allem, an spezi-fische Rezeptoren bindendes ATP und ein abgesenkter, also saurer pH-Wert im Gewebe eine Rolle, so der niedergelasse-ne Anästhesiologe Dr. Oliver Emrich vom regionalen Schmerzzentrum DGS in Ludwigshafen. Nach Traumen, Rei-zen oder Myositiden wird im Muskel eine Entzündungskaskade in Gang ge-setzt, die sich im sauren, sauerstoffar-

men Milieu rasch verstärkt. „Diesen Kreislauf müssen wir durchbrechen“, so Emrich. „Unsere Therapiestrategie muss sein, in der Peripherie die Durchblutung zu verbessern, also die saure Stoffwech-selsituation aufzulösen.“ Zu den erprob-ten nicht medikamentösen Optionen zählt dabei die extrakorporale Stoßwel-lentherapie (ESWT) mit der Behandlung von Triggerpunkten, den nicht-ent-zündlichen, tastbaren und schmerzen-den Muskelverhärtungen in Muskelfa-serbündeln. Sie bewirke ein „wind down“ der Nozizeptoren und dämpfe damit die Schmerztransduktion im Rückenmark

sowie die Schmerzperzeption im Gehirn. „Wir haben jetzt aktuelle verblindete Ver-gleichsstudien, die uns zeigen, dass tat-sächlich ein therapeutischer Effekt zu er-warten ist“, betonte Emrich und verwies auf ein Review dieser Untersuchungen, das der ESWT Effektivität und Sicher-heit bescheinigte [Schmitz C et al., Br Med Bull 2015, 116: 115–138]. Danach ist eine Wirksamkeit der Methode in kont-rollierten Studien für die plantare Fas-ziopathie, die nicht-kalzifizierte Supra-spinatus-Tendinopathie und für die kal-zifizierende Schultertendinitis ebenso nachgewiesen wie für die Tendinopathie der Achillessehne und die laterale Epi-condylitis. Bei myofaszialen Schmerz-syndromen ist die Methode zwar eben-falls erprobt, jedoch noch nicht ausrei-chend durch Studien belegt, so Emrich.

Hundertmal stärker als UltraschallDie Anwendung der ESWT in der Or-thopädie geht bis auf das Jahr 1992 zu-rück, erläuterte der Algesiologe Dr. Da-nilo Jankovic, Leiter des regionalen

Medizin ak tuell 28. Deutscher Schmerz- und Palliativtag

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Schmerzzentrums DGS Köln-West. Stoßwellen sind eine Form mechanischer Energie, die ohne Verletzung der Haut in den Körper eingeleitet und in vorherbe-stimmten Tiefen zur Wirkung gebracht werden kann. Radiale Stoßwellen wer-den mit akustischen Linsen oder Reflek-toren fokussiert. Die dabei entstehende Druckamplitude ist mit 10-100 Mega-pascal (1.000 bar) etwa 100-mal stärker als beim Ultraschall und entspricht dem 100-1.000-fachen Atmosphärendruck. Stoßwellen erzeugen indirekt durch Ka-vitationseffekte Mikroblutungen oder Membranperforationen, was im Gewebe die Durchblutung verbessert und das Nervensystem stimuliert, so Jankovic. Abhängig von der gewählten Vorlauf-strecke der ESWT erstreckt sich ihre the-rapeutische Wirksamkeit auf eine Gewe-betiefe zwischen 0 und 120 mm wobei etwa 30 mm tiefe Fokuszonen entstehen. Wesentliche Einsatzgebiete der fokus-sierten ESWT sind laut Jankovic Inserti-onstendinopathien, die Desintegration von Kalkdepots, die Lokalisation von Trigger- und Schmerzpunkten sowie die direkte Beeinflussung tiefer und ober-flächlicher Trigger- und Schmerzpunkte.

Radiale Stoßwellen wirken sanfter Radiale Druckwellen sind ballistische Schallwellen, die sich vor allem für das Ausstreichen der Muskulatur, die Locke-rung von Verspannungen, die Aktivie-rung des Bindegewebes sowie zur Be-handlung flächiger, größerer Areale eig-nen. Im Gegensatz zu fokussierten Stoß-wellen sind die durch radiale Druckwel-len produzierten Impulse mit 1–10 bar deutlich geringer, dringen maximal 30 mm tief ein und wirken dafür mit 1–5 mSec deutlich länger auf das Gewebe ein. Ein hypothetischer Mechanismus der Stoßwellenwirkung sei die Freisetzung von vasodilatierendem Stickoxid (ENOS, endothelial nitric oxide synthesis). Eben-falls diskutiert werde die Erhöhung der Zellwand-Permeabilität mit der Freiset-zung zahlreicher weiterer Gewebefakto-ren wie VEGF.

Wichtige orthopädische Indikationen sind Enthesiopathien wie die Kalkschul-ter (Tendinosis calcarea), die sich nach einem kleineren Trauma entwickeln kann. Das im Verlauf entstehende Kalk-depot, meist an der Supraspinatussehne

nahe dem Tuberculum majus, kann vor allem ab einem Durchmesser über 1,5 cm schmerzhafte Symptome hervorru-fen. In der harten, kalzifizierenden Pha-se kann sie sich zu einer Bursitis subdel-toidea weiterentwickeln. Zwischen den zwei wesentlichen Muskeln, dem M. su-praspinatus und dem M. subscapularis lässt sich dadurch unterscheiden, dass letzterer nicht mit seinem Schmerz in den Ellenbogen ausstrahlt. Auch der Tennisellenbogen (Epicondylitis latera-lis) und der Golferellenbogen (E. media-lis) sprechen gut auf die Kombination aus fokussierten und radialen Stoßwellen an, ebenso das Patellaspitzensyndrom.

Triggerpunkte im M. rectus femoris können nächtliche dumpfe, starke und lagerungsunabhängige Schmerzen im unteren Oberschenkel verursachen und sprechen gut auf eine ESWT an.

Beim Fersensporn sind insbesondere tiefe innere Fussmuskeln wie der M. quadratus plantae schmerzhaft und be-handlungsbedürftig. Schliesslich spre-chen auch die Achillodynie, das Tibia-kantensyndrom sowie die Trochanter-tendopathie gut auf die Methode an.

Das Behandlungsschema sollte in ein- bis dreiwöchigen Intervallen erfolgen, um keine zu hohen Energieflussdichten

zu erzeugen, empfahl Jankovic. Bei Seh-nen- und Sehnenansatzerkrankungen sollten etwa drei bis fünf Behandlungen im ein bis zweiwöchigen Abstand genü-gen, myofasziale Schmerzsyndrome er-fordern nach Jankovics Erfahrung min-destens acht Behandlungen im Abstand zwischen fünf und 14 Tagen. Die Thera-pie sollte mit einer niedrigen Energiestu-fe begonnen und dann in der Intensität sukzessive gesteigert werden. Nicht sinnvoll sei die Kombination von Stoß-wellen und Lokalanästhesie, da durch letztere die Freisetzung trophischer Neuropeptide reduziert werde.

Als absolute Kontraindikationen nannte Jankovic im Fokus liegendes Lungengewebe, Entzündungen im Be-handlungsbereich sowie Tumoren. Rela-tive Kontraindikationen seien Gerin-nungsstörungen, Schwangerschaft, neu-rologische sowie Schübe entzündlich-rheumatischer Erkrankungen und Myopathien. Jankovic riet in diesem Zusammenhang auch davon ab, die Be-handlung an nicht ärztliches Personal zu delegieren. Dr. Andreas Häckel

Fokusseminar „Stoßwellen in der Schmerzmedi-zin“, 28. Deutscher Schmerz- und Palliativtag, Frankfurt am Main, 23.3.2017

Schmerztherapie neurodegenerativ erkrankter Kinder als besondere Herausforderung

Neben Krebs- und Muskelerkrankungen stellen vor allem unheilbare Stoff-wechselerkrankungen wie Mukopolysaccharidosen und schwere neurologi-sche Erkrankungen mit Mehrfachbehinderung eine Herausforderungen für Schmerztherapeuten dar.

E ine deutschlandweite Studie bei Kin-dern mit solchen Erkrankungen zwi-

schen drei und 18 Jahren ergab, dass 40 % von ihnen mehrmals pro Woche Schmerzen haben. Die Projektion einer spanischen Erhebung lässt zudem ver-muten, dass in Deutschland geschätzt etwa 350.000 acht- bis 16-jährige Schmerzpatienten mit starker schmerz-bedingter Beeinträchtigung im Alltag leben, die nicht gut genug versorgt sind, betonte der niedergelassene Algesiologe Dr. Raymund Pothmann vom Zentrum

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Viele neurodegenerativ erkrankte Kinder leiden unter Schmerzen.

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für Kinderschmerztherapie, Hamburg. Häufige Schmerzursachen schwer mehr-fach behinderter Kinder sind Spastik oder Kontrakturen von Muskeln und Gelenken sowie pathologische Fraktu-ren. Beispielhaft nannte Pothmann Pa-tienten mit Neuronaler Ceroid-Lipofus-zinose (NCL) bei denen die Kombinati-on von Tetraspastik, Epilepsie, mentaler Retardierung sowie Diabetes mellitus und Obstipation zu einer Vielzahl the-rapiebedürftiger Probleme führt.

Nicht unbedingt die WHO-Stufenleiter beschreitenNicht-medikamentöse Schmerztherapie beinhaltet etwa die verhaltenstherapeu-tische Schmerzbewältigung, Entspan-nungsverfahren, Aktivitätsaufbau und die Beobachtung des Schmerzverlaufs. Bei der Schmerzanalyse durch Anamne-se, Röntgen, Sonografie und einem Mi-nimum an Laborparametern gilt es,

„mit möglichst wenig schnell zum Ziel zu kommen“, so Pothmann. Medikamentös kann es erforderlich sein, über die übli-che symptomatische Schmerztherapie hinaus – etwa bei schmerzhaften Myo-klonien und Spastiken – auch sedieren-de Substanzen wie Phenobarbital anzu-wenden. Zur Muskelrelaxation, etwa bei der NCL-bedingten Spastik, kommen auch Baclofen (über Pumpenapplikati-on), Botulinumtoxin sowie – bei der Kombination von Übelkeit, Unruhe, Schlafstörungen und Schmerzen – zu-nehmend auch Dronabinol zur Anwen-dung. Strategisch müsse man bei der Therapie „nicht unbedingt die WHO-Stufenleiter durchschreiten“, so Poth-mann. „Wir gehen nicht hierarchisch vor, sondern stratifiziert.“ Solange wie möglich sollte oral behandelt werden, im weiteren Verlauf seien aber auch Pflas-ter-, Sonden- oder Portsysteme zu erwä-gen. Optionen zur adjuvanten oder pal-liativen Therapie sind erregungsdämp-fende Neuroleptika (Pipamperon, Rispe-ridon), TCA bei Schmerzen plus Schlafstörungen sowie Antikonvulsiva wie Gabapentin oder Pregabalin als son-dengängige Lösungen.

Adäquate Schmerzmessung Schmerz ist subjektiv, individuell und nicht direkt messbar. Hilfreich sind daher altersabhängige Schmerzindikatoren, so

die Anästhesistin und Schmerztherapeu-tin Dr. Susanne Päuker, Asklepios-Kin-derklinik St. Augustin. Während Kinder ab etwa fünf Jahren in der Regel verbal Schmerz äußern können, ist man bei Zwei- bis Vierjährigen auf Mimik, Gestik und Bewegungen angewiesen, bei Säug-lingen stehen nur physiologische, hormo-nelle und biochemische Parameter zur Verfügung. Nicht immer ist Selbstein-schätzung über Schmerzskalen möglich, gerade bei kognitiver Beeinträchtigung muss auf Fremdbeobachtung zurückge-griffen werden. Wichtiges Kriterium für die Anwendbarkeit einer Schmerzskala ist ein vertretbarer Zeitaufwand.

Die deutschsprachige Kindliche Un-behagens- und Schmerzskala (KUSS) bewertet mit Weinen, Gesichtsausdruck, Beinhaltung, Rumpfhaltung und moto-rischer Unruhe die Intensität von fünf Parametern. Sie kann schon für Neuge-borene, aber auch für ältere kognitiv ein-geschränkte Patienten verwendet wer-den und ist mit 15 Sekunden Beobach-tungszeit nicht zeitaufwendig. Ein-schränkend sind zunehmend falsch negative Werte im Langzeitverlauf und die nur für postoperative Schmerzen be-stehende Validierung.

Welche Skala eignet sich für welche Patienten?Für ältere, zur Selbsteinschätzung fähi-ge Kinder etwa im Alter zwischen fünf und 12 Jahren eignen sich Gesichterska-len wie die sechsstufige revidierte Faces Pain Scale (FPS-r, siehe: www.iasp-pain.org), so Päuker. Bei älteren, nicht einge-schränkten Kindern und Erwachsenen können verbale, numerische oder farb-gestützte Analogskalen eingesetzt wer-den. Zur Schmerzmessung bei kognitiv beeinträchtigten Kindern und Jugendli-chen stehen etwa die r-FLACC-Skala (re-vised Face, Legs, Activity, Cry, Consola-bility) oder das PPP (Pediatric Pain Pro-file) zur Verfügung. Die, der KUSS-Ska-la ähnliche r-FLACC-Skala erfordert bei bewusstseinsgetrübten Kindern min-destens fünf Minuten Beobachtung und ist nach Päukers Einschätzung altersun-abhängig. Das deutlich aufwendigere, aber sehr exakte PPP (http://ppprofile.org.uk) erfasst 20 schmerztypische Be-obachtungspunkte ohne festgelegten Be-obachtungszeitraum und konkreten

Cut-off-Wert für eine Intervention. Ge-nerell vorteilhaft ist nach Päukers Erfah-rung die regelmäßige Dokumentation mit einheitlichen, leicht anzuwendenden Messverfahren auf einem standardisier-ten Erfassungsbogen.

Was tun bei nicht mitteilungsfähigen Patienten?Bei Unruhe und Schmerzen von nicht mitteilungsfähigen Kindern und Ju-gendlichen sollte vor der Gabe von Be-ruhigungs- oder Schmerzmitteln immer nach der Ursache gesucht werden, so die zentrale Botschaft von Professor Alfried Kohlschütter, Klinik für Kinder- und Ju-gendmedizin, Universitätsklinik Ham-burg-Eppendorf.

Weinen, Stöhnen, Grimassen, ein Ver-lust der Tröstbarkeit, aber auch ein ge-störter Kontakt sowie Abwehrbewegun-gen oder fehlende Bewegung deuten bei stark eingeschränkten Patienten auf Schmerzen hin. „Die allerhäufigste Pro-blematik von Kindern mit Schmerzen ist die Verstopfung“, so Kohlschütters Er-fahrung. Insbesondere künstliche Er-nährung, etwa mit PEG-Sonde, sollte stets auf ihre Indikation, technische Pro-bleme und unzweckmäßige – etwa hochkalorische – Nahrung überprüft werden. Die NCL als Musterbeispiel für solche Patienten, ist die häufigste De-menzerkrankung junger Menschen und entwickelt sich, oft über mehrere Jahr-zehnte progressiv bis hin zu Lähmung und Tod. Sie kann eine Vielzahl abklä-rungsbedürftiger Symptome und Ver-haltensweisen hervorrufen. Dazu zählen Anfälle, Bauchschmerzen, die vor der Behandlung stets abgeklärt werden soll-ten. Anfälle seien durchaus nicht immer zerebral oder epileptischer Genese, son-dern könnten auch Wut, Schmerzen, spastische Krisen oder psychotische Er-lebnisse zur Ursache haben.

Dr. Andreas Häckel

Lunchseminar „Schmerz- und Palliativmedizin bei neurodegenerativen Erkrankungen des Kin-des- und Jugendalters“, 28. Deutscher Schmerz- und Palliativtag, Frankfurt am Main, 23.3.2017

Medizin ak tuell 28. Deutscher Schmerz- und Palliativtag

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DGS stellt PraxisLeitlinie bei Opioidfehlgebrauch vor

Die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) e.V. hat eine PraxisLeitlinie zur Substitutionsbehandlung bei Opioidfehlgebrauch in der Schmerztherapie (POM) ent-wickelt, die beim 28. Deutschen Schmerz- und Palliativ-tag in Frankfurt vorgestellt wurde.

Sowohl Ärzte als auch Schmerzpatienten schätzten die hohe analgetische Potenz von Opioiden. Rund 3 % der Patienten

mit einer Langzeitverordnung von Opioiden zur Schmerzthe­rapie entwickeln jedoch während der Therapie einen Fehlge­brauch. Tendenz steigend, da immer mehr Opioide verschrie­ben werden. „Die Zahl der verschriebenen Tagesdosen hat sich zwischen 2000 und 2010 vervierfacht“, erklärte Dr. Justus Ben­rath, Schmerzmediziner aus Mannheim.

Opiatsucht ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, weiß Psychiater und Suchtmediziner Manfred Nowak aus Landau: „In Amerika etwa sterben mehr Menschen an Oxycodon als an Heroin.“ In Deutschland sind laut Epidemiologischen Sucht­survey 2012 (ESA) 2,3 Millionen Menschen abhängig von Schmerzmitteln, Schlaf­ oder Beruhigungsmitteln, laut Ge­sundheitssurvey des Robert Koch­Instituts (RKI) 1,2 Millio­nen. „Wir müssen aufpassen, was wir verschreiben, und die Vorgeschichte des Patienten kennen. Wer eine Sucht hatte oder hat, neigt zu einer weiteren“, erklärte er. Kriterien der Abhän­gigkeit gebe der ICD 10 vor sowie der eigens für die POM er­stellte Index „POM­I“. Symptome der Abhängigkeit seien etwa das Craving, das Anlegen von Vorräten, Rezepte von verschie­denen Ärzten zu besorgen, die eigenmächtige Dosiserhöhun­gen sowie die Änderung des Einnahmegrunds – etwa bei Dys­phorie und nicht mehr in erster Linie zur Schmerzreduktion.

Dr. Oliver Emrich, DGS­Vizepräsident aus Ludwigshafen und federführender Autor der Leitlinie, sieht die steigende Ver­ordnungshäufigkeit mit Besorgnis und erklärte: „Für neuropa­thische und nozizeptive Schmerzen kommen Opioide als The­rapieoption im Rahmen eines Gesamtkonzepts in Frage, falls andere Therapien unzureichend wirken. Die Indikation zum Einsatz von Opioiden muss aber sorgfältig gestellt werden und erfordert ein enges Monitoring des individuellen Nutzen­Risi­ko­Profils sowie eine regelmäßige Re­Evaluierung der Schmerzerkrankung“.

Bei Über­ oder Fehlgebrauch könnten Ärzte häufig leicht sub­stituieren. Als Oxycodon­Substitution etwa eignen sich seiner Erfahrung nach besonders L­Polamidon (Methadon) und Bu­prenorphin. Letzteres wird aufgrund seines guten Sicherheits­profils seit Mitte der 1990er­Jahre als Substitutionsmittel in der Therapie einer Abhängigkeit von Opioiden verwendet.

Die Kommentierungsphase, in der Ärzte, Pfleger und Pati­enten die Möglichkeit hatten, ihre Erfahrungen unter www.dgs­praxisleitlinien.de mit einzubringen, ist kurz nach Druck­legung dieser Ausgabe abgelaufen. Nicole Zeuner

Pressemitteilung der DGS

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Leidensverlängerung als Behandlungsfehler

Erstes Urteil gegen die Übertherapie am Lebensende

In einem wegweisenden Urteil hat das Landgericht München I die PEG-Sondenernährung eines Demenzbetroffenen erstmals als ärztlichen Behandlungsfehler eingestuft. Trotz dieser Einstufung wurde kein Schmerzensgeld zuerkannt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

D ie Anlage einer PEG-Magenson-de bei Demenzbetroffenen ist seit Jahren Gegenstand kontroverser

Ansichten und rechtlicher Auseinander-setzungen. Aktuell sieht die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie sie bei fortge-schrittener Demenz als nicht indiziert an und hat sie in der Initiative „Klug ent-scheiden“ als „Übertherapie“ eingestuft [1]. Eine orale Ernährungsunterstützung für Demenzbetroffene ist hinsichtlich der Ergebnisse Sterblichkeit, Aspirati-onspneumonie, funktioneller Status und Wohlbefinden mindestens so effektiv wie eine Sondenernährung durch PEG. Eine aktuelle Studie aus Italien [2] zeigt nun sogar belegte Nachteile bei den PEG-Versorgten: Sie sterben früher.

Anfang des Jahres hat das Landgericht München I die Fortsetzung einer PEG-Sondenernährung ohne Therapieziel

nun sogar als ärztlichen Behandlungs-fehler eingestuft [3].

Der FallDer 82-jährige Patient stand wegen einer Demenz seit 1997 unter Betreuung, seit 2006 lebte er in einem Pflegeheim. Bei bereits fortgeschrittener Demenz wurde ihm kurz darauf eine PEG-Magensonde wegen Exsikkose und Mangelernährung gelegt. Sein diesbezüglicher Wille konn-te nicht ermittelt werden, ein Berufsbe-treuer traf die Entscheidungen. Bereits 2003 war die Demenz so weit fortge-schritten, dass eine mutistische Störung diagnostiziert wurde, wegen Kontraktu-ren konnte er sich kaum mehr bewegen, 2008 wurden ein Nackenrigor sowie eine spastische Tetraparese festgestellt. Bis auf fünf mussten alle Zähne gezogen werden. Es traten Fieber, Atembeschwer-

den und Druckgeschwüre hinzu, auf-grund des schlechten Zustandes wurde bereits im Mai 2011 eine eigentlich ge-plante operative Sanierung einer Chole-zystitis mit Abszessen nicht vorgenom-men. Im November 2011 starb der Pati-ent im Rahmen einer Aspirationspneu-monie. Dieser traurige Verlauf ist kein Einzelfall. Wenn man Demenzbetroffe-ne nur lange genug mit intensivmedizi-nischen Verfahren (künstliche Ernäh-rung, Beatmung, Herzersatz) am Ster-ben hindert, ist regelhaft mit derartigen Leidenszuständen zu rechnen (Tab. 1).

Wegen nicht indizierter künstlicher Ernährung verklagte der Sohn, vertreten durch den Mitautor dieses Berichts, Rechtsanwalt Wolfgang Putz, den Haus-arzt. Das Gericht sieht übereinstim-mend mit dem klagenden Sohn einen Behandlungsfehler darin, die künstliche Ernährung mittels PEG ohne Behand-lungsziel fortgesetzt zu haben. Der Hausarzt sei ab Anfang 2010 verpflichtet gewesen den Betreuer darüber in Kennt-nis zu setzen, dass ein über die reine Le-benserhaltung hinausgehendes Thera-pieziel nicht mehr zu erreichen war. Vor

Bei einer fortgeschrittenen Demenz muss die Indikation für eine PEG- Sondenernährung besonders genau geprüft werden.

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diesem Hintergrund wäre zu erörtern gewesen, ob die PEG-Sondenernährung fortgesetzt oder abgebrochen werden soll. Dass dies nicht geschehen ist, stelle eine Verletzung der Verpflichtung aus § 1901b BGB dar und sei somit ein Be-handlungsfehler. Erstinstanzlich wurde allerdings kein Schmerzensgeldan-spruch erkannt, da nach Überzeugung des Gerichts der Beweis für das dann er-folgte Beenden der PEG-Ernährung nicht geführt worden wäre. Mithin fehle es an der Kausalität des Behandlungs-fehlers für den Gesundheitsschaden. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, der Kläger hat Berufung eingereicht.

Meilenstein im MedizinrechtDiese Entscheidung stellt einen Meilen-stein im Medizinrecht dar. Denn erst-mals in der Medizinrechtsgeschichte Deutschlands hat ein Landgericht ent-schieden, dass die künstliche Lebensver-längerung durch eine Magensonde bei schwerst leidenden Kranken ohne The-rapieziel, also nur lebens- und leidens-verlängernd, aber nicht medizinisch in-diziert ist. Das gilt auch für die Fortset-zung einer solchen PEG-Ernährung durch einen Arzt, der selbst bei Anlage der Sonde gar nicht verantwortlicher Be-handler war. Die fortgesetzte Behand-lung müsse fortlaufend indiziert werden.

Das Urteil reiht sich in eine verstärkte öffentliche Aufmerksamkeit für das Pro-blem der Übertherapie am Lebensende ein. Über wirtschaftliche Fehlanreize, Mengenausweitung von Eingriffen und Ausweitung der Indikationen sowie die Durchführung von nicht indizierten Eingriffen berichten die Bundesärzte-kammer [4], die Bertelsmann Stiftung [5], der Deutsche Ethikrat [6] und die Deutsche Gesellschaft für innere Medi-zin [7] in einem Positionspapier mit dem wegweisenden Namen: „Der Patient ist kein Kunde, das Krankenhaus kein Wirtschaftsunternehmen.“ Das Buch zum Thema des Autors „Patient ohne Verfügung“ ist seit Monaten Spiegel-Bestseller [8]. Anfang des Jahres startete die Zeitschrift „Lancet“ mit einer Arti-kelserie zum Thema „right care“ und do-kumentiert die international vorhande-ne Problematik. Laut Lancet belegt Deutschland mit 33 % unnötigen Kran-kenhausbehandlungen eine Spitzenpo-

sition. Vielfach wird eine zu aggressive Krebsbehandlung am Lebensende auf-gezeigt, bei jungen Patienten trifft es in den letzten 30 Lebenstagen etwa 75 % [9]. Aber auch andere Verfahren werden von den internationalen Wissenschaft-lern deutlich kritisiert: Neben der PEG-Ernährung auch Chemotherapie, die das Leben verkürzt, Bestrahlungsbehand-lung kurz vor dem Lebensende, nutzlose Medikation, ineffektive Intensivtherapie am Lebensende oder die ziellose intrave-nöse Ernährung. Dagegen erfolgte Pal-liativversorgung am Lebensende nur in 6 % der Fälle [10].

In Zukunft sind Ärzte demnach ei-nem gravierenden Haftungsrisiko aus-gesetzt, wenn Sie bei solchen Fallkons-tellationen nicht an die Familie des Pa-tienten (Betreuer oder Bevollmächtigte) herantreten. Ihnen muss die fehlende In-dikation eröffnet und die Frage gestellt werden, ob der Patient eine nicht indi-zierte Behandlung wünsche, die kein Therapieziel mehr erreichen könne und nur noch Leiden künstlich verlängere.

Der Arzt hat zu prüfen, ob eine Indi-kation vorliegt, ob also mit der Maßnah-me ein vom Patienten gewünschtes The-rapieziel mit einer gewissen Wahr-scheinlichkeit erreicht werden kann. Bei fortlaufenden Behandlungen – künstli-che Ernährung, Beatmung, Dialyse – ist die Indikationsprüfung in Intervallen zu wiederholen. Nach dieser Prüfung er-folgt dann die Behandlung naturgemäß erst nach Aufklärung und rechtswirksa-mer Einwilligung. Hier ist der für den Arzt rechtlich absolut bindende Patien-

tenwille zu beachten, zu dessen Ermitt-lung das Gesetz in § 1901 a BGB ver-schiedene gleichwertige Wege vorgibt (siehe Kasten Patientenwille). Der aktu-elle und vorausverfügte Wille ist sofort umsetzbar. Vorausverfügt heißt in die-sem Zusammenhang, dass eine Krank-heitssituation in einer Patientenverfü-gung treffend beschrieben ist und für diese Situation eine Behandlung voraus-verfügt wurde. Liegt bei einem nicht ein-willigungsfähigen Patienten eine Patien-tenverfügung nicht vor oder trifft sie auf die aktuelle Behandlungskonstellation nicht zu, so ist rechtlich stets ein be-nannter Vertreter erforderlich, der den Willen ermittelt. Dies kann ein Vorsor-gebevollmächtigter sein (Vorsorgevoll-macht ersetzt Betreuung), ansonsten ist über das Gericht ein Betreuer zu bestel-len. Aktuell gibt es eine Gesetzesinitia-tive, nach der Ehepartner automatisch rechtliche Vertreter werden sollen [11].

Mit gleicher Rechtsverbindlichkeit wie sie eine Patientenverfügung bewirkt, kann der Wille des Patienten also durch Zeugenaussagen ermittelt werden. Diese Aussagen können auch „Behandlungs-wünsche“ betreffen, etwa wenn der Pati-ent früher für gewisse Behandlungssitu-ationen konkrete Behandlungswünsche oder Behandlungsverbote ausgespro-chen hat. Die Zeugenaussagen können aber auch den „mutmaßlichen Willen“ ergeben: Es entsteht ein umfassendes Bild von der Wertewelt des Patienten aus früheren mündlichen oder schriftlichen Äußerungen, seiner Religiosität und sei-nen allgemeinen Wertvorstellungen, wie

Tab. 1: Leidenszustände des Demenzbetroffenen und Maßnahmen

— Erstickungsanfälle

— Zahnfäule (fast alle Zähne gezogen)

— fixierte Gelenkfehlstellungen

— Tetraspastik in der Hand: Pilzerkrankung

— Nackenrigor

— Augenentzündungen (Augen stehen offen)

— wiederkehrende Druckgeschwüre an Ellenbeuge, Kreuzbein, Fingergrundgelenken, Knie, Knöchel, gluteal und der Schulter „über Steiß circa 30 x 30 cm schwarze Nekrose“

Dokumentierte Maßnahmen: Grippeschutzimpfung, CRP-Bestimmung, Verordnung Tavanic, Cefuroxim, Absaugen, „Blutdruckmessen nicht möglich“, Krebsvorsorge, 4.11.11 „brodeln“, dann Einweisung, 19.11.11 verstorben.

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sich diese aus seinen Worten und seiner tatsächlichen Lebensführung ergeben. Daraus lässt sich dann als rechtlich ver-bindlicher, mutmaßlicher Wille ermit-teln, wie der Patient in der konkreten Behandlungssituation sich zur Zustim-mung oder Ablehnung ärztlicher Be-handlung entscheiden würde, könnte man ihn fragen. Auch ein so ermittelter Patientenwille bindet den Arzt mit aller strafrechtlichen und zivilrechtlichen Konsequenz. Lässt sich über keinen der vier rechtlich vorgegebenen Wege (siehe Kasten Patientenwille) der Patientenwil-le ermitteln, so muss der Arzt die medi-

zinisch indizierten Behandlungsmaß-nahmen durchführen. Nach den Grund-sätzen der Bundesärztekammer muss er die Indikation sorgfältig stellen. Die mögliche Lebensverlängerung allein ist nach dem Urteil des Landgerichts Mün-chen I keine ausreichende Begründung für eine Lebensverlängerung, wenn sie etwa zugleich untrennbar schwerste Lei-denszustände bewirkt. Das Gericht hat keine neuen oder eigenen Standards festgelegt, sondern ausgesprochen, was in der Natur des Rechts liegt: Verstößt der Arzt bei der Behandlung gegen sei-nen Facharztstandard, so macht er sich

stets und ausnahmslos straf- und haft-bar, auch bei einer lebens- und leidens-verlängernden Behandlung. Im vorlie-genden Fall wurde der Verstoß gegen den Facharztstandard seitens des vom Gericht bestellten Sachverständigen – ei-nem Ordinarius für Allgemeinmedizin

– nach den seit Jahren bestehenden Leit-linien der deutschen Gesellschaft für Geriatrie sowie der Deutsche Gesell-schaft für Ernährungsmedizin festge-stellt und in das Urteil übernommen.

Dr. med. Matthias ThönsArzt für Anästhesiologie, Notfall-, Palliativ-medizin, spezielle SchmerztherapieWiesenstr. 14, 58452 [email protected]

Wolfgang Putz Rechtsanwalt, Lehrbeauftragter an der LMU München, Putz & Steldinger, Medizin-rechtliche Sozietät Quagliostr. 7, 81543 München

Literatur:1. www.dggeriatrie.de/home-54/aktuelle-

meldungen/64-topmeldung/1050-gemein-sam-klug-entscheiden-empfehlungen-der-dgg-zur-%C3%BCber-und-unterversor-gung-in-deutschland.html

2. Ticinesi A et al: Survival in older adults with dementia and eating problems: To PEG or not to PEG? Clin Nutr 2016; 35: 1512–16

3. LG München I 9 O 5246/14, Urteil 18.1.20174. Wiesing U: „Ärztliches Handeln zwischen

Berufsethos und Ökonomisierung. Das Bei-spiel der Verträge mit leitenden Klinikärz-tinnen und -ärzten.“ Deutsches Ärzteblatt 2013, 110(38): A1.752–A1.756

5. Bertelsmann Stiftung: Faktencheck regio-nale Unterschiede 2015. https://fakten-check-gesundheit.de/de/faktenchecks/re-gionale-unterschiede/ergebnis-ueberblick/

6. Deutscher Ethikrat: Patientenwohl als ethi-scher Maßstab für das Krankenhaus; im In-ternet (Zugriff am 1.6.2016) unter www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-patientenwohl-als-ethischer-massstab-fu-er-das-krankenhaus.pdf, 5.4.2016

7. DGIM: Der Patient ist kein Kunde, das Kran-kenhaus kein Wirtschaftsunternehmen. DMW 07/2015; http://www.dgim.de/por-tals/pdf/Positionspapier_Schumm-Draeger_%C3%96konomisierung.pdf

8. Thöns M: Patient ohne Verfügung. Das Ge-schäft mit dem Lebensende. Piper 2016

9. http://meetinglibrary.asco.org/con-tent/170424-176

10. Brownlee S et al: Evidence for overuse of medical services around the world. Lancet DOI: http://dx.doi.org/10.1016/S0140-6736(16)32585-5

11. https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2017/kw10-pa-recht/494904

Der Patientenwille

Aktueller Wille: Vom einwilligungsfähigen Patienten geäußerter Wille („Ich möchte diese nebenwirkungsreiche Chemotherapie nicht“).

Vorausverfügter Wille: In einer Patientenverfügung konkret geschilderte zutreffende Krankheitssituation mit dem entsprechenden Behandlungswunsch („bei weit fortge-schrittener Demenzerkrankung und fehlender Fähigkeit zu normaler Nahrungsaufnah-me lehne ich eine künstliche Ernährung ab“)

Behandlungswunsch: Durch Zeugen belegte frühere Willensäußerungen des Patien-ten zu seiner ärztlichen Behandlung in Krankheitssituationen, die der jetzigen Situation des Patienten vergleichbar sind (etwa beim Pflegeheimbesuch: „Wenn ich einmal so krank bin wie die Tante mit ihrer Alzheimer Krankheit, will ich keine künstliche Ernäh-rung!“)

Mutmaßlicher Wille: Aus der gesamten Vita des Patienten, der Gesamtheit seiner reli-giösen und/oder sonstigen Wertvorstellungen und gegebenenfalls Äußerungen muss ermittelt werden, wie sich der Patient in der konkreten Behandlungssituation zur Ge-staltung seiner ärztlichen Behandlung positionieren würde, wenn er aktuell noch ent-scheiden könnte.

Aus der Urteilsbegründung

Vorliegend wäre der Beklagte nach dem oben dargelegten verpflichtet gewesen, je-denfalls ab Anfang 2010 den Betreuer des Patienten davon in Kenntnis zu setzen, dass ein über die reine Lebenserhaltung hinausgehendes Therapieziel nicht mehr erreichbar war, und mit ihm vor diesem Hintergrund zu erörtern, ob die PEG-Sondenernährung fortgesetzt oder abgebrochen werden soll. Dies ist unstreitig nicht geschehen und stellt damit eine Verletzung der Verpflichtung aus § 1901b Abs. 1 BGB und somit einen Behandlungsfehler dar.

Im vorliegenden Fall konnte ein Wille des Patienten weder aus einer Patientenverfü-gung noch aus Behandlungswünschen oder Anknüpfungspunkten für einen mutmaß-lichen Willen ermittelt werden. Für diesen Fall konstruierte das Landgericht München in richterlicher Rechtsfortbildung, der Sohn habe ein eigenes Entscheidungsrecht nach seinen eigenen Wertvorstellungen. Dies ist bisher dem Betreuungsrecht und der Rechtsprechung fremd. Vielmehr ist nach §§ 1901 a und 1901 b BGB jeder Vertreter des Patienten ausschließlich an den Willen des Patienten gebunden und eben gerade nicht befugt, eine Entscheidung nach eigener Wertvorstellung oder eigenem Gewissen zu treffen. Ob der Sohn sich unter diesen (neuen – und wohl falschen) Voraussetzungen, die das Gericht postulierte, dazu entschlossen hätte, den Vater sterben zu lassen, sah das Gericht als nicht erwiesen an.

Medizin ak tuell Leidensverlängerung als Behandlungsfehler

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omIn der Rubrik „Literatur kompakt“ werden die wichtigsten Originalarbeiten aus der internationalen Fachliteratur referiert.

Kreuzschmerz: Die meisten Pillen nützen wenig

Paracetamol ist nicht mehr zu empfehlen, Duloxetin führt zu einer geringen Schmerzlinderung und die Wirkung von NSAR wird überschätzt – das sind die wichtigsten Resultate eines Studien-Updates zu Kreuzschmerzen.

N ach zehn Jahren hat das American College of Physicians (ACP) seine

Praxisleitlinie zur Therapie bei Schmer-zen im unteren Rückenbereich überar-beitet. Dabei werden primär nicht medi-kamentöse Maßnahmen empfohlen, nicht zuletzt, weil die Evidenz für Arz-neien recht dünn ist. Deutlich wurde dies anhand einer aktualisierten Analy-se, die Ärzte um Dr. Roger Chou von der Universität in Portland im Auftrag des ACP erstellt haben. Dazu haben sie 46 Publikationen ausgewertet, zum großen Teil Metaanalysen, aber auch neue Stu-dien. Insgesamt flossen knapp 200 Stu-dien in die Analyse ein. Die wichtigsten Resultate:

NSAR: Rund 70 Studien drehten sich um den Nutzen einer Schmerztherapie mit nicht steroidalen Antirheumatika. In vier neueren Studien schnitten solche Substanzen bei akuten Rückenschmer-zen geringfügig besser ab als Placebo (8 Punkte Differenz auf einer 100-Punkte-Schmerz-Analogskala), drei Studien er-gaben jedoch keine signifikanten Unter-schiede. Bei chronischen Schmerzen fand ein Review zu vier Studien immer-hin einen knapp moderaten Effekt (12 Punkte Differenz zu Placebo), zwei Stu-dien offenbarten wiederum keine signi-fikanten Unterschiede. Auch bei Patien-ten mit Radikulopathie waren die Studi-en eher inkonsistent. Das Urteil der Au-toren: Vor allem bei chronischen

Rückenschmerzen ergeben neuere Stu-dien einen geringeren Nutzen als ältere. Die Schmerzlinderung wird hier wohl überschätzt. Dagegen gab es in allen Stu-dien signifikant häufiger Nebenwirkun-gen als unter Placebo.

Paracetamol: Noch schlechter sieht die Evidenz für diesen Wirkstoff aus. Hatten die alten ACP-Leitlinien bei akuten Rü-ckenschmerzen noch einen vergleichba-ren Nutzen wie unter NSAR gesehen, so wird dieser durch eine große, qualitativ hochwertige placebokontrollierte Studie infrage gestellt. Dabei schnitt die Arznei nicht besser ab als Placebo. Zu chroni-schen oder radikulären Schmerzen gibt es keine Daten; das Team um Chou sieht daher für Paracetamol keine belegte Wirksamkeit.

Muskelrelaxanzien: Zur kurzfristigen Therapie (zwei bis sieben Tage) von Pati-enten mit akutem Schmerz fand ein äl-terer Review mit 25 Studien einen mo-deraten bis ausgeprägten Nutzen (20 Punkte Differenz zu Placebo). Drei neu-ere Studien konnten dies im Wesentli-chen bestätigen. Gegen chronische Schmerzen scheinen solche Arzneien je-doch wenig zu bringen, legen drei klei-nere Untersuchungen nahe. Auch hier traten Nebenwirkungen konsistent häu-figer auf als unter Placebo, vor allem die Sedierung machte den Patienten zu schaffen.

Benzodiazepine: Für Tetrazepam deu-tet sich eine gewisse Wirksamkeit bei chronischen, nicht radikulären Schmer-zen an, ansonsten liefern die neun Stu-dien zu dieser Wirkstoffklasse eher wi-dersprüchliche Resultate, die einzige neue Studie fand keine Wirksamkeit von Diazepam bei akuter Radikulopathie. Ein Nachteil sind auch hier die zentral-nervösen Nebenwirkungen.

Opioide: 38 Studien prüften diese Subs-tanzklasse, und zwar fast ausschließlich bei chronischen Rückenschmerzen. Recht konsistent schnitten Opioide bei einer kurzfristigen Therapie besser ab als Placebo, allerdings war der Unter-schied eher gering (weniger als 10 Punk-te auf einer 100-Punkte-Skala), auch hatten die meisten Studien gravierende methodische Schwächen. Zudem wur-den oft nur akute Nebenwirkungen wie Benommenheit und Übelkeit berück-sichtigt, nicht aber die Gefahr einer Ab-hängigkeit und Überdosierung, bemän-geln Chou und Mitarbeiter.

Antidepressiva: Diese wurden in 16 Stu-dien ausschließlich bei chronischem Rü-ckenschmerz untersucht. Für Trizyklika und SSRI ergaben sich dabei keine Vor-teile gegenüber Placebo, drei neuere Un-tersuchungen zu Duloxetin deuten auf einen geringen Vorteil (weniger als 6–8 Punkte Differenz), auch fand sich zum Teil eine geringe funktionelle Verbesse-rung. Eine kleine Studie mit 85 Patien-ten erkannte hingegen keinen Unter-schied zwischen Duloxetin und Escital-opram.

Antikonvulsiva: Das Team um Chou fand zwölf Studien, ebenfalls alle bei Pa-

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Postoperative Schmerzen nach Herz-OP: Nach einem Jahr ist das Schlimmste überstanden

Rund 10 % der Patienten nach einer Herzoperation klagen über chronische, mindestens zwei bis drei Monate anhaltende Schmerzen, die die Lebensqua-lität beeinträchtigen. Wie sieht die weitere Entwicklung aus? Eine prospektive 5-Jahres-Studie macht den Patienten Mut.

D ie Inzidenz chronischer Schmerzen nach Herzoperationen wird mit 10–

56 % angegeben. Die hohe Varianz lässt sich mit Unterschieden bei der Defini­tion von chronischen postoperativen Schmerzen (chronic postsurgical pain, CPSP), der Auswahl der Studienteilneh­mer und einem prospektiven vs. retro­spektiven Design erklären. Unsicherheit besteht bei dieser Fragestellung auch be­züglich des langfristigen CPSP­Verlaufs. Eine große prospektive 5­Jahres­Studie aus Trondheim schafft Klarheit.

Einbezogen in die monozentrische Ko­hortenstudie waren 534 zu einer Herz­operation anstehende Patienten, davon 23 % über 75 Jahre alt. Unmittelbar nach der Operation beantworteten die Patien­ten erstmalig Fragen zur Lebensqualität per Short­Form Health Survey (SF­36) Version 1.2 sowie zum Schmerzstatus per Brief Pain Inventory (BPI). Nach einem und nach fünf Jahren erhielten sie die

Fragebögen erneut zugeschickt. Ein CPSP wurde dann angenommen, wenn die Schmerzen erst nach der Operation erstmalig aufgetreten waren und min­destens über drei Monate anhielten.

Von 458 nach fünf Jahren noch leben­den Patienten absolvierten 373 (82 %) alle drei Fragedurchläufe. 89,8 % berichteten weder nach einem noch nach fünf Jahren über CPSP. Bei 63 % der 38 Patienten mit CPSP nach einem Jahr waren die Schmer­zen in der erneuten Befragung vier Jahre später verschwunden, sodass sich eine 5­Jahres­Prävalenz von 3,8 % ergab. Pa­tienten mit CPSP ein beziehungsweise fünf Jahre nach der Herzoperation hat­ten eine schlechtere Lebensqualität und berichteten vermehrt über Schmerzen bereits vor der Operation.

Fazit: Die in einer prospektiven Kohor­tenstudie ermittelte 5­Jahres­Prävalenz chronischer postoperativer Schmerzen

nach Herzchirurgie beträgt 3,8 % und liegt damit deutlich niedriger als bishe­rige Schätzungen, die allerdings über­wiegend auf retrospektiven Befragungen beruhten. Bei 63 % der Patienten, die ein Jahr nach der Herzoperation noch CPSP angaben, war die Symptomatik nach fünf Jahren verschwunden. Risikofaktor für ein CPSP­Syndrom ist unter anderem eine positive präoperative Schmerzana­mnese. Dr. Barbara Kreutzkamp

Gjeilo KH et al. Chronic postsurgical pain in pati-ents 5 years after cardiac surgery: A prospective cohort study. Eur J Pain 2017;21:425–33

tienten mit chronischen Schmerzen. Die meisten waren von mäßiger bis mittel­mäßiger Qualität, meist wurden Prega­balin, Gabapentin und Topiramat ge­prüft. Die Resultate waren eher negativ bei nicht radikulären und widersprüch­lich bei radikulären Schmerzen. Letzt­lich sei die Evidenz jedoch ungenügend für eine Beurteilung, konstatieren die Ärzte.

Systemische Kortikoide: Die zehn aus­gewerteten Studien führten zu überwie­gend negativen Resultaten. Weder Injek­tionen noch Tabletten schnitten bei aku­ten Schmerzen wesentlich besser ab als Placebo, auch funktionelle Verbesserun­gen waren eher gering. „Systemische Kortikoide scheinen nicht wirksam zu sein“, schlussfolgern die Forscher um Chou.

Fazit: Insgesamt fällt das Ergebnis der Analyse also mager aus. Die meisten Substanzklassen hätten zwar eine gewis­se Wirksamkeit bei akuten oder chroni­schen Rückenschmerzen, aber meist sei diese kurzfristig und eher gering. Para­cetamol und Trizyklika könne man auf­grund neuer Daten getrost von der Liste der wirksamen Optionen streichen, Duloxetin neu hinzufügen, wenngleich auch hier die Schmerzlinderung eher ge­ring ausfalle. Nur für NSAR, Opioide und Duloxetin deuteten die Studien auf einen geringen, gelegentlich moderaten Effekt bei chronischen Kreuzschmerzen.

Entsprechend zurückhaltend gibt sich auch die aktualisierte ACP­Leitlinie.

„Ärzte sollten Patienten mit akuten oder subakuten Schmerzen im unteren Rü­ckenbereich darauf hinweisen, dass die Schmerzen in der Regel wieder von

selbst verschwinden“, erläutert der ACP­Vorsitzende Dr. Nitin Damle in einer Mitteilung der Gesellschaft. „Sie sollten auch unnötige Tests sowie teure oder po­tenziell schädliche Medikamente ver­meiden.“ (www.acponline.org/acp­news­ room)

Bei chronischen Kreuzschmerzen ra­ten die US­Leitlinien primär zu mehr körperlicher Bewegung, Gymnastik, multidisziplinären und nicht medika­mentösen Verfahren mit Akupunktur, Yoga oder Stressreduktion. Genügt das nicht, sollten Ärzte eine Behandlung mit NSAR erwägen. Opioide seien möglichst zu meiden.

Thomas Müller

Chou R et al. Systemic Pharmacologic Therapies for Low Back Pain: A Systematic Review for an American College of Physicians Clinical Practice Guideline. Ann Intern Med 2017; 166(7):480–92

Eingriff bei Stenose der Aortenklappe

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Wer mit Benzos kombiniert, riskiert Opioidüberdosis

Mit der Zunahme von Opioidverschreibungen steigt das Risiko von Über­dosierungen. Besonders gefährlich wird es, wenn die opiatartigen Schmerz­mittel mit Benzodiazepinen kombiniert werden.

W elche Folgen die Kombination von Opioidanalgetika mit Benzodiaze-

pinen zeitigt, haben US-Forscher um Eric Sun von der Stanford University in Kalifornien untersucht. Sie nahmen sich dafür die Krankenversicherungsdaten von mehr als 300.000 Patienten vor, die im Zeitraum von 2001 bis 2013 mindes-tens ein Opioidrezept eingelöst hatten.

Für Patienten, die Opioide, aber keine Benzodiazepine einnahmen, lag die jährliche Inzidenz für eine durch Opio-idüberdosierung bedingte Notfallauf-nahme oder stationäre Einweisung bei 1,16 %. Wurden zu den Opioiden noch Benzodiazepine verabreicht, stieg die Quote auf 2,42 %. Nach dem Abgleich gegen Alter und eine Reihe von Begleit-krankheiten errechneten Sun und Kol-legen ein rund doppelt so hohes Überdo-sierungsrisiko unter der Kombinations-therapie wie für die Opioidgabe allein.

Erhielten die Patienten die opioidhal-tigen Schmerzmedikamente nur inter-mittierend, ging der Zusatz von Benzo-

diazepinen mit einer Erhöhung des Ri-siko für eine Opioidüberdosis um etwa 40 % einher, von jährlich 1,02 % auf 1,45 %. Bei chronischer Opioideinnahme betrug die jährliche Inzidenz 3,13 % ohne und 5,36 % mit Benzodiazepinen, was in der adjustierten Kalkulation einer mit den Tranquilizern assoziierten Er-höhung um rund 80 % entsprach.

„Vorausgesetzt, diese Beziehung ist kausal, würde das Vermeiden von Opio-id-Benzodiazepin-Kombinationen die durch eine Opioidüberdosis bedingten Besuche in der Notaufnahme bezie-hungsweise stationären Einweisungen um 15 % senken“, schreiben Sun und Mitarbeiter. Die gleichzeitige Einnahme dieser Substanzen trage wesentlich zum Populationsrisiko der Überdosierung von Opioiden bei.

Die Studie verdeutlichte zudem, dass während der untersuchten Zeitspanne von 2001 bis 2013 der Anteil von Patien-ten unter Opioiden, die gleichzeitig Ben-zodiazepine einnahmen, von 9 % auf

17 % gestiegen ist. Bei rund 30 % der töd-lich verlaufenden Opioidvergiftungen seien Benzodiazepine im Spiel, so die Forscher. Dies werfe die Frage auf, ob die den Opioiden zugeschriebenen Todes-fälle nicht teilweise durch die vermehrte Kombination dieser Substanzen mit Benzodiazepinen verursacht worden sein könnten. Benzodiazepine verstär-ken die atemdepressive Wirkung von Opioiden.

Generell hat sich in den USA im ers-ten Jahrzehnt des Jahrhunderts die Zahl der verschriebenen Opioide vervierfacht. Auch in Deutschland haben die Opioid-verordnungen zugenommen, aber bei Weitem nicht in diesem Ausmaß. Eine Erhebung auf der Basis von Versicher-tendaten ergab im Jahr 2013 eine Zunah-me der Verschreibungen um 37 %, und zwar von 3,31 % auf 4,53 % aller Versi-cherten, für den Zeitraum von 2000 bis 2010.

Fazit: In der Praxis muss die Indikati-onsstellung für eine Kombination von Benzodiazepinen mit Opioiden beson-ders eng gefasst werden.

Dr. Robert Bublak

Sun EC et al. Association between concurrent use of prescription opioids and benzodiazepi­nes and overdose: retrospective analysis. BMJ 2017; 356: j760

Karpaltunnelsyndrom: manuelle Therapie ebenso effektiv wie OP

Beim Karpaltunnelsyndrom ist nicht nur die Operation zielführend, um die Beschwerden des Patienten zu lindern. Mittel­ bis langfristig wurden in einer spanischen Studie mit einer multimodalen manuellen Therapie ähnliche Effekte im Hinblick auf Druckschmerzempfindlichkeit und Schmerzintensität erzielt.

M enschen mit Karpaltunnelsyndrom (KTS) leiden unter anderem an

ausstrahlenden Schmerzen und Tempe-raturüberempfindlichkeit infolge einer zentralen Sensibilisierung. Wie sich da-rauf manuelle Therapien im Vergleich zu operativen Eingriffen auswirken, haben César Fernández de las Peñas von der Universität Rey Juan Carlos in Alcorcón

und Kollegen an einer Madrider Klinik untersucht.

In der randomisierten, verblindeten Studie mit 100 Frauen mit KTS erhielten 50 Patientinnen eine manuelle Therapie (wöchentlich, insgesamt drei 30-minüti-ge Behandlungen einschließlich desen-sibilisierender Maßnahmen) und 50 Frauen wurden chirurgisch versorgt. Bei

den Studienteilnehmerinnen bestanden seit mindestens sechs Monaten Schmer-zen und Parästhesien in den Aufzwei-gungen des Nervus medianus; Tinel- und Phalen-Test waren positiv. Zudem zeigten sich Beeinträchtigungen der Reizleitung beim Medianusnerv. Ermit-telt wurden die Druckschmerzschwelle (PPT), die Temperaturschmerzschwelle (HPT oder CPT) sowie die Schmerzstär-ke (auf einer Skala von 0–10) zu Beginn der Studie sowie drei, sechs, neun und zwölf Monate nach der Intervention. Von 95 Patientinnen lagen die Daten aus zwölf Monaten vor.

Bei Patientinnen, die eine manuelle Therapie erhalten hatten, ergab sich nach drei, sechs und neun Monaten ein stär-kerer Anstieg der Druckschmerzschwel-le über dem Karpaltunnel als bei den

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Was hilft am besten beim Karpaltunnelsyndrom?

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operierten Frauen. Nach zwölf Monaten glichen sich die PPT-Werte in den bei-den Gruppen an. Zudem war die mittle-re Schmerzintensität nach drei Monaten signifikant geringer, zeigte zu den späte-ren Messzeitpunkten aber keine deutli-chen Unterschiede mehr gegenüber den operierten Frauen.

Fazit: Fernández de las Peñas und Kol-legen schließen aus den Ergebnissen ih-rer Studie, dass beide Behandlungsfor-men die ausstrahlende Druckschmerz-empfindlichkeit und Schmerzintensität beim KTS mittel- bis langfristig ähnlich erfolgreich verbessern. Über die Kurz-strecke schneidet die manuelle Therapie allerdings besser ab. Auf die Tempera-turempfindlichkeit gegenüber Heiß oder Kalt hatte dagegen keine der bei-den Behandlungsmethoden Einfluss. Zwar gelte bislang die Meinung, dass eine Operation ein etwas besseres Lang-zeitergebnis liefere als eine konservative Behandlung, so die Studienautoren.

Doch sollte berücksichtigt werden, dass chirurgische Maßnahmen in früheren Studien vor allem mit konservativen Interventionen wie Schienen, Laser, Ultraschall oder Injektionen verglichen wurden. Auch wurde der nozizeptive Schmerz innerhalb der untersuchten

Maßnahmen bislang nicht berücksich-tigt. Dr. Christine Starostzik

Fernández de las Peñas C et al. Effectiveness of manual therapy versus surgery in pain proces-sing due to carpal tunnel syndrome: A rando-mized clinical trial. Eur J Pain 2017; online 14. März; doi: 10.1002/ejp.1026

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Gleichgewichtssinn bei Migräne: Je schwerer die Erkrankung desto schlechter die Balance

Migräneattacken hinterlassen Spuren im Gehirn. Das hat wohl auch Aus wirkungen auf das Gleichgewichtsorgan. Eine monozentrische Studie korreliert erstmals das Ausmaß von Balance-Störungen mit dem Schwere- grad der Migräne.

P atienten mit Migräne haben nicht sel-ten mehr oder weniger stark ausge-

prägte Schwierigkeiten mit der Balance-kontrolle. Denkbar ist eine pathophysio-logische Verbindung zwischen Migräne-attacken und (ischämisch bedingten) Läsionen im posterioren Hirnstromge-biet und einer Vestibularisstörung. Demzufolge müssten Patienten mit häu-figen Attacken sowie begleitender Aura stärkere Gleichgewichtsstörungen ha-ben als ihre nicht so stark betroffenen Leidensgenossen. Eine monozentrische Studie untersuchte diese Hypothese.

Einbezogen waren 105 Frauen im Al-ter zwischen 18 und 55 mit einer ICHD-III-diagnostizierten Migräne mit und ohne Aura sowie mit chronischer Mig-räne zusammen mit 35 gesunden Kont-rollprobandinnen. Mögliche Störungen der Gleichgewichtskontrolle wurden mithilfe des modifizierten Sensory Or-ganization-Tests (mSOT) und des Limits of Stability-Tests (LoS) untersucht. Beim mSOT steht der Proband in standardi-sierter Position auf einer vibrierenden Kraftmessplatte, die während standardi-sierter Abläufe – zum Beispiel mit geöff-

neten und geschlossenen Augen – die Belastungsausschläge misst. Beim LoS werden verschiedene Parameter bei im festen Stand ausgeführten Körpernei-gungen in verschiedene Richtungen er-fasst. Die Beurteilung der Messergebnis-

se erfolgte durch einen neutralen Beob-achter, der über den Erkrankungsstatus des Teilnehmers nicht informiert war.

Insgesamt zeigten Probanden mit ei-ner Aura-Migräne und einer chroni-schen Migräne im mSOT signifikant schlechtere Ergebnisse in der Balance-kontrolle als Probanden ohne Migräne. In den erschwerten mSOT-Versuchen mit einer schaumstoffbeschichteten Platte schnitten Patienten mit Aura und chronischer Migräne ebenfalls signifi-kant schlechter ab als Probanden ohne Aura. Im LoS ergaben sich signifikante Unterschiede zwischen allen Migräne-gruppen und der Kontrollgruppe bei der Reaktionszeit, der Bewegungsgeschwin-digkeit und der maximalen Körperaus-lenkung. Erfasste Kovariablen wie BMI, Medikamenteneinnahme, körperliches Training oder Vorhandensein von ikta-lem oder interiktalem Schwindel beein-flussten die Ergebnisse nicht.

Fazit: Migräne-Patienten haben einen eingeschränkten Gleichgewichtssinn be-ziehungsweise eine schlechtere Balance-Fähigkeit als gesunde Probanden. Die Gleichgewichtstörungen sind vor allem bei Patienten mit Aura und mit chroni-scher Migräne ausgeprägt. Betroffenen mit klinisch relevanten Störungen sollte ein spezifisches Balance-Training ange-boten werden. Dr. Barbara Kreutzkamp

Carvalho GF et al. Balance impairments in diffe-rent subgroups of patients with migraine. Head-ache 2017; 57:363–74

Für Patienten mit Migräne wohl eine der schwierigeren Übungen.

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CFS bei Jugendlichen: Fast jeder Sechste ist auch chronisch schmerzgeplagt

Das chronische Müdigkeitssyndrom (CFS) und chronische Schmerzsyndrome überlappen sich. Ob das schon bei Jugendlichen zutrifft, sollte eine Geburts-kohortenstudie zeigen. Denn zusätzliche Schmerzen erfordern eine komple-xere CFS-Therapie.

Patienten mit chronischem Müdigkeits-syndrom (chronic fatigue syndrome,

CFS) klagen oftmals auch über Schmer-zen, was sich unter anderem in den CFS-Diagnoseschlüsseln widerspiegelt. Die Überlappung von CFS mit CWP (chroni-

sche Schmerzen in mehreren Körperregi-onen, chronic widespread pain) bei Er-wachsenen ist bekannt. Im Rahmen der Avon Longitudinal Study of Parents and Children (ALSPAC) sollten nun auch mögliche Assoziation bei 17-jährigen Ju-

gendlichen näher untersucht werden – nicht zuletzt, um in der CFS-Therapie die Schmerzkomponente besser als bisher be-rücksichtigen zu können.

Ausgewertet wurden dazu Schmerzfra-gebögen und strukturierte klinische In-terviews von 3.215 in 1991/92 geborenen Teilnehmern der ALSPAC-Kohorte. An-hand der Angaben aus den Schmerzfra-gebögen konnte bei 4,5% der Jugendli-chen auf ein CWP und anhand der An-gaben im klinischen Interview bei 2,6 % auf ein CFS geschlossen werden. Jugend-liche mit einem CFS hatten eine deutlich gesteigerte Wahrscheinlichkeit für ein zusätzliches CWP (Odds ratio 3,87; 95%-

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KI 2,05–7,31). Außerdem war die Wahr-scheinlichkeit für ein CFS oder CWP bei jungen Frauen rund doppelt so hoch wie bei jungen Männern, mit ausgeprägteren Gender-Effekten für das CWP im Ver-gleich zum CFS. Befragte mit ausschließ-lichem CFS berichteten mit größerer Wahrscheinlichkeit über stärkere Schmerzen und eine größere Belastung durch die Schmerzen – ein Zusammen-hang, der allerdings stark durch Kovari-ablen wie Angst, Depression oder kör-

perliche Symptome beeinflusst wurde. Zunehmende Werte auf den Angst- und Depressionskalen korrelierten mit dem Risiko für eine CFS- und noch stärker für eine CFS-CWP-Komorbidität, ein singu-läres CWP dagegen lediglich mit der Höhe der Angst-Scores.

Fazit: In einer Geburtskohortenstudie hatten fast 15 % der teilnehmenden Ju-gendlichen mit einem CFS zusätzlich ein CWP. Nicht immer sind die Schmer-

zen stark ausgeprägt, weshalb aktiv nachgefragt und die CFS-Therapie ge-gebenenfalls angepasst werden sollte. Ob sich CFS und CWP möglicherweise ausgehend von Angststörungen oder Depressionen entwickeln, sollte in wei-teren Studien geklärt werden. Dr. Barbara Kreutzkamp

Norris T et al. Chronic fatigue syndrome and chronic widespread pain in adolescence: popu-lation birth cohort study. J Pain 2017; 18:285–94

Analgetika-induzierter Kopfschmerz morphometrisch sichtbar gemacht

Analgetika-Missbrauch bei Kopfschmerzpatienten geht mit kortikalen Verän-derungen einher. Mithilfe der voxelbasierten Morphometrie wurden Auffällig-keiten bei kortikaler Dicke und kortikaler Faltung in einigen Hirnregionen von betroffenen Migränepatienten untersucht.

M edikamenten-induzierter Kopf-schmerz beruht vermutlich unter

anderem auf einer reversiblen Absen-kung der Schmerzschwelle in peripheren und zentralen Zentren. Beschrieben sind funktionelle und strukturelle Ver-änderungen in verschiedenen Hirnbe-reichen wie ein Hypometabolismus in orbitofrontalen Regionen, ein Zuwachs von grauer Substanz in Striatum, Thala-mus und Gyrus fusiformis und eine Ab-nahme von grauer Substanz in präfron-talem Kortex und Cortex insularis. Nach erfolgreicher Analgetika-Entzugsbe-handlung bilden sich einige dieser Ver-änderungen zurück. Im Rahmen einer monozentrischen Studie mit 29 Migrä-

nepatienten mit Medikamenten-indu-ziertem Kopfschmerz (medication-over-use headache, MOH) wurde nun per vo-xelbasierter Morphometrie (VBM) nach kortikalen Auffälligkeiten im Vergleich zu 29 passenden gesunden Probanden gesucht. Dazu wurde zunächst ein hoch-auflösendes T1-gewichtetes MRT des Gehirns angefertigt und die kortikale Dicke und Gyrifikation mit dem Soft-wareprogramm FreeSurfer analysiert.

Im Vergleich zu den Kontrollproban-den war bei den MOH-Patienten die kor-tikale Dicke im linken präfrontalen Kor-tex vermindert und die Gyrifikation in einem sich vom fusiformen Kortex bis in benachbarte mediale Temporallappen-

regionen erstreckenden Cluster erhöht. Auch in einem anderen Cluster des rech-ten Okzipitalpols zeigte sich bei den MOH-Patienten eine vermehrte Gyrifi-kation. Eine höhere kortikale Faltung im rechten Okzipitalpol war prädiktiv für eine schlechtere Response auf eine Ent-zugsbehandlung mit abruptem Abset-zen des missbrauchten Analgetikums. Unter den Non-Respondern waren auch alle drei Patienten mit Opiat-Miss-brauch.

Fazit: Migränepatienten mit einem An-algetika-induzierten Kopfschmerz zei-gen in voxelbasierten morphometri-schen Untersuchungen strukturell-funk-tionelle kortikale Veränderungen. Diese Veränderungen stehen vermutlich mit einer maladaptiven neuronalen Plastizi-tät und verschlechterter supratentorialen Schmerzmodulation in ursächlicher Ver-bindung. Dr. Barbara Kreutzkamp

Riederer F et al. Cortical alterations in medica-tion-overuse headache. Headache 2017; 57: 255–65

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Mangelernährung

Ernährungsmedizinische Aspekte in der PalliativversorgungMatthias Thöns, Witten; Boris Hait, Unna

Klinische Zeichen der Mangelernährung weisen bis zu 87 % der Tumorpatienten bereits bei der Diagnose-stellung auf [1]. Nach der Sepsis gilt die Kachexie als die zweithäufigste Todesursache bei Tumorpatienten. Deshalb sollte man sich bei nahezu jedem Palliativpatienten diesem Problem widmen.

E ssen und Trinken hält Leib und Seele zusammen, heißt es, und tatsächlich benötigt jedermann Essen und Trinken um zu leben. Solange man essen und trinken kann, und

damit seine Bedürfnisse ausreichend deckt, besteht keinerlei Handlungsbedarf. Problematisch wird es erst, wenn ein Pati-ent nicht mehr ausreichend isst oder trinkt oder nicht mehr genügend Flüssigkeit oder Nährstoffe aufnimmt.

Faktoren bei der Entscheidung zur ErnährungKaum ein Thema in der Palliativmedizin, vielleicht mit Aus-nahme der palliativen Sedierung, ist mit einer solchen Brisanz behaftet wie das Thema PEG und Ernährung am Lebensende. Viele Aussagen dazu haben weniger mit Evidenz, sondern mehr

mit Emotionen zu tun. Allein die Problematik von Nahrungs-verzicht als geäußerter Wille eines schwerkranken Menschen bringt ausreichend Diskussionsstoff mit sich.

Es ist immer aufs Neue eine absolut komplexe und individu-elle Situation, in der eine Entscheidung bezüglich der Ernäh-rung in einem fortgeschrittenen Krankheitsstadium zu treffen ist. Welche Instrumente oder Strukturen können wir dafür aus der Palliativmedizin zu Hilfe holen? Zu diesen Tools gehören sicherlich der holistische Ansatz, die Entscheidungsfindung im interdisziplinären Team als größtmögliche Chance, Informa-tionen aus verschiedensten professionellen Blickrichtungen zu sammeln, zu analysieren, um dann mit dem Ergebnis an Pati-ent und Familie heranzutreten. Damit der Patient die Chance

Mundgerechte Häppchen und eine angenehme Atmosphäre können die Essensaufnahme bei Palliativ-patienten verbessern.

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28 Schmerzmedizin 2017; 33 (3)

Zertif izierte Fortbildung

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erhält, selbst zu entscheiden, muss seine Wissenslücke durch das Fachwissen sowie die Erfahrungswerte des Teams geschlos-sen werden. Dies kann sich am besten im Rahmen von „Ad-vanced Care Planning“ entfalten, da oft viel Zeit für eine solche Entscheidung benötigt wird. Folgende Faktoren können eine Entscheidungsfindung zur Ernährung oder Ernährungsart am Lebensende beeinflussen:

Medizinisch-pflegerische Aspekte

— Stadium oder Progredienz der Erkrankung— Fortschreitende gastrointestinale Probleme wie

— Peritonealkarzinose mit einer konsekutiven chronischen Darmobstruktion

— Magenausgangs- oder Ösophagusstenose— Anorexia-Nausea-Emesis-Syndrom (ANE-Syndrom): War-

um entsteht es?— therapiebedingt (u.a. medikamentös-induziert, z.B. als

Folge der Chemotherapie)?— metabolische Veränderungen als Signal für die Finalität

und damit als „natürliche“ Vorgänge eines einsetzenden Sterbeprozesses zu sehen?

— Dysphagie mit Mangelernährung als Folge— einer mechanischen Obstruktion im oberen GI Trakt— einer Stenosierung bei HNO-Tumoren oder Prozessen im

Mund-/ Kieferbereich— einer neurogenen Schluckstörung, wie bei Amyotropher

Lateralsklerose (ALS) oder Hirntumoren — Notwendigkeit einer adäquaten Entlastung des Magens oder

des oberen Gastrointestinaltraktes als Indikation zur PEG-Anlage.

Ethische Aspekte

— Patientenwille als oberste Leitlinie des Handelns— Vermeidung von Aktionismus oder Zugzwang

— Es ist leichter etwas zu tun, als etwas zu unterlassen— Abwägung des Benefit für den Patienten („Nutzen“/„Scha-

den“- Argumentation, z.B. Schmerzen bzw. Erbrechen durch Ernährung)

— Lebensverlängerung versus Lebensqualität— Sondenernährung als freiheitsentziehende Maßnahme?

Rechtliche Aspekte

— Nach wie vor unsichere rechtliche Situation bei oft unter-schiedlich ausfallenden Gerichtsurteilen

— Rolle der medizinischen Indikationsstellung— Bedarf die Einleitung der Ernährung am Lebensende einer

Einwilligung zur Durchführung vom Patienten oder seines Bevollmächtigten?

— Sind sich Arzt/Team und Betreuer immer einig über den mutmaßlichen Willen des Patienten, der von ihm selbst nicht mehr geäußert werden kann? Wie „gut“ können wir diesen mutmaßlichen Willen (Äußerungen des Patienten von frü-her oder Erinnerungen an seine persönlichen Wertvorstel-lungen, seine ethischen Überzeugungen oder an seinen Glau-ben) ermitteln?

Mit diesen Aspekten und dem gewonnenen Wissen um jede einzelne Situation gehen wir in ein oder mehrere ausführliche

Informationsgespräche mit dem Patienten und seinen Angehö-rigen. Und in diesen Gesprächen mit Patienten und Angehöri-gen wird deutlich, welcher Stellenwert dem Essen und Trinken eingeräumt wird.

In einer palliativen Situation bedeutet die Verringerung der Nahrungsaufnahme, bis hin zur Verweigerung, eine unmittel-bare Konfrontation des Betroffenen und seiner Zugehörigen mit der Erkrankung beziehungsweise mit dem bevorstehenden Tod. Deshalb hören wir konkret oder erspüren durch empathi-sches Einlassen in diesen Gesprächen oftmals:— die Angst zu „verhungern und zu verdursten“— die Wahrnehmung, dass die Reduzierung der Nahrungsauf-

nahme ein Indikator für eine deutliche körperliche Verän-derung ist und das Übertreten in eine andere oder gar die letzte Lebensphase kennzeichnet

— die Ohnmacht, durch die Einschränkung der Nahrungsauf-nahme Lebensqualität zu verlieren

— die Angst vor dem nahenden Tod.Die medizinische Indikation spielt für eine Ernährungsthera-pie die entscheidende Rolle.

Wichtige EssensumständeEine Mangelernährung entsteht bei fortbestehendem Ungleich-gewicht zwischen verminderter Nährstoffzufuhr und dem Nährstoffbedarf bei gestörter Nährstoffverwertung oder bei unkontrollierbarem Abbau der Körpersubstanz. Die Ursachen sind multifaktoriell, zu den wichtigsten Gründen verminder-ter Nährstoffzufuhr gehört der mangelnde Appetit (Anorexie). Die Anorexie wird oftmals durch Stress, Schmerzen, Entzün-dungen, den Tumormetabolismus oder Depressionen ausgelöst. Auch schlechte „Essensumstände“ spielen eine wesentliche Rolle:— Einsamkeit— Verlust an Selbstständigkeit— Unattraktive Speisenzubereitung— Polymedikation zum EssenDaneben können auch Schluck- und Kaustörungen, Mundtro-ckenheit, gastrointestinale Stenosen oder eine Malabsorption die Nahrungsaufnahme behindern. Der Nährstoffbedarf kann durch den Tumormetabolismus, schwere Infektionen oder nach Operationen verändert sein. Dies führt in der Summe letztlich zur krankheitsassoziierten Mangelernährung, der sogenann-ten Kachexie. Evolutionär gesehen brachte Appetitlosigkeit ei-nen Selektionsvorteil: Im Falle einer Verletzung oder Erkran-kung musste die körperliche Aktivität einschließlich der Nah-rungssuche reduziert werden, um die Wundheilung durch Schonung zu fördern und alle Kräfte in die Heilung zu stecken. War der Mensch sterbenskrank, so sorgte der fehlende Hunger für weniger Leidensäußerungen. Aktuelle Studien weisen bei Patienten mit Mangelernährung eine erhöhte Mortalität, eine eingeschränkte Lebensqualität und eine geringere Therapiever-träglichkeit nach. Eine Gewichtsstabilisierung verbesserte die Prognose [2].

Unweigerlich stellt sich hierbei aber die Frage: Ist die Man-gelernährung Zeichen des kommenden Sterbeprozesses, wie es die Gründerin der modernen Palliativmedizin Cicely Saunders meint, oder dessen Ursache?

Schmerzmedizin 2017; 33 (3) 29

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DiagnostikLeitsymptom der Kachexie ist der signifikante Gewichtsverlust. Die aktuelle Definition der Kachexie umfasst einen Gewichts-verlust von mehr als 5 % in drei Monaten oder von mehr als 2 % bei einem Body-Mass-Index (BMI) kleiner 20. Klinisch ist eine fortgeschrittene Eiweißkatabolie erkennbar an der Atrophie der Handmuskulatur, des M. deltoideus oder der Kau- und Ge-sichtsmuskulatur. Patienten berichten von nicht mehr passen-der Kleidung oder „Schlackergürteln“. Labordiagnostisch ist die Serumalbuminkonzentration am aussagekräftigsten (< 35 g/l).

Therapeutisches VorgehenIn erster Linie sollten potenziell behandelbare Ursachen kau-sal therapiert werden (Tab. 1). Die gezielte Beschwerdeerhebung und die konsequente Behandlung sind insbesondere für folgen-de Symptome zur Verbesserung der Ernährungssituation ziel-führend:— Übelkeit und Erbrechen— Obstipation— Schmerzen— Atemnot

— Sodbrennen— Angst — Depression.Viele Medikamente mindern den Appetit, verändern den Ge-schmack oder führen zu Übelkeit. Folglich stellt die Polymedi-kation einen Risikofaktor für die Entwicklung einer Mangel-ernährung dar [3]. Hier sei an die Empfehlung erinnert, dass in der letzten Lebensphase zumeist keine Indikation mehr für Statine, Antihypertensiva (wenn Blutdruck nicht extrem zu hoch), Anti koagulanzien, Ulkusprophylaktika und für orale Antidiabetika besteht [4]. Die Erfahrung zeigt, dass fast alle Medikamente am Lebensende folgenlos abgesetzt werden kön-nen, bis auf wenige Ausnahmen wie Opioide.

Körperliche BetätigungSelbst in späten Krankheitsstadien ist sportliche Betätigung hilfreich. Neben der Verbesserung der Ernährungssituation hat Sport positive Effekte auf physische, psychische und psycho-soziale Entwicklungen, senkt die Rezidiv- und Sterbewahr-scheinlichkeit [5].

Ernährungsberatung und AllgemeinmaßnahmenGrundsätzlich ist die Ernährungsberatung fast immer sinnvoll und sollte bereits Teil des Erstgesprächs sein. Übliche Diätemp-fehlungen laufen der Empfehlung bei Tumorkachexie diamet-ral entgegen: Patienten dürfen nun „sündigen“, zum Beispiel betont fettreich speisen. Energetisch sind Speisen durch Anrei-cherung mit Cremes, Sahne, Öl oder Butter optimierbar. Denn undifferenzierte Tumorzellen verstoffwechseln einfache Koh-lenhydrate, der Mensch selbst profitiert aber auch von Fetten und Proteinen. Damit ernährt er sich und nicht den Tumor.

Weitere Allgemeinmaßnahmen betreffen das Essensambien-te: Eine ruhige angenehme Essensatmosphäre, geschmackvol-le und optisch attraktive Speiseangebote, ein Aperitif, mund-gerechte Häppchen oder das gemeinsame Speisen können eine Verbesserung bringen. Eine Untersuchung zeigte etwa, dass an-sprechendes Ambiente mit höherwertigem Geschirr, eine ge-zielte Farbgestaltung und familienähnliche Esssituationen sich effektiv auf die Nahrungsaufnahme auswirkten [6].

Konsequent sollten Kau- oder Schluckprobleme angegangen werden: — Gibt es Zahnschmerzen oder eine schlecht sitzende Zahn-

prothese?— Wird auf gute Mundhygiene geachtet?— Sind Schluckstörungen behandelbar? (Eventuell Logopäde

oder HNO-Arzt hinzuziehen.)Da Geschmacksveränderungen bei jedem zweiten Tumor-patienten beobachtet werden, sollten – je nach Vorlieben – neben einer guten Mundhygiene und der konsequenten Behandlung von Stomatitis und Mundtrockenheit Bitterstoffe meist vermie-den werden. Oft hilft eine betont süße oder saure Kost. Nicht sel-ten erleben wir, dass der Patient mit Anorexie- Kachexie-Syndrom unter einem enormen Druck steht. Häufig sind es die Erwartungen der Angehörigen, die nicht erfüllt werden und zu diesem Druck beitragen. In solchen Situationen liegt es am Team, dies zu erspüren und das Thema Essen sehr einfühlsam anzuge-hen.

Tab. 1: Potenziell behandelbare Ursachen der Kachexie

Gestörte Nahrungs­zufuhr

Anorexie Beschwerden: Schmerzen, Übelkeit, Obstipation, Atemnot

Stress: Angst, Depression, Einsam­keit, Trauer

Polymedikation

Kau­ und Schluck­störungen

schlechter Zahnstatus, Zahnprothe­senprobleme, Soor, Mundtrocken­heit, Schluckstörungen, Stomatitis, Aphten

Passagestörungen Stenosen im Bereich des gesamten Gastrointestinaltrakt, Motilitäts­störungen

Aufnahme­störungen

Maldigestion Bakterielle Fehlbesiedlung, Resektio­nen mit Pankreasinsuffizienz oder Gallensäureverlustsyndrom

Malresorption Resektionen im Gastrointestinaltrakt

Tab. 2: Problematik bei intravenösen Behandlungen im häuslichen Umfeld

Schwierige Venenverhältnisse bei den oft vielmals vorbehandelten Patienten

Technische Anfälligkeit („Infusion tropft nicht“)

Unkooperative oder agitierte Patienten

Punktionsschmerz

Infektionsrisiken

Blutungsgefahren bei herabfallender Infusion oder Diskonnektion

Zertif izierte Fortbildung Mangelernährung

30 Schmerzmedizin 2017; 33 (3)

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Medikamentöse AppetitsteigerungDie Studienlage ist bis heute zu schwach, um überhaupt eine Empfehlung für eine medikamentöse Therapie auszusprechen. So werden aktuell die zeitlich begrenzte Gabe von Kortikoste-roiden (z.B. dreiwöchiger Versuch mit Dexamethason 2–4 mg morgens) als auch die Gabe von Lachsölkapseln empfohlen [7]. Stärker umstritten sind der Einsatz von Cannabinoiden sowie die Gabe von Megestat. Beides sind Off-label-Anwendungen mit erheblichem Nebenwirkungspotenzial (Megestat: z. B. Thromboserisiko, Cannabinoide: psychotrope Effekte) und nicht immer gesicherter Kostenübernahme bei hohen Preisen.

Sicher ist man sich heute, dass die über Mangelzustände hin-ausgehende Gabe von Vitaminen oder Spurenelementen nichts nützt. Im Gegenteil zeigen Untersuchungen, dass die Einnahme von Multivitaminpräparaten das Krebsrisiko erhöhte, die Ein-nahme verschiedenster Einzelvitamine die Mortalität steigerte und die hochdosierte Gabe von Vitamin C und anderen Anti-oxidanzien das Ansprechen auf eine Chemotherapie minderte [8]. Ebenso waren Ghrelin, Wachstumshormone, Thalidomid, Testosteron und viele weitere Substanzen nicht effektiv.

Nahrungsanreicherung und ZusatznahrungDie Anreicherung der Lieblingsspeisen und Getränke mit ge-schmacksneutralen Nährstoffpudern kann hilfreich sein. Da-neben kann man „Fingerfood“ als Zwischenmahlzeit anbieten. Es besteht hohe Evidenz, dass die Verabreichung supportiver Trinknahrung die Mortalität, Morbidität, Komplikationsraten sowie Krankenhausverweildauer reduziert. Wichtig ist, dass diese zwischen den normalen Mahlzeiten angeboten werden und nicht als Mahlzeitenersatz dienen.

Künstliche ErnährungDie Evidenz für die künstliche Ernährung ist – abgesehen von Passagehindernissen, Resorptionsstörungen oder Ileussituati-onen – marginal bis fehlend. Auf der Basis von Expertenemp-fehlungen gilt:— Kurzfristige enterale Ernährung sollte über eine nasale

Magensonde erfolgen.— Bei länger geplanter künstlicher Ernährung kommt die per-

kutane endoskopische Gastrostomie (PEG) zum Einsatz.— Bei gastralen Passagestörungen wird die perkutane endo-

skopische Jejunostomie (PEJ) angewendet.— Nur bei Versagen der enteralen Ernährung, wird die paren-

terale Ernährung empfohlen.

Intravenöse BehandlungenIntravenöse Behandlungen in der häuslichen Umgebung sind ebenfalls problematisch (Tab. 2). Hochosmolare Lösungen kön-nen nur zentralvenös verabreicht werden. Obgleich die Studien-lage niedrigere Infektionsraten bei Langzeitversorgung mit un-tertunnelten Zentralvenenkathetern (z.B. Hickman-Katheter) zeigt, spielen diese Katheter in der Praxis gegenüber den über-wiegend genutzten Portsystemen nur eine untergeordnete Rolle.

Subkutane InfusionDie subkutane Infusion wurde erstmals 1865 beschrieben und zur Behandlung der Cholera eingesetzt [9]. Sie wurde umfang-

reich zur Hydratation eingesetzt, grundsätzlich ist aber sogar eine parenterale Ernährung möglich [10]. In einer aktuellen Studie zeigte sich die subkutane Infusion in Bezug auf schwe-rere Lokalprobleme der intravenösen Route nicht unterlegen, sie wurde von den Patienten sogar besser toleriert. Maximal sollten 2.000  ml/Tag infundiert werden, die Schwerkraft-infusion vermeidet schwerere Ödembildung gegenüber Infusi-onspumpen. 500 ml können aber durchaus auch in zwei Stun-den verabreicht werden. Osmolaritäten bis 845 mOsmol/l wur-den toleriert. Zur Vermeidung von Infektionen sollte die Nadel alle 24 Stunden gewechselt werden, gleichwohl sind auch län-gere Verweildauern insbesondere in der Palliativmedizin pub-liziert (bis zu 1 Woche).

Nebenwirkungen sind insbesondere lokale Ödeme, Schmer-zen, Eckchymosen und Infektionen. Nekrosen können bei hy-pertonen Infusionen (z.B. mit KCl) entstehen. Subkutane Infu-sionen sollten bei schwerer Dehydratation, im Schock, bei schweren Elektrolytstörungen, erniedrigter Hautdurchblutung, Hautinfektionen, Blutungsstörungen und generalisierten Öde-men nicht eingesetzt werden [11]. Die Nichtunterlegenheit der subkutanen Infusionen – abgesehen von der Notwendigkeit der Gabe großer Flüssigkeitsvolumina – zeigt auch ein Cochrane Review [12].

Indikationen zur enteralen ErnährungWährend die oben genannten Empfehlungen der Ernährungs-beratung und Supplementation auf eine gute wissenschaftliche Studienlage zurückgreifen, fußen die meisten Empfehlungen zur künstlichen Ernährung auf Expertenmeinungen und ih-nen folgende Leitlinien der Fachgesellschaften [13, 14]. Wissen-schaftliche Evidenz fehlt. Die gesicherten Indikationen für eine enterale Sondenernährung betreffen (vorübergehende) Schluckstörungen bei neurologischen Krankheitsbildern (ins-besondere Schlaganfälle, Hirntraumata, -tumoren, ALS) oder eine gestörte Passage im oberen Gastrointestinaltrakt (Mund-boden-, HNO-, Ösophagus-, Magenkarzinom).

Die langfristige Versorgung ist Gegenstand ethischer Kont-roversen: Galt die künstliche Ernährung lange Zeit als Stan-dard bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz, so wird sie heute von der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie als „nicht indiziert“ eingestuft [15]. Gleichwohl wird auch heute noch jede dritte PEG-Sonde bei einem Demenzbetroffenen gelegt.

Indikationen zur parenteralen ErnährungDie geringe Verbesserung der Überlebenszeit mit parenteraler Ernährung ging in einigen Studien mit häufigeren Infektionen, Überwässerung, Hyperkaliämie und Pankreatitis sowie häufi-gerer Hospitalisierung und schlechterer Lebensqualität einher [16]. Auch gibt es bei künstlicher Ernährung Hinweise auf ge-steigerte Tumorzellproliferation [17]. Dies alles widerspricht elementaren palliativmedizinischen Grundsätzen. Unstrittig besteht die Indikation bei Patienten mit postoperativen Prob-lemen, die eine enterale Ernährung ausschließen, wie bei Kurz-darmsyndrom, beim Ileus, bei Patienten mit schwerer Muko-sitis, schwerer Strahlenenteritis sowie im schweren Schock-zustand. Palliativmediziner S. Mercadante analysierte 750 Pa-tienten in stationärer Palliativversorgung. Nur 14 von ihnen

Schmerzmedizin 2017; 33 (3) 31

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wurden parenteral ernährt, 10 davon bei Darmverschluss. Über einen Vorteil der parenteralen Ernährung wird nicht berichtet, lediglich von einem „erwarteten Benefit“ oder „Ernährungsge­wohnheiten“ [18].

Ohne jegliche Evidenz wird dagegen die parenterale Ernäh­rung auch sonst sowohl von der deutschen [13] als auch von der aktuellen europäischen Leitlinie [14] empfohlen. Dies ist schon aus ethischen Gesichtspunkten bedenklich: So sind doch bei unklarem Nutzen und erwartbarem Schaden auch Aspekte der Gerechtigkeit bei einem solch hochpreisigen Verfahren beach­tenswert. Hier lohnt sich ein Blick in die Interessenkonflikte der Leitlinien. Während in der europäischen Leitlinie 25 Inte­ressenkonflikte bei 22 Autoren angegeben werden, heißt es in der unabhängigen Bewertung der deutschen Leitlinie (www.leitlinienwatch.de): „Diese Leitlinie zeigt mehrere Schwächen im Umgang mit Interessenkonflikten. Der Anteil an Autoren mit Interessenkonflikten ist hoch, gleichzeitig sind kaum An­strengungen zur Verringerung ihres möglichen Einflusses er­kennbar.“

Fazit für die PraxisMangelernährung ist ein „Dauerbrenner“ in der Palliativversor­gung. Beschwerden sind konsequent zu behandeln, eine Poly­medikation zu reduzieren. Viele Allgemeinmaßnahmen bei den Patienten sind hilfreich. Medikamentöse Maßnahmen helfen oft nur marginal, allenfalls niedrigdosiertes Dexamethason (20 Tage 2–4 mg morgens) und Lachsölkapseln aus der Drogerie. Die Ernährung sollte fett­ und eiweißreich sein, dies kann durch Ergänzung mittels Sahne, Cremes und Butter geschehen, hilf­reich sind aber auch geschmacksneutrale, proteinreiche Nah­rungssupplemente. Oft wird die zusätzliche Verordnung von Trink­ oder Zusatznahrung nach den Geschmacksvorlieben des Patienten unumgänglich sein. Es ist in der palliativen Situation sinnvoller, das lustvolle „Noch­Essen“ zu fördern, als den Pati­enten ständig zu drängen, mehr zu Essen oder „Kalorienziele und Trinkmengen“ zu erfüllen. Künstliche Ernährung dürfte bei intaktem Speiseweg nur selten wirklich indiziert sein, stets sollte eine individuelle Entscheidung getroffen werden, bei der die medizinische Indikation zu berücksichtigen ist. Zu beach­ten ist das Zitat von Cicely Saunders: „Menschen sterben nicht, weil sie nicht essen, sondern sie essen nicht, weil sie sterben“.

Dr. med. Matthias Thöns Facharzt für Anästhesiologie, Notfall-, Schmerz- und Palliativmedizin Palliativnetz Witten e.V.Wiesenstraße 14, 58452 [email protected]

Dr. med. Boris HaitFacharzt für Anästhesiologie, Intensiv- und Not-fallmedizin, Palliativmedizin Leitender Oberarzt PalliativmedizinPalliativzentrum UnnaKatharinen-Hospital GmbHObere Husemannstr. 2, 59423 Unna

Literatur

1. Faber G et al. Krebs und Ernährung. Der Onkologe 2011;(17):906–122. Löser C. Unter- und Mangelernährung. Thieme, Stuttgart, 20113. Pirlich M et al. The German hospital malnutrition study. Clin Nutr

2006;25(4):563–724. van Oorschot B, Ruellan A, Lordick F. Arbeitsgemeinschaft Palliativme-

dizin der Deutschen Krebsgesellschaft (APM). Choosing wisely – Klug entscheiden bei Tumorpatienten. Forum 2016;(31):237–40

5. Baumann F, Jäger W, Bloch E. Sport und körperliche Aktivität in der On-kologie. Springer, Berlin Heidelberg New York; 2012

6. Volkert D et al. ESPEN Guidelines on Enteral Nutrition: Geriatrics. Clin Nutr 2006;25(2):330–60

7. Ries A et al. A systematic review on the role of fish oil for the treatment of cachexia in advanced cancer: An EPCRC cachexia guidelines project. Palliat Med 2012;26(4):294–304

8. Vastag B. Nutrients for Prevention: Negative Trials Send Researchers Back to Drawing Board. J Natl Cancer Inst. 2009;101(7):446–8, 451

9. Dall’Olio G. Epidemia di colera asiatico del 1886 a Venezia. Esperienze di cura con l’ipodermoclisi. RIMeL IJLaM. 2009;5:227–32; http://www.sipmel.it/it/riviste/articolopdf.php/102086

10. Zaloga GP et al. Safety and efficacy of subcutaneous parenteral nutriti-on in older patients: a prospective randomized multicenter clinical tri-al. JPEN J Parenter Enteral Nutr 2016 Feb 17

11. Caccialanza R et al. Subcutaneous Infusion of Fluids for Hydration or Nutrition: A Review. JPEN J Parenter Enteral Nutr 2016 Nov 2.

12. Ker K et al. Comparison of routes for achieving parenteral access with a focus on the management of patients with Ebola virus disease. Cochrane Database Syst Rev 2015;(2):CD011386

13. Arends J et al. S3 Leitlinie: Klinische Ernährung in der Onkologie. Aktu-el Ernahrungsmed 2015;40:e1–e74

14. Arends J et al. ESPEN guidelines on nutrition in cancer patients. Clin Nutr 2017;36(1):11–48

15. Gogol M. Klug entscheiden: . . . in der Geriatrie. Dtsch Arztebl 2016; 113(40): A-1756/B-1481/C-1473

16. Thöns, M, Sitte T: Repetitorium Palliativmedizin. 2. Aufl. Springer-Verlag Berlin Heidelberg, 2016

17. Bozzetti F, Mori V. Nutritional support and tumour growth in humans: a narrative review of the literature. Clin Nutr 2009;28(3):226–30

18. Mercadante S et al. Frequency and Indications of Parenteral Nutrition in an Acute Palliative Care. Nutr Cancer 2015;67(6):1010–3

InteressenkonfliktDie Autoren erklären, dass sie sich bei der Erstellung des Beitrages von keinen wirtschaftlichen Interessen leiten ließen und dass keine poten-ziellen Interessenkonflikte vorliegen. B. Hait erklärt Vortragstätigkeit für Prostrakan und Mundipharma. Der Verlag erklärt, dass die inhaltli-che Qualität des Beitrags von zwei unabhängigen Gutachtern geprüft wurde. Werbung in dieser Zeitschriftenausgabe hat keinen Bezug zur CME-Fortbildung. Der Verlag garantiert, dass die CME-Fortbildung so-wie die CME-Fragen frei sind von werblichen Aussagen und keinerlei Produktempfehlungen enthalten. Dies gilt insbesondere für Präparate, die zur Therapie des dargestellten Krankheitsbildes geeignet sind.

Zertif izierte Fortbildung Mangelernährung

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CME.SpringerMedizin.de

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Teilnehmen und Punkte sammeln können Sie

• als e.Med-Abonnent von springermedizin.de• als registrierter Abonnent dieser Fachzeitschrift• als Mitglied der DGS e.V., der DAGST e.V. und dem Berufsverband

der Palliativmediziner in Westfalen-Lippe e.V.

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Dieser CME-Kurs wurde von der Baye-rischen Landesärztekammer mit zwei Punkten in der Kategorie I zur zertifi-zierten Fortbildung freigegeben und ist damit auch für andere Ärztekam-mern anerkennungsfähig.

Bei inhaltlichen Fragen erhalten Sie beim Kurs auf CME.SpringerMedizin.de tutorielle Unterstüt-zung. Bei technischen Problemen erreichen Sie unseren Kundenservice kostenfrei unter der Nummer (0800) 77 80 777 oder per Mail unter [email protected].

CME-FragebogenErnährungsmedizinische Aspekte in der Palliativversorgung

? Was gilt als zweithäufigste Todes­ursache bei Tumorpatienten?

◯ Sepsis ◯ Kachexie ◯ Paraneoplastische Hämostasestörungen ◯ Dekompensierte respiratorische Insuffi-

zienz ◯ Nierenversagen

? Die Ursachen der Anorexie sind multi­faktoriell. Welcher Faktor spielt wahr­scheinlich keine Rolle?

◯ Stress ◯ Entzündung und Sepsis ◯ Tumormetabolismus ◯ Depressive Stimmungslage ◯ Angemessene körperliche Betätigung

? Was gehört nicht zu „schlechten Essensumständen“?

◯ Unattraktive Speisenzubereitung ◯ Einnahme von vielen Medikamenten

zum Essen ◯ Essen in Gemeinschaft ◯ Vereinsamung des Patienten ◯ Unappetitliche Speisenzubereitung

? Wodurch kann eine Behinderung der Nahrungsaufnahme entstehen?

◯ Wiederherstellung der Passage im oberen Magen-Darm-Trakt

◯ Regelmäßige Einnahme von Appetit-anregern

◯ Malabsorbtion ◯ Hoher Energiebedarf ◯ Zubereitung von pürierten Speisen

? Welche Symptome/Besonderheiten weisen Patienten mit Mangelernäh­rung laut aktueller Studien auf?

◯ Erhöhung des Albuminspiegels im Serum

◯ Häufige Kopfschmerzen ◯ Verlängerung der Aufwachphase nach

dem Nachtschlaf ◯ Reizdarmsyndrom ◯ Erhöhte Mortalität

? Maldigestion gehört zu Aufnahme­störungen. Wodurch entsteht sie nicht?

◯ Verlust der Gallensäuren ◯ Operationen im Magen-Darm-Trakt ◯ Vegetarische Kost ◯ Bakterielle Fehlbesiedlung ◯ Pankreasinsuffizienz nach abdominalen

Operationen

? Die konsequente Behandlung wel­chen Symptoms kann zur verbes­serten Ernährungssituation beitra­gen?

◯ Obstipation ◯ Sehstörungen ◯ Erhöhter Blutdruck ◯ Periphere Ödeme ◯ Knacken in den Gelenken

? Viele Medikamente mindern den Ap­petit, verändern den Geschmack oder führen zu Übelkeit. Deshalb soll die Dauermedikation kritisch überprüft werden. Auf welche Medikamente

darf in der fortgeschrittenen Krank­heitssituation nicht verzichtet wer­den?

◯ Statine ◯ Antikoagulantien ◯ Digitalispräparate ◯ Magenschutzmittel ◯ Opioide

? Welche der Aussage bezüglich der Ernährungsberatung bei Tumor­kachexie trifft zu?

◯ Übliche Diätempfehlungen sind einzu-halten.

◯ Fettreiche Speisen sind zu vermeiden. ◯ Mit eiweißreicher Diät ernährt man

nicht den Patienten, sondern den Tu-mor.

◯ Bei einer grundsätzlichen Wunschkost-empfehlung sind Speisen durch Anrei-cherung mit Cremes, Sahne, Öl oder Butter energetisch optimierbar.

◯ Ein ansprechendes Ambiente mit höherwertigem Geschirr spielt keine Rolle bei den Maßnahmen zu Optimie-rung der Ernährung.

? In welcher Situation ist künstliche (par­enterale) Ernährung nicht indiziert?

◯ Resorptionsstörungen oder Ileus-situationen

◯ Bei Passagebehinderung im GI-Trakt ◯ Grundsätzlich bei Nahrungsverweige-

rung ◯ Bei schwerer Strahlenenteritis ◯ Nach großen Darmeingriffen

Schmerzmedizin 2017; 33 (3) 33

Page 29: Angewandte Schmerztherapie und Palliativmedizin · dabei diagnostische Verfahren wie EKG, EMG und EEG, aber auch Messgeräte zur Bestimmung der elektrodermalen Aktivität (EDA). Gesichtsausdruck

Cannabinoide

Vom Hanf zum Arzneimittel – eine lange ReiseThomas Henze, Regensburg

Das neue Cannabisgesetz, das Anfang 2017 in Kraft trat, ist in aller Munde. Damit soll sich die Verschreibung von cannabinoidhaltigen Arzneien und Cannabisblüten nun einfacher gestalten, bis hierhin war es allerdings ein weiter Weg.

D ie Diskussion um das vor weni-gen Wochen im Bundestag ein-stimmig verabschiedete Canna-

bisgesetz lenkt die Aufmerksamkeit er-neut auf die Cannabinoide, die Inhalts-stoffe der Cannabispflanzen. Diese Stoffgruppe ist in den vergangenen Jah-ren intensiv wissenschaftlich untersucht worden und mittlerweile ist klar, dass dem menschlichen Körper zugeführte Cannabisinhaltsstoffe nur wirken, weil dieser selbst über ein komplexes Endo-cannabinoidsystem verfügt, welches in zahlreiche komplexe physiologische und pathophysiologische Prozesse eingebun-den ist. Auch die Ursachen positiver und negativer Wirkungen von Cannabinoi-

den sind durch diese Erkenntnisse deut-lich klarer geworden. Durch die umfas-senden Untersuchungen mit cannabio-nidhaltigen Arzneimitteln gelingt es mittlerweile, deren therapeutischen Nutzen Patienten mit unterschiedlichen Symptomen, Erkrankungen und Beein-trächtigungen zugutekommen zu lassen.

Die Geschichte der HanfpflanzeDie Hanfpflanze ist sicher eine der ältes-ten Kulturpflanzen. Sie wurde zunächst in Asien angebaut, verbreitete sich aber später auch in der westlichen Welt. Die Hanffasern dienten als Rohstoff für Stof-fe, Seile und Papier (u.a. Druck der Gu-tenberg-Bibel auf Hanfpapier), während

ihre Extrakte als Heilmittel sowie als Genussmittel genutzt wurden. Dies ist unter anderem in einer der heiligen Textsammlungen des Hinduismus be-schrieben („Heiliger Pflanzenextrakt“, Atharvaveda, 1.440 v. Chr.).

Als Heilmittel war Cannabis in den westlichen Ländern allerdings erst ab dem 19. Jahrhundert in Gebrauch, zum Beispiel bei Schlafstörungen, Schmerzen, Rheumatismus, Depression und Psycho-sen sowie als Aphrodisiakum. Nachdem Cannabis 1929 vom deutschen Reichstag im Rahmen des geänderten Opiumge-setzes endgültig verboten wurde (jedoch in Apotheken weiterhin erhältlich war), nahm auch seine Bedeutung als Heilmit-tel stark ab.

Entdeckung der EndocannabinoideErst seit wenigen Jahrzehnten werden die wesentlichen Inhaltsstoffe der Can-nabispflanze, die Cannabinoide, konse-quent wissenschaftlich untersucht [1, 2].

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Mit dem neuen Gesetz zur Kosten-übernahme bei Cannabinoid- haltigen Arzneien, dürfen nun auch Cannabis-Blüten verschrieben werden.

34 Schmerzmedizin 2017; 33 (3)

Fortbildung

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Wichtige Meilensteine waren dabei 1964 die chemische Identifizierung von Tetra­hydrocannabinol (THC) als wichtigstes Cannabinoid [3], 1990 die Entdeckung des Cannabinoid­1­(CB1)­Rezeptors [4] sowie 1993 des CB2­Rezeptors [5]. 1992 wurde folgerichtig mit Anandamid ein körpereigenes Cannabinoid (Endocan­nabinoid) beschrieben [6]. 1994 erfolgte die Entwicklung des ersten CB1­Rezep­torblockers Rimonabant [7], der zur Raucherentwöhnung vorgesehen war. In Deutschland wurde Rimonabant zwi­schen 2006 und 2008 jedoch als Appetit­zügler genutzt, bevor die Substanz vor allem aufgrund von psychiatrischen Ne­benwirkungen wieder vom Markt ge­nommen wurde.

1999/2000 erfolgte die Charakterisie­rung von transgenen Mäusen, denen der CB1/CB2­Rezeptor fehlt [8]. In den fol­genden Jahren wurde immer deutlicher, welch große Rolle Endocannabinoide bei der Regulation der Signalübertra­gung und vielen weiteren physiologi­schen Prozessen spielen, unter anderem auch bei den Mechanismen, die psychi­atrischen Erkrankungen zugrunde lie­gen [9].

CB1­Rezeptoren sind überwiegend im Gehirn lokalisiert (z.B. Basalganglien, Cerebellum, Hippocampus, Hirnrinde, Nucleus accumbens, weniger ausgeprägt in der Amygdala, Rückenmark, Hirn­stamm etc.), CB2­Rezeptoren finden sich vermehrt in der Milz und im häma­topoietischen System. Aufgrund dieser Verteilung wirken Cannabinoide und ihre Rezeptoren auf die Bewegungskon­trolle und Bewegungskoordination, das Lernen und andere kognitive Funktio­nen, die Modulation von Emotionen, die Vermittlung sensorischer Reize, die Re­gulation von Wachheit und Körpertem­peratur sowie auf die Entstehung von Übelkeit und Erbrechen [10].

Mehr als 60 PhytocannabinoideDie Phytocannabinoide THC (Abb. 1) und Cannabidiol (CBD) ahmen den Wirkmechanismus von Endocannabi­noiden nach und modulieren vor allem die Freisetzung von Neurotransmittern. THC ist ein partieller Agonist der CB1­ und CB2­Rezeptoren, CBD hat geringe­re Affinitäten für beide Rezeptoren. Ne­ben diesen beiden Cannabinoiden ent­

halten Hanfgewächse insgesamt mehr als 60 verschiedene Cannabinoide sowie zahlreiche weitere Substanzen.

Die Wirkungen von THC sind analge­tisch, antiemetisch, appetitanregend, muskelrelaxierend und „psychoaktiv“:— Steigerung der Stimmung— Euphorie— erhöhtes Kommunikationsbedürfnis — gegebenenfalls veränderte Wahrneh­

mung vor allem akustischer und opti­scher Reize

— gegebenenfalls Auslösung einer Psy­chose [11]

CBD hingegen hat neben seiner – im Vergleich zu THC etwas geringeren – an­algetischen Wirkung auch antikonvulsi­ve, neuroprotektive und anxiolytische Komponenten. Durch seine zusätzliche

„antipsychotische“ Wirkung kann CBD vermutlich den psychoaktiven Effekten des THC entgegenwirken [12].

Cannabinoidhaltige ArzneimittelDiese können in natürliche sowie in (teil­)synthetische Cannabinoide einge­teilt werden. Zu den natürlichen Canna­binoiden gehören:— Nabiximols ( , ein 1 : 1­Ge­

misch aus THC und CBD, welches als oromukosales Spray eingesetzt wird und in Deutschland zur Behandlung der Multiple Sklerose (MS)­bedingten Spastik (wenn diese durch andere Anti spastika nicht ausreichend ver­ringert werden kann) zugelassen ist. Es kann auf einem Betäubungsmittel­(BTM)­Rezept verordnet und von den

Krankenkassen erstattet werden.— Cannabisblütensorten (z. B.

), welche überwiegend THC und CBD aber auch andere Cannabinoide in nicht klar definierten Konzentrati­onen sowie zahlreiche Terpene enthal­ten. Diese Cannabisblüten waren bis­lang in Deutschland nicht zugelassen, können aber seit März 2017 (mit In­krafttreten des neuen Cannabisgeset­zes) verordnet und aus dem Ausland bezogen werden. Die Kosten müssen nach vorheriger Genehmigung durch den Medizinischen Dienst der Kran­kenkassen (MDK) von den Kranken­kassen erstattet werden.

— welches reines THC enthält und in Deutschland nicht zugelassen ist.

Zu den (teil­)synthetischen Cannabino­iden zählen Dronabinol­Tropfen (

und Nabilon ( . und ind vorwiegend

in den USA und Großbritannien erhält­lich und in Deutschland offiziell nicht zugelassen. hingegen ist hier seit Januar 2017 wieder zugelassen und kann zur Behandlung von Übelkeit und Erbrechen unter Chemotherapie bei Tu­morerkrankungen eingesetzt werden, wenn andere Medikamente nicht ausrei­chend wirksam sind.

Therapeutische IndikationenMit den wissenschaftlichen Fortschrit­ten wuchs auch das Wissen um mögli­che therapeutische Ansätze mit canna­binoidhaltigen Arzneien, sodass rando­misierte Studien in wachsender Zahl durchgeführt wurden. Indikationen sind vor allem die Spastik bei MS, neu­ropathische und Tumorschmerzen, Übelkeit und Erbrechen unter Chemo­therapie, sowie die Appetitlosigkeit bei HIV­Patienten [13]. Das therapeutische Potenzial von THC und CBD wird aber

Abb. 1: Molekülstruktur von Tetrahydrocannabinol

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Schmerzmedizin 2017; 33 (3) 35

Page 31: Angewandte Schmerztherapie und Palliativmedizin · dabei diagnostische Verfahren wie EKG, EMG und EEG, aber auch Messgeräte zur Bestimmung der elektrodermalen Aktivität (EDA). Gesichtsausdruck

auch bei der Tic-Störung beim Tourette-Syndrom, bei Psychosen, Depressionen, Schlafstörungen, weiteren MS-Sympto-men, extrapyramidalen Bewegungsstö-rungen, der Epilepsie sowie beim Glau-kom in zahlreichen Therapiestudien überprüft. Bei der Auswahl dieser Indi-kationen waren nicht nur die aktuellen

wissenschaftlichen Erkenntnisse, son-dern auch die Rückbesinnung auf frühe-re Behandlungsansätze in China, Indien, Ägypten, Griechenland oder Arabien re-levant [14].

Bisherige StudienDie Vielzahl bisher durchgeführter Stu-dien belegt ebenso wie mehrere Meta-analysen und Reviews die systematische Erforschung des therapeutischen Poten-zials von THC und CBD. In einer jüngst publizierten Metaanalyse wurden 79 randomisierte Studien von 1975 bis 2015 auf die Wirkung der beiden Cannabino-ide im Vergleich zu einer entsprechen-den Standardtherapie, zu Placebo oder keiner Behandlung untersucht. Indika-tionen waren die zytostatikabedingte Übelkeit, chronische Schmerzen, Spas-tik bei MS und nach Querschnittsverlet-zungen des Rückenmarks, Appetitlosig-keit bei HIV/AIDS, Schlafstörungen, Psychosen, das Tourette-Syndrom und weitere Indikationen [13]. Auch in der Metaanalyse der nordamerikanischen Akademie für Neurologie (AAN) wur-den systematisch die Wirkungen eines oralen Cannabisextraktes mit festen An-teilen von THC und CBD, von Nabixi-mols sowie von THC alleine bei MS-be-dingter Spastik, zentralem neuropathi-

schen Schmerz und schmerzhaften Spasmen sowie der Blasendysfunktion bei MS untersucht und detailliert bewer-tet [15]. Des Weiteren erfolgten in der Cochrane Library Bewertungen der Wirkung verschiedener Cannabinoide auf die Fibromyalgie, das Zytostatika-in-duzierte Erbrechen, die Schizophrenie, die Epilepsie, die Anorexie bei HIV/AIDS sowie bei Cannabis-bedingten Er-krankungen („Cannabis use disorder: Cannabismissbrauch und -abhängig-keit) [16, 17, 18, 19, 20, 21].

In den genannten Metaanalysen wur-de unter anderem für die Therapie der Spastik, für neuropathische Schmerzen sowie für die Übelkeit während zytosta-tischer Behandlung eine Wirksamkeit der Fertigarzneimittel festgestellt, wäh-rend die Evidenz bei anderen Indikatio-nen eher gering war oder ganz fehlte.

Zur Spastik bei MS wurde kürzlich eine weitere Metaanalyse publiziert, die zu dem Ergebnis kam, dass für Patienten mit andauernder moderater bis schwerer MS-bedingter Spastik das Nabiximols-Spray eine wirksame Behandlungsopti-on darstellt. Die Wirksamkeit wurde in randomisierten kontrollierten klini-schen Studien und in Beobachtungsstu-dien belegt. Das Spray zeigt eine Verrin-gerung der Spastik zusammen mit einer Verbesserung der täglichen Aktivitäten und der Lebensqualität bei Patienten, bei denen vorherige konventionelle Therapi-en keine ausreichende Wirkung gezeigt hatten [22].

Bewertung der Arzneimittel Nabiximols, , Dronabinol-Tropfen und Nabilon enthalten definier-te Mengen an THC und CBD oder THC allein, somit ist die Konzentration dieser Cannabinoide in jeder (Teil-)Dosis be-kannt und identisch. Bei Cannabisblü-ten, die durch das neue Cannabisgesetz zugänglich gemacht werden, sind eben-falls THC und CBD enthalten, jedoch sind die Cannabinoidmengen nur mäßig standardisiert und es kommt damit zu schwankenden Konzentrationen [23] (Tab. 1). Außerdem beinhalten die Blü-ten weitere Cannabinoide in ebenfalls schwankenden Konzentrationen sowie zahlreiche Terpene (Tab. 2).

Zu bedenken sind auch einige phar-makokinetische Erkenntnisse. So steigt

Tab. 1: Verschreibungsfähige Sorten von Cannabisblüten nach [23]

Blütensorte Tetrahydrocannabinol-Gehalt Cannabidiol-Gehalt

Bedrocan 22 % bis zu 1 %

Bedrobinol 13,5 % bis zu 1 %

Bedica granuliert 14 % Bis zu 1 %

Bediol granuliert 6,3 % 8 %

Bedrolite granuliert bis zu 1 % 9 %

Princeton (MCTK007) 16,5 % bis zu 0,05 %

Houndstooth (MCTK001) 13,5 % bis zu 0,05 %

Penelope (MCTK002) 6,7 % bis zu 10,2 %

Argyle (MCTK005) 5,4 % 7 %

Pedanios 22/1 22 % bis zu 1 %

Pedanios 18/1 18 % bis zu 1 %

Pedanios 16/1 16 % bis zu 1 %

Pedanios 14/1 14 % bis zu 1 %

Pedanios 8/8 8 % 8 %

Tab. 2: Zusammensetzung der Cannabisblütensorte „Bedrocan“

Anteil in %

Tetrahydrocannabinol (THC) 8–23

Cannabidiol (CBD) 0,03–0,2

Cannabinol (CBN) 0,0–0,03

Cannabigerol (CBG) 0,6–2,2

TH-Cannabivarin (THCV) 0,0–0,3

Cannabichromen (CBC) 0,01–0,12

Linalool (Terpen) 0–0,05

Beta-Mycren (Terpen) 0,1–0,3

Alpha-Pinen (Terpen) 0–1,0

D-Limonen (Terpen) 0–0,9

Beta-Caryophyllen (Terpen) 0,01–0,4

Quelle: http://news.doccheck.com/de

Fortbildung Vom Hanf zum Arzneimittel

36 Schmerzmedizin 2017; 33 (3)

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die THC-Konzentration im Blut bei ge-rauchtem Cannabis innerhalb weniger Minuten sehr stark an (30-mal höher als nach Nabiximols) und fällt ebenso rasch wieder stark ab, während sie nach regel-mäßiger Verwendung von acht Sprüh-stößen Nabiximols-Spray nur gering an-steigt und ebenso langsam zurückgeht. Dies dürfte ein relevanter Vorteil hin-sichtlich der Vermeidung unerwünsch-ter, insbesondere psychoaktiver Wir-kungen von THC sein [24].

Eine beim einzelnen Patienten indivi-duell reproduzierbare Wirkung ist daher zwar mit den definierten Einzelsubstan-zen in den Fertigarzneimitteln, nicht je-doch mit den Blütensorten zu erwarten. Wissenschaftliche Studien, die nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin durchgeführt wurden, sind nur für die Fertigarzneimittel, nicht jedoch für ein-zelne Blütensorten publiziert. Die Zulas-sungskriterien, die das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) auf der Grundlage des § 21 Arz-neimittelgesetz zum Nachweis der Wirk-samkeit, der Unbedenklichkeit und der erforderlichen pharmazeutischen Qua-lität aufgestellt hat, können damit von den Cannabisblüten nur schwer erfüllt werden. Zu den notwendigen Zulas-sungsunterlagen, die ein Pharmaunter-nehmen vorlegen muss, gehören um-fangreiche analytische, pharmakolo-gisch-toxikologische und klinische Prü-fungen, Sachverständigengutachten, Fachinformationen, Kennzeichnungs-texte, Angaben zu Packungsgrößen so-wie zu dem geplanten Pharmakovigi-lanz- und Risikomanagement-System (http://www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/zul/zulassungsverfahren/_node.html).

Lediglich für die in Deutschland zu-gelassenen und verkehrsfähigen Fertig-arzneimittel, nicht jedoch für Cannabis-blütensorten liegen solche umfangreiche Daten unter anderem zur Sicherheit und Verträglichkeit vor.

Fazit für die PraxisCannabis wurde bereits in vorchristli-cher Zeit als Heilmittel verwendet. Erst in den vergangenen Jahren konnten al-lerdings wesentliche Erkenntnisse zum körpereigenen Endocannabinoidsystem und der potenziellen therapeutischen Wirkung gewonnen werden. Grundlage

hierfür waren vor allem zahlreiche evi-denzbasierte Therapiestudien mit Arz-neimitteln mit exakt definiertem Can-nabinoidgehalt. Die ab sofort verschrei-bungsfähigen Cannabisblütensorten enthalten demgegenüber keine exakten Konzentrationen an Cannabinoiden. Neben den wichtigsten Stoffen THC und CBD beinhalten sie auch weitere Canna-binoide und zahlreiche Terpene sowie zusätzliche Inhaltsstoffe, so dass diese Blütensorten die Anforderungen, die an sämtliche anderen Medikamente und deren Zulassung hinsichtlich analyti-scher, pharmakologisch-toxikologischer und klinischer Prüfungen sowie der Pharmakovigilanz gestellt werden, nicht erfüllen. Dies ist sowohl aus medizi-nisch-wissenschaftlicher als auch aus ärztlicher Sicht schwer nachvollziehbar. Unabhängig hiervon handelt es sich bei den Cannabinoiden aber um eine außer-ordentlich wichtige Substanzgruppe, die aufgrund ihrer vielfältigen Wirkungen, insbesondere in Strukturen und Regel-kreisen des zentralen Nervensystems auch zukünftig großes therapeutisches Potenzial verspricht.

Prof. Dr. med. Thomas HenzePraxisgemeinschaft für Neurologie, Psychiatrie und PsychotherapieGünzstr. 193059 RegensburgE-Mail: [email protected]

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peutic use: what is our current understan-ding following the introduction of THC, THC:CBD oromucosal spray and others? Expert Rev Clin Pharmacol 2017;10(4):443–55

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Schmerzmedizin 2017; 33 (3) 37

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Im Auftrag de Schmerzfreiheit

Die wichtigsten Ziele de DGS:

— Förderung der Schmerzmedizin in Forschung und Lehre

— Entwicklung von Standards für die Aus-, Fort- und Weit rbildung in Schmerzmedizin

— Entwicklung von Qualitätsstandards in der Schmerzmedizin

— Weiterbildung auf allen Gebieten der Schmerzdiagnostik und -therapie

— Qualitative u d quantitative Verbes-ser ng der schmerzmedizinischen Patientenversorgung

— Förderung der palliativmedizini-schen Versorgung

— Aufbau eines nationalen und inter-nationalen Netzwerk s Schmerz-medizin

— Versorgungsforschung im Bereich der Schmerzmedizin

— Gründung regionaler Schmerz-zentren und Schmerzkonferenzen

— Wissenschaftliche und fachliche Beratung u d Unterstützung von Ärzten, Psychologen und allen Berufsgruppen in der Patienten-versorgung

— Wissenschaftliche und fachliche Beratung von öffentlich-rechtlichen Körperschaften, Kostenträgern, Politik und Öffentlichkeit

— Flächendeckende schmerzmedizini-sche Versorgung durch Etablierung eines Facharztes für Schmerzmedizin

Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V.

Geschäftsstelle: Heike Ahrendt Lennéstraße 9, 10785 BerlinTelefon: 030 8562188 - 0 Fax: 030 22185342 E-Mail: heike.ahrendt@ dgschmerzmedizin.de

Vorstand:Dr. med. Gerhard H. H. Müller-Schwefe (Präsident) Dr. med. Oliver Emrich (Vizepräsident) Dr. med. Johannes Horlemann (Vizepräsident) Klaus H. Längler (Vizepräsident) Dr. PD Dr. med. Michael A. Überall (Vizepräsident)

www.dgschmerzmedizin.de

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ww dgschmerzmedizin.de

Spezialisierte Ambulante Schmerzmedizinische Versorgung

Zehn-Punkte-Plan für eine SASV

Die Etablierung eines Facharztes für Schmerzmedizin scheitert weiter-hin an Partikularinteressen. Eine bessere Versorgung von Patienten mit chronischen Schmerzen darf aber nicht scheitern. Die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) e.V. schlägt daher die „Speziali-sierte Ambulante Schmerzmedizinische Versorgung“ (SASV) als neue Versorgungsstruktur vor.

S tellen Sie sich vor, Sie erleiden eine Unterarmfraktur und die nächste für Sie erreichbare Behandlungs-

möglichkeit ist über 100 km entfernt. Darüber hinaus besteht dort eine War-tezeit von über einem Jahr für einen Be-handlungstermin. Würden Sie diese Si-tuation in einem Land mit einem der besten Gesundheitssysteme weltweit ak-zeptieren?

In einer vergleichbaren Situation fin-den sich 3,4 Millionen Patienten mit schwersten problematischen Schmerz-krankheiten in Deutschland. Die hier-zulande übliche Sicherstellung der am-bulanten Versorgung – basierend auf ei-ner Bedarfsplanung – greift bis heute nicht für die Schmerzmedizin, da diese sich an Fachgebieten orientiert – ein Sta-tus, der der Schmerzmedizin weiterhin verwehrt ist, – da jedes klinische Fach-gebiet sich berufen fühlt, Patienten mit chronischen Schmerzen qualifiziert zu behandeln.

Die Konsequenz: Statt abzunehmen steigt die Zahl der betroffenen Patienten von Jahr zu Jahr an. Notwendige – oft multiprofessionelle – Frühintervention unterbleibt, auf die Bedürfnisse von Pa-tienten mit chronifizierten Schmerzen zugeschnittene Behandlungskonzepte sind, wenn überhaupt, oft nur mit gro-ßer zeitlicher Verzögerung und wohn-ortfern verfügbar.

Stillstand statt FortschrittSeit der Schaffung der fachgebietsbezo-genen Zusatzbezeichnung „Spezielle Schmerztherapie“ 1996 und Übernahme der von der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) e.V. (damals STK) mit einzelnen Krankenkassen zu-vor getroffenen Qualitätssicherungsver-einbarungen in den EBM 2005, gibt es nicht nur einen Stillstand, sondern eher Rückschritte in der schmerzmedizini-schen Versorgung. Daran ändert auch das „Querschnittsfach Schmerzmedizin“

– seit 2016 obligater Bestandteil des zwei-ten ärztlichen Prüfungsabschnittes – nur wenig, da der Lehr- und Prüfungs-umfang in keiner Weise den Herausfor-derungen gerecht wird, denen sich die zukünftigen Ärzte gegenüber sehen wer-

Im Auftrag der Schmerzfreiheit

Die wichtigsten Ziele der DGS:

— Förderung der Schmerzmedizin in Forschung und Lehre

— Entwicklung von Standards für die Aus-, Fort- und Weiterbildung in Schmerzmedizin

— Entwicklung von Qualitätsstandards in der Schmerzmedizin

— Weiterbildung auf allen Gebieten der Schmerzdiagnostik und -therapie

— Qualitative und quantitative Verbes-serung der schmerzmedizinischen Patientenversorgung

— Förderung der palliativmedizini-schen Versorgung

— Aufbau eines nationalen und inter-nationalen Netzwerkes Schmerz-medizin

— Versorgungsforschung im Bereich der Schmerzmedizin

— Gründung regionaler Schmerz-zentren und Schmerzkonferenzen

— Wissenschaftliche und fachliche Beratung und Unterstützung von Ärzten, Psychologen und allen Berufsgruppen in der Patienten-versorgung

— Wissenschaftliche und fachliche Beratung von öffentlich-rechtlichen Körperschaften, Kostenträgern, Politik und Öffentlichkeit

— Flächendeckende schmerzmedizini-sche Versorgung durch Etablierung eines Facharztes für Schmerzmedizin

Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V.

Geschäftsstelle: Heike Ahrendt Lennéstraße 9, 10785 BerlinTelefon: 030 8562188 - 0 Fax: 030 22185342 E-Mail: heike.ahrendt@ dgschmerzmedizin.de

Vorstand:Dr. med. Gerhard H. H. Müller-Schwefe (Präsident) Dr. med. Oliver Emrich (Vizepräsident) Dr. med. Johannes Horlemann (Vizepräsident) Klaus H. Längler (Vizepräsident) Dr. med. Silvia Maurer (Vizepräsidentin) PD Dr. med. Michael A. Überall (Vizepräsident)

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„Die »Spezialisierte Am-bulante Schmerzmedi-zinische Versorgung« (SASV) eröffnet Pers-pektiven für eine besse-re Versorgung von Pati-enten mit chronischen Schmerzen.“

Dr. Gerhard H. H. Müller-Schwefe

Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V.

DGS Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V.

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den. Die von allen schmerzmedizini-schen Fachgesellschaften getragene For-derung nach dem Facharzt für Schmerz-medizin als Querschnittsfach hatte noch 2007 Eingang in die Ethik-Charta der Deutschen Schmerzgesellschaft (DGSS) gefunden, 2015 wurde sie auf dem Altar der Partikularinteressen der Fachgesell-schaften geopfert und ersatzlos gestri-chen.

Bedarfsplanung wäre möglichDie Bedarfsplanung-Richtlinie des Ge-meinsamen Bundesausschusses (zuletzt geändert am 16. Juni 2016) würde nach Abschnitt 8, §36 und § 37 (Sonderbedarf, Maßstäbe für zusätzliche lokale und qualifikationsbezogene Sonderbedarfs-feststellungen [Paragraf 101 Absatz 1 Nummer 3 SGB V]) durchaus eine an der fachgebietsbezogenen Zusatzbezeich-nung „Spezielle Schmerztherapie“ orien-tierte Bedarfsplanung ermöglichen. Bis heute ist dies allerdings in keiner einzi-gen Kassenärztlichen Vereinigung um-gesetzt. Darüber hinaus zeigt die Erfah-rung der letzten Jahre, dass die Proble-me von Patienten mit schweren chroni-schen Schmerzen, deren Krankheit sich nicht an die Grenzen der einzelnen Fachgebiete hält, nicht mit der fachge-bietsbezogenen Zusatzbezeichnung

„Spezielle Schmerztherapie“ gelöst wer-den können.

SASV – ein AuswegWelche Lösungsmöglichkeiten gibt es?— Versuche, die Existenz der „chroni-

schen Schmerzkrankheit“ als komple-xe bio-psycho-soziale eigenständige Erkrankung abzustreiten, stärken die Verfechter der Theorie, dass Patienten und ihre Erkrankungen sich gefälligst an die klassischen etablierten Fachge-biete zu halten haben.

— Die Einsicht, dass klinische Fachge-biete durch die Versorgungsnotwen-digkeit von Patienten und ihren Er-krankungen definiert sein sollten, lässt angesichts der komplexen Prob-leme von Patienten mit chronischen Schmerzen mit funktionell/orthopä-dischen, neurologischen, psychologi-schen/psychiatrischen und anästhesi-ologischen Aspekten die Forderung nach einem „Facharzt für Schmerz-medizin“ zwingend erscheinen, ein

Aspekt, der gerade den Anästhesisten – angesichts der Entstehung ihres ei-genen Fachgebiets – naheliegen sollte.

— Wenn eigentlich sinnvolle Lösungen (Facharzt für Schmerzmedizin) an Fachgebietspartikularinteressen schei-tern, müssen neue Versorgungsstruk-turen entstehen. Die „Spezialisierte Ambulante Schmerzmedizinische Versorgung“ (SASV) als neue Versor-gungsstruktur eröffnet Perspektiven für eine bessere Versorgung von Pati-enten mit chronischen Schmerzen.

Anforderungen an die SASVEin erster Zehn-Punkte-Plan beschreibt wichtige Aspekte der SASV. Um die Ver-sorgung zu verbessern muss das Ange-bot folgende Voraussetzungen erfüllen:1. Es muss flächendeckend, wohnort-

nah und ambulant zur Verfügung stehen.

2. Frühintervention und Prävention der Schmerzchronifizierung sind wichtige Ziele des Konzeptes, ebenso wie

3. effektives Übergabemanagement und zeitnaher Therapiebeginn für Patienten mit chronifizierten Schmerzen.

4. Ein „Pain Care Team“ sollte den spe-zialisierten Einzelkämpfer ersetzen. In diesem Team sind Kernkompe-tenzen und Strukturen zu fordern, wie etwa Hausarzt, Schmerzmedizin, Psychologie, Physiotherapie und algesiologische Fachassistenz.

5. Ein Netzmanagement, am besten durch eine algesiologische Fachassis-tenz mit erweiterter Qualifikation, ist erste Anlauf- und Koordinations-stelle.

6. Über verbindliche Kooperationen sind weitere Fachgebiete in das Netz einzubeziehen wie zum Beispiel Neurologie, Orthopädie, Chirurgie, Zahnmedizin, Sozialarbeit.

7. Für alle im Netz Beteiligten ist eine schmerzmedizinische Basisqualifi-kation zu fordern.

8. Eine verbindliche gemeinsame Do-kumentationsplattform ermöglicht Transparenz und Effizienz.

9. Adäquate, pauschalierte Vergütun-gen vermeiden Fehlanreize durch in-adäquate Einzelleistungsvergütung.

10. Für einzelne Patientengruppen müs-sen Therapieoptionen und Therapie-ziele definiert werden, um entspre-chend der notwendigen Ressourcen Honoraranteile der einzelnen Betei-ligten zu berechnen.

DGS als Schrittmacher In den letzten 30 Jahren war die Deut-sche Gesellschaft für Schmerzmedizin durch die Entwicklung von Definitionen und Standards, von Curricula und von Versorgungverträgen immer der Schritt-macher für eine bessere Versorgung von Patienten mit chronischen Schmerzen. Lassen Sie uns erneut gemeinsam auf-brechen zu einer neuen Versorgungsof-fensive, diskutieren Sie mit, bringen sie ihre Ideen und Vorschläge ein, damit die zukünftige Versorgung von Patienten mit chronischen Schmerzen nicht im Gestrüpp der Fachgebietsinteressen ste-cken bleibt.

Herzlichst,Ihr

Dr. Gerhard H. H. Müller-Schwefe

DSL-Vorstand mit großer Mehrheit bestätigt — Auf der Mitgliederversammlung der Deutschen Schmerzliga (DSL) e.V. wurde der

amtierende Vorstand mit großer Mehrheit für weitere drei Jahre im Amt bestätigt. Mit dieser Wiederwahl honorierten die anwesenden DSL-Mitglieder die großen Erfol-ge des Vorstandes bei der Konsolidierung des Finanzhaushaltes und der konzeptio-nellen Anpassungen der DSL an das sich ändernde gesundheitspolitische Umfeld in den vergangen fünf Jahren. Bei jeweils nur einer Stimme Enthaltung wurden mit 97,8 % der abgegebenen Stimmen PD Dr. med. Michael A. Überall als DSL-Präsident sowie Birgitta Gibson, Susanne Wüste, Uta Obst und Günter Rambach als DSL-Vizepräsiden-ten gewählt.

Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V.www.dgschmerzmedizin.de

Schmerzmedizin 2017; 33 (3) 39

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Deutscher Schmerzpreis

Antibiotika gegen Schmerzen

Die dänische Wissenschaftlerin Dr. Hanne Albert erhält für ihre Forschung im Bereich der Behandlung von Rückenschmerzen mit Antibiotika in diesem Jahr den Deutschen Schmerzpreis.

D er mit 10.000 Euro dotierte Deut-sche Schmerzpreis geht in diesem Jahr in unser nördliches Nach-

barland Dänemark. Die Forscherin Dr. Hanne Albert von der University of Sou-thern Denmark wurde für ihre Studien zur Behandlung von Rückenschmerzen mit Antibiotika ausgezeichnet. „Dr. Hanne Albert hat mit ihrer bahnbre-chenden Arbeit schmerzmedizinische Denkweisen nachhaltig verändert und eine neue Diskussionsbasis zum Ver-ständnis von chronischen Rücken-schmerzen geschaffen“, betonte Dr. Ger-hard Müller-Schwefe, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzme-dizin (DGS), anlässlich der Verleihung des Deutschen Schmerzpreises im Rah-men des Deutschen Schmerz- und Palli-ativtages am 24. März 2017 in Frankfurt am Main.

Bakterien in der BandscheibeEtwa die Hälfte der Patienten mit chro-nischen Schmerzen im unteren Rücken weisen im MRT Ödeme im Knochen-mark, sogenannte modic changes, auf. Bei ersten Untersuchungen konnte Al-bert in mehr als 50 % der nach einem Bandscheibenvorfall entnommenen Ge-webeproben Bakterien nachweisen. Zum Großteil war das Gewebe mit P. acnes in-fiziert. Dieses Bakterium, das zur natür-lichen Mundflora gehört, gelangt über kleine Verletzungen, die beim Zähne-putzen entstehen, ins Blut. Über neu ge-bildete Kapillaren an dem ausgetretenen Gewebe der Bandscheibe gelangen die Bakterien schließlich ins Innere der Bandscheibe und verbleiben dort auch nach einer Ausheilung des Bandschei-benvorfalls und verursachen Entzün-dung, Knochenödem und Schmerzen.

So entstand die Idee, in einer Pilotstu-die zu testen, ob Antibiotika gegen den Bakterienbefall und damit auch gegen die Rückenschmerzen der Patienten wir-ken können. Bereits diese erste Studie zeigte signifikante Ergebnisse in der Verbesserung sowohl der Schmerzsym-ptome als auch der funktionellen Be-schwerden der Patienten [Albert HB et al. Br J Sports Med. 2008:42:969-73]. Weitere randomisierte, placebokontrol-lierte Studien haben das Ergebnis bestä-tigt [Albert HB et al. Eur Spine J. 2013;22:697-707; Mohanned A. Al-Fala-hi et al. The Iraqi postgraduate Medical Journal 2014;13:390-398]. Die Patienten erhielten über einen Zeitraum von 100 Tagen dreimal täglich 1.000 mg Amoxi-cillin. Erste Effekte zeigten sich nach sechs bis acht Wochen und setzten sich über eine Follow-up-Zeit von einem Jahr, in einer weiteren Studie sogar über zwei Jahre, fort.

Auf die Frage, ob nun alle Patienten mit Schmerzen im unteren Rücken mit Antibiotika behandelt werden sollen, sagte Albert: „Nein, aber diejenigen mit

‚modic changes‘, bei denen Bakterien eine Rolle spielen, profitieren enorm.“

Jährliche VerleihungDer Deutsche Schmerzpreis – Deutscher Förderpreis für Schmerzforschung und Schmerzmedizin – wird jährlich an Per-sönlichkeiten verliehen, die sich durch wissenschaftliche Arbeiten über Diag-nostik und Therapie akuter und chroni-scher Schmerzzustände verdient ge-macht oder die durch ihre Arbeit oder ihr öffentliches Wirken entscheidend zum Verständnis des Problemkreises Schmerz und der davon betroffenen Pa-tienten beigetragen haben.

Wissenschaftlicher Träger des Deut-schen Schmerzpreises ist die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin. Der Preis wird gemeinsam mit der Deut-schen Schmerzliga verliehen und von Mundipharma gestiftet. (red)

Dr. Gerhard Müller-Schwefe und die Preisträgerin Dr. Hanne Albert bei der Verleihung des Deutschen Schmerzpreises.

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DGS Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V.

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Weitere Informationen zu den Seminaren erhalten Sie über die Geschäftsstelle der DGS

Telefon: 030 85621880 Fax: 030 22185342 E-Mail: [email protected] oder im Internet unter www.dgschmerzmedizin.de

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Cannabis als Medizin – wo bleibt die Evidenz?17.05.2017 in BermenRegionales Schmerzzentrum DGS – Bremen

Psychosomatik II18.05.2017 in Bad SäckingenRegionales Schmerzzentrum DGS – Bad Säckingen

Möglichkeiten der Migräne und Kopfschmerzbehandlung in der Ergotherapie31.05.2017 in HalleRegionales Schmerzzentrum DGS – Halle Saale

MBSR und Kopfschmerz31.05.2017 in FreiburgRegionales Schmerzzentrum DGS – Freiburg

Juni

„Ordnungstherapie“ und „Mind-Body- Medizin“ – Was ist das? Was geht bei Schmerzen tagesklinisch?07.06.2017 in KasselRegionales Schmerzzentrum DGS – Kassel

CME – Update Schmerz: Das CRPS – Diagnose, Therapieansätze, Prognose12.06.2017 in LudwigshafenRegionales Schmerzzentrum DGS – Ludwigshafen

NetzwerkApotheke Schmerz21.06.2017 in HamburgGeschäftsstelle DGS

Kopfschmerz-Coaching als Gruppenkonzept?21.06.2017 in FreiburgRegionales Schmerzzentrum DGS – Freiburg

Funktionelle Medizin II22.06.2017 in Bad SäckingenRegionales Schmerzzentrum DGS – Bad Säckingen

Praxis der Integrativen Biologischen Krebs- und Schmerztherapie23. – 24.06.2017 in GreizRegionales Schmerzzentrum DGS – Greiz Vogtland

Symptombehandlung in der Palliativmedizin Teil II28.06.2017 in HalleRegionales Schmerzzentrum DGS – Halle Saale

Juli

CME – Update Schmerz: Opioide und Sucht03.07.2017 in LudwigshafenRegionales Schmerzzentrum DGS – Ludwigshafen

Schmerz und Sound08.07.2017 in LüdenscheidRegionales Schmerzzentrum DGS – Lüdenscheid

August

CME – Update Schmerz: Psychotherapeutische Ansätze in der Schmerztherapie02.08.2017 in LudwigshafenRegionales Schmerzzentrum DGS – Ludwigshafen

Schmerztherapie und Endokrinologie17.08.2017 in Bad SäckingenRegionales Schmerzzentrum DGS – Bad Säckingen

Osteoporose und deren Komplikationen30.08.2017 in HalleRegionales Schmerzzentrum DGS – Halle Saale

September

CME – Update Schmerz: Die (Schmerz) – Dokumentation iDocLive04.09.2017 in LudwigshafenRegionales Schmerzzentrum DGS – Ludwigshafen

Chronischer Schmerz – Psyche, Zusammen hänge, Therapieoptionen06.09.2017 in StadeRegionales Schmerzzentrum DGS – Stade

Qualitätszirkel Palliativversorgung Siegen-Wittgenstein-Olpe06.09.2017 in SiegenRegionales Schmerzzentrum DGS – Siegen

Curriculum Algesiologische Fachassistenz – Kurs 308.–09.09.2017 in KasselGeschäftsstelle DGS

1) Cervikogener Kopfschmerz – gibt es ihn wirklich? 2) Fallstricke in der Kopfschmerztherapie13.09.2017 in WeiterstadtRegionales Schmerzzentrum DGS – Kassel

NetzwerkApotheke Schmerz19.09.2017 in DresdenGeschäftsstelle DGS

Interdisziplinäres Schmerzforum Siegen (ISS)19.09.2017 in SiegenRegionales Schmerzzentrum DGS – Siegen

NetzwerkApotheke Schmerz20.09.2017 in WeiterstadtGeschäftsstelle DGS

Die Vordere-Kreuzband-Läsion – Operation ja oder nein?20.09.2017 in BerlinRegionales Schmerzzentrum DGS – Berlin Mitte

Schmerz- und Palliativtag Moers20.09.2017 in MoersRegionales Schmerzzentrum DGS – Duisburg

Opiate-Fehlgebrauch und Entzug20.09.2017 in FreiburgRegionales Schmerzzentrum DGS – Freiburg

Atlastherapie „all in one“21.09.2017 in Bad SäckingenRegionales Schmerzzentrum DGS – Bad Säckingen

Ganzheitliche Verfahren – Diagnostik und Therapie der Alternativen Schmerzmedizin27.09.2017 in HalleRegionales Schmerzzentrum DGS – Halle Saale

Oktober

CME – Update Schmerz: Praktische Palliativmedizin09.10.2017 in LudwigshafenRegionales Schmerzzentrum DGS – Ludwigshafen

Medikamentöse Schmerztherapie – Wichtiges aus Sicht eines Pharmazeuten/Apothekers17.10.2017 in FürthRegionales Schmerzzentrum DGS – Fürth

Fehlgebrauch, Missbrauch und Abhängigkeit von Schmerzmitteln18.10.2017 in Bad SalzungenRegionales Schmerzzentrum DGS –Bad Salzungen

Biofeedback I19.10.2017 in Bad SäckingenRegionales Schmerzzentrum DGS – Bad Säckingen

Schmerzmedizin 2017; 33 (3) 41

DGS

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DAGST Deutsche Akademie für ganzheitliche Schmerztherapie

Multimodale Schmerztherapie

Das NADA-Protokoll ist einen Versuch wert

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

zahlreiche positive Einzelfallberichte, unter anderem von einer sehr engagier-ten jungen Kollegin, die mit obdachlo-sen suchtkranken jungen Erwachsenen in Rumänien arbeitet, von Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung, die so Zugang zu einer Psychotherapie fanden sowie von den unterschiedlichs-ten Katastrophenszenarien, in denen Menschen in traumatisierenden und/oder Stresssituationen unkompliziert und wirkungsvoll geholfen werden konnte, führen mich als Schmerzthera-peutin zunehmend zu der Überzeugung: DAS brauchen wir in der multimodalen Schmerztherapie!

Was ich meine, ist das NADA-Proto-koll (national acupuncture detoxifica-tion association), eine sehr spezielle, standardisierte Anwendung der Ohr-akupunktur in einem definierten, non-verbalen, nonkonfrontativen Gruppen-setting. Dieses Protokoll wurde in den 1970er- und 1980er-Jahren ursprünglich zur Unterstützung bei Entzugsbehand-lungen von diversen Suchtstoffen entwi-ckelt. Obwohl die Forschungsergebnisse uneinheitlich sind, gibt es doch deutli-che Hinweise, dass die zusätzliche Teil-nahme an NADA-Sitzungen die Patien-ten darin unterstützt, die Entzüge nicht vorzeitig abzubrechen, sich auf thera-peutische Angebote einzulassen und auch im Anschluss länger abstinent zu bleiben.

Da das NADA-Protokoll ausdrücklich auch die Anwendung durch nicht ärztli-che Personen vorsieht, ist es zum Beispiel in Skandinavien auch in Gefängnissen als Angebot weit verbreitet und zeigt, dass Insassen, die daran regelmäßig teil-nehmen, deutlich höhere Erfolgsaussich-ten im Hinblick auf eine erfolgreiche Re-sozialisierung haben.

In mehreren psychiatrischen und psy-chosomatischen Kliniken werden NA-DA-Gruppen als Entspannungstherapie auch außerhalb der Suchtabteilungen angeboten. Die Gruppen werden als frei-williges Angebot angesehen, das die Pa-tienten zusätzlich zum normalen Thera-pieprogramm selbständig aufsuchen können. Durchgehend wird über eine hohe Akzeptanz berichtet und über den reinen Entspannungseffekt hinaus wur-de die Reduktion von Schlafstörungen oder Ängsten festgestellt.

Bei Naturkatastrophen, nach dem 11. September 2001 sowie in Bürgerkriegs-gebieten und Flüchtlingscamps in Afri-ka verwenden NGOs zunehmend Ohr-akupunktur nach dem NADA-Protokoll als „psychosoziale Nothilfe“. Die Erfah-rungen zeigen, dass Teilnehmer die trau-matischen Erlebnisse in Situationen, in denen ihnen die Worte für eine Ge-sprächstherapie (noch) fehlen, besser aushalten oder verarbeiten können. Durch die nonverbale Behandlung ist sie gut auch bei Sprachbarrieren einsetzbar.

Bei den Patienten mit chronischen Schmerzstörungen liegen in der Regel

Die DAGST e. V.

ist eine originäre Schmerzgesellschaft und setzt sich seit ihrer Gründung 2002 ausschließlich für eine qualitativ hoch-wertige Ausbildung in ganzheitlicher Schmerztherapie ein.

Unsere Ziele:

— Bessere Behandlung von Schmerz-patienten durch ganzheitlichen Ansatz

— Berufsbegleitende qualifizierte Schmerztherapie-Ausbildung mit Zertifikat zum Tätigkeitsschwerpunkt „Ganzheitliche Schmerz behandlung“

— Interaktive Vorträge mit Beteiligung des Auditoriums und Demonstration von Behandlungsverfahren

— Umsetzung der Ergebnisse aktueller Schmerzforschung in die Ausbildung und Therapie

— Intensiver kollegialer Austausch sowie Bildung von interdisziplinären Netzwerken

Deutsche Akademie für ganzheitliche Schmerztherapie e. V.

1. Vorsitzender Dr. med. Ludwig Distler

2. Vorsitzender Prof. Dr. med. Sven Gottschling (Schriftleitung)

Weitere Informationen:

Fortbildungsbüro DAGST Amperstr. 20A 82296 Schöngeising Telefon: 08141 355530-20 Fax: 08141 355530-27 E-Mail: [email protected]

Redaktion:

Christine Höppner E-Mail: [email protected]

www.dagst.de

„Das NADA-Protokoll kann eine sinnvolle Ergänzung zu beste-henden multimodalen Programmen in der Schmerztherapie dar-stellen. “

Birgit Scheytt

Fachärztin für Neurologie, derzeit Weiterbildung zur Fachärztin für Psych-iatrie und Psychotherapie im Zentrum für Psychiatrie, Emmendingen

DAGST

42 Schmerzmedizin 2017; 33 (3)

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Kursvorschau Datum Kursort Weiterbildungen

Von den Ärztekammern anerkannt!80 h Spezielle SchmerztherapieKursweiterbildung; Blockkurse à 40 h

18.–21.5.2017 Berlin Block 1 / 40 UE / CME-Punkte

29.6.–2.7.2017 Berlin Block 2 / 40 UE / CME-Punkte

16.–19.11.2017 Mannheim Block 1 / 40 UE / CME-Punkte

7.–10.12.2017 Mannheim Block 2 / 40 UE / CME-Punkte

Basiskurs Palliativmedizin; 40 h

21.–25.6.2017 Mannheim 40 UE / CME-Punkte

Fortbildungen

24.6.2017 Homburg (Saar) 6. Homburger Schmerz- und Palliativkongress

24.–25.6.2017 Tübingen Das Zahn-, Mund- und Kiefersystem als systemisch wirksame Schmerzursache Referent: Hardy Gaus, Zahnarzt

Programmänderungen vorbehalten

Alle Kurse können Sie auch bequem online buchen unter www.dagst.de.

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DAGST-Veranstaltungen

Am 24. Juni 2017 findet in Homburg (Saar) statt:

6. Homburger Schmerz- und Palliativkongress

Veranstalter: DAGST e.V. mit dem Zentrum für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie, Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie des Universi-tätsklinikums des Saarlandes

Beeinträchtigungen in unterschiedlichs-ten psychischen Funktionen vor. Mal sind es „nur“ Stressreaktionen, Schlaf-störungen oder Ängste, mal (frühkind-liche) Traumatisierungen oder die Ent-wicklung von Toleranz und Abhängig-keit gegenüber Schmerzmitteln. Für alle diese Begleitdiagnosen erscheint das NADA-Protokoll anwendbar und erfolg-versprechend. Von diesen speziellen An-satz könnten Patienten profitieren, die Bedenken vor Medikamenteneinnahme oder Vorbehalte gegenüber einer Psy-chotherapie (noch dazu in der Gruppe!) haben. Ferner Patienten, die es eigentlich in keiner Therapie lange aushalten und auch diejenigen, die das Gefühl haben, der Schmerz raubt ihnen jegliche Hand-lungs- und Entscheidungsfreiheit. Die-ses Setting gewährt ein hohes Maß an Autonomie, wirkt nicht konfrontativ und bahnt Möglichkeiten an statt Defi-zite aufzuzeigen. Auch der Übergang von der stationären Behandlung zum Alltag könnte günstig beeinflusst wer-den. Denn in der stationären Behand-lung zeigen sich oft viele gute Entwick-lungen, die Patienten beginnen selbstän-dig zu üben und machen Fortschritte. Im Alltag zuhause werden die Übungen aber nicht durchgehalten. Die Verringe-rung von Abbruchquoten in Entzugs-programmen und die verbesserte Reso-zialisierung nach Haftaufenthalten legen nahe, dass die Patienten mehr Selbst-wirksamkeit erleben und mehr Durch-haltevermögen erlangen.

Ich selbst habe zwar noch keine per-sönliche Erfahrung in der Anwendung des NADA-Protokolls. Im Manual der NADA soll die Anwendung bei chroni-schen Schmerzen aber schon empfohlen werden. Als „Stand-Alone-Therapie“ ist das NADA-Protokoll definitiv nicht ge-dacht, aber als sinnvolle Ergänzung zu bestehenden multimodalen Program-men erscheint es mir auf jeden Fall min-destens den Versuch wert! Wenn Sie als Leser dieser Zeitschrift bereits Erfah-rungen in Ihrer Klinik, Tagesklinik oder Praxis gemacht haben, würde ich mich über Rückmeldungen sehr freuen.

Mit freundlichen, kollegialen Grüßen

Birgit Scheytt

Schmerzmedizin 2017; 33 (3) 43

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GKV-Leistung

Wann ist die SAPV indiziert?

In der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) ist man auch immer wieder mit der Frage der Kostenübernahme durch die Krankenkassen konfrontiert. Die richtige Begründung und die Berufung auf Begutachtungsanleitungen erleichtern hier vieles.

I n unserer verbandsinternen „Verein-barung“ wird bezüglich der mögli-chen Erbringung von SAPV-Leistun-

gen (Vollversorgung) in § 6 (1) Folgendes ausgeführt: „In Fällen des § 5 Abs. 2 SAPV-RL vollständige Übernahme der palliativmedizinischen und psychosozi-alen Versorgung im Einverständnis mit dem Haus-/Facharzt und Einwilligung des Palliativpatienten (Vollversorgung), wenn die anderweitigen ambulanten Versorgungsmöglichkeiten auch unter Einbeziehung von Beratung, Koordina-tion und unterstützender Teilversor-gung nicht mehr ausreichen. Palliativ-medizinische und gegebenenfalls pflege-rische Maßnahmen werden im Rahmen von Hausbesuchen direkt am Patienten erbracht. Dabei kann (…) ein zugelasse-ner Palliativpflegedienst einbezogen werden, sofern nicht Leistungen des PKD im Rahmen der Anlage 6 Ziffer 5 erbracht werden.“ Allerdings gibt es nur wenige palliativmedizinische Konsiliar-dienste (PKD), die Patienten im größe-ren Stil im „SAPV-Modus“ versorgen. Besteht eine enge Zusammenarbeit mit Palliativpflegediensten, so ist der

„SAPV-Modus“ ja bekanntermaßen aus-geschlossen.

In den vergangenen Monaten stieg die Zahl der Ablehnungen der verordneten Palliativpflege durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) deutlich an. In ihrem Bericht „Evaluati-on der SAPV 2015“ führen die Kranken-kassen aus: „Die SAPV-RL grenzt die Spezialisierte Ambulante Palliativver-sorgung in Anlehnung an die gesetzli-

che Bereitstellung der SAPV und die Ge-setzesbegründung (BT Drucksache 16-3100, S. 106) nicht über die Definition spezifischer Leistungen, sondern über den besonderen Versorgungsbedarf der Versicherten (§ 4 SAPV – RL) von der Allgemeinen Palliativversorgung ab. SAPV muss sich inhaltlich – bezogen auf einzelne Leistungen – damit nicht von der Allgemeinen Palliativversorgung unterscheiden. Sie wird vielmehr ge-kennzeichnet durch den besonderen Ko-ordinations- und Versorgungsbedarf, der an die Leistungserbringer besondere Qualifikations- und Erfahrungsanforde-rungen stellt und komplexe Teamarbeit erfordert, da es sich bei der SAPV um eine Gesamtleistung aus palliativärztli-cher und palliativpflegerischen Leis-tungsanteilen einschließlich Koordina-tion handelt.“ Ein Widerspruch gegen die Entscheidung eines MDK sollte des-halb mit diesem besonderen Versor-gungsbedarf begründet werden.

Chemotherapie und SAPV schließen sich nicht ausAuch über die Kombination der Pallia-tivversorgung und spezifischer onkolo-gischer Behandlungen ist entschieden worden: Der GKV-Spritzenverband in seiner Zuständigkeit für Richtlinien nach § 282 Abs. 2 Satz 3 SGB V zur Lö-sung der geschilderten Probleme hat in der verabschiedenden Begutachtungs-anleitung „SAPV und stationäre Hos-pizversorgung“ klarstellend geregelt, dass die Durchführung einer Strahlen- oder Chemotherapie per se kein Aus-

Unsere Ziele sind:

— Qualitätsindikatoren in der ambulan-ten Palliativmedizin zu definieren und weiterzuentwickeln,

— Betroffene und Angehörige über die Möglichkeiten einer fachgerechten palliativmedizinischen Versorgung zu informieren,

— die Diskussion über ethische und rechtliche Fragestellungen am Lebensende anzustoßen und zu vertiefen,

— ein langfristiger Kulturwandel im Umgang mit Tod und Sterben.

Berufsverband der Palliativmediziner in Westfalen-Lippe e.V.

Geschäftsstelle: Sabine Schäfer Dieckmannstraße 200 48161 Münster Tel. 02 51 / 5308-9960 E-Mail: [email protected]

Öffentlichkeitsarbeit: Dr. med. Eberhard A. Lux Klinik für Schmerz- und Palliativmedizin am Klinikum St.-Marien-Hospital Lünen Telefon: 02306 77-2920 Fax: 02306 77-2921 E-Mail: [email protected]

www.bv-palliativmediziner.de

Berufsverband der Palliativmediziner

44 Schmerzmedizin 2017; 33 (3)

in Westfalen-Lippe e.V.

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schlussgrund für Leistungen der SAPV ist. Vielmehr komme es auf die Zielset-zung der Strahlen- und Chemotherapie an. Ferner wurde in der Begutachtungs-anleitung nochmals verdeutlicht, dass die Einschätzung, ob die Voraussetzun-gen nach § 3 der SAPV-Richtlinie erfüllt sind, unabhängig davon zu treffen ist, ob es sich bei der zugrunde liegenden Er-krankung um eine onkologische oder nicht onkologische Erkrankung handelt (vgl. Kapitel 2., 3.1. der Begutachtungs-anleitung). Die Begutachtungsanleitung ist sowohl für die Krankenkassen als auch die MDK-Gemeinschaft verbind-lich. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Möglichkeiten zur SAPV-Ausgestaltung in unserem Vertragsgebiet entwickeln – SAPV als Teamleistung ist sicher unum-stritten (Erbringung in der Kombinati-on QPA + Koordinator oder QPA + qua-lifizierte Palliativpflege mit einem Palli-ativpflegedienst in Kooperation).

Die Schnittstelle zwischen dem Kran-kenhaus und der ambulanten Versor-gung ist nicht immer unkritisch. In Ein-zelfällen der besonders intensiven Ver-sorgung scheint der Besuch eines Koor-dinators oder des Palliativarztes im Krankenhaus vor der Einschreibung des Patienten in die „Vereinbarung“ sinnvoll zu sein. Allerdings kann hier die Ein-schreibung des Patienten aus dem Kran-kenhaus heraus bestenfalls vorbereitet werden. Erst mit dem Tag der Entlas-sung ist eine Aufnahme des Patienten in den Palliativvertrag möglich. Ein Ein-schreiben während der Aufenthaltszeit des Patienten im Krankenhaus – was durchaus sinnvoll sein könnte – wird von den Krankenkassen strikt abgelehnt und wurde bereits mehrfach mit dem Verdacht eines Abrechnungsbetruges kommentiert.

Mit dem wachsenden Bekanntheits-grad der Möglichkeiten ambulanter Pal-liativversorgung werden wir immer wie-der über unsere Notfallnummer von Pa-tientenangehörigen oder Pflegeeinrich-tungen kontaktiert, obwohl der Patient bis dato nicht in die SAPV-Vereinbarung aufgenommen wurde. Es hat sich in un-serem Palliativnetz etabliert, sich in die-sen wenigen Fällen den Hilfesuchenden nicht zu verweigern und zum nächst-möglichen Zeitpunkt den Kontakt zum Hausarzt zu suchen, um rückwirkend

die Einschreibung zu erwirken. In den angestrebten Kooperationsvereinbarun-gen mit den Altenheimen sollte jedoch sehr klar formuliert werden, dass der PKD-Bereitschaftsdienst kein Ersatz für den allgemeinen ärztlichen Notdienst sein kann und will.

Die Frage nach der PumpeEng verbunden mit dem Thema der Not-falleinschreibung ist die Frage der Be-reitstellung von elektronischen PCA-Pumpen. Die Voraussetzung für eine ef-fektive Patientenversorgung in der Regi-on eines PKD ist es, sich mit allen Beteiligten (Krankenhaus, Altenheim, Hausärzte etc.) auf einen Pumpentyp mit zu einigen. Ist dies geschehen, so kann mit den Pumpenherstellern oder den kooperierenden Sanitätshäusern die Bereitstellung von „Kommissionsware“ vereinbart werden, sodass zu jeder Zeit Zugriff auf die PCA-Pumpe oder das nö-tige Material besteht. Dieses sollte an einem Ort aufbewahrt werden, welcher jederzeit für alle Beteiligten erreichbar ist (z. B. Palliativstation, Hospiz, Praxis-räume des diensthabenden PKD etc.). Die Anschaffung eines eigenen Geräte-pools in einem PKD ist kritisch, sowohl von Seiten der Refinanzierung als auch vom bürokratischen Aufwand her. Denn wie will der PKD als „Vermieter“ der Pumpen den Krankenkassen gegenüber-treten?

Direkt verknüpft mit der Bereitstel-lung der PCA-Pumpe ist die Portversor-gung. Auch hier sollten sich die Beteilig-ten des PKD auf ein Fabrikat mit unter-schiedlichen Nadellängen einigen. Die Portversorgung sollte durch die Koordi-natoren oder speziell geschulte Palliativ-pflege im Pflegedienst erfolgen (auf der Grundlage eines Versorgungsstandards). Die Abgabe zur Durchführung/Verant-wortung der Port- und Pumpenversor-gung an dritte Dienstleister (Ernäh-rungsteams etc.) sehe ich kritisch – so-wohl bezüglich der Indikation, der Ko-operation, aber auch hinsichtlich der Kosten und der Qualität.

Regelungen der LeichenschauDie Durchführung der Leichenschau muss mit den einzelnen Hausärzten ab-gesprochen werden. In Fällen spezifi-scher Maßnahmen wie zum Beispiel pal-

liativer Sedierung sollte der QPA die Lei-chenschau durchführen, da nur er die Tragweite der Maßnahmen und deren rechtliche Implikationen überblicken kann. Generell sollte die Leichenschau vorrangig von dem Arzt durchgeführt werden, der den Behandlungsverlauf des Patienten kennt. Außerdem sollte die Leichenschau zeitnah nach dem Be-kanntwerden des Versterbens eines Pa-tienten durchgeführt werden. Hierzu führt § 9 des Gesetzes über das Fried-hofs- und Bestattungswesen (BestG NRW) mit Stand vom 2. Februar 2017 aus: „Ärztinnen und Ärzte sind ver-pflichtet, unverzüglich nach Erhalt der Todesanzeige die unbekleidete Leiche oder die Totgeburt persönlich zu be-sichtigen und sorgfältig zu untersuchen (Leichenschau) sowie die Todesbeschei-nigung auszustellen und auszuhändigen. (…) Notärzt innen und Notärzte im öf-fentlichen Rettungsdienst sind während der Einsatzbereitschaft und während des Einsatzes, sobald sie den Tod festgestellt haben, weder zur Leichenschau noch zur Ausstellung der Todesbescheinigung verpflichtet.“

Erfolgt die Leichenschau und das Ausstellen der Todesbescheinigung durch den Palliativarzt, so sollte der Hausarzt zeitnah vom Versterben seines Patienten informiert werden (es sei da-ran erinnert, dass für den Besuch an-lässlich der Leichenschau die Ziffer

„Hausbesuch“ nicht angesetzt werden darf!). Wie lange ein Verstorbener in der Häuslichkeit verbleiben darf, ist eben-falls klar geregelt (§ 11 Abs. 2: Aufbe-wahrung Toter): „Tote sind spätestens 36 Stunden nach dem Tode, jedoch nicht vor Ausstellung der Todesbescheini-gung in eine Leichenhalle zu überfüh-ren. Auf Antrag von Hinterbliebenen kann die örtliche Ordnungsbehörde die Aufbewahrung Toter an einem anderen geeigneten Ort genehmigen, wenn ein ärztliches Zeugnis bescheinigt, dass hiergegen keine Bedenken bestehen.“

Dr. med. Eberhard A. Lux, Lünen

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Chronische Rückenschmerzen: Tapentadol zügelt Überempfindlichkeit

— Im Zuge der Chronifizierung von Rü-ckenschmerzen reagiert das ZNS immer empfindlicher auf die Schmerzreize. Bei solchen sensibilisierten Patienten wirkt Ta-pentadol offensichtlich besonders gut. Die Chronifizierung von Rückenschmerzen wird maßgeblich durch eine zentrale Sensibilisie-

rung getrieben, die Professor Ralf Baron, Universitätsklinikum Kiel, zusammen mit Mitarbeitern in Experimenten objektivier-bar darstellen konnten. Dies gab ihnen die Möglichkeit zu prüfen, inwieweit das An-sprechen auf Tapentadol ( durch das Ausmaß der Sensibilisierung beeinflusst

wird. Nach den noch nicht publizierten Daten ist bei Patienten mit einem Sensibili-sierungsindex von 0 mit einer etwa 50%igen Verbesserung der Lebensqualität zu rech-nen. „Das ist für einen Patienten mit chroni-schen Rückenschmerzen schon ein sehr gutes Ergebnis“, betonte der Neurologe. Bei dem höchsten Index von 5 lässt sich sogar eine 80%ige Verbesserung erreichen. Der frühzeitige Einsatz von Tapentadol könne Schmerzchronifizierung möglicherweise

Clusterkopfschmerzen: quälend und oft spät diagnostiziert

— Als vernichtend beschriebener Schmerz direkt hinter dem Auge: Das ist das Leitsym-ptom des Clusterkopfschmerzes. Aufgrund fehlender Erfahrung werden die Symptome der seltenen Erkrankung jedoch oft fehlge-deutet und die Patienten nicht adäquat versorgt. Clusterkopfschmerz ist die häufigste, aber wenig bekannte Form der trigeminoauto-nomen Kopfschmerzen. Die mittlere Latenz bis zur Diagnose beträgt fünf Jahre [Rozen TD, Fishman RS. Headache 2012; 52:99–113]. Hierzulande sind rund 120.000 Menschen

betroffen [Evers S et al. J Neurol Neurosurg Psychiatry 200 78:1289], die Lebensqualität ist oft massiv beeinträchtigt. Charakteristisch für die zeitlich begrenzten, aber extrem ausgeprägten Kopfschmerzen sind das einseitige Auftreten und ipsilateral zur Schmerzseite einzelne oder mehrere trigeminoautonome Begleiterscheinungen wie Lakrimation, Rhinorrhö, Schwitzen, gerötete Bindehaut, Herabhängen des Oberlids, Lidschwellung oder Hautrötun-gen. Die Attacke kann zwischen 15 Minuten und bis zu drei Stunden andauern. Sie tritt

häufig ein bis zwei Stunden nach dem Ein-schlafen oder in den frühen Morgenstun-den auf. Gleichzeitig ist die Attacke mit körperlicher Unruhe oder Agitiertheit ver-bunden, erläuterte Privatdozent Dr. Charly Gaul, Chefarzt der Migräne- und Kopf-schmerzklinik Königstein. Nach den Leitlinien der Deutschen Migrä-negesellschaft [May A et al. Nervenheilkun-de 2016; 35:137–51] wird für die Akutthera-pie die Sauerstoffinhalation, die Injektion von 6 mg Sumatriptan oder die nasale Gabe von Zolmitriptan empfohlen, erklärte Gaul. Goldstandard der Akuttherapie ist Suma-triptan s.c., das bei rund 75 % der Patienten innerhalb von fünf bis 20 Minuten zur Be-schwerdefreiheit führt, wenn die Kontrain-dikationen entsprechend der Fachinforma-tion beachtet werden. Die Number Needed to treat (NNT) für Sumatriptan liegt bei 2,4 versus 12 für Zolmitriptan nasal. Zur Prophylaxe kommen Verapamil, Lithium, Topiramat oder eine nicht invasive Vagus-nerv-Stimulation in Betracht, die etwa 50 % der Patienten hilft. Zur transitorischen Pro-phylaxe stehen Kortison und Occipitalisblo-ckaden zur Verfügung. Eine invasive Neuro-stimulation sollte nur bei ausgewählten Patienten in Zentren erfolgen, so Gaul. Eine sofort einsatzbereite und einfach an-zuwendende Option für die Attackenkupie-rung bei Patienten zwischen 18 und 65 Jahren ist der Einmal-Fertigpen Sumatrip-tan-Hormosan Inject mit 6 mg Sumatriptan für die subkutane Applikation. Dagmar Jäger-Becker

Lunchseminar „Clusterkopfschmerz und trigeminoautonome Kopfschmerzen“, im Rahmen des Schmerz- und Palliativtages Frankfurt/Main, 23. März 2017; Veranstalter: Hormosan Pharma GmbHAbb. 1: Clusterkopfschmerzen werden oft erst spät richtig diagnostiziert.

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46 Schmerzmedizin 2017; 33 (3)

Industrieforum Industrieforum

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Oxycodon/Naloxon generisch

Das Unternehmen Krugmann hat mit den Krankenkassen AOK Nordwest, AOK Nordost, AOK Rheinland-Hamburg, IKK Classic und der Techniker Krankenkasse Rabattverträge für

Retardtabletten abgeschlos-sen. Das Opioid mit retardiertem Oxyco-don und retardiertem Naloxon ist zuge-lassen zur Anwendung bei starken Schmerzen, die nur mit Opioid-Analge-tika ausreichend behandelt werden kön-nen. Ferner verfügt es über die Zulas-sung als Second-line-Therapie von Patienten mit schwerem bis sehr schwe-rem idiopathischen Restless-Legs-Syn-drom nach Versagen der dopaminergen Therapie. Die Retardtablette gibt es in den Wirkstärken 5 mg/2,5 mg, 10 mg/ 5 mg, 20 mg/10 mg und 40 mg/20 mg.

Nach Informationen von Krugmann

Oxycodon-HCl generisch

Das Unternehmen Glenmark führt das Betäubungsmittel (Wirk-stoff Oxycodon-HCl) zur medikamentö-sen Schmerztherapie ein. Das Präparat ist indiziert zur Therapie starker Schmer-zen bei Erwachsenen und Jugendlichen ab 12 Jahren und ist in den Dosierungen 5 mg, 10 mg, 15 mg, 20 mg, 30 mg, 40 mg und 60 mg erhältlich.

Nach Informationen von Glenmark

Cannabisgesetz begrüßt

Das Unternehmen Bionorica, größter deutscher Anbieter von cannabinoidhal-tigen Rezeptur-Wirkstoffen, begrüßt, dass mit dem neuen Cannabisgesetz kla-re Richtlinien für die Verordnung und Er-stattung von Rezepturarzneimitteln mit dem Wirkstoff Dronabinol verbindlich werden. Im Gegensatz zu Cannabisblü-ten, die jetzt auch erstattet werden kön-nen, könne der Arzt mit der Rezeptur eine exakte Dosis vorgeben und unter verschiedenen Applikationsformen wäh-len. Neben der oralen Gabe ist die an-fängliche Dosistitration essentiell für eine gute Verträglichkeit insbesondere auch im Hinblick auf psychotrope Ne-benwirkungen. Diese treten vor allem bei rasch ansteigenden THC-Plasmaspie-geln auf, wie sie bei Inhalation oder Überdosierung möglich sind.

Nach Informationen von Bionorica

Tumorschmerztherapie: Hydromorphon – Präferenzsubstanz dank guter Verträglichkeit

— Bei starken und sehr starken Schmerzen kommt Hydromorphon aufgrund seiner im Vergleich zu anderen Opioiden guten Ver-träglichkeit und Steuerbarkeit – auch in der Kombination mit anderen Schmerzmedika-menten – ein besonderer Stellenwert zu. Darauf wies Dr. Johannes Horlemann, nie-dergelassener Arzt in Kevelaer und Vizeprä-sident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS), anlässlich eines Symposiums beim Schmerz- und Palliativ-tag 2017 hin. „Es wird oft in der Palliativsitu-ation eingesetzt, immer öfter aber auch in der nicht palliativen“, so Horlemann, denn es wirke sowohl antinozizeptiv, als auch antineuropathisch. Vorteile biete Hydro-morphon insbesondere bei den oft multi-morbiden, älteren und schwer kranken Pa-tienten, weil es eine geringe Plasmaeiweiß-bindung aufweise und somit auch bei Kach-exie gegeben werden könne. Zudem ist seine Metabolisierung CYP-unabhängig, so dass es auch bei Leberinsuffizienz und Poly-pharmazie unproblematisch sei. Praktisch relevant sei auch, dass Alkohol nicht zu ei-nem „Dose-Dumping“ führe. Zudem treten opioidtypische Nebenwirkungen seltener auf. Gerade im Konzert mit anderen Analge-

tika weist Hydromorphon eine bessere Verträglichkeit auf, was ihm in der DGS-Praxisleitlinie Tumorschmerz von 2014 (Horlemann J et al. http://www.DGS-Praxis-Leitlinien.de) den Status der Präferenzsubs-tanz in der Tumorschmerztherapie ein-brachte.Anders als andere Hydromorphon-Generika entfaltet Hydromorphon long bei nur einmal täglicher Einnahme eine kons-tante Wirkung über 24 Stunden. Dies ist auf die besondere Retardierung (Multiple-Unit-Pellet) mit kontinuierlicher Freisetzung und mahlzeitenunabhängiger Pylorus-Passage zurückzuführen. Dass eine vergleichbare Wirksamkeit mit dem zweimal täglich ein-zunehmenden Original erreicht wird, belegt eine randomisierte, doppelblinde Cross-over-Studie [Nold GE et al. CMRO 2016; 2: 1–9]. Die durchschnittliche Schmerzintensi-tät während der fünftägigen Evaluierungs-phasen war in beiden Studienarmen ver-gleichbar groß. Dr. Wiebke Kathmann

Lunchseminar „Zusammenspiel von Patient, Arzt und Medikament: Herausforderung Inter-aktion“, im Rahmen des Deutschen Schmerz- und Palliativtages 2017, Frankfurt am Main, 24.3.2017, Veranstalter: Aristo Pharma

verhindern. Erklärbar seien solche Befunde durch den „einzigartigen Wirkmechanis-mus“, mit dem die Substanz der Sensibilisie-rung an verschiedenen Stellen entgegen wirke. Als µ-Opioid rezeptor-Agonist redu-ziere Tapentadol die Aktivität von Schmerz-fasern in der Peripherie sowie auf Rücken-marksebene und vermutlich auch im Gehirn. Durch die selektive Noradrenalin-Wieder-aufnahmehemmung stabilisiere es außer-dem die körpereigene Schmerzkontrolle.Die Wirksamkeit von Tapentadol unter den Bedingungen der täglichen Praxis belegt eine in Deutschland durchgeführte nicht interventionelle Studie mit 5.002 Patienten mit starken chronischen Schmerzen (Lange T et al. Fortschr Med 2015; 157(Suppl 4): 12–21). Knapp 1.500 von ihnen erhielten das Analgetikum als Monotherapie. Wie PD Dr. Kai-Uwe Kern, Schmerzpraxis Wiesbaden, berichtete, ging die Schmerzintensität hie-runter bei drei Viertel dieser Patienten um

mindestens 50 % zurück. Ein zusätzlich ge-stecktes individuelles Behandlungsziel er-reichten sie fast ausnahmslos. Im Gesamt-kollektiv ergab sich bei 65,1 % der Patienten eine mindestens 50%ige Schmerzreduktion.Dass man bei einer Therapie mit Tapentadol gelegentlich etwas Geduld aufbringen muss, verdeutlichte Kern am Beispiel einer eigenen Patientin mit radikulärem Bein-schmerz nach Spondylodese. Bei ihr trat nach Aufdosierung bis auf 500 mg zunächst keine zufriedenstellende Wirkung ein. Un-ter Beibehaltung der Dosierung nahm der Effekt aber im Verlauf noch weiter zu – bis die Patientin 70 Tage nach Therapiebeginn beim Gehen und in Ruhe keinerlei Schmer-zen mehr hatte. Dr. Matthias Herrmann

„Schmerzmedizinischer Frühschoppen – Rücken-schmerz 360°“; im Rahmen des Deutschen Schmerz- und Palliativtages 2017; Frankfurt/Main, 23.3.2017; Veranstalter Grünenthal GmbH

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Praxisabgabe an ein MVZ

Missverständliche Pflicht-Arbeitszeit

Ärzte, die ihre Praxisnachfolge dadurch organisieren, dass sie ihren Arztsitz an ein MVZ abgeben, müssen seit 2016 dort mindestens drei Jahre als Angestellter weiterarbeiten. Dabei haben sie bei der Reduk-tion ihrer Arbeitszeit aber mehr Spielraum als weithin gedacht.

D as Bundessozialgericht (BSG) hat 2016 entschieden, dass ein Arzt, der auf seine Zulassung verzich-

tet, um als Angestellter für ein MVZ tä-tig zu werden, die Absicht haben muss, dies für mindestens drei Jahre zu tun (B 6 KA 21/15 R). Heute stellt sich immer noch häufig die Frage, in welchem Um-fang der angestellte Arzt seine Tätigkeit reduzieren kann, ohne die Nachbesetz-barkeit von vakant werdender Arztstelle oder -sitz zu gefährden. Die Antwort hierauf scheint stets dieselbe zu sein: Der Arzt könne erst nach zwölf Monaten sei-nen Beschäftigungsumfang um eine Viertelstelle und dann nach weiteren zwölf Monaten erneut um eine Viertel-stelle reduzieren. Das ist aber falsch. Vielmehr sind Arzt und MVZ oder auch die anstellende Praxis frei, wann und um wie viel sie die Tätigkeit reduzieren, solange der Arzt nur mindestens mit ei-nem Versorgungsauftrag einer Viertel-stelle drei Jahre lang angestellt ist.

Richter nannten nur ein BeispielDie Ursache für das falsche Verständnis der BSG-Entscheidung findet sich im Bericht des BSG zur Sitzung vom 4. Mai 2016 in folgendem Satz: „Die zu fordern-de Absicht des (ehemaligen) Vertrags-arztes, im MVZ tätig zu werden, wird sich – wie der Senat für die Zukunft klar-stellt – grundsätzlich auf eine Tätigkeits-dauer im MVZ von drei Jahren beziehen müssen, wobei die schrittweise Redukti-on des Tätigkeitsumfangs um eine Vier-telstelle in Abständen von einem Jahr unschädlich ist.“ Diese Aussage hat sich in den Köpfen aller Beteiligten dahinge-hend verdichtet, dass nur diese Möglich-keit der Zeitreduktion bestehe. Im Urteil

selbst stellt das BSG aber klar, dass es sich bei der Reduktion um eine Viertel-stelle jeweils nach einem Jahr um ein Beispiel handelt. Der relevante Satz hier lautet: „Wenn ein solcher Arzt zunächst ein Jahr in dem Umfang im MVZ tätig war, in dem er zuvor als zugelassener Arzt an der Versorgung teilgenommen hat, seinen Beschäftigungsumfang in den beiden folgenden Jahren aber ver-mindert, etwa indem er jeweils seinen Beschäftigungsumfang schrittweise um den Anrechnungsfaktor ein Viertel re-duziert, wirkt sich dies nicht auf das Nachbesetzungsrecht des MVZ aus, so-dass insoweit die allgemeinen Regelun-gen gelten.“ Die entscheidenden Worte sind also „etwa indem“. Das Wort „etwa“ ist nach dem Duden das Synonym für

„beispielsweise“. Exakt in dieser Weise benutzt der 6. Senat es auch. Im selben Urteil führt er zum Beispiel zu den un-vorhersehbaren Umständen, die trotz ei-ner Beendigung der Anstellung vor Ab-lauf der drei Jahre die Nachbesetzung nicht gefährden, wörtlich aus, dies kön-ne „etwa der Fall sein, wenn der Arzt er-krankt oder aus zwingenden Gründen seine Berufs- oder Lebensplanung än-dern musste“ und verweist überdies mit den Worten „etwa dem Versterben des Arztes“ auf eine Veröffentlichung in der juristischen Fachliteratur: Hier lautet die Formulierung „zum Beispiel wegen Tod oder Berufsunfähigkeit“.

Im Senatsurteil vom 3. August 2016 (B 6 KA 31/15 R) wird das Wort „etwa“ sogar sieben Mal als Synonym für „bei-spielsweise“ benutzt. In einem Urteil aus 1997 (6 RKa 52/97) nutzt er schließlich das Wortpaar „etwa indem“ in folgender Weise: „Zu Recht weist insoweit die Re-

vision darauf hin, dass das Gesetz ein derartiges Ziel mit einfachen sprachli-chen Mitteln hätte ausdrücken können, etwa indem in den Satz 1 das Wort ,al-lein‘ oder das Wort ,ausschließlich‘ hät-te eingefügt werden können.“ Niemand kann infrage stellen, dass es sich hierbei um Beispiele, nicht aber abschließend aufgeführte Möglichkeiten handelt.

Sprache – das Handwerkszeug der JuristenIm Ergebnis ist es auch völlig stringent, dass die genannte Möglichkeit der Re-duktion von einer Viertelstelle pro Jahr nur ein Beispiel ist. Das BSG betont nämlich in seiner Entscheidung, dass die Privilegierung des Verzichtes mit nachfolgender Anstellung darauf beruht, dass der Arzt seine Tätigkeit im Vertrags-arztsystem fortführt und nur den Status vom niedergelassenen Vertragsarzt zum Angestellten wechselt. Es zählt also nur der Status als solches. Dies wird noch-mals hervorgehoben, indem bekräftigt wird, dass sich der „Tätigkeitswille nur auf die Tätigkeit als solche“ beziehen müsse. Die Aussagen des BSG sind ein-deutig. Ein Arzt kann jederzeit seine Tä-tigkeit auf eine halbe oder Dreiviertel-stelle reduzieren – solange er den Status des Angestellten behält und sich sein Tä-tigkeitswille auf die ärztliche Tätigkeit als solche bezieht. Nur diese Auslegung wird schließlich dem allgemeinen Recht auf Arbeitszeitreduktion nach dem Teil-zeit- und Befristungsgesetz gerecht.

Man kann sicher sein, dass die Richter des höchsten deutschen Sozialgerichtes ihr Handwerkszeug verstehen. Die Wor-te „etwa indem“ bedeuten in der ständi-gen Terminologie des 6. Senates „bei-spielsweise indem“. Die Wortwahl des BSG ist kürzer und eleganter, wohl auch deshalb wurde ihre Bedeutung als bei-spielhafte Beschreibung einer Redukti-onsmöglichkeit von vielen bisher über-sehen. Dr. Ingo Pflugmacher, Fachanwalt für Medizin- und Verwaltungsrecht

Praxis konkret

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Rechtliche Lage

Neuregelung zur Verordnung von Cannabis auf Rezept

Darauf haben viele Patienten und ihre behandelnden Ärzte gewartet: Durch eine Änderung des Betäubungsmittelgesetzes können Patien-ten seit dem 10. März 2017 Cannabis auf Rezept bekommen, bezahlt von der Krankenkasse. Der Eigenanbau bleibt aber verboten.

I n Deutschland gehören Pflanzen und Pflanzenteile der Gattung Cannabis gemäß § 1 Betäubungsmittelgesetz

(BtMG) in Verbindung mit der Anlage I des BtMG zu den nicht verkehrsfähigen Stoffen. Ohne Genehmigung des Bun-desinstituts für Arzneimittel und Medi-zinprodukte (BfArM) sind Anbau, Her-stellung, Handel, Einfuhr, Ausfuhr, Ab-gabe, Veräußerung, sonstige Inverkehr-bringung, Erwerb und Besitz von allen Cannabispflanzenteilen nach §§ 29 ff. BtMG strafbar. Der Cannabiswirkstoff Tetrahydrocannabinol unterliegt der Anlage II des BtMG.

Mit der Verkündung der 25. Verord-nung zur Änderung betäubungsmittel-rechtlicher Vorschriften im Bundesge-setzblatt im Mai 2011 ist Cannabis in Deutschland, sofern es für die Zuberei-tung von Arzneimitteln verwendet wird, verkehrs- und cannabishaltige Fertigarz-neimittel sind verschreibungsfähig. Ab-weichend davon können Patienten bei der Bundesopiumstelle des BfArM eine Ausnahmegenehmigung nach § 3 Abs. 2 BtMG zum Erwerb von Cannabisblüten zur Anwendung im Rahmen einer ärzt-lich begleiteten Selbsttherapie beantra-gen. Im Antrag muss dargelegt sein, dass andere Therapien nicht ausreichend wirksam waren und eine Behandlung mit verschreibungsfähigen Cannabis-medikamenten nicht möglich ist, etwa weil die Krankenkasse die Kosten nicht übernimmt. Dem Antrag muss eine ärzt-liche Stellungnahme beigefügt werden.

Im Jahr 2007 wurde solch eine Aus-nahmegenehmigung erstmals für eine

Patientin mit Multipler Sklerose (MS) erteilt. Eine solche Genehmigung ist nach dem Gesetz nur ausnahmsweise zu wissenschaftlichen oder anderen im öf-fentlichen Interesse liegenden Zwecken möglich. Vorangegangen war die Legiti-mation durch ein Urteil des Bundesver-waltungsgerichtes (Az. 3C 17.04, Urteil vom 19. Mai 2005), das in der Sicherstel-lung der notwendigen medizinischen Versorgung der Bevölkerung einen im öffentlichen Interesse liegenden Zweck im Sinne des § 3 Abs. 2 BtMG sah.

Urteil zugunsten des EigenanbausAm 11. Januar 2011 entschied das Köl-ner Verwaltungsgericht (Az. 7 K 3889/09, Urteil vom 11. Januar 2011) erstmals, dass das Verbot des Eigenanbaus bei ei-nem Patienten mit MS und erheblichen Gleichgewichtsstörungen rechtswidrig war. Die beklagte Bundesrepublik Deutschland und auch der Kläger selbst gingen gegen die Entscheidung in die Berufung zum Oberverwaltungsgericht in Münster. Das Ziel der Bundesrepub-lik was es, den Eigenanbau zu verbieten, der Kläger hingegen wollte verhindern, dass das BfArM die Möglichkeit zur Ausübung von Ermessen erhielt. Das Oberverwaltungsgericht (Az. 13 A 414/11, Urteil vom 11. Juni 2014) wies beide Berufungen zurück und bestätigte die Entscheidung der Vorinstanz. Dar-aufhin zogen beide Seiten vor das Bun-desverwaltungsgericht und legten Revi-sion ein, die am 6. April 2016 zugunsten des Klägers entschieden wurde (Az. 3 C 10.14).

Das Bundesverwaltungsgericht ver-pflichtete damit das BfArM erstmals, eine Ausnahmeerlaubnis zum Eigenan-bau von Cannabis zu erteilen, da das Be-täubungsmittel für die medizinische Versorgung notwendig sei und keine vergleichbar wirksame und erschwingli-che Therapiealternative zur Verfügung stehe. Außerdem konnte das BfArM die Erlaubnis mit Nebenbestimmungen ver-sehen. Daraufhin hat das Bundesge-sundheitsministerium (BMG) einen Re-ferentenentwurf erarbeitet, der es er-möglicht, auch Cannabisblüten zur Be-handlung von Patienten zulasten der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) zu verordnen. Am 28. September 2016 wur-de durch das BfArM der erste Bescheid erlassen, mit dem einem Patienten tat-sächlich der Eigenanbau von Cannabis für seine medizinische Selbstversorgung gestattet wurde. Der Bescheid wurde bis zum 30. Juli 2017 befristet. Die Erlaubnis erlischt aber, sobald der Patient – gemäß neuem Gesetz – Cannabis aus der Apo-theke zulasten der GKV beziehen kann.

Gesetz seit März 2017 in KraftEinen Gesetzesentwurf des BMG hat der Bundestag am 19. Januar 2017 verab-schiedet, der am 10. März 2017 in Kraft trat. Demnach können bedürftige Schwerkranke staatlich kontrolliert an-gebautes Cannabis auf Rezept erhalten. Die Kosten werden von den Kranken-kassen übernommen. Ärzte müssen fortan entscheiden, ob eine Cannabis-therapie im jeweiligen Fall sinnvoll ist, vor allem wenn noch andere Behand-lungsoptionen bestehen.

Um die Versorgung sicherzustellen, wird der Anbau von Cannabis zu medi-zinischen Zwecken in Deutschland er-möglicht. Den Anbau koordiniert und kontrolliert eine staatliche Cannabis-agentur, die dem BfArM untersteht. Der

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Eigenanbau bleibt verboten, es gibt allerdings befristete Aus-nahmegenehmigungen. Damit entfallen in Zukunft Ausnah-megenehmigungen der Bundesopiumstelle am BfArM für den Erwerb von Cannabisprodukten.

Mit dem nun vorliegenden Gesetz wird nicht nur eine ver-einfachte Verordnung von Cannabis als Medizin möglich, son-dern in vielen Fällen auch die Kostenübernahme durch die Krankenkassen gesichert. So dürfen diese eine Erstattung der Kosten nur in begründeten Ausnahmefällen verweigern und werden gleichzeitig nach § 13 Abs. 3a SGB V verpflichtet, die Entscheidung über die Kostenübernahme binnen fünf Wochen ab Antragstellung zu treffen. Bei Patienten im Rahmen der SAPV müssen die Krankenkassen sogar binnen drei Tagen ent-scheiden. Leider fehlen im Gesetz aber exakte Definitionen der Krankheitsbilder, bei denen eine Verordnung erlaubt ist. Zwar begrenzt es die Möglichkeit zur Verschreibung von Cannabis und cannabisbasierten Medikamenten nicht auf bestimmte Er-krankungen, es eröffnet aber auch einen weiten Interpretati-onsrahmen für die Anwendung. Derzeit wird Cannabis gegen Spastiken bei MS sowie chronische Schmerzen bei Neuropa-thie, Rheuma, MS oder Krebs eingesetzt. Wirksam ist es auch bei Appetitlosigkeit bei AIDS, Krebs oder Alzheimer, bei Übel-keit infolge von Chemotherapien oder beim Tourette-Syndrom.

Ein Arzt kann auf Kosten der Krankenkassen Cannabisblü-ten, Cannabisextrakte sowie cannabisbasierte Medikamente wie Dronabinol und Nabilon verschreiben, wenn eine „nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine positive Wir-kung“ besteht. Er muss dabei, anders als ursprünglich vorgese-hen, zuvor nicht alle anderen Therapiemöglichkeiten auspro-biert haben. Allerdings muss der Medizinische Dienst der Kas-sen die Therapie genehmigen. Außerdem müssen die Patienten ihre Therapiedaten anonymisiert zur weiteren Erforschung der Cannabiswirkung zur Verfügung stellen.

Cannabisagentur soll Anbau regeln Bereits 1.020 Patienten haben vom BfArM eine Sondergeneh-migung erhalten. In der Regel müssen sie die Kosten dafür aber selbst tragen. Zwei Patienten wurde bislang die Erlaubnis für den Eigenanbau von Cannabis erteilt. Die Cannabisagentur soll künftig den Anbau regeln sowie Cannabis kaufen und an Her-steller und Apotheken deutschlandweit verteilen. Bis dahin – vermutlich bis 2019 – muss auf Importe, vornehmlich aus Isra-el und Australien, zurückgegriffen werden.

Aktuell sind noch viele Ärzte nicht ausreichend über das The-ma informiert, sie verbleiben daher abwartend oder skeptisch. Zudem sind die Preise für Cannabisblüten in den meisten Apo-theken angestiegen und die Krankenkassen lehnen die Kosten-übernahme oft ab. Derzeit geht man davon aus, dass die Zahl der Cannabisvordnungen zwar ansteigen, es aber doch bei Ein-zelfällen bleiben wird. Am Verbot von Hanf als Rauschmittel hat der Gesetzgeber nichts geändert.

Arno Zurstraßen M.A.Rechtsanwalt und Mediator im GesundheitswesenFachanwalt für Medizinrecht und Sozialrecht Aachener Straße 197 – 199, 50931 KölnE-Mail: [email protected]

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Praxis konkret Cannabis auf Rezept

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Organ der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. (DGS) www.dgschmerzmedizin.deOrgan der Deutschen Akademie für Ganzheitliche Schmerztherapie e. V. (DAGST) www.dagst.de Organ des Berufsverbands der Palliativmediziner in Westfalen-Lippe e. V. www.bv-palliativmediziner.de

Schriftleitung: Oliver Emrich, Ludwigs hafen; Johannes Horlemann, Kevelaer; Klaus H. Längler, Wegberg; Silvia Maurer, Bad-Bergzabern; Gerhard H. H. Müller-Schwefe, Göppingen; Michael A. Überall, Nürnberg; Ludwig Distler, Saarbrücken; Sven Gottschling, Homburg/Saar; Johannes Jäger, Homburg/Saar; Eberhard Albert Lux, LünenBeirat: Christoph Baerwald, Leipzig; Ralf Baron, Kiel; Wolfgang Bartel, Halberstadt; Klaus Borchert, Greifswald; Burkhart Bromm, Kiel; Thomas Cegla, Wuppertal; Peter Engeser, Pforzheim; Gideon Franck, Petersberg; Ingunde Fischer, Halle; Gerd Geißlinger, Frankfurt am Main; Astrid Gendolla, Essen; Hartmut Göbel, Kiel; Olaf Günther, Magdeburg; Winfried Hoerster, Gießen; Hilmar Hüneburg, Bonn; Uwe Junker, Remscheid; Bruno Kniesel, Hamburg; Marianne Koch, Tutzing; Torsten Kupke, Dresden; Michael Küster, Bonn; Christof Müller-Busch, Berlin; Norbert Schürmann, Moers; Joachim Nadstawek, Bonn; Hans-Günter Nobis, Bad Salzuflen; Thomas Nolte, Wiesbaden; Manfred Oberling, Bad Camberg; Michael Petermeyer, Diez; Robert F. Schmidt, Würzburg; Thomas Schindler, Berlin; Günther Schütze, Iserlohn; Hanne Seemann, St. Leon-Rot; Ralph Spintge, Lüdenscheid; Matthias Strittmatter, Merzig; Reinhard Thoma, München; Thomas Tölle, München; Roland Wörz, Bad Schönborn; Kati Thieme, Marburg; Hans-Joachim Willenbrink, Bremen; Walter Zieglgänsberger, München; Manfred Zimmermann, Schriesheim Verlag: Springer Medizin Verlag GmbH, Berlin Betriebstätte München: Springer Medizin Verlag

GmbH, Aschauer Str. 30, 81549 München, Tel.: 089 203043-1300, Fax: -1400, www.SpringerMedizin.deInhaber- und Beteiligungsverhältnisse: Die alleini-ge Gesellschafterin der Springer Medizin-Verlag GmbH ist die Springer-Verlag GmbH mit einer Be-teiligung von 100 %. Die Springer-Verlag GmbH ist eine 100 %ige Tochtergesellschaft der Sprin-ger Science+Business Media GmbH. Die alleinige Gesellschafterin der Springer Science+Business Media GmbH ist die Springer Science+Business Media Deutschland GmbH, die 100 % der Anteile hält. Die Springer Science+ Business Media Deutschland GmbH ist eine 100 %ige Tochterge-sellschaft der Springer SBM Two GmbH. Die Springer SBM Two GmbH ist eine 100 %ige Toch-ter der Springer SBM One GmbH. Die Springer SBM One GmbH ist eine 100 %ige Tochter der Springer SBM Zero GmbH. An der Springer SBM Zero GmbH hält die Springer Science+Business Media G.P. Acquisition S.C.A., Luxemburg, 47 % der Anteile und die GvH Vermögensverwaltungs-gesellschaft XXXIII mbH 53 % der Anteile. Geschäftsführer: Joachim Krieger, Fabian KaufmannLeiter Redaktion Facharztmagazine: Markus Seidl (es, v. i. S. d. P.)Ressortleitung Schmerzmedizin: Dr. rer. nat. Gunter Freese (frg)Verlagsredaktion: Dr. rer. nat. Gunter Freese (Leitung), Tel.: 089 203043-1435, Fax: -31435, E-Mail: [email protected], Christine Heckel (Assistenz, -1402, Fax: -31402, E-Mail: [email protected])Herstellung: Ulrike Drechsler (Leitung), Tel.: 06221 4878-662, E-Mail: [email protected]; Edda Führer (Layout)Corporate Publishing: Ulrike Hafner (Leitung), Tel.: 06221 4878-104, E-Mail: [email protected]: Odette Thomßen, Tel.: 030 82787-5740, E-Mail: [email protected] Es gilt die Anzeigenpreisliste vom 1.10.2016.Vertrieb: Marion Horn (Leitung), Tel.: 06102 506-148, E-Mail: [email protected]: MünchenDruck: KLIEMO, Hütte 53, B-4700 Eupen

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Ausgabe 4/17erscheint am 19. Juli 2017

Alle Beiträge aus dieser Zeitschrift finden Sie auch im Internet unter www.springermedizin.de/ schmerzmedizin

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CME-FortbildungEpileptische Anfälle bei Palliativpatienten

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