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Anton Bruckner: Sinfonie nr. 6 A-Dur WAB 106 [Bruckner-Gesamtausgabe, Leopold Nowak, 1952] Die sechste Sinfonie gehört zu den am seltensten gespielten Sinfonien Bruckners, denn sie ist eine seiner kühnsten und schwierigsten. Er soll sie seine „Keckste“ genannt haben. Der erste Bogen der Partitur ist mit dem 24. September 1879 datiert; das Finale wurde am 3. September 1881 in St. Florian beendet, einen Tag vor seinem 57. Geburtstag. Bei der Uraufführung am 11. Februar 1883 unter Hofoperndirektor Wilhelm Jahn wurden allerdings nur die beiden Mittelsätze gespielt – denn dies Ereignis war durchaus ein Politikum: Noch nie war eine Sinfonie von Bruckner in einem regulären Konzert der Wiener Philharmoniker erklungen. Aus dem Zusammenhang gerissen und als Charakterstücke präsentiert, konnten Adagio und Scherzo nur an Wirkung verlieren. So schrieb Ludwig Benedikt Hahn in der Presse vom 2. März: „Dem Adagio konnte man ungeachtet seiner Seltsamkeiten mit Interesse und selbst mit stellenweisem Vergnügen folgen; die aus dem Geiste der Stein- und Broncezeit geschöpften, ungeschlachten Schäckereien des Scherzo konnten nur befremden.“ Bruckner sollte seine sechste Sinfonie zu Lebzeiten nie vollständig hören. Die erste Gesamtaufführung erfolgte am 26. Februar 1899 unter Gustav Mahler im 7. Konzert der Wiener Philharmoniker. Nach der fünften Sinfonie beschritt Bruckner neue Wege und suchte andere Formen in der Sechsten, die man mit Fug und Recht eher in phrygisch als in A- Dur stehend betrachten kann: In kaum einem anderen Werk sind Kirchentonarten so prägend. Nur die neunte Sinfonie mit ihren dorischen Anteilen und dem unvollendeten Finalsatz führt diesen Ansatz noch weiter. Es ist also kein Wunder, dass dieser Finalsatz und die sechste Sinfonie zu den am wenigsten verstandenen Werken Bruckners gehören. Sie folgt dem von Bruckner verwendeten Typus der „Sinfonia caratteristica“ – eine Abfolge aus Szenen und Bildern in einer Dramaturgie aus Höhe- und Tiefpunkten, Steigerungen und Abschwächungen, und gestützt von Themen und Motiven, die durch ihre Formung eine Bedeutung bekommen. Der Kopfsatz beginnt mit einem Schwung, der an den Anfang der Italienischen von Mendelssohn (in der gleichen Tonart) erinnert. Die erste Themengruppe liefert alle grundlegenden Elemente: Die phrygische Tonleiter, die Triolen, das punktierte Motiv (t. 15), aus dem später das Klagemotiv der Oboe im Adagio wird, und die punktierte Rhythmik, die im Finale wieder auftaucht. Strahlt der erste Satz Lebenslust und Sehnsucht aus, so steht das Adagio im Zeichen von Trauer und Klage. Das mit dem Sext-Sprung vom Anfang des Kopfsatzes beginnende Thema steht in fphrygisch, der aufgrund ihrer Dissonanzen schauerlichsten Tonart des Barock vor Verwendung der wohltemperierten Stimmung. Bedeutsam ist das klagende Gegenthema der Oboe mit den trauermarschartigen Rhythmen, aus dem später Scherzo- und Finalthema abgeleitet werden. Dem folgt in tröstendem Kontrast eine Gesangsperiode in E-Dur, Halt suchend auf einem Orgelpunkt der Bässe, über dem sich immer neue Kontrapunkte entfalten. Doch nach hymnischem Aufschwung sinkt die Musik herab bis ins Grab. Dem folgt als Schlussperiode ein düsterer Trauermarsch in c-Moll in barocker Strenge. Zum einzigen Mal bei Bruckner folgt dieses Adagio einer Sonatenform mit einer regelrechten Durchführung des Hauptthemas.

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Page 1: Anton Bruckner: Sinfonie nr. 6 A-Dur WAB · PDF fileFür die Aufführung, die auf dieser CD zu hören ist, wurde die gedruckte Partitur mit dem Manuskript verglichen; dabei wurden

Anton Bruckner: Sinfonie nr. 6 A-Dur WAB 106 [Bruckner-Gesamtausgabe, Leopold Nowak, 1952] Die sechste Sinfonie gehört zu den am seltensten gespielten Sinfonien Bruckners, denn sie ist eine seiner kühnsten und schwierigsten. Er soll sie seine „Keckste“ genannt haben. Der erste Bogen der Partitur ist mit dem 24. September 1879 datiert; das Finale wurde am 3. September 1881 in St. Florian beendet, einen Tag vor seinem 57. Geburtstag. Bei der Uraufführung am 11. Februar 1883 unter Hofoperndirektor Wilhelm Jahn wurden allerdings nur die beiden Mittelsätze gespielt – denn dies Ereignis war durchaus ein Politikum: Noch nie war eine Sinfonie von Bruckner in einem regulären Konzert der Wiener Philharmoniker erklungen. Aus dem Zusammenhang gerissen und als Charakterstücke präsentiert, konnten Adagio und Scherzo nur an Wirkung verlieren. So schrieb Ludwig Benedikt Hahn in der Presse vom 2. März: „Dem Adagio konnte man ungeachtet seiner Seltsamkeiten mit Interesse und selbst mit stellenweisem Vergnügen folgen; die aus dem Geiste der Stein- und Broncezeit geschöpften, ungeschlachten Schäckereien des Scherzo konnten nur befremden.“ Bruckner sollte seine sechste Sinfonie zu Lebzeiten nie vollständig hören. Die erste Gesamtaufführung erfolgte am 26. Februar 1899 unter Gustav Mahler im 7. Konzert der Wiener Philharmoniker. Nach der fünften Sinfonie beschritt Bruckner neue Wege und suchte andere Formen in der Sechsten, die man mit Fug und Recht eher in phrygisch als in A-Dur stehend betrachten kann: In kaum einem anderen Werk sind Kirchentonarten so prägend. Nur die neunte Sinfonie mit ihren dorischen Anteilen und dem unvollendeten Finalsatz führt diesen Ansatz noch weiter. Es ist also kein Wunder, dass dieser Finalsatz und die sechste Sinfonie zu den am wenigsten verstandenen Werken Bruckners gehören. Sie folgt dem von Bruckner verwendeten Typus der „Sinfonia caratteristica“ – eine Abfolge aus Szenen und Bildern in einer Dramaturgie aus Höhe- und Tiefpunkten, Steigerungen und Abschwächungen, und gestützt von Themen und Motiven, die durch ihre Formung eine Bedeutung bekommen. Der Kopfsatz beginnt mit einem Schwung, der an den Anfang der Italienischen von Mendelssohn (in der gleichen Tonart) erinnert. Die erste Themengruppe liefert alle grundlegenden Elemente: Die phrygische Tonleiter, die Triolen, das punktierte Motiv (t. 15), aus dem später das Klagemotiv der Oboe im Adagio wird, und die punktierte Rhythmik, die im Finale wieder auftaucht. Strahlt der erste Satz Lebenslust und Sehnsucht aus, so steht das Adagio im Zeichen von Trauer und Klage. Das mit dem Sext-Sprung vom Anfang des Kopfsatzes beginnende Thema steht in fphrygisch, der aufgrund ihrer Dissonanzen schauerlichsten Tonart des Barock vor Verwendung der wohltemperierten Stimmung. Bedeutsam ist das klagende Gegenthema der Oboe mit den trauermarschartigen Rhythmen, aus dem später Scherzo- und Finalthema abgeleitet werden. Dem folgt in tröstendem Kontrast eine Gesangsperiode in E-Dur, Halt suchend auf einem Orgelpunkt der Bässe, über dem sich immer neue Kontrapunkte entfalten. Doch nach hymnischem Aufschwung sinkt die Musik herab bis ins Grab. Dem folgt als Schlussperiode ein düsterer Trauermarsch in c-Moll in barocker Strenge. Zum einzigen Mal bei Bruckner folgt dieses Adagio einer Sonatenform mit einer regelrechten Durchführung des Hauptthemas.

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Das Scherzo tappt in e-phrygisch gemessen daher. Dieses schattenhafte Nachtstück erinnert an Schubert, Mendelssohn oder Schumann; man ahnt die Klangwelten eines Gustav Mahler. Vielleicht hat er mit seiner eigenen sechsten Sinfonie a-Moll sogar bewusst ein Gegenstück zu Bruckners Sechster geschaffen? Einen Hinweis darauf bietet Bruckners Trio, das mit genau der gleichen(!) harmonischen Konstellation beginnt wie das Finale von Mahlers Sechster. Zu Beginn des lichten Trios in C-Dur erinnern die drei Hörner mit ihren schmetternden Fanfaren an das Trio in Beethovens Sinfonia Eroica, gleich gefolgt von einem anderen „Helden“ – dem Hauptthema aus Bruckners fünfter Sinfonie in den Holzbläsern. Darin verbirgt sich erneut das „non confundar“ aus dem Te Deum. Der Heldengedanke spielt also offenbar in der sechsten Sinfonie eine Rolle. Das Finale beginnt mit einer darniederliegenden Melodie in der Kirchentonart e-phrygisch, die direkt aus dem Scherzo-Thema hergeleitet ist. Erschreckende Fanfarenstöße erklingen, der Held tritt auf in A-Dur, das „non confundar“ des Te Deum zitierend. Weitere Elemente sind ein bedrohliches Brodeln aus Halbton-Rückungen und ein Unisono, im Schriftbild geformt wie ein Schwert; dazu die „Resurrexit“-Streicherfigur aus Bruckners f-Moll-Messe. Die Gesangsperiode ist eine Polka, wie im Finale der dritten und im Kopfsatz der zweiten Sinfonie – Ausdruck rustikaler Lebensfreude. Darin verwoben ist das Liebestod- Motiv aus Wagners Tristan. Der Held scheint also für die Freuden im Leben zu kämpfen. Die Schlussperiode greift das Brodeln aus dem Hauptthema auf. Da taucht aus dem Adagio- Anfang die Totenklage der Oboe auf, nun in einer grellen Parodie, fast wie im Finale der Symphonie fantastique von Berlioz, wo die „Idée fixe“ zum Hexenreigen wird. Dieses Motiv steigert sich nach gewaltigen Donnerschlägen zu regelrechter Hysterie, bevor es sich erschöpft. Gegner ist also offenbar „der alte böse Feind“, der in der Durchführung ordentlich einstecken muss. Zu Beginn der Coda liegt der Drache darnieder und haucht seinen letzten Atem aus, in der Adagio-Tonart fphrygisch; am Ende der Coda feiert der Held seinen Sieg in A-Dur, mit Hilfe guter Mächte (Kopfsatz- Thema) und Gott („non confundar“). Für die Aufführung, die auf dieser CD zu hören ist, wurde die gedruckte Partitur mit dem Manuskript verglichen; dabei wurden verschiedene kleine Fehler berichtigt. Besonders berücksichtigt wurden die komplizierten, oft missverstandenen Tempoverhältnisse: Das Hauptthema des Kopfsatzes hat sein eigenes Tempo; es erscheint nur zu Beginn (T. 1-48), in der Reprise (t. 195 – 244) und in den letzten 14 Takten der Coda, markiert mit „Tempo wie anfangs“. Das Haupttempo ist mithin das der Gesangperiode („Bedeutend langsamer“), nicht das Anfangstempo. Wolfgang Grandjean hat nachgewiesen, dass dessen Triolen-Viertel den früheren Vierteln des ersten Themas entsprechen. Bruckners Vertrauter, Cyrill Hynais, hinterließ im Autograph entsprechende Metronom-Angaben, nämlich Halbe = 72 für das anfängliche Maestoso, Halbe = 50 für das zweite Thema. Bezeichnenderweise fehlen diese Angaben im Erstdruck Schalks, welcher jene Verfälschungen, Tempo-Modifikationen und Verschleppungen mitteilte, wie sie bis heute verbreitet sind. Aus ähnlichen Überlegungen resultiert auch das rasche Tempo des Finales, welches manche Hörer überraschen dürfte, das jedoch bereits 1943 in Wilhelm Furtwängler einen prominenten Verfechter gefunden hatte. Benjamin Gunnar Cohrs