Anja Stahmann zu Besuch auf einer Hobbyköche aus … · Ich bin froh, dass sich die ... floh Sallo...

15
bremer kirchenzeitung Anja Stahmann zu Flüchtlingen in Bremen Das evangelische Magazin Dezember 2015 - März 2016 Besuch auf einer Weihnachtsbaum-Plantage Hobbyköche aus aller Welt kochen gemeinsam Frohe & gesegnete Weihnachten

Transcript of Anja Stahmann zu Besuch auf einer Hobbyköche aus … · Ich bin froh, dass sich die ... floh Sallo...

bremer kirchenzeitungAnja Stahmann zu

Flüchtlingen in Bremen

Das evangelische Magazin Dezember 2015 - März 2016

Besuch auf einerWeihnachtsbaum-Plantage

Hobbyköche aus allerWelt kochen gemeinsam

Frohe & gesegnete

Weihnachten

ImpressumUnser TitelbildDie bremer kirchenzeitung erscheint vier Mal im Jahr als Beilage zum Weser-Kurier und den Bremer Nachrichten. Namentlich gekennzeichnete Beiträge stellen nicht in jedem Fall die Meinung der Redaktion dar.Herausgeber: Bremische Evangelische Kirche (Mitglied im Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik), Franziuseck 2-4, 28199 BremenRedaktion: Sabine Hatscher & Matthias DembskiTitelfoto: Thilo Wichmann, Retusche: Ulrike RankGrafische Realisation: Rank - Grafik-DesignDruck, Vertrieb & Anzeigen: Bremer Tageszeitungen AG, Hagen Röpke, Michael Sulenski (verantwortlich), Telefon 0421 / 68 689-220 oder [email protected]

Die nächste Ausgabe der bremer kirchenzeitung erscheint am 19. März 2016.

Blick auf den Bremer Dom und den Weihnachtsmarkt aus ungewöhnlicher Perspektive: Vom Baugerüst der Kirche Unser Lieben Frauen bietet sich den Bauleuten derzeit ein interessanter Blick auf das weihnachtliche Bremen.

16

20

10

4Inhalt

3

4

6

8

10

12

14

16

18

20

22

24

Anja Stahmann: „Heute Flüchtling, morgen Bremer“

Coole neue Nachbarn: Vier Flüchtlingsgeschichten

Adopt a revolution: Ziviler Protest in Syrien

O du fröhliche... – Gedanken zu Weihnachten

O Tannenbaum... - Besuch auf einer Weihnachtsbaumplantage

Alles auf grün: Adventskranz, Christbaum & Co.

Evangelisches Bildungswerk: Bildung für Leib und Seele

Begegnung am Herd: Internationales Kochen

Schatzkammer des Lebens: Saatgutbank in Indien

Drahtesel wieder flott machen: Fahrradwerkstatt für Flüchtlinge

Von der Gabel bis zum Kleiderschrank: Die Allmende

Frei denken, frei glauben, frei leben: Attila von Unruh

Die Szene am Bremer Hauptbahnhof wird Anja Stahmann wohl für immer in Erinne-

rung bleiben. „Als ich an einem Septemberabend mit der Bundespolizei und vielen

Helfern am Bahnhof war, um die ersten, aus München kommenden Flüchtlinge zu

begrüßen, stand da ein riesiges Begrüßungskomitee. Diese unendliche Hilfsbereit-

schaft hat mich tief berührt. Mir sind die Tränen in die Augen geschossen, als ich die

ersten Familien aussteigen sah. Der Geruch aus dem Zug ist schwer zu beschreiben,

aber so riechen Krieg, Flucht und Angst. Es war eine unheimliche Stille, die Menschen

haben kaum miteinander gesprochen. Ich habe einen Vater gesehen, der seine Kinder

nur mit Augenkontakt und kurzen Berührungen dirigierte. Ein vielleicht achtjähriger

Junge schob einen über und über mit Plastiktüten behängten Kinderwagen mit seiner

kleinen Schwester über den Bahnsteig, und dieser kleine Junge wirkte so furchtbar

erwachsen. Nach einer halben Stunde, als wir die Menschen in ihren Sprachen in

Bremen willkommen heißen konnten, habe ich ein leichtes Lächeln in den Gesichtern

entdeckt, vorsichtiges Kopfnicken. Das war der schönste Moment, da bekomme ich

jetzt noch eine Gänsehaut.“ Oft suche man den Sinn von dem, was man tue. „In die-

sem Moment hatten wir alle das Gefühl: Was wir hier tun, ist total sinnvoll!“

„Bremen ist im sozialen Zusammenhalt gut“

Allein seit September sind in Bremen 15.000 Flüchtlinge angekommen. „Wenn mir

das vor zweieinhalb Jahren jemand gesagt hätte, wäre das eine für mich unvorstellba-

re Zahl gewesen. Ich staune über die Bremerinnen und Bremer, wie wir das – sicherlich

auch mit viel Improvisation – hinbekommen. Vieles gelingt, weil diese Stadt im sozia-

len Zusammenhalt gut ist.“ Wenn die Zeltunterkünfte den Winter über stehen bleiben

müssten, sei das natürlich keine befriedigende Situation. Aber in der Sozialbehörde

krempele man die Ärmel hoch: „Wir sind dabei, möglichst schnell alles möglich zu

machen, was geht, um nicht noch mehr Turnhallen und Zelte nutzen zu müssen.“

„Das Wort ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘ ist ein Unwort“

„Immer wenn ich in Flüchtlingsunterkünften unterwegs bin, treffe ich auf offene,

freundliche, dankbare und interessierte Menschen, die aber zweifelsohne aus einer

anderen Kultur kommen. Wir können uns nur schwer vorstellen, wie groß Not, Angst

und Verzweifelung sein müssen, um alles Vertraute - Freunde, Eltern, Arbeit oder Stu-

dium und die eigene Wohnung - zurückzulassen. Das Wort „Wirtschaftsflüchtlinge“ ist

ein Unwort. Wer sich nicht mehr versorgen kann, weil alles kaputt ist, kommt natür-

lich auch aus wirtschaftlichen Gründen.“ Wer Flüchtlinge treffe, bei dem würden sich

solche Vorurteile schnell in Luft auflösen. „Wer wie AFD-Beiratsmitglieder in manchen

Stadtteilen sein politisches Süppchen aus dem Leid der Flüchtlinge kocht, ohne jemals

mit ihnen Kontakt gehabt zu haben, macht mich wütend. Ich bin froh, dass sich die

Beiräte bremenweit zur Aufnahme und Integration von Flüchtlingen bekennen.“ Das

ehrenamtliche Engagement ist für Anja Stahmann unerlässlich: „Eine Sozialsenatorin

allein kann diese Megaaufgabe nicht schaffen, dafür brauche ich die ganze Stadt.

Auch die christlichen Kirchen und die muslimische Schura leisten da großartige und

wertvolle Beiträge.“ Langfristig wünscht sich Anja Stahmann ein Patensystem, um

die Menschen dabei zu unterstützen, hier heimisch zu werden, auch wenn sie später

in eigenen Wohnungen leben. Nach dem Motto: Heute Flüchtling, morgen Bremer!“

Sprache und Bildung sind für die Sozialsenatorin die wichtigsten Schlüssel zur Inte-

gration. „Was die bremische Wirtschaft schon an Praktikums- und Ausbildungsplätzen

auf den Weg gebracht hat, ist großartig.“ Die meisten Flüchtlinge werden langfristig

hier bleiben. „Das bedeutet für uns zu teilen. Auch unsere Gesellschaft wird sich

verändern. Das merke ich an der Bundeskanzlerin: Sie hat sich ihre Menschlichkeit im

politischen Geschäft bewahrt, was nicht immer leicht ist. Ich bewundere, wie konse-

quent sie das durchhält.“

Weihnachtsgottesdienst unbedingt mit Krippenspiel

Auf dem Schreibtisch von Anja Stahmann steht eine kleine Filz-Weihnachtskrippe.

„Die hat mir der Streetworker Harald Schröder vorbeigebracht, der eine engagierte

Arbeit für wohnungslose Menschen in der Bremer City macht. Solche Post im Advent

liebe ich.“ Sie selbst will Weihnachten mit der Familie feiern . „Nach diesem turbulen-

ten Jahr freue ich mich auf Ruhe, um die Seele baumeln zu lassen“, sagt die Wallerin.

Der Gottesdienstbesuch gehört fest dazu. „Aber unbedingt mit Krippenspiel, ich spie-

le ja auch selber in der Freizeit Theater und war früher in der kirchlichen Jugendarbeit

aktiv. Ein Krippenspiel ist die optimale Einstimmung auf Weihnachten!“

„Heute Flüchtling, morgen Bremer“Anja Stahmann über Gänsehaut-Momente,

Flüchtlingspaten und Krippenspiele

www.kirche-bremen.de · bremer kirchenzeitung Dezember 2015 3

Anja Stahmann

Sozialsenatorin

Gespräch: Matthias Dembski | Foto: Senatspressestelle

www.kirche-bremen.de bremer kirchenzeitung Dezember 2015 54 bremer kirchenzeitung Dezember 2015 · www.kirche-bremen.de

Gebrekrstos Tesfay:„Glaube als Brücke zwischen alter und neuer Heimat“

Nidal Sallo:„Schnell wieder in einen qualifizierten Job“

Madjid Mohit:„Keine Literatur macht soviel Genuss wie Lyrik“

Familie Idemudia:„Gute Bildung für eine bessere Zukunft“

„Ich bin Vermessungsingenieur und komme aus Syrien. Das Ingenieurbüro, für das

ich in meiner Heimat gearbeitet habe, hat bis nach Algerien und auch im Irak Bau-

stellen betreut. Wir waren auf Wasserversorgungssysteme und Brückenplanung spe-

zialisiert“, erzählt Nidal Sallo in fließendem Englisch. Sein Team war multinational,

die Firma lief gut. Dienstwagen und ein modern ausgestattetes Büro waren Standard.

„Wir haben mit GPS-gestützer Planung gearbeitet. Vor allem haben wir Pläne auf Feh-

ler überprüft, weil örtliche Leitungsnetze oft fehlerhaft kartiert wurden.“ In Deutsch-

land hofft er, irgendwann wieder in seinem Beruf arbeiten zu können. „Dafür will ich

schnell Deutsch lernen, denn ich bin schon Mitte 40. Mein Sprachkurs beginnt kurz

vor Weihnachten. Ich weiß nicht, ob ich hier in meinem Beruf noch einmal starten

kann, aber ich wünsche es mir.“

Auf seinem Smartphone zeigt er Fotos von seinem zerstörten Haus in Aleppo. „Hier

habe ich mit meiner Familie gewohnt.“ Die Aufnahme zeigt eine Schuttlandschaft mit

Betonbergen, von der man nur ahnen kann, dass dies mal eine Stadt war. „Wir sind

aufs Land zu Verwandten geflohen.“ Als die Terrormilizen des IS das Dorf eroberten

und die Männer zum Militärdienst zwingen wollten, floh Sallo in die Kurdengebiete,

wo er befristet eine Stelle als Projektingenieur fand.

„Danach war ich fünf Monate arbeitslos. Allmählich ging das Geld zu Ende. Als im

Norden Kämpfe ausbrachen und Bomben fielen, bin ich zu Fuß über die Türkei und

Griechenland nach Ungarn geflohen.“ Von dort gelangte er per Zug im August nach

München. „Meinen Sohn habe ich unterwegs zweimal verloren. Glücklicherweise kam

er auf Umwegen zu Verwandten nach Osnabrück.“ Wann die Familienzusammenfüh-

rung stattfinden kann, ist noch unklar. „Natürlich möchte ich mit ihm zusammen-

leben und auch schnell meine Frau und meine anderen beiden Kinder aus Syrien

hierher nachholen, damit auch sie in Sicherheit sind. Zwei Jahre auf ein Visum für den

Nachzug zu warten, halte ich nicht aus.“

„Mit achtzig bis 100 anderen Eritreern feiern wir im St. Petri Dom regelmäßig eritre-

isch-orthoxe Gottesdienste“, erzählt Gebrekrstos Tesfay, der sie auch organisiert. „Als

Flüchtlinge leben wir in Deutschland in einer ganz anderen Kultur, deshalb ist der

Glaube als Orientierung besonders wichtig. Das Christentum ist unsere Brücke zwi-

schen unserer alten und der neuen Heimat. Wir freuen uns über die Gastfreundschaft

der Domgemeinde.“ Die eritreische Gemeinde besteht überwiegend aus Flüchtlingen.

„Auch unsere beiden jungen Priester, die aus Hannover und Hamburg zum Gottes-

dienst anreisen, sind Flüchtlinge. Die Menschen in Eritrea sind enger im Kontakt mit

Kirche und Tradition, der Gottesdienstbesuch gehört fest zum Sonntag.“

In Tesfays Heimat, einem abgeschotteten Land unter totalitärer Kontrolle einer Ein-

heitspartei, gilt die Menschenrechtslage als besorgniserregend. „Nach meinem Öko-

nomiestudium musste ich fünf Jahre zwangsweise als Lehrer für monatlich 500 Nakfa

(5 Euro) arbeiten, bis ich geflohen bin. Ohne die Unterstützung meiner Eltern hätte

ich nicht überleben können. Mein Abschlusszeugnis hat die Uni behalten, damit ich

nicht versuche, das Land zu verlassen. Wer sich dem Zwangsdienst widersetzt, ver-

schwindet oder wird eingesperrt.“ 300 Gefängnisse gebe es in dem kleinen nordost-

afrikanischen Land. Auf der Flucht durch die Sahara und übers Mittelmeer hat Tesfay

Schreckliches erlebt: Ein Pickup voller Flüchtlinge auf offener Ladefläche, der sich

überschlug, Schlepper, die einen Flüchtling mit dem Jeep zu Tode schleiften, ein über-

fülltes Boot, dessen Kapitän auf hoher See von Bord zu gehen versuchte.

„Seit August 2014 lebe ich in Bremen, habe gerade fünf Stunden täglich Deutschun-

terricht und besuche an der Uni Vorlesungen und Kurse für Flüchtlinge. Ein komplet-

tes Studium werde ich hier nicht mehr absolvieren können, das dauert zu lange und

ist zu teuer. Ich hoffe, im Rahmen des Sprachkurses ein Praktikum und anschließend

eine Ausbildung machen zu können, vielleicht als Elektriker.“ Am 6. Januar feiern die

eritreischen Christen ihr orthodoxes Weihnachtsfest. „Mein Bruder, der als Flüchtling

in Mülheim lebt, wird kommen. Außerdem habe ich hier deutsche Freunde gefunden,

die meine neue Familie geworden sind und mir helfen, hier heimisch zu werden.“

Luftwurzeln sind beweglich, wachsen über Grenzen hinaus und reagieren auf ihre

Umwelt. Der Bremer Verleger Madjid Mohit (54) ist davon überzeugt, dass auch Men-

schen Luftwurzeln schlagen. Menschen, die reisen, auswandern, flüchten, eine neue

Heimat finden.

Mohit ist einer von ihnen – ein Verleger und Literat, der Anfang der 1990er Jahre vor

der Zensur im Iran nach Deutschland flüchtete und nun in Bremen „Luftwurzellitera-

tur“ verkauft. Das deutsche PEN-Zentrum hat ihn dafür kürzlich mit dem Hermann-

Kesten-Preis ausgezeichnet, „für seine kontinuierliche und beeindruckende Arbeit für

Autoren, die nicht in ihrem Heimatland leben und publizieren wollen oder können“.

„Sujet“, was Thema bedeutet, heißt der kleine Verlag, den er 1996 in der Bremer

Bahnhofsvorstadt gegründet hat. „Ein idealer Name für einen Verlag, der sich der

großen Tabu-Themen in meiner Heimat annimmt wie Politik, Sexualität, Moderne und

Verfolgung“, sagt Mohit, der Bücher liebt. „Ein Raum ohne Bücher ist wie ein Körper

ohne Seele“, steht an der Wand neben seinem Schreibtisch geschrieben. Und: „Ein

Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“

Der gebürtige Teheraner stammt aus einer alten Verleger-Familie. Sein Großvater

publizierte das erste deutsch-persische Wörterbuch. Im Programm seines Verlages

finden sich aktuell mehr als 150 Titel: Krimis, Satire, auch Sachbücher. Aber beson-

ders Gedichtbände mit dem Schwerpunkt moderne iranische Lyrik. Und eben „Luft-

wurzelliteratur“ von Autoren, die nicht an einen Ort gebunden sind und nicht nur

mit wehmütigem Blick in ihre Heimat zurückblicken, sondern ihre Erfahrungen vom

Leben in unterschiedlichen Kulturen schildern. Mohits Start in Deutschland war nicht

einfach. „Ich musste zunächst die Sprache lernen, bevor ich wieder in meiner Branche

aktiv sein konnte. Das war nicht leicht.“ Mit einer Druckmaschine erledigte er kleine

Aufträge, um sein erstes Buch zu finanzieren: „Die Schatten“ von Mahmood Falaki.

Mittlerweile ist das Verlagsprogramm vielfältig. Und doch bleibt die Lyrik eine wich-

tige Säule, auch wenn Gedichtbände in Deutschland selten zu den Kassenschlagern

gehören. Doch er kenne keine andere Form der Literatur, meint Mohit, „die so viel

Genuss macht wie Lyrik“.

Familie Idemudia ist 2013 aus Nigeria, wo Boko Haram Terror verbreitet, nach

Deutschland geflohen und „gut angekommen, wir haben viele Kontakte zu Deut-

schen, alle sind sehr nett“, sagt Mutter Helen. Die fünf Kinder sprechen mittlerweile

fließend Deutsch, vier besuchen die International School Bremen (ISB), Favour (2)

geht in den Kindergarten. „Ich wünsche mir eine bessere Bildung und Zukunftschan-

cen für meine Kinder“, sagt Helen Idemudia. Die haben konkrete Vorstellungen: Jen-

nifer (14) möchte gerne OP-Schwester werden, weil sie sich für Biologie interessiert.

„Kunst und Mathe sind nicht so meine Stärken, aber ansonsten läuft‘s ganz gut.“

Ihr Bruder Bright mag am liebsten Spanisch und Mathe – Berufswunsch Ingenieur.

Precious (9) will Lehrerin werden. „Da musst du aber gut und lange lernen“, wirft ihre

Mutter ein. „Dann werde ich eben Rechtsanwältin“, meint Precious. „Das passt, sie

redet gerne und viel“, lacht ihre Zwillingsschwester Promise. Mutter Helen hat fürs

kommende Jahr ein wichtiges Ziel: Ich suche eine Praktikumsplatz, um Verkäuferin zu

werden. „Heute habe ich eine Bewerbung abgeschickt. Wenn das klappt, geht mein

größter Weihnachtswunsch in Erfüllung. In Nigeria konnte ich keine Ausbildung ma-

chen, meine Mutter musste die Familie allein durchbringen. Für meine Kinder soll das

alles besser werden, ich bin froh, dass meine Kinder so gut lernen!“

Texte: Dieter Sell & Matthias Dembski | Fotos: epd-Bild/ Matthias Dembski

Eintrittskarten für „Bremen trifft Westafrika“

Benefizkonzert für Togo und Ghana mit internationalen Speisen

20. Februar, 18 Uhr, Kirche Tenever, St. Gotthard-Straße 140

u.a. mit dem Chor ohne Grenzen, Joy of the Lord Chor,

Ady & Zion Community Choir & Doi la Africa

Vorverkauf: 7,50 Euro im Kapitel 8, Domsheide 8

Coole neue NachbarnVier Flüchtlings-Geschichten

Geschenk - Tipp:

„Wofür die Menschen in Syrien auf die Straße gehen,

das sind unsere Werte: Freiheit, Demokratie, Menschen-

rechte und -würde. Deshalb dürfen wir die syrische Zi-

vilgesellschaft nicht allein lassen, gerade jetzt nicht“,

sagt Ferdinand Dürr. Der Physiker und Politologe ist

Geschäftsführer von „Adopt a Revolution“. Eine zivile

Brücke in das Bürgerkriegsland Syrien zu bauen ist das

Ziel der Hilfsorganisation, die für ihre politische und hu-

manitäre Arbeit kürzlich den Bremer Friedenspreis der

Stiftung „Die Schwelle“ bekommen hat. „Anfangs war

das Bild klar: Ein böser Diktator, eine gute Opposition“,

erinert sich Ferdinand Dürr. Sophie Bischoff, ebenfalls

bei „Adopt“ aktiv, war bis 2011 in Syrien, bevor sie ihr

Arabistik-Studium aufnahm. „Mich hat beeindruckt, wie

jung die Protestbewegung war. Vor allem die 18- bis

28-Jährigen haben demonstriert.“ Alan Hassaf ist einer,

der damals dabei war. „In Syrien herrscht unter Assad

eine Einheitspartei, die andere politische Bewegungen

und freie Medien nicht zulässt. Versammlungen von

mehr als drei Personen sind nicht erlaubt, wenn über

politische oder soziale Fragen gesprochen wird – we-

der auf der Straße noch in Privaträumen. Man lebt in

ständiger Angst vor Verhaftungen, die völlig willkürlich

erfolgen. Hinzu kommt die schlechte wirtschaftliche Si-

tuation: viele Arbeitslose, keine guten Jobaussichten für

junge Menschen. Selbst qualifizierte Leute verdienen

in Syrien umgerechnet nur 130 Euro im Monat, dafür

blühen Vetternwirtschaft und Korruption des Regimes.“

Hassaf, Mitte 20, studierte in Syrien Soziologie. „In

meiner Heimat hätte ich niemals einen Job bekommen,

auswandern war schwierig, außerdem wollte ich lieber

etwas im Land verändern.“ Der Student schloß sich der

Protestbewegung an und organisierte Demos in Uni-

städten, bis er in die Türkei fliehen musste, weil es zu

gefährlich wurde.

Junger, demokratischer Protest

„Die Proteste waren trotz der Gefahr für Leib und Leben

der Demonstranten beeindruckend: Landesweit 400

Oppositionskomitees, jede Woche 1.000 Freitagsdemos

– diesen zivilen Protest wollten wir weiter unterstützen“,

www.kirche-bremen.de · bremer kirchenzeitung Dezember 2015 7

Adopt a revolution Trotz wachsender militärischer Gewalt ist der zivile Protest in Syrien stark

erinnert sich Ferdinand Dürr. „Als ein Freund aus Syrien

zurückkam, haben wir überlegt, was wir von hier aus tun

konnten, um die syrische Opposition zu unterstützen, zu

der er Kontakt hatte“, erinnert sich Ferdinand Dürr. Men-

schen in Deutschland für das Schicksal der Syrer interes-

sieren, das war angesagt. „Wir haben die internationale

Medienarbeit von Oppositionellen mit aufgebaut.“ Im

Herbst 2011 wird allmählich klar: Der syrische Frühling,

die Erneuerungsbewegung, gerät ins Stocken. „Wir woll-

ten nicht zuschauen, wie es der Westen viel zu lange ge-

tan hat“, erinnern sich Dürr und Bischoff. Die Idee von

„Adopt a revolution“ („Adoptieren Sie eine Revolution“)

ist geboren. Die Organisation sammelt Geld für zivilge-

sellschaftliche Projekte, unterstützt die digitalen Kommu-

nikationskanäle der Protestbewegung und sorgt so für

Vernetzung. „Wir haben unsere Leute vor Ort und können

Infos sofort gegenchecken und überprüfen, wohin Spen-

dengelder gehen und welche Projekte realistisch sind.“

Syrienweit Kontakte und Projekte

Mit der Unterstützung von Adopt a Revolution können

die syrischen Partner Zentren aufbauen. Dort finden Kur-

se über Frauenrechte, Theaterprojekte gegen den wach-

senden islamistischen Einfluss und vor allem Bildungs-

und Jugendarbeit wie z.B. Hausaufgabenhilfe statt.

Viele kleine Projekte unterstützt die Organisation. Dazu

zählen Kulturfestivals, Streetart-Projekte, ein Friedensma-

rathon, ein kurdisches Kindermagazin, ein Netzwerk für

Aus- und Weiterbildung, Flyeraktionen, Bibliotheken in

belagerten Regionen und der Wiederaufbau von Schu-

len und Kindergärten. 21 Projekte fördert Adopt a Revo-

lution aktuell, mit über 40 zivilen Oppositionsgruppen

steht man in Kontakt.

Selbst da, wo islamistische Terrormilizen die Macht an

sich gerissen haben, gibt es wieder Protestaktionen.

„Händler und Geschäfte organisieren Generalstreiks und

machen zu. Selbst wenn das öffentliche Leben nur einen

Tag bracht liegt, ist das ein Erfolg gegen die Islamisten.“

Ziviler, gewaltloser Protest sei möglich, auch wenn es

immer wieder Rückschläge gibt, Zentren zerstört werden

und Aktivisten fliehen müssen. Jetzt, wo die Russen und

auch der Westen mit Luftangriffen in Syrien eingreifen,

wird die Lage für die Opposition unübersichtlicher und

gefährlicher. „Eine Tornado-Flugstunde kostet vermutlich

soviel wie alle unsere Projekte im ganzen Jahr“, meint Fer-

dinand Dürr. Frieden würden die Angriffe nicht bringen,

nur das Leid der Zivilbevölkerung werde wachsen. „Trotz

allem gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass ich eines

Tages wieder in meinem Lieblingscafé in Damaskus sit-

zen kann“, sagt Alan Hassaf. „Die Friedensarbeit unserer

Partner vor Ort macht uns Mut. Wir glauben gemeinsam

an eine bessere, friedliche Zukunft in Syrien.“

Text: Matthias Dembski | Fotos: Matthias Dembski/Reuters

Kontakt

[email protected]

Spendenkonto

about.change e.V.

IBAN: DE98 8602 0500 0003 5368 00

BIC: BFSWDE33LPZ

Infos zu Projekten und zur Lage in Syrien:

www.adoptrevolution.org

„Zivilgesellschaft stärken“

Der Friedensbeauftragte der Evangelischen Kirche

in Deutschland (EKD), Renke Brahms, hat vor einem

Einsatz der Bundeswehr in Syrien gewarnt. Nach den

Grundsätzen evangelischer Friedensethik müsse für

einen militärischen Einsatz als äußerstes Mittel einer

rechtserhaltenden Gewalt zwingend ein Mandat des

UN-Sicherheitsrates vorliegen. „Wir dürfen das ohne-

hin durch Einsätze in der Vergangenheit angeschla-

gene Völkerrecht nicht weiter aushöhlen“, mahnte

Brahms.

Der Bundestag hat Anfang Dezember entschieden,

die Bundeswehr im Kampf gegen den „Islamischen

Staat“ (IS) in Syrien einzusetzen. Aus der Sicht von

Brahms wird „jede direkte militärische Intervention

oder gar ein Einsatz von Bodentruppen die Eskalati-

on beschleunigen. Das aber ist genau das Kalkül des

IS, damit gehen wir den Terroristen auf den Leim.“

In Solidarität zu den Opfern von Anschlägen in Pa-

ris, Ankara, Beirut, Tunis und vielen anderen Städten

Syriens und des Irak komme es darauf an, den Terro-

risten mit polizeilichen Mitteln entgegen zu treten.

„Auch mit geheimdienstlicher Arbeit und vor allem

im Vorrang des Politischen“, betonte der Friedensbe-

auftragte. „Terrorismus ist ein Verbrechen und ist wie

ein Verbrechen zu bekämpfen. Deshalb ist zunächst

und zuallererst auf den politischen Prozess zu set-

zen.“ Die Kriegsrhetorik dagegen führe in die Irre.

Es komme beispielsweise darauf an, die Finanzströ-

me und den Ölverkauf des IS endgültig zu unterbre-

chen. „Hier gilt es alle am Konflikt beteiligten Län-

der, auch Russland und die Nachbarn Syriens.“ Die

internationale Staatengemeinschaft müsse auf ei-

nen geduldigen Weg politischer Überzeugungsarbeit

setzen. „Besondere Bedeutung hat da die Zusam-

menarbeit mit den wenigen in Syrien verbliebenen

zivilgesellschaftlichen Friedensakteuren“, unterstrich

Brahms. Bedeutsam sei in diesem Zusammenhang

auch die Unterstützung der Bundesregierung für das

Flüchtlingshilfswerk UNHCR, dem für die Arbeit mit

syrischen Geld fehle.

epd-Gespräch: Dieter Sell | Foto: BEK

Die vollständige Stellungnahme

des EKD-Friedensbeauftragten

bit.ly/1ITSK2h

Ferdinand Dürr, Sophie Bischoff und Alan HassafMarktpassage in Aleppo vor dem Krieg und heute

EKD-Friedensbeauftragter

Renke Brahms warnt

vor militärischem

Eingreifen in Syrien

6 bremer kirchenzeitung Dezember 2015 · www.kirche-bremen.de

Zerstrittenes Land

Kurden

Assad-Regime

Assad-Gegner

IS-Terror-Organisation

Quelle: liveuamap.com

Der Bürgerkrieg in Syrien hat das Land tief gespalten.

Von Außen ist schwer erkennbar, wo die Fronten ver-

laufen und wer gegen wen kämpft. Die IS-Terrororga-

nisation kontrolliert mittlerweile weite Teile Syriens,

im Westen stehen sich vor allem das diktatorische

Assad-Regime und seine Gegner gegenüber.

Ein grauer Dezembermorgen, ich will gerade die

Heizung in der Kirche für die Krippenspielprobe

am Nachmittag anstellen. Vor der Tür begegnet

mir ein Handwerker und sagt: „Moin, na, was sind

sie denn so fröhlich heute früh. Wohl schon in

Weihnachtsstimmung?“ Ich hatte selbst kaum bemerkt,

dass ich offenbar gerade ‚O du fröhliche‘ vor mich hin

gepfiffen habe und antworte ihm, ohne lange nach­

zudenken. „Ja, ich freue mich auf Weihnachten“. Er

entgegnet: „Also mir könn‘se wegbleiben mit dem

ganzen Weihnachtskram. Das ist doch alles rührseliger

Kitsch. In der Kirche singen die Leute ‚O du fröhliche‘,

und um uns herum ist das Elend. Wie passt denn das

zusammen? Ich schau ihn an, und während ich noch

über eine Antwort nachdenke, sagt er bereits: „Lassen

Sie es gut sein. Ich mach mich jetzt an die Arbeit.“ Er

geht weiter.

Hoffnungslied mitten in der Not

Seine Frage begleitet mich. Als ich in unserer Kirche

bin, überlege ich, wie viele Menschen hier schon

im Laufe von über fünfzig Jahren ‚O du fröhliche‘

gesungen haben. Das Lied ist ein Inbegriff der

Weihnachtsfreude geworden. Die eingängige Melodie

gehört ursprünglich zu einem sizilianischen Schifferlied.

Als Johannes Falk und Heinrich Holzschuher es 1819

verfassten, hatten viele Menschen in ihrem Umfeld

Sehnsucht nach Zuversicht und Freude. Es gab damals

in Europa große Not in Folge der napoleonischen

Kriege. Johannes Falk engagierte sich besonders für

Waisenkinder. Der einfache Text des Liedes sollte

leicht verständlich die Weihnachtsbotschaft ins Ohr

und ins Herz bringen.

Die Wirklichkeit vernebelt?

O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weih­

nachtszeit. Welt ging verloren, Christ ward geboren. –

Aber was ist mit der Frage des Handwerkers? Vielleicht

stimmt es, dass wir mit einem solchen Lied nicht mehr

tun, als für einen Moment die Wirklichkeit mit einem

zuversichtlichen Klang zu vernebeln? Haben wir wirk­

lich einen Grund, uns zu freuen? In meinen Gedanken

ziehen Schreckensbilder des zu Ende gehenden Jahres

an mir vorüber: Szenen aus den Kriegsgebieten in

Syrien und im Irak, Flüchtlinge, die auf ihrem Weg

nach Europa im Mittelmeer ertrinken, der Absturz

einer Germanwings­Maschine über den französischen

Alpen, die Terroranschläge in Paris. ­ Ich denke auch

an Menschen in meiner Gemeinde, die gerade wenig

Grund zur Freude haben. Zum Beispiel an Matthias,

der oft schon morgens zugedröhnt am Szenetreff um

die Ecke zu finden ist. Ich denke an Frau Müller, die

vor ein paar Wochen plötzlich ihren Mann verloren

hat. Werden sie in diesem Jahr in ein ‚O du fröhliche‘

einstimmen? Oder werden sie vor allem hoffen, dass

die Weihnachtszeit möglichst schnell vorbei geht?

Wie wäre es ohne Weihnachten?

Einen Moment lang versuche ich mir vorzustellen,

wie es wäre, wenn es das Weihnachtsfest nicht

gäbe. Ich glaube, das wäre für mich wie eine nicht

endende hoffnungslose Dunkelheit. Ich erinnere

mich an ein Weihnachtsfest vor Jahren, an dem es

mir selbst überhaupt nicht gut ging. Damals im

Weihnachtsgottesdienst war mir nicht nach fröh­

lichem Singen, aber die Botschaft vom Licht, das

die Finsternis durchdringt, und die hoffnungsfrohen

Lieder haben mich durchaus getröstet.

Ein Lied voller Weihnachtsfreude

Ich bin sehr froh, dass es auch in diesem Jahr

Weihnachten werden wird. Denn es ist ja das

Geheimnis von Weihnachten, dass mitten in unserer

friedlosen, bedrohten, verletzlichen Welt Gott ganz

nahe kommt, als Kind, als Mensch. Die Geburt von

Jesus Christus im Stall von Bethlehem gibt so vielen

Menschen überall auf der Erde Hoffnung. Es ist eine

Hoffnung, die davon erzählt, dass die Zuversicht, die

Liebe, das Leben, die Freude stärker sind als alle dun­

klen Mächte.

Wenn wir an Weihnachten in den Gottesdiensten

in unserer Kirche ‚O du fröhliche‘ im Schein des

Kerzenlichtes singen, dann ist für mich in diesem

Moment die Weihnachtsfreude zu greifen. Ich sehe

das Leuchten in den Augen der Menschen, nicht sel­

ten unter dem Glitzern von Tränen. Ich wünsche mir,

dass die Hoffnung und die Freude von Weihnachten

lange unsere Herzen erfüllen, und wir sie ausstrahlen

in die Welt. „Freue, freue dich oh Christenheit.“

Ulrike Bänsch

ist Pastorin in der Gemeinde

Aumund reformiert

8 bremer kirchenzeitung Dezember 2015 · www.kirche-bremen.de

O du fröhliche...

www.kirche-bremen.de · bremer kirchenzeitung Dezember 2015 9

G ott spricht: Ich will euch trösten,

wie einen seine Mutter tröstet.Die Bibel, Prophet Jesaja, Kapitel 66, Vers 13

Foto: epd-Bild

Jahreslosung 2016

Noch einmal dreht der Motor des Baumfällers auf, dann ist der Stamm des Tannen-

baums sauber durchtrennt. Forstwirt Hanno Dehlwes richtet die über zwei Meter hohe

Nordmanntanne auf und wirft einen prüfenden Blick auf den gerade gefällten Baum.

Anfang Dezember herrscht auf dem Orthhof in Lilienthal bereits Hochbetrieb. Die

ersten Großabnehmer und Händler holen sich ihre Weihnachtsbäume ab, spätestens

Mitte Dezember brummt das Privatkundengeschäft auf dem idyllischen Forsthof vor

den Toren Bremens. Auf zehn Hektar stehen dort um die 60.000 Tannen, die auf

eine Karriere als Christbaum warten. Weihnachtsbäume anzubauen, braucht einen

langen Atem. „Ab dem fünften oder sechsten Jahr kann man Bäume entnehmen“,

erklärt Dehlwes. Doch die meisten brauchen vom kleinen Setzling bis zum stattlichen

Christbaum zwischen zehn und vierzehn Jahre.

Aufwändige Hege und Pflege

Wenn die zehn Zentimeter kleinen Setzlinge aus der Baumschule kommen, erleben sie

bereits ihren ersten Härtetest. „Mit einem Unterschneidepflug werden ihre Wurzeln

durchtrennt.“ Danach müssen sie in der Schonung des Orthhofes neu anwachsen.

„Das stärkt die Bäume, weil sie ihre Wurzeln neu ausbilden müssen“, erläutert der

Forstwirt. Im Frühjahr bekommen sie einmal Mineraldünger, der ihnen dabei hilft.

„Die Böden sind hier sandig und haben nur einen geringen Lehmanteil. „Gerade

wenn vorher ausgewachsene Bäume entnommen wurden, verliert der Boden an Nähr-

stoffen.“ Einmal im Frühjahr setzt Dehlwes die Pflanzenschutz-Spritze ein. „Es hilft, die

keimenden Krautsamen einmal mit einem Bodenherbizid zu behandeln, ansonsten

steht das Unkraut in kurzer Zeit um ein Vielfaches höher als die frischen Setzlinge,

was ihnen das Licht nimmt.“ Später im Jahr erfolgt die Kulturpflege rein mechanisch.

„Das Kraut zwischen den Bäumen wird gemäht und gehäkselt.“ Der Mulch bleibt

liegen und düngt den Boden. In der Ruhezeit ist die Schonung mit den kleinen Bäum-

chen ein beliebter Nistplatz. „Während die Vögel brüten, bearbeiten wir den Boden

nicht.“ Manchmal, wenn Zeit bleibt, sitzt Hanno Dehlwes auch an seinem Küchen-

fenster und schaut durchs Fernglas. „Da sieht man Waldschnepfen und Zaunkönige.“

Bei aller Freude über die gefiederten Freunde können auch sie Schäden in der Tan-

nenkultur anrichten: „Auch ein ganz kleiner Vogel kann eine frische, nicht verholzte

Spitze abbrechen.“ Um dem vorzubeugen, ist Handarbeit nötig. Auf die Bäumchen

wird ein „Spitzentriebschutz“, ein kleiner Plastikpropeller, aufgesteckt – bis zu 2.000

Stück werden in den Baumkultur verteilt. „Als Alternative für die Vögel bringen wir

zusätzlich Sitzstangen an.“

Eine kleine Laus kann den ganzen Bestand vernichten

Ein kompletter Verzicht auf Chemie bei der Krautbekämpfung ist aus Sicht von Hanno

Dehlwes kaum möglich. „Ich hatte Scropshire-Schafe, die aber irgendwann nicht nur

das Kraut fraßen, sondern auch die Spitzentriebe der Tannen abknabberten. Wenn die

Terminalknospe an der Baumspitze abgefressen ist, erholt sich der Baum nie mehr.“

Dehlwes schaffte die auch krankheitsanfälligen Schafe wieder ab. Auch ein zweiter

Versuch mit Kälbern misslang, weil die die zarten Äste verbogen. „Da sind die Bäu-

me nicht mehr gleichmäßig gewachsen.“ Als der Forstwirt Ende der neunziger Jahre

fast seine gesamten erntereifen Bäume durch die Sitka-Fichtenlaus verlor, entschied

er sich, im Notfall doch zu spritzen. Die winzigen Tierchen mit den roten Augen las-

sen die Tannen in kürzester Zeit braun werden. „Ein Schnapsglas mit synthetischem

Chrysamthemen-Extrakt hätte gereicht, um die Arbeit von zehn Jahren zu bewahren.

Landwirtschaft ist immer ein Eingriff in die Natur, weil man sie in eine bestimmte

Richtung lenkt. Mein Ziel ist es, das so umweltverträglich wie möglich zu machen.

Wirtschaftliche Überlegungen kann ich dabei aber nicht außer Acht lassen.“

Den eigenen Baum selber aussuchen und schlagen

Das Weihnachtsbaumgeschäft ist hart und risikoreich. „Der größte Feind der kleinen

Bäume ist Spätfrost im Mai. Bei minus drei Grad und leichtem Wind sind leicht 30

Prozent der Bäume hin, bei minus vier Grad verliere ich bis zu 80 Prozent.“ Dehlwes

pflegt seine Bäume, kontrolliert regelmäßig Wuchs und Form. Da werden Äste mit

Schienen begradigt, Bäume auch mal gezielt beschnitten und in die Höhe schießende

Spitzen mit „Stoppern“ versehen, die den Saftstrom bremsen. „Sie verlangsamen das

Wachstum und sorgen dafür, dass der Baum unter der Spitze Seitentriebe ausbildet.“

Am 1. Advent beginnt die „Ernte“, damit die Bäume möglichst frisch sind. Acht bis

zehn Tage Direktverkauf ab Hof und an einem Stand im Lilienthaler Ortskern, dann ist

das Privatkundengeschäft vorbei. Dehlwes setzt auf gut gewachsene Qualitätsbäume,

für die Kunden auch bereit sind, etwas mehr auszugeben. „Bei uns sucht man sich sei-

nen Baum aus, das ist natürlich was anderes als die Gratis-Weihnachtsbaumzugabe

im Möbelhaus oder der Discountbaum aus dem Baumarkt. Wenn man dort einen

zwei Meter hohen Premium-Baum kauft, kostet der auch mindestens 40 Euro.“ Was

es bei Dehlwes und anderen Direktvermarktern ab Hof dazu gibt, ist das Erlebnis,

den Baum auf Wunsch auch direkt zu schlagen oder frisch aus der Kultur auszusu-

chen. „Hauptsache, das feuchte Wetter lässt ein wenig nach“, hofft Dehlwes und

streift seine Gummistiefel ab. „Minus drei Grad oder ein wenig darunter wären gutes

Weihnachtsbaum-Wetter.“

Text & Fotos Matthias Dembski

10 bremer kirchenzeitung Dezember 2015 · www.kirche-bremen.de

Bevor ein Baum Karriere macht, braucht er Hege und PflegeOhhhhh... Tannenbaum

www.kirche-bremen.de bremer kirchenzeitung Dezember 2015 11

Weihnachtsbäume

Orthhof, Hanno Dehlwes

Feldhausen 52, 28865 Lilienthal, Telefon 04298/699481

[email protected]

Die Umweltorganisation Robin Wood hat eine Liste der wenigen

zertifizierten Betriebe online gestellt, die ihre Weihnachtsbäume nach Regeln

des ökologischen Landbaus anbauen. Außerdem gibt es das dänische Siegel

„Fair Trees“ für Nordmann-Tannen, das kein Öko-Siegel ist. Die Inititative en-

gagiert sich für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen der Zapfenpflücker

und ihrer Familien in Georgien.

www.orthhof-dehlwes.dewww.robinwood.dewww.fairtrees.de

Forstwirt Hanno Dehlwes auf

seiner Weihnachtsbaumplantage

Immergrün

Die immergrüne Tanne steht für Fruchtbarkeit und Untersterb-

lichkeit. Grün gilt als Farbe der Hoffnung auf das Wiederer-

wachen der Natur im Frühjahr. Lieder wie „Oh Tannenbaum“

erzählen von diesem Lebenskreislauf. Über 178.000 Nadeln

zählt ein 1,63 Meter hoher Baum. Wer den Baum vor Heilig-

abend kühl lagert und wässert, hat länger was davon. Tipp:

Das Ende des Stammes vor dem Aufstellen frisch absägen und

den Ständer mit Wasser füllen.

12 bremer kirchenzeitung Dezember 2015 · www.kirche-bremen.de www.kirche-bremen.de · bremer kirchenzeitung Dezember 2015 13

Adventskranz

„Wann ist endlich Weihnachten?“ – Der erste Adventskranz

sollte Kindern die Wartezeit bis zum Heiligabend verkürzen.

22 bis 28 Kerzen – eine für jeden Tag zwischen dem 1. Advent

und Weihnachten – steckten auf einem Wagenrad im Hambur-

ger Rauhen Haus, einer evangelischen Stiftung für Kinder und

Jugendliche. Die vier Adventssonntage bekamen jeweils eine

dicke Kerze, so wie unsere heutigen Adventskränze. Jeden Tag

wurde eine neue Kerze angezündet. Erfunden hat den Kranz

der Theologe und Sozialreformer Johann Hinrich Wichern im

Jahr 1839. Erst um 1860 bürgerte es sich ein, den Advents-

kranz aus Tannengrün herzustellen.

Zu Weihnachten werden deutsche

Wohnzimmer grün:

Adventskranz & Christbaum

weisen auf die Geburt Jesu hin

Lieblingsbaum

Die weiche, wenig nadelnde, aus Georgien stammende Nord-

manntanne ist der beliebteste Weihnachtsbaum (80 Prozent),

gefolgt von Blaufichten und anderen Fichten. Haupther-

kunftsland ist Dänemark, vor allem große Bäume kommen aus

dem Norden. Hauptanbaugebiet in Deutschland ist das süd-

westfälische Sauerland, das damit europaweit der wichtigste

Lieferant ist. Jeder dritte Baum in deutschen Wohnzimmern

stammt daher. Etwa eine Millionen Tannen werden v.a. nach

Frankreich, in die Alpenländer und nach Polen exportiert. Die

Baum-Preise sind übrigens 2015 weitgehend stabil: 20 bis 22

Euro zahlt man pro Meter Nordmanntanne.

Es ist ein Ros entsprungen

Alte Weihnachtsgeschichten erzählen davon, dass in der Hei-

ligen Nacht Tiere sprechen und Blumen sprießen. Auch im

Weihnachtslied „Es ist ein Ros entsprungen“ aus dem Jahr

1599 ist davon die Rede, dass es mitten im kalten Winter

grünt und blüht. Dieses Bild soll ausdrücken, dass in dieser

Nacht Gottes Sohn zur Welt gekommen ist, was die Natur „auf

den Kopf stellt“. Am 4. Dezember werden nach altem Barbara-

zweige von Obstbäumen in die Vase gestellt werden, damit sie

Heiligabend blühen – mitten im kalten Winter.

Lichter

Ab etwa 1730 schmückte man Weihnachtsbäume mit bren-

nenden Kerzen. Die Lichter gehen in vorchristliche Zeit zurück:

Die Wintersonnenwende, die Überwindung der dunkelsten

Tage, wurde mit brennenden Feuern gefeiert. Im Christentum

ist Christus „das Licht der Welt“, das in die Finsternis scheint

- symbolisiert durch die Kerzen am Christbaum. Echte Kerzen

brennen heute nur an etwa 12 Prozent der Weihnachtsbäume.

Lange Tradition

Bereits bei der Missionierung Deutschlands um das Jahr 700

soll der Legende nach eine Fichte als Christbaum geschmückt

worden sein. Früher diente Tannengrün zur Abwehr von Un-

heil und geschmückte „Wintermaien“ zeigten den Wunsch

nach Fruchtbarkeit. Zunächst an Fürstenhöfen, später auch in

Bürgerhäusern wurde der geschmückte Christbaum zum Mit-

telpunkt der Weihnachtsfeier. Tannenbäume waren in Mittel-

europa selten und teuer, deshalb musste die Stadtbevölkerung

zunächst mit Zweigen auskommen. Erst im 19. Jahrhundert

verbreitete sich der Weihnachtsbaum auch dank der Eisen-

bahn in ganz Deutschland. Bei den Nazis wurde er schlicht

zum „Tannenbaum“, in der DDR zum „Festbaum der Zünfte“

oder „Kinderbaum“. Etwa 30 Millionen Bäume stehen heute

zu Weihnachten in deutschen Wohnzimmern und symbolisie-

ren das neue Leben, das durch Jesu Geburt in die Welt gekom-

men ist.

Öko-Weihnacht?

Sechs Leucht-Dekorationen schmücken deutsche Haushalte im

Schnitt. Über 8 Milliarden Lämpchen sorgen an dunklen Winter-

tagen für Gemütlichkeit. 500 Millionen Kilowattstunden Strom

kostet das, soviel wie 140.000 Haushalte im ganzen Jahr ver-

brauchen – auch eine Belastung fürs Klima, wenn der Strom

nicht aus erneuerbaren Quellen stammt.

Chemiefrei produzierte Weihnachtsbäume tragen mittlerweile

verschiedene Ökosiegel. Eine Liste mit Bezugsquellen gibt es

online bei Robinwood. Wer seinen Baum bei regionalen Direkt-

anbietern kauft, spart lange Transportwege, belastet die Um-

welt dadurch weniger und hat einen frischen Baum.

Schmuck

Bereits 1419 stellten Freiburger Bäcker einen mit Nüssen und

Äpfeln geschmückten Paradies-Baum auf. Eine Bremer Chro-

nik schildert erstmals 1570 einen mit Äpfeln, Nüssen, Datteln

und Papierblumen geschmückten Nadelbaum. Genascht wer-

den durfte der Schmuck erst an Neujahr. Ende des 16. Jahr-

hunderts schmückte man den Christbaum im Elsaß mit Äpfeln

und Süßigkeiten. Ab 1830 kamen mundgeblasene Glaskugeln

auf. Lametta kennt man seit 1878. Der Glitzerschmuck erin-

nert an die Weisen aus dem Morgenland, die dem Jesuskind

u.a. Gold zum Geschenk machen. Auch andere christliche Mo-

tive schmücken den Baum: Die Äpfel erinnern an den Sünden-

fall, als Adam und Eva im Paradies von der verbotenen Frucht

aßen. Engel, Trompeten und Glocken verkünden die Geburt

des göttlichen Kindes im Stall. Der Stern an der Baumspitze

erinnert an den Stern über dem Stall von Bethlehem, in dem

Jesus geboren wurde.

Zeitgeschmack

Heute hängen an jedem zweiten Weihnachtsbaum

Strohsterne, Holzfiguren und rote Kugeln. Haupt-

Schmucklieferant ist inzwischen China mit jährlich etwa

12.000 Tonnen Baumbehang. Über 30 Euro gibt der

Durchschnittshaushalt jährlich für Weihnachts-Deko aus,

etwa 32 Euro für den Baum.

Alles auf grün

www.kirche-bremen.de bremer kirchenzeitung Dezember 2015 1514 bremer kirchenzeitung Dezember 2015 · www.kirche-bremen.de

Ab Januar das neue Programm des Evangelischen Bildungswerks entdeckenBildung für Leib und Seele

Das neue Programmheft

Erscheinungstermin: 18. Januar

Erhältlich u.a. im Evangelischen Informationszentrum

Kapitel 8, Domsheide 8.

Unter www.bildungswerk.kirche-bremen.de

steht das Gesamtprogramm ab 15. Januar zur Verfügung.

Anmeldungen

sind direkt von der Website aus möglich.

Telefonische Informationen & Anmeldung

Telefon 0421/346 15 35

www.bildungswerk.kirche-bremen.de

In Vielfalt glauben

Wie glauben Christen in verschiedenen

Kulturen? – Inwiefern lassen sich die

Lebensläufe der drei Religionsstifter Mose,

Jesus und Mohammed vergleichen? –

Darum geht es bei „Religiöser Bildung in

weltweiter Perspektive“. Tipp: „Futtern

wie bei Luthern“, ein Abend mit

Luthers deftigen Tischreden zwischen den

Gängen eines ausgiebigen mittelalter-

lichen Menüs.

Geschlechter-Perspektiven

Wie kommen Männer aus der

„Vollzeitfalle“ raus? Und wie sieht

das Erbrecht für gleichgeschlechtli-

che Lebenspartnerschaften aus? Was

macht Mutter-Tochter-Beziehungen

aus? – Diese Fragen behandeln die

„Geschlechter-Perspektiven“. Tipp:

Frauen-Nordseetörn „Erfolge fei-

ern“ mit kreativer Biografie-Arbeit auf

dem Plattbodenschiff „Verandering“.

Lebenslagen – Lebenswege

Seinen Bildungsurlaub kann man auch

gemeinsam mit Kindern verbringen: In

den Osterferien gibt es z.B. ein Angebot

für „Trennungsväter“ mit gemein-

samen Aktionen wie Bogenbau. Beim

Mehrgenerationen-Bildungsurlaub las-

sen sich alte und neue Kinderspiele neu

entdecken. Tipp zum Valentinstag:

Ein Tagesseminar klärt, wie die

Paarbeziehung dauerhaft glück-

lich bleiben kann.

Geschichten & Gestalten

Möchten Sie Joseph Roths große

Österreich-Romane in Wien entdecken

oder Christa Wolfs mecklenburgisches

„Asyl“ erleben, wo sie abseits der

DDR-Zwänge zu arbeiten versuchte?

– Dann hat die Reihe „Literatur an

Ort und Stelle“ das richtige Angebot!

Tipp: Wandeln Sie im Erfurter

Augustinerkloster auf Luthers lite-

rarischen Spuren, die er z.B. als

Liederdichter hinterlassen hat.

Leib & Seele

Gesundheit ist ein Thema, das jeden

angeht: Was hält uns in schwierigen

Zeiten in Balance, wie kann man einen

achtsamen Umgang mit sich selbst

lernen? – „Yoga auf dem Stuhl“, „Herz-

Qigong“ oder ein Entspannungstechnik-

Seminar bieten dazu Gelegenheit.

Tipp: Der Bildungsurlaub „Salute!

– Was Körper und Seele gut tut“.

auf Langeoog für Alleinerziehende (mit

Kinderbetreuung).

Kompetenz & Engagement

Möchten Sie sich selber fit für

Erwachsenenbildungsangebote oder

eine Ausbildung zum Pilgerbegleiter

machen? Oder haben Sie mit Sterben

und Tod zu tun und wollen lernen,

damit besser umzugehen? Tipp: Die

Fortbildung „Von Mensch zu

Mensch“ qualifiziert Freiwillige

zur Seniorenbegleitung im pri-

vaten Bereich oder im Ehrenamt.

Verantwortlich handeln

Die Welt um uns herum wird immer

komplexer, Orientierung ist gefragt.

Wer schon immer die Geheimnisse des

Freihandelsabkommens TTIP lüften

oder über philosophische Ansätze in

der Gegenwart diskutieren wollte, ist

bei den politischen Bildungsangeboten

richtig. Tipp: Auf Langeoog die wilde

Vogelwelt entdecken und lernen,

warum Naturschutz (über)lebenswichtig ist.

Bildung in Bewegung

„Lernen unterwegs“ bietet Bildung jen-

seits gewohnter Seminarformen und

an ungewöhnlichen Orten wie z.B.

auf einem Segelschiff. Auch wer mit

dem Rad auf dem Mönchsweg pil-

gern oder „Exerzitien auf der Straße“

ausprobieren möchte, ist hier richtig.

Tipp: Die Bremer Straßenbahn-

Seminare zu Elektromobilität und

zum Menschenrecht auf Wohnen.

International Kochen

Im Matthias Claudius-Gemeindezentrum, Wilhelm-Raabe-Straße 1

und im St. Pauli-Gemeindezentrum, Große Krankenstraße 11,

kochen Hobbyköche aus aller Welt regelmäßig gemeinsam.

Kontakt & Infos zu den nächsten Terminen

Telefon 0421/69 66 56-00

[email protected]

www.kirche-bremen.de

Gemüseschnibbeln kann Spaß machen – mit der richtigen Musik. Nidal Sallo legt sein

Smartphone auf die Küchenarbeitsplatte. Syrische Gitarrenmusik, ein Hauch orienta-

lischer Klänge, erfüllt die Küche im St. Pauli-Gemeindehaus in der Bremer Neustadt.

„Meine Musik, ich habe mir eine Gitarre gekauft und mich selber aufgenommen“,

erzählt der 45-jährige kurdische Vermessungsingenieur. Heute betätigt er sich als

Chefkoch einer syrisch-deutschen Kochgruppe, die für Flüchtlinge aus dem nahe

gelegenen Übergangswohnheim in der Grünenstraße kocht. Seit August lebt der aus

Aleppo stammende Mann in Bremen.

Nebenbei Arabisch und Deutsch lernen

„Nidal, kannst du mir mal den Namen des Rezepts auf Arabisch aufschreiben?“, fragt

Karin Dierks. Das Notizbuch ist ihr wichtigster Begleiter in der Küche. „Die Zahlen und

einige Grundzutaten wie Wasser oder Reis habe ich mit aufgeschrieben, ich möchte

ein wenig Arabisch lernen.“ Die Verkehrssprache in der Küche ist eine Mischung aus

Englisch, Kurdisch, Arabisch und Deutsch. Das reicht, um sich zu verstehen und zu

lachen. Die arabischen Kehlkopflaute bringt Karin Dierks nur mühsam heraus, Nidal

Sallo hingegen kann die deutschen Vokabeln und vorgesagten Sätze ziemlich flüssig

und mit richtiger Betonung wiederholen. So lernt er beim Kochen gleichzeitig ein

wenig Deutsch. „Kababeh wird auf der letzten Silbe betont“, erklärt Sallo, während er

die Auberginen in feine Scheiben filettiert. „Die gehackten Zwiebeln und die kleinen

Knoblauch-Würfel kann jemand schon mal unter das Gehackte mengen und verkne-

ten“, sagt er. Neben ihm schneidet Siegfried Land gerade Tomatenscheiben in Serie.

„Wie die Zutaten zusammenkommen, weiß ich gar nicht, ich lasse mich überraschen.“

Denn das syrische Rezept kennt nur Nidal, die anderen arbeiten ihm zu. Am Ende

werden über 20 Menschen am Tisch sitzen und satt werden. „Unsere Vorsuppe ist eine

deutsche Kürbissuppe, das einzig exotische daran ist die Kokosmilch“, sagt Martina

Krages, die auf dem Herd dafür bereits Charlotten und Ingwer in Öl anschwitzt.

„Essen ist Begegnung, und Kochen macht einfach Spaß“

„Gemeinsam essen schafft Begegnung, und Kochen macht einfach Spaß“, erklärt

Karin Dierks die Idee. „Als wir das erste Mal im Wohnheim zu Gast waren, war ich

erst ein wenig unsicher, ob wir mit unserer Idee bei den Flüchtlingen gut ankommen“,

erinnert sich Martina Krages. „Als wir an diesem Abend nach Hause gingen, war ich

ganz begeistert von der angenehmen Atmosphäre der Offenheit und Freundlichkeit.“

Mittlerweile treffen sich Flüchtlinge und Alt-Bremer jeden Freitag zum gemein-

samen Einkauf und anschließenden Kochen. Während oben im Gemeindehaus die

Nähgruppe mit Flüchtlingsfrauen näht und schneidert, dampfen im Untergeschoss die

Kochtöpfe. Junge Männer stehen am Kicker, während sie auf das Essen warten, denn

in der kleinen Küche sollen sich die Helfer nicht auf die Füße treten. Dafür überneh-

men sie später das Abräumen und den Abwasch. Nebenbei werden Alltagsprobleme

besprochen. „Der 17-jährige Bruder meines Mitbewohners braucht einen Vormund,

könnt ihr mal rumfragen, ob jemand von euch das übernehmen kann“, fragt Nidal.

„Die Behörden sagen, sein volljähriger Bruder kann das nicht machen, obwohl der

für ihn alles regelt.“ Sie werden das beim nächsten Runden Tisch der Ehrenamtlichen

besprechen, versichern die Helferinnen aus der Nähgruppe.

Das Kababeh braucht im Backofen doch länger als gedacht. Doch dann durchzieht

ein köstliche Duft das Gemeindehaus bis hinauf in die Nähwerkstatt. Wenig später

erfüllen Besteckklappern, ein arabisch-englisch-deutsches Stimmgewirr und Lachen

den Raum. Die lange Tafel ist nicht besonders festlich eingedeckt, aber das ist hier

auch nicht wichtig. Die Gäste sind bunt gemischt – jung und alt, syrisch, afghanisch

und deutsch, Männer und Frauen. „Das hat ein bisschen was vom Weihnachtsessen

mit einer Großfamilie“, meint einer der Gäste lächelnd und holt sich einen Nachschlag.

Text & Fotos: Matthias Dembski

www.kirche-bremen.de · bremer kirchenzeitung Dezember 2015 1716 bremer kirchenzeitung Dezember 2015 · www.kirche-bremen.de

Der Theologe Guido Fuchs erforscht

in der „Kulinaristik“, wo sich Religion und

Alltagskultur berühren.

„Essen ist ein Ritual –nicht nur an Weihnachten“

Zutaten:

Gekochte KartoffelnTomaten

AuberginenZwiebeln

RindergehacktesKnoblauch

Salz, edelsüßen Paprika und CurryButter/ Öl

Für die Soße: Naturjoghurt

GurkeKnoblauch und Salz

Rezept aus Syrien

Kababeh

Rinderhack salzen, mit Paprika und Curry würzen, kleine Knoblauch-Würfel und gehackte Zwiebeln darunter mengen und verkneten

Fettpfanne aus dem Backofen mit reichlich zerlassener Butter einfetten

Tomaten-, Kartoffel-, Zwiebel- und Auberginenscheiben mit dem Hackfleisch über-einander schichten und dann schräg in die Fettpfanne legen. So:

Das ganze nach Belieben würzen, vor allem mit kleinen Knoblauchwürfeln bestreuen, Zwischenräume mit Öl oder zerlassener Butter ausfüllen.

Je nach Herdart bei mindestens 200 Grad etwa 40 Minuten im Backofen erhitzen.

Für die Soße Joghurt, kleine Gurken-Stückchen und Knoblauchwürfel verrühren und salzen.

Begegnungen am HerdInternationaleKochgruppe

Feste spiegeln sich im Essen wieder. Wie ist das an Weihnachten?

Der Heiligabend war bis ins letzte Jahrhundert hinein vor allem für Katholiken

ein Fasten- und Bußtag in Vorbereitung auf das Weihnachtsfest. In evangelischen

Familien gab es eine häusliche Heiligabend-Andacht. Weihnachten begann erst mit

der Christmette zur Mitternacht. Deshalb hielt man sich an diesem Tag mit dem

Essen zurück. Das wirkt bis heute nach. Am Heiligabend gibt es in vielen Familien

nur Würstchen und Kartoffelsalat, ein einfaches Essen. Das große Festessen kommt

erst am 25. Dezember auf den Tisch. Heute verändert sich die Praxis in vielen

Familien, weil die Traditionen nicht mehr bekannt sind.

Wonach entscheidet sich, was zu Weihnachten gegessen wird?

Die Kinderzeit, die Erinnerung an das wohlige Gefühl, beschenkt zu werden und im

Mittelpunkt zu stehen, prägt unser Bild von Weihnachten. Was früher für uns gut

war, versuchen wir unseren Kindern weiterzugeben, auch beim Essen.

Welche Essens-Traditionen gibt es denn beim Weihnachtsessen?

An hohen Festen halten viele Menschen an alten Ritualen fest. Es gibt tradiertes

regionales Essen, so die Würstchen mit Kartoffelsalat oder Sauerkraut, schlesische

Weißwürste oder Karpfen. Früher war Weihnachten gleichzeitig der Neujahrstag,

deshalb hat man etwas gegessen, was Glück symbolisierte, zum Beispiel den

Weihnachtskarpfen.

Weihnachten gilt als Familienfest. Was bedeutet das fürs Essen?

Erst seit der Biedermeierzeit, mit Aufkommen der Kleinfamilie, ist Weihnachten

ein Familienfest. Dafür ist ein Essen wichtig, das Gemeinschaft ausdrückt. Von

den 1960er Jahren an war deshalb ein lässig-kommunikatives Essen aus einem

Topf, etwa Fondue oder Raclette, angesagt. Wer in Gemeinschaft isst, drückt das

besonders Festliche des Tages aus, denn im Alltag wird es immer seltener, dass die

ganze Familie zum Essen zusammensitzt, schon gar nicht generationsübergreifend.

Übrigens hielt man früher vor allem im Alpenraum einen gedeckten Platz für einen

Weihnachtsgast frei – für Jesus Christus oder auch für jemanden, der tatsächlich

unverhofft vorbeikam. Früher waren die Familien nicht so abgeschlossen wie heute,

wo es fast undenkbar ist, irgendwo an Heiligabend nach 16 Uhr zu klingeln. Dieser

schöne alte Gedanke, zu Weihnachten Fremde, zum Beispiel Flüchtlinge einzuladen,

ist heute wieder hochaktuell.

Guten Appetit

Biologische Schädlingsbekämpfung

„Wir haben früher nur drei Feldfrüchte angebaut, jetzt sind

es mehr als 20“, zählt Badoni auf. Bei ihm wachsen neben

Reis und Hirse unter anderem Hülsenfrüchte, Ingwer, Chili

und Gurken. „Die Vielfalt hilft uns“, meint Badoni, der von

Navdanya auch gelernt hat, mit eigenem Kompost zu dün-

gen und selbst einen Sud herzustellen, mit dem er seine

Pflanzen vor Schädlingen schützen kann. Dafür werden

Walnussblätter mit Ingwer, Knoblauch, Zwiebeln, Hanf,

Blätter vom tropischen Neembaum, Kuh-Urin und Wasser

aufgegossen und 20 Tage angesetzt.

Industrie-Saatgut ist empfindlich

Dazu kommt: Das Industriesaatgut ist oft nicht so wider-

standsfähig gegen Trockenheit und Wetterextreme, die in

Indien durch den fortschreitenden Klimawandel zuneh-

men. „Das Menschenrecht auf Nahrung ist erst dann

umgesetzt, wenn Menschen nicht nur die richtige Menge,

sondern auch die richtige Vielfalt zu sich nehmen“, sagt

die Präsidentin von „Brot für die Welt“, Cornelia Füllkrug-

Weitzel. Das Thema Mangelernährung ist deshalb auch

Schwerpunkt der diesjährigen 57. Spendenaktion des

Hilfswerkes unter dem Motto „Satt ist nicht genug“, für die

auch in den Weihnachtsgottesdiensten gesammelt wird.

„Mangelernährte Frauen, Kinder und Männer werden

schneller Opfer von Krankheiten“, warnt Füllkrug-Weitzel.

Fehlende Vitamine, Eiweiße und Mineralien führten zu

Wachstumsstörungen, Hirnschäden oder Blutarmut.

Durch den Erhalt vielfältigen Saatgutes könne dem

wirksam begegnet werden. Doch die UN-Landwirtschafts-

und Ernährungsorganisation (FAO) geht noch von rund

zwei Milliarden Menschen aus, die mangelernährt sind.

Darunter sind mehr als 800 Millionen Hungernde.

Unterstützung für Kleinbauern

Im Kampf gegen den Hunger setzt „Brot für die Welt“ ins-

besondere auf die Zusammenarbeit mit Kleinbauern wie

Badoni, die sich gut selbst versorgen können und keine

Kredite für den Ankauf industrieller Saaten, Dünger und

Pestizide brauchen. „Kleinbauern bekommen die Kredite

meist nur beim Geldverleiher, vom Moneylender im Dorf,

der dafür Wucherzinsen von zehn Prozent verlangt“, sagt

Biraj Patnaik, nationaler Sonderberichterstatter des indi-

schen Verfassungsgerichtes für das Recht auf Nahrung.Ein

Weg, der nicht selten in die Katastrophe führt: Steigende

Kosten, sinkende Erlöse und vor allem Missernten haben

in den zurückliegenden Jahren 300.000 indische Bauern

erst in die Überschuldung und dann in den Suizid getrie-

ben. Auch deshalb, fordert Patnaik, müsse der Einfluss der

multinationalen Konzerne in der indischen Landwirtschaft

zurückgedrängt werden.

Ökologisch und unabhängig anbauen

Zwar leben 70 Prozent der etwa 1,2 Milliarden Inder

auf dem Land. Doch die wenigsten von ihnen, nämlich

zwei Prozent, betreiben Öko-Landwirtschaft. Die meisten

hantieren noch immer mit krebsauslösenden Pestiziden,

vor denen sie sich meist nur ungenügend schützen. Doch

langsam wächst das Netzwerk von „Navdanya“, zu dem

mittlerweile über 50 regionale Saatgutbanken gehören.

Mehr als eine Million Farmer sind im Projekt registriert.

„Wir brauchen jetzt nur noch Zucker, Salz, Tee und

Gewürze zuzukaufen“, freut sich Prakash Badoni. Für ihn

ist klar: „Uns geht es jetzt viel besser als früher. Gesünder

können wir uns nicht ernähren.“

Text: Dieter Sell | Fotos: epd-Bild

www.kirche-bremen.de bremer kirchenzeitung Dezember 2015 1918 bremer kirchenzeitung Dezember 2015 · www.kirche-bremen.de

Mit einem großen Schlüssel öffnet Prakash Badoni das

Vorhängeschloss, das den Speicher auf seinem Hof

schützt. Dann schiebt der Bauer langsam die kleine Tür

aus schwerem Zedernholz auf. Der Blick geht in eine

spärlich vom Tageslicht erhellte Schatzkammer, die

sein wichtigstes Kapital bewahrt: In dem auf Stelzen

gebauten und so vor Nagern geschützten Holzhaus

im kleinen Dorf Kandiyal am Fuß des Himalaya lagern

Saaten für Reis, Hirse, Weizen und Gemüse. „Früher

mussten wir das alles kaufen, heute gewinnen wir es

selbst“, sagt der 57-Jährige, Oberhaupt einer neunköp-

figen Familie. „Und das völlig ohne Kosten.“

In der Wiege des roten Reises

Die Region gilt als Wiege des roten Reises und liegt

in einem Seitental der Yamuna, die sich mit tosenden

Wassern von den Höhen des Himalaya durch ein

schroffes Tal wälzt und später Neu-Delhi passiert.

Hier, rund zehn Autostunden nördlich der indischen

Hauptstadt im Bundesstaat Uttarakhand, wirtschaftet

der Öko-Bauer Badoni auf einem Hof, der nicht mehr

als drei Hektar umfasst. „Und doch können wir gut

von dem leben, was wir anbauen“, berichtet der Mann.

Seit sieben Jahren arbeitet die Familie mit „Navdanya“

zusammen, einer Partnerorganisation des evangeli-

schen Hilfswerkes „Brot für die Welt“. Die indische

Umwelt-Aktivistin Vandana Shiva (63) hat das Projekt

1991 gegründet. Seither kämpft sie gegen die vom

Staat auf dem Subkontinent massiv subventionier-

te industrielle Landwirtschaft, die von multinationa-

len Konzernen wie dem US-amerikanischen Saatgut-

Riesen Monsanto kontrolliert wird. „Das Geschäft der

Multis stützt sich auf den Einsatz teurer Hybridsaaten

in Kombination mit chemischen Düngemitteln und

Pestiziden“, sagt Shiva, die für ihre Arbeit 1993 den

alternativen Nobelpreis bekommen hat.

Lokale Sorten in der Saatgutbank

„Navdanya“ bewahrt lokale Saatgutsorten und ver-

teilt sie kostenlos an Bauern wie Badoni, die später

das eineinhalbfache der Menge an die Saatgutbank

zurück- oder an andere Höfe weitergeben müssen. Zwar

sind Hybrid-Erträge höher, doch industriell gezüchtete

Pflanzen haben auch massive Nachteile: Hybride sind

gewissermaßen Einwegpflanzen. Die aufwendig her-

angezüchteten Eigenschaften verlieren sich bereits in

der zweiten Generation. Für Nachzüchtungen ist das

Hybridsaatgut nicht geeignet. So war Badoni vor der

Zusammenarbeit mit „Navdanya“ gezwungen, jedes

Jahr aufs Neue teures Saatgut einzukaufen.

711 unterschiedliche Reissorten

„Navdanya“ dagegen züchtet auf seiner Versuchsfarm

in der Provinz-Hauptstadt Dehradun Saaten, mit denen

Bauern problemlos arbeiten können. Mittlerweile

lagern hier hinter dicken Lehmwänden kühl und tro-

cken mehr als 2.000 verschiedene Saaten. Darunter

finden sich alleine 711 unterschiedliche Reissorten

und lange vergessene Feldfrüchte wie die Fingerhirse,

die viel Kalzium und Eisen enthält. Oder Amarant, das

reichlich Proteine, Kohlenhydrate und ungesättigte

Fettsäuren liefert. „Navdanya“ schult Bauern auch im

Aufbau vielfältiger Küchengärten,

Wie Brot für die Welt in Indienhilft, alte Saatgut-Sorten

für Kleinbauern zu bewahren Schatzkammer des Lebens

Unser jetziges Ernährungssystem ist ausschließlich auf Profit ausgerichtet.

Vandana Shiva (63),

Umweltaktivistin & Trägerin des alternativen Nobelpreises.

Indien in Zahlen

„„

Spenden

IBAN: DE10100610060500500500

BIC: GENODED1KDB

InfosDiakonisches Werk Bremen, Angela Hesse

Telefon 0421/16 38 414

[email protected]

www.brot-fuer-die-welt.dewww.diakonie-bremen.de

Vandana Shiva in der

Saatgutbank der Navdanya-

Farm im Doon Tal (Indien)

Indische

Kleinbäuerinnen

bei der Reisernte

Seed Keeper

(Saatgutbewahrerin)

Beija Devi sortiert

Reis-Saatgut.

20 bremer kirchenzeitung Dezember 2015 · www.kirche-bremen.de

Die Gangschaltung klemmt. Mohamed Abdi Rashid und Werner Bargfrede haben das

Fahrrad bereits auf den Kopf gestellt. „Ich mach‘ noch mal ein bisschen Öl rein, viel-

leicht bewegt sich die Schaltkette dann“, hofft Bargfrede. „Das Rad hat offensichtlich

zu lange rumgestanden, da klemmt so einiges!“ Das ungleiche Mechaniker-Team gibt

nicht auf. Der 19-jährige Flüchtling aus Somalia und der 78-jährige pensionierte Elektro-

mechaniker werkeln in der Fahrradwerkstatt des Übergangswohnheims Andernacher

Straße in Tenever. Schließlich soll Mohamed Abdi Rashid wie bereits viele andere Be-

wohner des Heims schnell einen fahrbaren Untersatz bekommen. Deshalb muss der

alte Drahtesel wieder aufgemöbel werden: Das Licht und die Vorderbremse funktionie-

ren ebenfalls nicht, Sattel und Lenker dagegn sind schnell auf die gewünschte Höhe

verstellt. Mit Händen und Füßen, immer auf der Suche nach englischen Vokabeln,

verständigen sich die beiden. „Ich brauche eine Pumpe für Autoventile, die habe ich

hier nicht und die Lampe muss ganz anders angeschlossen werden, die kann so nicht

funktionieren“, analysiert Bargfrede, den die Flüchtlinge schlicht „Werner“ nennen.

„Mohamed, wir machen das heute Nachmittag bei mir in der Garage fertig, hier fehlen

mir das Werkzeug und die Pumpe“, erklärt Bagfrede langsam. „About three o‘clock in

the afternoon, okay?“ Mohamed nickt. „Den Weg zeige ich dir gleich, ich wohne fast

um die Ecke!“

„Da muss man doch mit anpacken!“

Seit die Flüchtlingsunterkunft Anfang des Jahres ihre Türen öffnete, ist Bargfrede eh-

renamtlich dabei. „Ich habe in der Zeitung gelesen, dass jemand zur ‚Unterweisung für

Fahrradreparaturen‘ gesucht wurde. Da bin ich vorbeigefahren. Ich habe zwei Kinder,

seit ich denken kann, habe ich an Fahrrädern herumgebastelt.“ Bei den Flüchtlingen

sei jede Hilfe nötig. „Da muss man doch mit anpacken, vor allem die Familien mit den

Kindern darf man nicht allein lassen. Ich treffe hier auf sehr höfliche, freundliche und

zufriedene Menschen. Da sind oft Studierte und Fachkräfte dabei, viele schlaue Köpfe.

Manche haben erstmal Berührungsängste, aber die Kinder gehen unbefangener auf

mich zu, wenn ich im Sommer auf der Wiese die Räder repariere. So komme ich auch

mit den Erwachsenen in Kontakt.“ Manchmal dolmetschten die Kinder sogar. „Erstaun-

lich, wie schnell die Deutsch lernen! Sonst helfen Smartphones bei der Übersetzung.“

Engagiert trotz Herzschrittmacher

Mit gespendeten Ersatzteilen und einem kleinen Etat vom Flüchtlingsheim ging die

Fahrradwerkstatt an den Start. „Mittlerweile bekommen wir auch Ersatzteil-Spenden

vom Zweirad-Center Jakst in der Davoser Straße, z.B. wenn dort Fahrräder mit pannen-

sicheren Mänteln ausgerüstet werden und die alten noch neuwertig sind. Das hilft

uns, denn bei den gespendeten Rädern sind die Reifen oft porös.“ Bei der Werkstatt-

Ausrüstung muss Bargfrede oft aus privaten Beständen nachlegen. „Vieles fehlt hier,

deshalb bringe ich mein Werkzeug von zu Hause mit. Wir müssen oft improvisieren,

auch wenn es immerhin einen Montageständer gibt.“ Deshalb behandelt Bargfrede

schwierige Fälle wie den Drahtesel von Mohamed Abdi Rashid lieber an seiner häusli-

chen Werkbank. „Wir brauchen dringend mehr Fahrräder, die noch zu reparieren sind.

Man sollte den Flüchtlingen nicht die letzten alten Gurken anbieten, die total kaputt

sind“, meint Bagfrede. Das habe auch etwas mit Würde zu tun. „Wenn die Räder meist

nicht ganz fahrbereit sind, ist das natürlich in Ordnung, dafür gibt es unsere Werk-

statt.“ Gerade hat der 78-jährige einen neuen Herzschrittmacher bekommen, aber die

erzwungene kurze Auszeit hat sein Engagement nicht gebremst. Lächelnd schaut er zu,

als Mohamed Abdi Rashid mit dem frisch reparierten Drahtesel eine flotte Runde über

die Wiese vor dem Flüchtlingsheim dreht. „Bloß nicht auf die Nase legen, die Reifen

brauchen doch erstmal Luft“, ruft der ehrenamtliche Chef-Mechaniker dem Probefahrer

hinterher, der vor Freude die Arme in die Höhe reißt und freihändig fährt.

Text & Foto: Matthias Dembski

www.kirche-bremen.de bremer kirchenzeitung Dezember 2015 21

Kirche und Diakonie aktiv für Flüchtlinge

45 Aktive Kirchengemeinden

Zentrale Haushaltsmittel für 2016 265.000Euro550 aktive Ehrenamtliche

Einrichtungen der Diakonie 11Haushaltsmittel der Gemeinden ca. 150.000 Euro

5 Wohnungen in Gemeinden

40 Hauptamliche Gemeindemitarbeiter

6 angebotene Kirchen, Gemeindezentren und Freizeitheime

www.kirche-bremen-hilft.de

Fahrradwerkstätten zum Mitmachen

NeustadtKontakt

Zia Hüttinger

Telefon 0163/59 99 106

[email protected]

Öffnungszeiten

MI 15.30-19.00/ DO 17.30-19.00/ SA 10-12.30 Uhr

im Haus Zion, Kornstraße 32

Spenden

Geldspenden u.a. für Lagermiete,

Sachspenden zur Zeit nach Absprache

Mitmachen

Ehrenamtliche mit fahrradtechnischen

Grundkenntnissen dringend gesucht

www.fahrraeder-fuer-fluechtlinge.de

TeneverKontakt

Carolin Bischoff

Telefon 0421/42 809 240

[email protected]

Öffnungszeiten

Nach Absprache

im Flüchtlingswohnheim Andernacher Straße 8

Spenden

Fahrräder in allen Größen, funktionsfähige Ersatz-

teile, Werkzeug, Geldspenden

Mitmachen

Ehrenamtliche mit fahrradtechnischen

Grundkenntnissen sind willkommen

www.inneremission-bremen.de

Neue VahrKontakt

Christoph Buße

Telefon 0162/731 34 52

[email protected]

Öffnungszeiten

Nur nach vorheriger

telefonischer Absprache

Spenden

Fahrräder, v.a. Kinderräder, dringend gesucht,

Ersatzteile, Werkzeug, Geldspenden

Mitmachen

Ehrenamtliche z.B. für Reparaturen

am Familiendonnerstag (16-18 Uhr) gesucht

www.kirche-neuevahr.de

bit.ly/1kJXKeG

Drahtesel wieder flott machenGemeinsam schrauben in der

Fahrradwerkstatt für Flüchtlinge

Flüchtlinge unterstützen

GeldspendenVerein Zuflucht e.V. Ökumenische Ausländerarbeit

IBAN: DE14 2905 0101 0011 8305 85

BIC: SBREDE2

Zeit- und Sachspendenwww.gemeinsam-in-bremen.de

www.bremen-hilft-fluechtlingen.de

www.inneremission-bremen.de

Flüchtlingshilfe BremenAktuelle Spendenbedarfs-Listen

www.kirche-bremen.de bremer kirchenzeitung Dezember 2015 2322 bremer kirchenzeitung Dezember 2015 · www.kirche-bremen.de

Von der Gabel bis zum Kleiderschrank Die Allmende vermittelt gespendeteMöbel und Haushaltswaren

Mohammed schaut ein wenig ratlos. Welche Möbel er braucht? „Eigentlich alles, die

Wohnung ist leer“, sagt der junge Mann. Mit Dennis sitzt er vor dem PC am Empfang

des Möbellagers „Allmende“. Dennis ist Ein-Euro-Jobber beim Netzwerk Allmende, das

Menschen mit Mini-Renten, Hartz IV- oder BaföG-Empfänger kostenlos mit Möbeln

und Hausrat versorgt. 5.000 Kunden hat die Allmende seit ihrer Eröffnung vor zehn

Jahren mit gespendeten Gebraucht-Möbeln beliefert.

Neue Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt bieten

An diesem Dienstagvormittag arbeitet Dennis als Kundenberater am Empfang. „Wir

füllen jetzt erstmal gemeinsam deinen Möbelbestellschein aus, und ich trage deine

Daten ein“, erklärt Dennis seinem Kunden. Mohammed ist als Flüchtling hierher ge-

kommen und bezieht demnächst seine erste Wohnung. Den Mietvertrag und seinen

aktuellen Sozialhilfe-Bescheid hat er mitgebracht. Dennis wirft einen kurzen Blick auf

die Papiere und stellt die Kundenkarte aus, die ein halbes Jahr gültig ist. „Danach

brauchen wir einen neuen Bescheid“, erklärt er. Die Zeilen in der PC-Maske füllen

sich: Schuhschrank und Garderobe, Bett, Lattenrost und Matratze, Kleiderschrank,

eine komplette Kücheneinrichtung, ein Sofa und ein Fernsehtisch, Haushaltswaren

und anderes mehr. „Denk in Ruhe nach, was du noch gebrauchen kannst, denn auf

diesem Bestellschein muss alles stehen, wir können nachträglich nichts mehr ändern.

Das ist für ein Jahr deine Bestellliste, danach erst können wir eine neue machen,

falls dir noch etwas fehlt“, sagt Dennis. „So sind die Regeln hier, damit alle gleich

behandelt werden. Wir schauen gleich gemeinsam, was wir da haben und was dir

gefällt. Danach kommst du am besten alle zwei Wochen mal vorbei und schaust, was

neu reingekommen ist.“ Denn wer zuerst kommt, mahlt zuerst – noch eine der Regeln,

ohne die es bei der Allmende nicht geht. Die Kunden brauchen Geduld. „Wir sind

kein Möbelkaufhaus mit einem Komplettsortiment sondern immer davon abhängig,

welche Spenden wir bekommen“, erläutert Andrea Bierstedt, Integrationsbegleiterin

bei ProJob, die die derzeit 15 Ein-Euro-Jobber bei der Allmende betreut. Insgesamt

100 Mitarbeitende hat die Tochtergesellschaft des Vereins für Innere Mission. Sie

arbeiten unter anderem in einem Secondhandladen, im Bereich Baukunst, Reinigung,

Hausmeisterdienste, Cafeteria und Großküche. Sie sollen durch die Ein-Euro-Jobs neue

Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt bekommen.

Oft mehr Nachfrage als Möbelspenden

Mohammed und Dennis sind inzwischen im Möbellager eingetroffen. Bei Couchti-

schen gibt es eine ganz gute Auswahl, auch ein Esstisch mit zwei Stühlen findet sich

schnell. Doch bei kleinen Sofas oder Schlafzimmer-Möbeln sieht es gerade mau aus.

Die Nachfrage ist oft größer als das Spendenaufkommen. „Natürlich sollen die Möbel

auch den Geschmack der Leute treffen“, ergänzt Andrea Bierstedt. Da hilft nur ein

erneuter Besuch, doch bevor sich Mohammed verabschiedet, kann er sich in der Haus-

haltswarenabteilung bei Ralf noch mit Geschirr und Besteck eindecken.

Die Allmende, die in diesem Jahr ihr zehnjähriges Bestehen feierte, ist genau so alt

wie Hartz IV. „Hartz IV-Empfänger bekommen nur geringe Zuschüsse für Haushalts-

Mobiliar, eine Erstausstattung gibt es gar nicht mehr“, erläutert Bierstedt. Gleichzeitig

wandern viele gute Möbel auf den Sperrmüll. „So entstand die Idee, mit Menschen,

die wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, ein Gebrauchtmöbel-Projekt auf-

zubauen.“ Peter (48) ist einer der Ein-Euro-Jobber, die hier für maximal zwei Jahre

arbeiten dürfen. „Ich bin durch den Alkohol ganz unten gelandet, hab erst meinen

Job, dann meine Wohnung verloren. Ich war ein Vierteljahr wohnungslos, bin dann

im Papageienhaus gelandet und lebe jetzt wieder in einer eigenen Wohnung, wo ich

von der Inneren Mission betreut werde. Allein zu Hause würde ich durchdrehen, ich

brauche was um die Ohren und möchte wieder Anschluss finden. Da ist der Job hier

genau das Richtige: Rausfahren zu Kunden, Möbel auseinanderbauen und tragen,

mit den Kunden schnacken – das macht mir Spaß“, erzählt der ehemalige Dachdecker,

LKW-Fahrer und Kommissionierer. „Ich kann mich in viele unserer Kunden reinverset-

zen, ich weiß, wie‘s ist, wenn man alles verloren hat. Ab jetzt kann‘s bei mir eigentlich

nur noch bergauf gehen, weil ich wieder was Sinnvolles zu tun und neue Ziele habe.“

Text/ Fotos: Matthias Dembski

Allmende

Gesucht

kompakte Möbel, die in kleine Wohnungen passen

Kücheninventar und Haushaltsgegenstände

geeignet sind nur gebrauchsfähige, gut erhaltene Möbel,

die dem heutigem Geschmack entsprechen

alle Möbelspenden werden vor der Abholung besichtigt

Bitte beachten

Abholtermine brauchen einen Vorlauf – bitte rechtzeitig anrufen

die Allmende darf keine Haushaltsauflösungen durchführen

Elektrogeräte werden nicht angenommen, weil die Allmende sie prüfen lassen

und bei Weitergabe eine Gewährleistung übernehmen müsste.

Lieferpauschale (für die Spritkosten)

einmal jährlich 15 Euro (egal wie viele Lieferungen)

Abholpauschale (für Spender):

10 Euro (unabhängig von der Zahl der Möbelstücke)

Möbellager und Haushaltswarenladen

Richard-Dunkel-Straße 120, Bremen-Neustadt (Lloyd-Industriepark)

Straßenbahnhaltestelle Duckwitzstraße, Linie 1 und 8

Öffnungszeiten

Montag bis Donnerstag von 9 bis 11 Uhr

Kontakt

Spendentelefon 0421/52 07 91 01

[email protected]

www.projob-bremen.de

Eine Zeichnung als Dankeschön für Kinderzimmermöbel

Blick ins Gebrauchtmöbel-Lager der Allmende

24 bremer kirchenzeitung Dezember 2015 · www.kirche-bremen.de

500 Jahre Reformation

»Zudem macht das Geld niemand recht fröhlich, sondern macht einen viel mehr betrübt und

voller Sorgen; denn es sind Dornen, so die Leute ste-chen, wie Christus den Reichtum nennet.

Noch ist die Welt so töricht und will alle ihre Freude darinnen suchen.«

Martin Luther, Reformator in Wittenberg (1483-1546)

Wer Privatinsolvenz anmeldet, gesteht damit ein: Ich

bin pleite, zahlungsunfähig. Da kommen viele Versa-

gensgefühle hoch, es nicht geschafft zu haben. Man ist

nicht mehr kreditwürdig, bekommt keinen Miet-, Han-

dy- oder Stromvertrag und oft auch kein Konto mehr.

Viele Betroffene fühlen sich wie Menschen zweiter Klas-

se. Nach sechs Jahren ist die Privatinsolvenz in der Re-

gel vorbei, und die Menschen sind von ihren Schulden

befreit, haben aber weiter Probleme, zum Beispiel ein

Online-Bahnticket zu buchen, weil der Schufa-Eintrag

bleibt. Man lebt zehn Jahre unter dem Stigma der Insol-

venz. Unsere Gesellschaft stempelt Menschen leicht ab,

egal ob es Hartz IV-Empfänger, Wohnungslose oder In-

solvenzler sind, weil wir uns nicht für deren Geschichten

interessieren, sondern das Vorurteil pflegen: „Die sind

doch selber schuld!“ Scheitern ist in Deutschland nicht

vorgesehen, uns fehlt eine Kultur, in der man aus Feh-

lern lernen darf – das fängt in der Schule an.

Ich habe als Betroffener die Anonymen Insolvenzler,

eine Selbsthilfegruppe, gegründet, weil Unterstützungs-

angebote für Menschen bislang fehlten, die mitten

in der Insolvenz stecken. Daraus ist ein bundesweites

Netzwerk geworden. Bei den Treffen merken Betroffe-

ne das erste Mal, dass sie mit ihren Problemen nicht

allein sind. Manche geben sich selbst die Schuld für ihr

wirtschaftliches Scheitern. Andere fühlen sich als ohn-

mächtige Opfer. Natürlich ist es verlockend, Anderen

die Schulden zu geben, zum Beispiel den Banken. Eine

Situation lässt sich aber nur ändern, wenn ich auch mei-

nen Anteil daran erkenne. In der Gruppe lernen Insol-

venzler, ihre Situation wieder selber zu steuern und das

Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Nur wer Verant-

wortung übernimmt, lernt aus Fehlern, gewinnt wieder

Handlungsspielräume und Kraft.

Der Wert eines Menschen definiert sich eben nicht nur

über seinen Reichtum, eine Insolvenz kann jeden tref-

fen, auch sehr fähige, kreative, tolle und erfolgreiche

Menschen. Im Insolvenzverfahren sind diese Menschen

zehn Jahre „vom Markt“, gelähmt und aufs Abstellgleis

geschoben. Eine Katastrophe, denn da gehen unge-

heure Ressourcen verloren. Wir brauchen eine Kultur

der zweiten Chance. Wirtschaftliches Scheitern ist kein

Makel, sondern ein Erfahrungsschatz. Deutschland un-

terscheidet sich von den USA oder England, wo man

nach dem Hinfallen wieder aufstehen und wieder ein

Unternehmen gründen kann, weil man aus Fehlern ge-

lernt hat. Oft stellt die Insolvenz die Sinnfrage im Leben:

Man ist plötzlich raus aus dem Hamsterrad, in dem man

zuletzt immer schneller getreten hat. Dahin will man so

schnell nicht zurück. Man fragt sich: Was ist mir wirklich

wichtig, was ist für mich Lebensqualität? Natürlich braucht

man ein Dach über dem Kopf und muss sich versorgen,

aber etwa die Größe des Autos ist nicht entscheidend.

Das Beratungsunternehmen, das ich heute leite, ist nicht

auf Gewinnmaximierung ausgelegt, zahlt bescheidene

Gehälter und soll den Kunden in erster Linie helfen, gute

Entscheidungen zu treffen. Kleinunternehmen, die sich

keinen Berater leisten können, weil sie schon in Schwie-

rigkeiten stecken, beraten wir trotzdem – das gleichen wir

mit Aufträgen aus, bei denen wir etwas verdienen. Wo-

hin Gewinnmaximierung führt, sehen wir an den großen

Wirtschaftsskandalen immer wieder. Mich bereichern

menschliche Kontakte, nicht was ich am Ende des Mo-

nats auf dem Konto habe. Der Begriff „Nachhaltigkeit“

ist vielfach ausgeleiert, aber es reicht nicht, von morali-

schen Werten nur zu sprechen, man muss sie auch leben.

www.anonyme-insolvenzler.de

www.von-unruh-team.de

Attila von UnruhGründer der „Anonymen Insolvenzler“ und

Unternehmensberater

Was hätten die Reformatoren

der Kirche heute gesagt? Ein

wichtiges Anliegen war Martin

Luther ein verantwortungsvoller

Umgang mit Geld. Heute wer-

den Menschen, die wirtschaft-

lich scheitern, diskriminiert. Das

kritisiert Unternehmensberater

Attila von Unruh.